Gemeinheit

  • 27.06.87

    Selbstmitleid und Paranoia: Nach der intensiven Einübung unterm Faschismus in Deutschland hat Innerlichkeit (als Selbstmitleid) die Menschen so weit ergriffen, daß sie nicht mehr wahrzunehmen in der Lage sind, was um sie herum vorgeht; an die Stelle der Realität tritt eine Welt, die nur noch der Durchsetzung der Eigeninteressen im Wege steht, d.h. tendenziell als feindlich, wenn nicht als bösartig und hinterhältig wahrgenommen wird. Hilfestellung leistet hier die Bewußtseinsindustrie, vorab das Fernsehen. Die Bösartigkeit und Hinterhältigkeit der Außenwelt wird zugleich zur Begründung und zum Alibi der eigenen: so wird paranoische Phantasie zur Realität und diese Realität allgemein.

    Der Grad der Allgemeinheit drückt sich in der herrschenden Politik aus, die diesen Trend widerspiegelt und verstärkt: am Ende unterwirft die Innerlichkeit sich die Welt, die ihr dann keinen Ausweg außer dem durch die Paranoia vorgezeichneten mehr offenläßt. Vor den Folgen dieses Trends scheint im Augenblick keine der politischen Richtungen (einschließlich der sich selbst als alternativ begreifenden) geschützt zu sein.

    Selbstmitleid wäre gleich dem Versinken in einen Abgrund, fände es nicht seinen Halt an den Rechtfertigungen, mit denen es die gefährdete Ich-Identität zu retten sucht. Aber gerade dieser Ausweg ist der sichere Weg in den Abgrund: der des Vorurteils, mit all den Folgen, die das fürs Handeln und für den Zustand der Welt nach sich zieht.

  • 1.5.1997

    „…, da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus“: In die weite, weite Welt (ins feindliche Leben) geht nur der Mann; ist der Grund der Sorge die Frau? Und was Heideggers „Sorge“ hiermit zu tun (kommt die Frau in Sein und Zeit überhaupt vor)?

    Einstein: der Uriel da Costa der Physik.

    Das Eingedenken der Natur im Subjekt ist ein Versuch, gegen die Schwerkraft anzudenken (die Logik ist die Gravitationsbahn des Denkens). Der Hintergrund, vor dem die Schwerkraft sich manifestiert, ist nicht die Ruhe der Trägheit, sondern der Sturz, den das Trägheitsgesetz limitiert, begrenzt. Diese Begrenzung wird im Schöpfungsbericht dargestellt. Der erste Schritt hierzu ist die Erschaffung des Lichts. Die Schwere erzeugt den Schein der Reversibilität, die der Grund der Objektivierung des Lichts, des Hervortretens der Lichtgeschwindigkeit, ist.

    Das Licht ist der Repräsentant der Sprache im Schöpfungsbericht, das erste Werk des göttlichen Worts und die erste Antwort auf dieses Wort. Wenn die üblichen Übersetzungen die beiden jehi or (in Gen 13) unterschiedlich übersetzen, das erste im Imperativ, das zweite im Präteritum, wird übersehen, daß diese Unterscheidung durch den hebräischen Text nicht determiniert ist.

    Erst die subjektiven Formen der Anschauung (das Werk des zweiten Tages: die „Feste des Himmels“) haben das Wort stumm gemacht, die Bedingungen und Voraussetzungen zur Objektivation des Lichts geschaffen.

    Das ewige Licht: Lux aeterna luceat eis, Domine.

    Vorn und hinten wird, wenn es von der Seite (von einem andern) gesehen wird, zu links und rechts.

    In der verdinglichten Welt wird die Freiheit der Schuldreflexion zur Wahlfreiheit.

    Das Hinter dem Rücken (die List der Vernunft, die Hinterhältigkeit, die Gemeinheit, die Niedertracht) gibt es nur unter den Bedingungen der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit (des Seitenblicks).

    Theologie im Angesicht Gottes: Wer die Ethik als prima philosophia begreift, begreift, daß Gott – außer für uns – keine Rückseite hat.

    Stehen nicht die Kirchenspaltung und die Konfessionalisierung des Christentums unter dem Bann seines Ursprungs: des Urschismas und der Urhäresie?

    Mene tekel upharsin: Wenn die Naturwissenschaften die freie Phantasie diskriminieren, so diskriminieren sie damit die Reflexion, das Medium der Kritik der Naturwissenschaften. Diese Diskriminierung gehorcht dem Rechtfertigungszwang, den die „subjektiven Formen der Anschauung“ verkörpern. Naturwissenschaftliche Erkenntnis ist eine Verkörperung des Schuldverschubsystems; darin gründet ihre Beziehung zur Naturbeherrschung.

    Die Apokalyptik, der Glaube, sowie Dogma, Orthodoxie und Bekenntnislogik gründen in der Beziehung von Hören und Sehen.

    Stephan Wyss: Passagalia, S. 38f: Der entscheidende Hinweis auf den patriarchalischen Ursprung der hierarchischen Logik (vgl. auch S. 47ff, die Bemerkungen zum Titel fidalgo, Hidalgo, seine Beziehung zum Begriff des Erbes, der zu den Konstituentien des Weltbegriffs gehört: Ist nicht Jupiter Gottvater?). Bezieht sich hierauf Lk 117?

    Der Nominalismus, soweit er auf den Vorrang des Individuellen abstellt, ist wahr. Und der Satz „Name ist Schall und Rauch“ gilt dem Begriff, nicht dem Namen (steckt in „Schall und Rauch“ die Erinnerung an den Schall der Posaunen und die Gebete der Heiligen?). Die Mathematik ist der verwehte Schall.

    Ist das heliozentrische Konstrukt des Kopernikus das ezechielische Leichenfeld, und bezieht sich das „gewaltige Getöse“ in 2 Pt 310 auf Ez 377?

    Num 13: Kaleb, Jephunnes Sohn, war aus dem Stamme Juda, Hosea, der Sohn Nuns, aus dem Stamm Ephraim.

    Haben die zehn Versuchungen Gottes, an die Num 1422 erinnert, etwas mit den zehn Schöpfungsworten und dem Dekalog zu tun?

    Anstatt 2 – 5 Mos (Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium) auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, um dann die Abweichungen dem „biblischen Autor“ als Fehler anzukreiden, käme es vielmehr darauf an, die Konstellation dieser Bücher genau zu bestimmen: Hier wäre zu erinnern an die Doppelfassungen des Dekalogs (2 und 5 Mos), des Fluchs (3 und 5 Mos), sowie an den Zusammenhang des Levitikus mit dem nicht erfolgten Opfer in der Wüste beim Exodus (der „Greuel der Ägypter“ wurde nicht geopfert), die zunächst verschobene, dann eingeschränkte Landnahme nach den zehn Gottesversuchungen durch die Israeliten in der Wüste; danach folgen Josue, Richter, Samuel und Könige als prophetische Bücher.

    Heute geht der Fortschritt über zum zweiten Angriff auf die Erinnerung: zur zweiten Phase der Selbstzerstörung der Tradition. Das wäre unter anderem an der gegenwärtigen Entwicklung der Medizin zu demonstrieren. Die erste Phase fällt zusammen mit der Ursprungsgeschichte der Naturwissenschaften (der Geschichte der Hexenverfolgung: der Vertreibung der Frauen aus der Medizin und der Patriarchalisierung der „Geburtshilfe“).

    Das Dogma verletzt das sexualethische Gebot, das sich gegen die Urteilslust, nicht gegen die „sexuelle Lust“ richtet. Im Banne der Urteilslust wird die Idee des seligen Lebens reduziert auf die „Anschauung Gottes“, die die Theologie im Angesicht Gottes ersetzt. Hier wurde das Bekenntnis vom Handelns getrennt. Dagegen richtet sich der Schluß des Sterns der Erlösung.

    Ich, Es und Über-Ich verhalten sich wie Welt, Natur und Bekenntnislogik.

  • 24.4.1997

    „Der Junge blieb vor dem Fenster stehen und starrte hinaus: ‚Der Mondschein‘, sagte er, ‚macht die ganze Natur so – knochenlos; die Sonne erweckt in dem Menschen Tatendrang, der Mond Gefühle.‘ – ‚Ja, das ist wahr‘, sagte Wenzlow lächelnd. ‚Darum ist die Sonne im Französischen männlich, le soleil. Der Mond, la lune, ist weiblich.’“ (Anna Seghers: Die Toten bleiben jung. Darmstadt und Neuwied, 1977, S. 386) Welche Konsequenzen hat diese Bemerkung für das Verständnis der deutschen Sprache, ihres sprachlogischen und herrschaftsgeschichtlichen Grundes?

    „Sie wachte zuweilen nachts auf und dachte: Ich möchte mein Kind aufpacken und weit weggehen. Wohin? Es gab kein Wohin mehr.“ (Ebd. S. 402) – Genauer läßt sich die Welt, die im Faschismus sich ausdrückte und die er hinterlassen hat, nicht beschreiben, als durch diese Zerstörung des Wohin. Es gibt keine Ziele mehr, auch keine Fluchtorte vor dem allgegenwärtigen Schrecken.

    Dritte Leugnung: Die Unterstützung des Nationalsozialismus im Rußlandfeldzug, im „Kreuzzug gegen den Bolschewismus und das Judentum“, in dem „Weltanschauungskrieg“, der ein Vernichtungskrieg war, hat die Kirchen in den Abgrund mit hereingezogen, den die Nazis eröffnet haben, und der sich seitdem nicht mehr schließen läßt.

    Ist F.W. Marquardt nicht ein Beispiel dafür, daß die Theologie heute eine Opfer ihrer Sprache ist? Der Abgrund, in den die Theologie hereingezogen wurde, ist der Abgrund der Indikativs. Der Indikativ ist die Sprache der Exkulpation durch Objektivierung, durch Distanzierung von der Sache, die Sprache der reflexionslosen Verurteilung. Die Konstituierung und Rechtfertigung der Gegenständlichkeit hat den Imperativ aus der Sprache vertrieben, der dem Kommando im Wege stand, er hat den Namen Gottes geschändet, die Attribute Gottes unerkennbar gemacht.

    Der sprachlogische Grund des Indikativs ist das Neutrum und die Subsumtion Flexion der Verben, der Formen der Konjugation, unter die Zeit. Deshalb hat nur die Sprache der Schrift, das Hebräische, theologische Qualität, die anderen Sprache nur insoweit, wie es gelingt, die Schrift in diese Sprachen zu übersetzen. Ist das „Neue Testament“ nicht das Paradigma des Problems der Übersetzung der Schrift, und das Christentum die Folge eines – unter dem Zwang, nicht mißverstanden zu werden – unvermeidlichen und notwendigen Mißverständnisses?

    Der Antisemitismus hat den Trieb, nicht mißverstanden zu werden, vollendet und damit endgültig ins Leere laufen lassen. Er gründet in einer Sprache, die Mißverständnisse nicht nur nicht ausschließt, sondern keine Alternative mehr dazu kennt. Das innere Gesetz dieser Sprache ist der Indikativ. Hegel hat den Kern dieses Gesetzes im Begriff der List der Vernunft zu begreifen versucht. Der Antisemitismus ist das natürliche Ende dieser List der Vernunft (der Instrumentalisierung des Mißverständnisses).

    Die Instrumentalisierung des Mißverständnisses begründet die Logik der Gemeinheit (den logischen Kern des Antisemitismus). Kant hat das Gesetz dieser Logik in der transzendentalen Ästhetik vor Augen gestellt: in den „subjektiven Formen der Anschauung“. Aus dieser Wurzel stammen Hegels List der Vernunft, sein Begriff des Scheins und die Idee des Absoluten. Dem korrespondieren die drei den Indikativ sprengenden Kategorien, die Franz Rosenzweig im Stern der Erlösung benannt hat: die Umkehr (das Bild vom Koffer), den Namen (Name ist nicht Schall und Rauch) und das Angesicht. – Das Angesicht, das in der christlichen Idee der Anschauung Gottes, aus der jede Erinnerung an den göttlichen Namen getilgt ist, zum Ende der spekulativen Idee gemacht worden ist, ist bei Franz Rosenzweig der Anfang des Lebens (die Befreiung aus der Isolationshaft des Anschauens).

    Der Indikativ ist die Sprachlogik des objektivierenden Blicks, des Seitenblicks. So hängt er mit den subjektiven Formen der Anschauung (dem Instrument der Vergegenständlichung) zusammen.

    Der christliche Kanon der Schrift (des „Alten Testaments“), der die prophetischen Bücher zu historischen Büchern gemacht hat, ist ein Modell der kopernikanischen Wende, sein Vorläufer in der Theologie, der erste Ausdruck des Seitenblicks, sein Preis war der christliche Antijudaismus. In diesem Modell der kopernikanischen Wende waren die Elemente der Logik schon vorgebildet, die dann den Sternenhimmel, die ganze Natur und mit ihnen den Staat, den Begriff der Politik, verhext haben: Das heliozentrische System war der logische Grund des aus ihm erwachsenen Nationalismus, in dessen Dienst schon die Umwidmung der prophetischen in historische Bücher stand.

    Die Geschichte des Christentums hat ihren theologischen Ort zwischen Tod und Auferstehung: in der descensio ad inferos.

    Läßt sich nicht das Verhältnis von Leviticus und Deuterinomium am Verhältnis von Lev 26 und Dt 28 demonstrieren (und das Verhältnis des Exodus zum Deuteronomium an den beiden Fassungen des Dekalogs)?

    Der islamische theologische Topos, daß Gott die Welt in jedem Augenblick neu erschafft, ist die zwangsläufige Konsequenz einer Gottesidee, die – wie der Begriff des Absoluten – vom Staat nicht zu trennen ist. Die volle Schöpfungsmacht, die hier in jedem Augenblick auf das Geschöpf prallt, ist der theologische Grund des Islam, der Ergebung in Gottes Allmacht, der nichts widerstehen kann. Die Erfahrungsgrundlage dieser Schöpfungsmacht ist die Staatsgewalt.

    Sind nicht die Rechtsstaatsideologie und der Habermas’sche Verfassungspatriotismus ein Versuch, des faschistischen Erbes, das durch Reflexion aufzulösen wäre, durch einen zweiten Objektivationsschritt Herr zu werden: „Dressur des inneren Schweinehundes“. Die Reflexion, die heute notwendig ist, ist ohne die Hilfe der Theologie nicht mehr zu leisten.

    Zu Walter Benjamins Engel der Geschichte: Die Trümmer, die vor ihm sich aufhäufen, ist das nicht der Schutt, unter dem wir begraben sind, und zugleich der Leichenberg, auf dem wir stehen? Hängt das nicht mit der Konstruktion des Zeitkontinuums zusammen, durch den wir uns sowohl an den Anfang wie auch ans Ende der Zeitreihe, die beide im Unendlichen liegen, setzen? Die Aufspaltung der Zeit, die dem Indikativ zugrunde leigt, wird erzeugt und stabilisiert durch die Begriffe Natur und Welt. Die Natur ist der Leichenberg, die Welt der Trümmerhaufen. Dagegen richtet sich der Satz: Die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht.

    Der Atheismus hat in der Linken seit je die Regression gefördert.

    Das Problem Miskottes ist, daß er aus dem Zwang zur Erbaulichkeit, in den ihn die Gemeindetheologie hineinführt, nicht herauskommt.

    Die Kirchengeschichte der Theologie: Dogma, Orthodoxie und Bekenntnislogik, gründet in der Verwechslung von Erkenntnis und Wissen. Das Wissen ist ein Produkt der Vergesellschaftung von Erkenntnis (die Habermas durch seinen Begriff der „privilegierten Erkenntnis“ zu diskriminieren gezwungen ist). Das Wissen subsumiert die Erkenntnis unter das Objektivierungsgesetz, das insbesondere die Gotteserkenntnis strikt ausschließt. „Von Gott wissen wir nichts, aber dieses Nichtwissen ist Nichtwissen von Gott.“ Das Unkraut, das vor der Ernte nicht ausgerissen werden darf, ist die ins Wissen transformierte Erkenntnis. Die Häretiker sahen das Unkraut, sie wollten es vor der Ernte ausreißen. Mit der Verurteilung der Häresien hat die Kirche nur den Blick auf das Unkraut verboten, seine Wahrnehmung untersagt: hat sie nicht anstelle des Weizens das Unkraut in ihrem Garten gehegt und gepflegt?

    Die kopernikanische Wende (der die Kirche mit der Entwicklung des Dogmas und der Ausbildung der Orthodoxie vorgearbeitet hat) hat die Sensibilität in Empfindlichkeit verwandelt. Ausdruck dessen war die Unterscheidung der primären und sekundären Sinnesqualitäten, die Subjektivierung der „Empfindungen“.

    Steckt das Problem des Lichts nicht in der Geschichte der Auseinandersetzung Goethes mit der newton’schen Optik, in der Beantwortung der Frage, ob aus den Farben, aus den Brechungen des Lichts, das Licht sich rekonstruieren läßt? Goethes Bemerkung, daß die Mischung aller Farben grau, nicht weiß ergibt, ist ein Hinweis darauf, daß die Brechung des Lichts wie der Tod irreversibel ist. Physikalischer Ausdruck dieser Irreversibilität ist das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit: So hängt der Bogen in den Wolken mit dem Inertialsystem zusammen.

    Was hat der Menschensohn auf den Wolken des Himmels mit dem Bogen in den Wolken zu tun?

    Der Bogen in den Wolken verkörpert die Naturbeherrschung in allen ihren Gestalten: Er ist das gegenständliche Korrelat des Schreckens der Tiere.

  • 5.4.1997

    Wer sich den Kopf der anderen zerbricht, wird ohnmächtig, lähmt sich selbst.
    Die Sterne sind „als Zeichen und zur Bestimmung der Zeiten“ erschaffen. Hängt das logische Problem der Astrologie mit dem des Maßes in der Hegel’schen Logik zusammen? – Vor diesem Hintergrund ist das kopernikanische System gezählt, gewogen und zu leicht befunden.
    Die Vergegenständlichung der Zeit ist das Produkt ihrer Subsumtion unter die Form der äußeren Anschauung, ihrer Verräumlichung.
    Das Problem der Aufklärung ist das des Hasen, der den Swinegel un sin Fru nicht unterscheiden kann.
    Wenn die Kronen die Luftwurzeln der Bäume sind, sind die Bäume dann die Säulen, die die Erde tragen? Sind die Bäume nicht zusammen mit den Primaten aufgetreten?
    Sind Bäume die letzten Denkmäler des Paradieses?
    Die Orthodoxie ist das versteinerte Herz der Welt, die Dogmenbildung war das Ergebnis der Anwendung der Erkenntnis des Guten und Bösen auf die Theologie.
    Das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, das Problem der Pflanzen und Bäume und das der Sterne verweisen gemeinsam auf das Problem des Kausalitätsprinzips, auf seine Wurzel in dem der Umkehr der Teleologie. Bei Hegel erinnert der Begriff der „List der Vernunft“ an dieses Problem.
    Das Konstrukt der List der Vernunft war der Keim der Paranoia in Hegels System, das Prinzip der universalen Vergegenständlichung und der logische Ursprungspunkt der Idee des Absoluten: Hier ist an die Beziehung der Klugheit der Schlange zur Arglosigkeit der Tauben zu erinnern.
    Ökonomie und Naturwissenschaft: der Abstieg zur Unterwelt.
    Die Welt ist die Hinterwelt, die Legitimation der Gemeinheit, und die Natur ihr Opfer.
    Es gibt einen Begriff der Verantwortung, der einen Zustand legitimiert, in dem jeder seine Pflicht tut, aber keiner mehr weiß, was er tut. Das Abbild dieses Zustands ist das heliozentrische System.
    Die kirchliche Lehre vom stellvertretenden Sühneleiden hat seine praktische Anwendung im kirchlichen Antijudaismus gefunden.
    Seit der Entdeckung des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit gibt es Punkte, die zwei Enden haben.
    Begriffe sind richtig, aber die Wahrheit gründet im Namen: Deshalb ist bei Hegel das Wahre der bacchantische Taumel, in dem kein Glied nicht trunken ist.
    Sind der paulinische Satz, daß „Frauen in der Kirche schweigen“ sollen (1 Kor 1434) und das talmudische Wort „Rede nicht viel mit dem Weib“ (Pirke Abot) nicht zwei Seiten einer Medaille?
    Die Frauenerfahrung „ich komme in der Kirche nicht vor“ bezeichnet keinen räumlichen, sondern einen sprachlichen Sachverhalt.

  • 29.3.1997

    Das Präfix be- ist das Präfix der Instrumentalisierung (Bekenntnis, Bekehrung, Belehrung, Bewegung). Und dieses Präfix hat die englische Sprache als Äquivalent für den Infinitiv des Seins übernommen (to be).
    Die Bewegung ist die Instrumentalisierung des Weges (eine genauere Bezeichnung der Wege des Irrtums). In diesem Sinne ist der aristotelische „unbewegte Beweger“, der identisch ist mit der noesis noeseos, dem Denken des Denkens, das Subjekt der Bewegung. Das Denken des Denkens ist die Parodie der Barmherzigkeit, das Subjekt-Objekt der Welt, das Sich den Kopf der Andern zerbrechen (der Seitenblick: das sind die Pforten der Hölle).
    Die Erkenntnis des Guten und Bösen ist das Korrelat der Subsumtion der Erkenntnis unter das Selbsterhaltungsprinzip. Das Gute und Böse ist das Gute und Böse für mich, für den Staat, für jemanden.
    Rassismus ist ein Instrument der moralischen Enthemmung, der Freisetzung der Gemeinheit; darin liegt seine Verführungskraft. Die Wurzel des Rassismus (und nicht nur eine seiner Anwendungen) ist der Antisemitismus: Nicht als „Vorbild“, sondern als Prophetie verkörpert Israel (verkörpern „die Juden“) die Utopie.
    Ist nicht der Satz, daß Gott nicht will, daß sein Wort leer zu ihm zurückkehrt (Jes 5511), auch auf das Evangelium anzuwenden: Was ist und wo bleibt das Evangelium für Gott; hat es nicht etwas mit der „Freude im Himmel über die Bekehrung des einen Sünders“ zu tun?
    Die Theologie im Angesicht Gottes: da gibt es nur eine; als Theologie hinter dem Rücken Gottes aber gibt es verschiedene: deshalb gibt es, solange es die Bekenntnislogik gibt, verschiedene Kirchen (so wie es unterschiedene Planetenbahnen: mehrere Wege des Irrtums gibt).
    Die kopernikanische Wende hat den Schrecken verdrängt (nach innen gewendet) und durch die Verurteilung ersetzt.
    Als Gott den Himmel aufspannte, hat er da nicht verhindert, daß alles in die Sonne stürzte?
    Dem bundesanwaltschaftlichen Begriff der Selbstbezichtigung (der Ersetzung des Begriffs Bekennerschreiben durch den Begriff Selbstbezichtigungsschreiben) entspricht die Selbstverurteilung der Natur: In diesem Akt der Selbstverurteilung gründet der Naturbegriff, dessen Anwendung auf Gott demnach blasphemisch wäre. Die Natur, das ist Wahrheit im Stande des Falls. Und die Welt ist das verstockte Herz, das unfähig geworden ist, den Bann des Urteils zu brechen. Deshalb ist die Welt die der verurteilten Natur zugehörige verurteilende Instanz: das Gericht (vgl. hierzu die zweite Strophe der Fassung des Liedes „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ in der Matthäus-Passion, eine Paraphrase des Jakobus-Satzes „Die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht“).
    Der Positivismus (die auf dem Bauche kriechende und staubfressende Schlange) kanonisiert die Verurteilungslogik.
    Das, was der „Missionsauftrag“ des Matthäus-Evangeliums meint, wird konkret in dem Satz „Ihr seid das Licht der Welt“.

  • 2.3.1997

    Die Goldhagen-Debatte hat eines deutlich gemacht, daß nämlich der Objektivismus auch als Entlastungsinstrument benutzt wird.
    Wer Solidarität fordert, aber die Reflexion unterbindet, ist vom Grunde her ein Faschist. Befreiung ist nur möglich auf der Grundlage einer Solidarität ohne Komplizenschaft. Solidarität ohne Komplizenschaft ist das entscheidende Argument gegen die Bekenntnislogik (und gegen jeglichen Nationalismus). Fatal ist heute jeder Wunsch, einer Gemeinschaft anzugehören, „in der ich mich wohlfühlen kann“.
    Sind die Planeten am zweiten Tag erschaffen oder am vierten: Gehören sie zur Feste des Himmels oder zu den Sternen? Wer sind die Sabaoth?
    Hängt nicht das Recht (zu dem die Verfolgungsbehörden gehören) mit dem Sündenbocksyndrom zusammen?
    Das Geschwätz ist der Mutterboden des Gerüchts. Beide gedeihen unterm Rechtfertigungszwang. Zum Gerücht gehört die Instrumentalisierung des Verdachts, sein Ziel ist die Verurteilung.
    Das Geschwätz ist ein Experimentallabor der Feindbildlogik. Die Feindbildlogik ist ein Instrument zur Ausbildung und Rechtfertigung der Gemeinheit.
    Ist die Gleichzeitigkeit ihrer Entdeckung nicht ein Hinweis darauf, daß das Plancksche Strahlungsgesetz etwas mit der speziellen Relativitätstheorie Einsteins und dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit zu tun hat? Hinweis: Das Relativitätsprinzip ist das Prinzip der Veranderung. Es definiert den Raum (das Referenzsystem), in dem die mathematische Naturerkenntnis sich konstituiert.
    Die Schwere wird gemessen mit Hilfe der Waage, die es aber nur in einem Schwerefeld gibt. Der Erscheinungsort der Schwere ist die Erde, auf der wir sie am eigenen Leibe erfahren. Wer wiegt die Sonne oder den Mond? Ist das Planetensystem und sind die Gezeiten Teile einer Waage (so erfahren die Planeten die Gravitationskräfte der Sonne und die Meere die des Mondes „am eigenen Leibe“)? Die Planetenbahnen sind Fallwege, die kein Ziel mehr haben.
    Der Preis für die Reversibilität der Beziehung von oben und unten ist die Irreversibilität der Zeit (wie verhält sich das Licht zur Irreversibilität der Zeit, was drückt in der Existenz der konstanten Lichtgeschwindigkeit sich aus?).
    Was hat die trinitarische Zeugung mit den messianischen Wehen, mit dem apokalyptischen Bild der Geburt, zu tun?
    Der Weltbegriff ist ein Plurale Tandem; es gibt nicht die Eine Welt. Der Keim des Weltbegriffs ist das Neutrum, das selber im Ursprung ein pluralis ist (Gehölz, Gebirge, Gewässer).
    Der Begriff der Zeugung bezeichnet das mythische Moment im christlichen Dogma, das gleiche Moment, das den messianischen Wehen entspricht, die in der Hölle als ewig vorgestellt werden.
    Hat der babylonische Unzuchtsbecher etwas mit dem Zusammenhang von Götzenopfer und Unzucht zu tun (mit Bileam)?

  • 20.2.1997

    „In dubio pro reo“: Dieser Grundsatz ist eine praktische Konsequenz aus dem grundlegenden Satz, daß das Unwiderlegbare nicht schon die Wahrheit ist. Feindbilder sind wegen des Rechtfertigungsinteresses, das in sie investiert wird, unwiderlegbar (Rechtfertigung ist ein Imperativ post festum, der dann zum Imperativ apriori, zum Trägheits-Imperativ, wird: zum Gemeinheits-Imperativ; Rechtfertigung erzeugt den Wiederholungszwang); sie sind Instrumente der Entlastung, der Exkulpierung. Sie gründen in der Unfähigkeit zur Schuldreflexion, die sie durch projektive Verarbeitung stabilisieren (Inertialsystem). Zum Stand der naturwissenschaftlichen Aufklärung: Heute dringt die Feindbildlogik in die Familienbeziehungen ein: Darin gründet das double-bind-Syndrom. Die subjektiven Formen der Anschauung (die Produkte der Abstraktion vom Blick des Andern) sind Stabilisierungen des double-bind-Syndroms: die Wege des Irrtums. Ist das Planetensystem die Leugnung des göttlichen Angesichts? Was hat es mit dem Namen, den niemand kennt außer dem, der ihn empfängt (oder der ihn trägt), auf sich (Off 217, 1912)? Ist nicht der „gesunde Menschenverstand“ ein – anstatt an Begriffen – an der Sprache, an ihrer benennenden Kraft, sich orientierender Verstand? Die Kommunikationstheorie setzt diese benennende Kraft der Sprache, ohne die es eine Kommunikation nicht geben würde, einfach nur voraus, anstatt sie zu reflektieren.

  • 31.1.1997

    Louis Ginzbergs Bemerkung, daß die apokalyptische Bewegung „nicht nur antisozial, sondern auch antiethisch“ war (Apokalyptik, S. 220), verweist auf einen zentralen Punkt: Sie war staatskritisch. Die Katastrophe, die sie vor Augen hatte, war die Katastrophe, die insbesondere im Römischen Reich, dem Erben Babylons, sich verkörperte. War nicht der „Zaun um die Thora“ der notwendige Versuch, die systemsprengenden Energien, die die Apokalypse freizusetzen drohte, unter Kontrolle zu halten? Während die rabbinische Tradition die Hilfen fürs Überleben in einer übermächtigen Völkerwelt bereitstellten, ist das Christentum spätestens mit den Kirchenvätern zum Feind übergelaufen.
    Wer träumt im Alten Testament, und wer im Neuen?
    Stehen nicht alle Tiere unter dem Bann des Raumes, und ist das nicht das Problem der Hegel’schen Logik, daß dieser Bann in ihr sich reproduziert? Steht nicht der Begriff unter dem Bann des Raumes, der im Weltbegriff sich verkörpert?
    Der Gott, der die Welt erschaffen hat, ist der Herr der Tiere.
    Adornos Begriff der Reflexion der Natur im Subjekt zielt auf die Reflexion der Wurzel des Rassismus, er ist das deutlichste Konzept des Antirassismus. Die Reflexion der Natur im Subjekt ist die Reflexion der Objektseite des Subjekts, dessen, was das Subjekt für andere ist. Sie schließt die kritische Reflexion des Weltbegriffs mit ein, und damit die des Staates, in dessen Geschichte die des Weltbegriffs gründet.
    Das Wasser im Namen des Himmels verweist auf die Wasser,
    – über denen der Geist Gottes brütet,
    – an denen die Hure Babylon sitzt,
    – es verweist auf das Chaos-Element, das Lebenselement der von Gott erschaffenen Meeresungeheuer,
    – es verweist damit auf die Schlange, die in der Geschichte vom Sündenfall das Neutrum repräsentiert, das Was, dessen Plural (im Hebräischen wie im Deutschen) der Name des Wassers ist.
    Ist dieses Was die Außenseite des Wer (das Wasser die Außenseite des Feuers)? Bezieht sich darauf nicht das Wort vom Geist, der die Erde erfüllen wird wie die Wasser den Meeresboden bedecken?
    Das Was und das Neutrum bezeichnen den sprachlogischen Ort der kantischen Antinomie der reinen Vernunft: des apagogischen Beweises.
    An welchen Stellen der Schrift wird Gott der Schöpfer des Himmels und der Erde und des Meeres genannt, und in welcher Beziehung stehen diese Stellen zum geschichtstheologischen Problem der Apokalypse? Nach der Johannes-Offenbarung wird am Ende (wenn jede Träne abgewischt wird) das Meer nicht mehr sein.
    Daß am Ende das Meer nicht mehr sein wird, heißt das nicht, daß die Sprache vom Bann der subjektiven Formen der Anschauung und des Begriffs befreit sein wird, daß sie die erkennende Kraft des Namens wiedergewinnen (daß sie sich im Angesicht Gottes erneuern) wird? Zuvor wird das Meer seine Toten herausgeben: Es gibt kein vom Begriff getrenntes Objekt mehr.
    Das Meer ist der Repräsentant der Völkerwelt: Deshalb gehört zu den Konstituentien des Begriffs der Name der Barbaren (und zu denen des Namens der zum Namen der Barbaren inverse Name der Hebräer).
    Theologie im Angesicht Gottes schließt die Kritik des Begriffs, die Reinigung der Sprache vom Begriff, mit ein.
    Adornos Kritik der Verdinglichung, seine negative Dialektik, war der Anfang der Gottesfurcht.
    Wer den Begriff Theologie mit „Rede von Gott“ übersetzt, weiß nicht, wovon er spricht: Die Predigt ist zur Rede geworden, als sie faschistisch wurde. Nicht zufällig erinnert der Begriff der Rede an Hitler. Der Name der Lehre, der im Namen der Theologie enthalten ist, kann und darf nicht preisgegeben werden. Die Attribute Gottes stehen zwar nach Emanuel Levinas im Imperativ, nicht im Indikativ; aber es gibt einen diesem Imperativ einbeschriebenen Indikativ, den es wiederzugewinnen gilt. Der Indikativ der Anschauung entspricht der Theologie hinter dem Rücken Gottes. Der dem Imperativ einbeschriebene Indikativ ist das Angesicht Gottes.
    Adornos Reflexion der Natur im Subjekt, das rührt an die Frage: Wer wird den Stein vom Grab fortwälzen?
    Haben nicht die Sätze, mit denen die drei Bücher des ersten Teils des Stern der Erlösung beginnen, etwas mit dem Traum des Nebukadnezar zu tun: Von Gott, von der Welt, vom Menschen wissen wir nichts, aber dieses Nichtwissen ist Nichtwissen von Gott, von der Welt, vom Menschen?
    Kommt im Buch Daniel eine Frau vor? – Nur beim Belschasar, als er „mit seinen Frauen und Nebenfrauen“ aus dem den Geräten des Tempels trinkt. Kommt nicht dann „seine Frau“ (die also von den Frauen und Nebenfrauen noch unterschieden wird) hinzu, die ihn an Daniel verweist?
    Ist nicht die Rache eine reaktive Gemeinheit, unterliegt sie nicht dem Gesetz der Feindbildlogik, der Rechtfertigung des eigenen Tuns durch das der Andern und dem Trieb, auch so gemein sein zu dürfen wie der Feind? Der Rachetrieb ist mit der Befreiung und der Veränderung nicht auf einen Nenner zu bringen. Im Rachetrieb mache ich mich mit dem, an dem ich mich räche, gemein.

  • 11.1.1997

    Die ödipale Geschlechterpolarität (Jessica Benjamin: Die Fesseln der Liebe) reicht bis in die historisch „gewachsene“ Logik der Sprache hinein. Sie drückt u.a. in den kantischen Totalitätsbegriffen: in der Unterscheidung von Natur und Welt, sich aus. Und sie gehört zu den Gründen des Problems der „apagogischen Beweise“ (der Antinomie der reinen Vernunft), sowie in der weiteren Folge davon zu den Bedingungen der Möglichkeit der Kritisierbarkeit der staatsanwaltschaftlichen Logik (der „Gemeinheitslogik“).
    Der Faschismus hat den frei fallenden Fahrstuhl endgültig aus seinen Verankerungen gelöst. Die Feindbildlogik hat sich so tief in unsere Erfahrung eingesenkt, daß es fast unmöglich geworden ist, sie zu reflektieren. Aber das beweist nur die Notwendigkeit dieser Reflexion. Hat nicht das -d-, durch das das Ahnden vom Ahnen sich unterscheidet, etwas mit dem Suffix -de zu tun, das in Begriffen wie Gemeinde oder Behörde (Gebärde, Gelände) enthalten ist? Und steckt das gleiche -de nicht in dem deutschen Wort Werden? Und verweist dieses Werden in einer ähnlicher Weise auf das Wer wie das Wasser auf das Was? Und hat das Werden in der Hegel’schen Weltphilosophie, in Hegels Logik, eine ähnliche Funktion wie das Ahnden in der Naturphilosophie Schellings (ist das Werden das abgestorbene Wer, das Ahnden die Verfolgung der Zukunft durch die Vergangenheit: ist das Werden eine Emanation des Weltbegriffs, das Ahnden eine des Naturbegriffs)?
    Was drückt eigentlich im futurischen Gebrauch des Werden sich aus (wer ist das Subjekt des zukünftigen Tuns)? Das Werden ist der ins Affirmative gewendete Fall, der Anfang der Wege des Irrtums (sh. Hegels Planetentheorie).
    In einen andern sich hineinversetzen heißt, die Welt rekonstruieren, deren Logik sein Denken und Verhalten bestimmt (und die Welt rekonstruieren heißt, die ökonomischen Gesetze und Konstellationen rekonstruieren, die die Bedingungen seiner Selbsterhaltung ausmachen). Tiere sind reine Weltwesen, deren Existenzbedingungen durch die Natur vorgegeben sind, während die Menschen ihre Existenzbedingungen im Prozeß ihres Gattungslebens selber hervorbringen. Menschen sind Tiere, die den Bann der Gattung sprengen, für die die Welt – über die Beziehung zu den Andern, die in der Sprache gründet – reflexionsfähig geworden ist. Tiere sind nicht bessere Menschen, auch wenn sie nicht schuldfähig sind: Sie stehen unter dem Bann des Herrschafts-, Schuld- und Verblendungszusammenhangs der Natur, den sie nicht zu reflektieren vermögen.

  • 8.1.1997

    Beitrag zur Erkenntnistheorie: Was hat der Beobachter mit dem episkopos (dem Aufseher) zu tun?
    Der Beobachter blendet (durch Fokussierung der Aufmerksamkeit auf einen Punkt) die Wahrnehmung aus, der Aufseher (durch Abstraktion von der Gemeinschaft mit den seiner Aufsicht Unterworfenen) die Erfahrung. Die Beobachtung steht im Dienste der Selbsterhaltung, die Aufsicht in dem der Herrschaft (die Beobachtung im Dienste der Herrschaft obliegt den Geheimdiensten: wenn staatliche Institutionen in die Privatsphäre ihrer Bürger eindringen, konstituieren sie einen eigenen Privat-/Geheimbereich des Staates).
    Wie verhalten sich Beobachtung und Aufsicht zur Anschauung (hat die Beobachtung <als Erfolgskontrolle des Naturforschers im Experiment oder des Unternehmers am Markt> etwas mit dem „teleologischen“, die Aufsicht <die Normenüberwachung in der verwalteten Welt> mit dem „normenregulierten“ und die Anschauung <die die moralische Gemeinschaft mit der Welt aufkündigt, sie durch die ästhetische des Anschauens ersetzt> mit dem „dramaturgischen Handeln“ zu tun)?
    Auf dem Bauche sollst du kriechen, Staub sollst du fressen: Was ist das für eine Welt, die in Habermas‘ Theorie des kommunikativen Handelns sich widerspiegelt (eine Welt, in der die Reflexion stillgestellt ist, und mit ihr die Idee eingreifender Kritik)? Und was wird aus dem, der keine andere Welt mehr kennt?
    Der Name Gottes ist in den Trümmern des Himmels begraben.
    Was verleiht dem Schuldverschubsystem: den Rechtfertigungszwängen und den Abwehrmechanismen, heute diese alles durchdringende Gewalt?
    Gibt es nicht bei Ezechiel eine Stelle, an der von der Wahrheit des Nordens und vom Licht des Südens die Rede ist (oder war es bei Paul Celan)?
    Sind nicht die subjektiven Formen der Anschauung die Pforten der Hölle (von denen es heißt, daß sie die Kirche nicht überwältigen werden)? Sie machen die Umkehr gegenstandslos, in ihrem Kontext gibt es zur Selbsterhaltung keine Alternative mehr.
    Telefonat mit B.: Wäre es möglich, die Essenz meines Textes in Thesen zu präzisieren?
    – Mißverständnisse lassen sich nicht vermeiden ohne Selbstblockade,
    – reflektierende Urteile sind keine dogmatischen Urteile, sie sind das Korrelat der Praxis (der Freiheit, des „Wunders in der Erscheinungswelt“) in der Theorie (eingreifende Erkenntnis);
    – die abrufbare richtige Gesinnung, das verdinglichte Bekenntnis zur richtigen Theorie, schließt Gemeinheit nicht aus; Gemeinheit hat es sowohl bei den Nazis wie auch im real existierenden Sozialismus gegeben: das ist mein Thema; reflektierende Urteile sind kritisch (sie müssen es sein), aber sie sind niemals gemein: sie verurteilen nicht.
    – 68er Marxismus ist zur Ideologie geworden, als er mit der Lehre vom falschen Bewußtsein die Reflexion aus der kritischen Theorie eliminierte (als er diese Lehre in eine Waffe gegen den Feind, in ein Instrument der Verurteilung verwandelte).
    – Ein Begriff der Klarheit, der sich am Modell der klaren Fronten (am Innen/Außenparadigma) orientiert, ist kein Begriff der kritischen Theorie;
    – nicht die Stellung im Produktionsprozeß, sondern allein das Bewußtsein davon, die Fähigkeit zur Reflexion, ist entscheidend im Hinblick auf die Wahrheit (Marx und Engels waren Großbürger, keine Proletarier; und ein Proletariat, das nicht auch die Fähigkeit der Reflexion sich zueignet, hört auf, ein revolutionäres Subjekt zu sein);
    – in der gegenwärtigen Phase der politischen Ökonomie, die gekennzeichnet ist durch eine Selbstauflösung des Staates, der nach innen nur noch abstirbt, verwest, verrottet, während er nach außen zum Instrument der Verwüstung wird, ist der Staat kein „Feind“ mehr (weil er subjektlos, und damit – mit der Ablösung der Regierung durch Verwaltung – zur Brutstätte der Gemeinheit geworden ist <das ist der in den Abgrund rasende Zug>):
    . Das Frontkonstrukt erzeugt den Nebel, in dem der Feind als Feind erscheint, aber dieser Feind ist auch eine Phantasmagorie, eine Projektion, ein paranoides Konstrukt.
    . Durch bloße Machtübernahme ist ein Zustand, in dem die Menschheit ihrer Geschichte mächtig wird, in der sie lernt zu wissen, was sie tut, nicht mehr herbeizuführen.
    – Es hilft nicht mehr, nur auf der richtigen Seite zu sein; was nottut ist: seine eigene Würde darin erkennen, selber den Kopf oben zu halten, nicht mehr Objekt zu sein (die Feindbildlogik verdrängt nur das Bewußtsein, Objekt zu sein, sie löst das Objektsein nicht nur nicht auf, sie fördert es; sie gehört zu den Beschleunigungskräfte des Zuges und zu den Mächten, die die Wahrnehmungsfähigkeit verhindern).
    – Auch die Verführung durch das „gute Gewissen“, die die Feindbildlogik aus dem Feindbild bezieht, sollte nicht verharmlost werden; sie ist eine der gefährlichsten faschistischen Verführungen (die Rechtfertigung des eigenen Handelns durch das des Feindes, die Nutzung der Feindbildlogik als Mittel der moralischen Enthemmung).
    Den Weltgeist begreifen, der dieses Marionettentheater inszeniert, an dessen Fäden wir agieren.
    Die Weltkriege und Auschwitz waren die ersten Crash-Tests des in den Abgrund rasenden Zuges.
    Die Väter sind die Repräsentanten der Außenwelt in der Familie, und sie werden zu Recht für den Zustand dieses Welt haftbar gemacht.
    „Laßt die Toten ihre Toten begraben“: Ist das nicht auch ein Imperativ an die Väter? Ist nicht auch das ein Werk der Barmherzigkeit (das Werk des Tobit, der darüber blind geworden ist)?
    Drei Dinge haben mich von Anfang an an der RAF irritiert:
    – Sie hat dem öffentlichen kritischen Diskurs den Boden entzogen (und es gibt keine linke Theorie ohne Öffentlichkeit: das scheinen die Vertreter des Staatsschutzes besser zu wissen als die, die sich heute für Linke halten, während sie gleichzeitig den öffentlichen Diskurs fürchten);
    – der grob fahrlässige Versuch, den Staat zu zwingen, sein wahres Gesicht zu zeigen; mein Eindruck war: Sie wissen nicht, wovon sie reden. Das „wahre Gesicht des Staates“ ist das faschistische, und dem vermochte auch die RAF (die den Faschismus nie begriffen hat) nichts mehr entgegenzusetzen;
    – durch ihre Aktionen hat die RAF mit dazu beigetragen, dem Staat das Alibi für den Ausbau des Repressionsapparats, der heute für andere Zwecke nutzbar ist, zu liefern, die Widerstände dagegen, die unter anderen Bedingungen vielleicht doch noch mobilisierbar gewesen wären, abzubauen. Das kritische Potential, das aufgrund der Erinnerung an den Faschismus vorhanden war und mobilisierbar gewesen wäre, wurde verdrängt, neutralisiert und auf ungefährlichere Objekte verschoben: von der ökonomischen Reflexion auf die Ökologie und auf die Friedensbewegung (Konkretismus, Flucht ins gute Gewissen).
    Urteilsmagie: Daß einer für oder gegen etwas ist, ist noch keine Garantie dafür, daß er dazu beiträgt, daß die Dinge in die Richtung bewegt werden, in die er sie gerne bringen möchte. Es kommt nicht darauf an, daß auf Worte Taten folgen, sondern daß die Worte selber zu Taten werden, und die Theorie zur eingreifenden Gewalt.
    Ist nicht die RAF in den Wiederholungszwang geraten, der sie dazu bringt, die Argumente ihrer Väter, gegen die sie einmal aufbegehrt hat, zu reproduzieren, wenn sie ihren Kritikern entgegenhält, daß sie die Risiken des Handelns gescheut und sich nur herausgehalten hätten; so hätten sie das Recht zur Kritik verspielt. Ähnlich haben ihre Väter auf die Faschismuskritik reagiert: Ihr habt’s nicht miterlebt, ihr könnt nicht mitreden. (Es gibt noch andere Beispiele: so erinnert das Wort vom Verrat der eigenen Geschichte an das Argument der Nestbeschmutzung, der Hinweis auf die schlimmeren Taten der Herrschenden an den Vergleich von Auschwitz mit Hiroshima und Dresden. Hierher gehört auch der Antizionismus und die weithin unreflektierte, die geschichtlichen Voraussetzungen ausblendende Parteinahme für den palästinensischen Widerstand.)

  • 21.12.1996

    Zur Feindbildlogik gehört nicht nur die Enthemmung der Moral, die mit dem Verhalten des Feindes begründet wird, die Wahrnehmung und Legitimierung des Bösen, das in einem selber steckt, am Feind, an dem es zugleich zu bestrafen ist: Der Kampf gegen den Feind ist Teil eines Mechanismus, der mich dem Feind gleich macht. Dafür ist der Feind zu verurteilen und zu bestrafen: So wird meine Bosheit legitimiert und durch die Bestrafung des Feinds zugleich entsühnt (der Judenmord war ein hygienischer Akt). Der Heldentod, zu dem das Martyrium am Ende verkommen ist, legitimiert sich selbst: Die Erinnerung wäre nicht zu ertragen, wenn das umsonst gewesen wäre.
    Der Satz „Soldaten sind Mörder“ ist noch zu harmlos: Sie sind es mit gutem Gewissen, und um das zu schützen, wird dieser Satz unter Strafe gestellt. Das Problem ist nicht die Tat, die nicht rückgängig zu machen ist, sondern das gute Gewissen, mit dem sie verknüpft ist: Es fügt zur Tat den Wiederholungszwang hinzu.
    Heute tun alle ihr Pflicht, aber keiner weiß mehr, was er tut: Ist das nicht der Grund des subjektlosen Lebens?
    Nicht das Opfer Kains, sondern das Abels war dem Herrn wohlgefällig. Welches ist das Opfer Kains, und welches ist das Abels? Hat die RAF das Opfer Kains gebracht?
    Verbirgt sich hinter den „klaren Positionen“ und den „klaren Fronten“ nicht immer ein Stück Gemeinheit, der Versuch, sich der Solidarität der Andern als eines Instruments, als einer moralischen Zwangssolidarität zu bedienen: einer Solidarität durch Komplizenschaft?
    In einem Essay über Ingeborg Bachmann (in Lettre 35, IV/96) erwähnt Dorothea Dieckmann den Angriff einiger Studentinnen auf Adorno, der übrigens nach meiner Erinnerung in einer Vorlesung und nicht im Seminarraum des Instituts stattfand; und Adorno hatte nicht bei diesem Angriff der Studentinnen, sondern schon vorher, anläßlich der Besetzung des Instituts durch Studenten, die Polizei gerufen. Das aber rückt den Vorgang in eine Perspektive, die den daran anschließenden Bemerkungen der Autorin die Grundlage entzieht. Aber wie auch immer: Den Satz „Welche Geste obszöner ist, diese (nämlich Adornos Ruf nach der Polizei, H.H.) oder die der Studentinnen, ist nicht auszumachen – wohl aber, welche intelligenter ist. Die Angreiferinnen haben, wenn auch unfreiwillig, den restriktiven Verteidiger des Besonderen in der Kunst an der ‚richtigen‘, eben der Schwachstelle getroffen“ (Hervorhebung von mir), kann ich nur verstehen, wenn ich den Grad der Intelligenz an dem der Gemeinheit, die den Andern „an der ‚richtigen‘, eben an der Schwachstelle“ trifft, messe. Und hier war Adorno nun wirklich leicht zu übertreffen. Gibt dieser Satz nicht den erschreckend falschen Ansatz des ganzen Essays preis, der auch bei Ingeborg Bachmann Leiden in eben das Feuilleton transformiert, unter dem Ingeborg Bachmann, die sich nicht mehr wehren kann, gelitten hat? Es gibt heute eine Verzweiflung, die verraten und geschändet wird, wenn man sie in die Nähe des Martyriums rückt. Die Märtyrertradition war einmal der Anfang der Heldenverehrung. Leiden ist kein Wahrheitsbeweis.
    Der Kampf gegen die „Weltordnung“, das ist so, wie wenn man einen Kampf gegen die transzendentale Logik führen wollte, die am Ende als der Grund jeder „Weltordnung“ sich erweist. Dieser Kampf wird, wenn er die Reflexion verwirft, zwangsläufig zum Gespensterkampf.
    Die Kollektivscham war die Schiene, über die der Mechanismus installiert worden ist, durch den der Faschismus sich rekonstruieren konnte. Die größte Gefahr für den Faschismus war die Selbstreflexion, die durch die Kollektivscham gebannt und in die Logik der Verurteilung umgeleitet worden ist. Der Verhinderung dieser Selbstreflexion dienen u.a. die Verwirrung der Kritik, die die Selbstreflexion unter Rechtfertigungszwänge setzt, gegen die sie nur als erwachsene, über die Fähigkeit der Reflexion im Andern, sich zu behaupten vermag. Genau das aber verhindert die Scham, die die sich Schämenden infantilisiert.
    Sind nicht durch diese Logik inzwischen die Hardliner der RAF zu Sympathisanten und Unterstützern der BAW geworden? Heute ist jede Front eine verkehrte Front.
    Es vielleicht doch einmal sinnvoll und notwendig, die Geschichte der Naturwissenschaften als eine Geschichte des Frontbegriffs zu beschreiben. An ihr wäre zu zeigen, daß heute jede Front eine verkehrte Front ist. Die Fronten der Naturwissenschaften heute: Mikrophysik, Weltraumforschung, Genforschung?
    Augenlust: Die „nackten Tatsachen“ sind das Alibi der Gemeinheit. Sie bedürfen der Feigenblätter, aber Gott hat ihnen einen Rock aus Fellen gemacht. Wäre es nicht unsere Sache, ihnen das Kleid zu fertigen? Das Wort von der Bedeckung der Sünden bezieht sich auf die nackten Tatsachen. Die Nackten bekleiden, das gehört zu den Werken der Barmherzigkeit. Die nackten Tatsachen korrespondieren dem Begriff der rohen, unbearbeiteten Natur und dem Namen der Wilden. Die nackten Tatsachen korrespondieren der Urteils- und Empörungslust: der Augenlust. Es war Ham, der die Brüder auf die Blöße des Vaters hinwies, und es waren Sem und Japhet, die die Blöße bedeckten. – Die Medien vermarkten die Urteils- und Empörungslust, sie bannen ihre Konsumenten in die Augenlust des Zuschauers.
    Fleischeslust: Die Entdeckung und Unterwerfung Amerikas hat den Zusammenhang der Bekehrungs- mit der Mordlust erstmals vor Augen gestellt. Diese Logik ist am Ende im Holocaust explodiert (synthetisches Urteil apriori: in der „Unbekehrbarkeit“ der Juden, die der Rassismus nur begründen sollte, während in ihr in Wahrheit nur die eigene Unbelehrbarkeit der Antisemiten sich widerspiegelte, war die „Endlösung der Judenfrage“, der Genocid, bereits vorentschieden).
    Hoffahrt des Lebens: Die Anschauung, die vom Gegenblick abstrahiert (und so sich selbst blind macht), macht das Objekt zur Folie der Projektion, des Begriffs.
    Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht: Barmherzigkeit, nicht schon die Solidarität.
    Es gibt zwei Begriffe des Verstehens, die deutlich unterschieden sind: Das Verstehen, das vor dem Holocaust versagt, ist eines, das auf die Ethik als prima philosophia sich gründet; dagegen wird der Holocaust verständlich, ja ableitbar, im Kontext der Ontologie als prima philosophia. Diese Unterscheidung korrespondiert der kantischen Unterscheidung des reflektierenden und bestimmenden Urteils.
    Ist die Justiz die Verkörperung des nachtragenden Prinzips? Der Beruf des Staatsanwalts schließt jeden Gedanken an eine Vergebung der Schuld aus. Ein Staatsanwalt würde seine Pflicht verletzen, wenn er eine ermittelte Verletzung des Gesetzes nicht einem Verfahren zuleiten würde, das darauf abzielt, die im Gesetz für diese Verletzung vorgesehenen Folgen eintreten zu lassen. Der Staatsanwalt ist der Anwalt eines Staates, der – wie der Rachetrieb, aus dem er sich speist – nicht vergißt, weil er der Erinnerung nicht fähig ist. Dem Nicht-Vergessen entspricht eine Verdrängung, dessen institutionelle Verkörperung der Knast ist. Das Strafrecht ist eine Verdrängungsmaschine.

  • 3.12.1996

    Ist die Feindbildlogik nicht schon durch die täterbezogene Regelung des Mordes im Strafrecht verankert? Welche Bedeutung hat es, daß nur hier die „Gesinnung“ als ein Tatbestandsmerkmal erscheint?
    Der Tod ist ein Meister aus Deutschland: Sind die strafrechtlichen Bestimmungen über den Mord der Kern der deutschen Staatsmetaphysik (und ist das Substantiv das grammatische Korrelat des Worts von Paul Celan)?
    Nach der Schrift unterliegt schon die Tötung eines Menschen, nicht erst der Mord dem göttlichen Verbot. Für den Fall der versehentlichen Tötung eines Menschen gab es die Einrichtung der Asylstädte. Während die Tötung eines Menschen der Rache der Angehörigen des Getöteten überlassen blieb, setzt der Tatbestand des Mordes den Staat voraus; das Gewaltmonopol des Staates ist eigentlich das Produkt der Akkumulation und Monopolisierung der Rache durch den Staat. Der Satz: „Mein ist die Rache, spricht der Herr“, ist gegen das Gewaltmonopol des Staates gerichtet.
    Die Todesstrafe wird nach der Schrift vom Staat weder verhängt noch vollstreckt. Die in der Schrift vorgesehene Form der Todesstrafe ist die Steinigung, die von der Gemeinschaft vollzogen wird. Die erste durch den Staat vollstreckte Todesstrafe war die an dem pharaonischen Oberbäcker in der Josephsgeschichte, der gehängt wurde.
    Ist das Opfer des Abel nicht ebenso anachronistisch wie die Tierfelle, die Gott den ersten Menschen nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies gibt, um ihre Blöße zu bedecken? Das erste Nahrungsgebot, das auch das Essen von Tieren erlaubt, ist das noachidische. Es ist ein Teil des noachidischen Bundes, zu dem auch die Zusage gehört, daß es eine Sintflut nicht mehr geben wird, und das Zeichen des Bogens in den Wolken.
    Im Zentrum des Erkenntnistriebs ruht der Wunsch, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Das Ziel dieses Wunsches aber schließt auch den Zustand der Welt mit ein: Ich komme mit mir selbst ins Reine nur in einer Welt, in der es keine Not, keine Verfolgung, keine Gewalt mehr gibt, in der mit einem Wort Gerechtigkeit und Friede sich küssen (die gegenwärtige Gestalt der Beziehung von Gerechtigkeit und Frieden ist die der Unzucht).
    Der Erkenntnistrieb bedarf der Sprache, er ist die erste Frucht der Liebe, mit der Gott die Seele weckt. Der Dank, mit dem die Seele auf diese Liebe antwortet, ist die Übung und Entfaltung ihrer prophetischen, messianischen, parakletischen Kraft: sind die Werke der Barmherzigkeit, die über das Gericht triumphiert.
    Hat nicht die Trennung des Anschauens von der Sprache, der Untergang der Prophetie und die Gestalt des falschen Propheten, etwas mit der Geschichte des Himmels zu tun? Ist der Himmel dem offen, der in der Sprache „sieht“, und steckt in diesem Sehen die Erkenntniskraft des Namens? Haben die Funktion und die Bedeutung der Zahl 666, die „Verhärtung des Herzens“ Pharaos, aber auch der Traum des Nebukadnezar, etwas hiermit zu tun?
    Durch die Trennung des Anschauens von der Sprache, durch die Vergegenständlichung der Welt, schrumpft die Sprache auf ihre instrumentellen Funktionen, auf Begriff, Information und Mitteilung, zusammen, verliert sie ihre kritische Kraft, die in der Logik des Namens gründet. Das wissenschaftliche Korrelat dieser Trennung ist die Linguistik: die Trennung der Sprache von der Sprache; ihr ökonomischer Motor ist der Markt, der in den Zwängen der Privatisierung, der Entpolitisierung der Herrschaft durch Verwaltung: der Herrschaft der Dingwelt und des versteinerten Herzens sich entfaltet und manifestiert. Der moralische Imperativ, der im Namen Gottes, in der noch ausstehenden Einheit der göttlichen Attribute gründet, ist in die Trägheits- und Sachzwänge der subjektlosen Dingwelt eingewandert. Dem korrespondiert die Utopie einer Welt, in der alle ihre Pflicht tun, aber keiner mehr weiß, was er tut.
    Sind nicht die Parlamente längst zu Akklamationseinrichtungen der Verwaltungen und die Regierungen zu „willigen Vollstreckern“ der Marktgesetze geworden? Und bezieht sich nicht darauf das Wort von der „funktionierenden Demokratie“?
    Veweist nicht der letzte Satz im Buch Jona, der auf die Fähigkeit, rechts und links zu unterscheiden, sich bezieht, auf den Prozeß der Ablösung der Anschauung von der Sprache? Diese Beziehung zur Trennung von Anschauung und Sprache ist es, die die Einbeziehung des Königs und der Tiere in die Buße des Volkes erforderlich macht. Auch die Tiere müssen fasten: Das Drachenfutter ist ihnen zu verweigern (wenn die Schlange vom Staub lebt, dann muß Adam aufhören, zu Staub zu werden).
    Die Sünde wider den Heiligen Geist ist die Sünde der Verhärtung des Herzens.
    Ist nicht der denunziatorische „offene Brief“ der JU an den Bischof von Limburg das Gegenstück zum Begriff des „Selbstbezichtigungsschreibens“?
    Wenn Heumann ein Wadenbeißer war, dann sind die Urheber des Angriffs auf Hubertus Janssen Pitbulls, Kampfhunde. Wadenbeißer greifen von hinten an, Kampfhunde frontal.
    Im Inertialsystem des Rechts vertreten das Racheprinzip und die Feindbildlogik die transzendentale Ästhetik: die subjektiven Formen der Anschauung.
    Das Trägheitsgesetz des Strafrechts läßt an dem Satz sich demonstrieren, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand ist (dieser Satz repräsentiert zusammen mit den strafrechtlichen Bestimmungen über den Mord das Gesetz der Feindbildlogik im Recht).
    „Mein ist die Rache, spricht der Herr“: Wenn Mizrajim der Eisenschmelzofen ist, dann ist der Gottesname, den der Pharao nicht kannte, das Feuer, das Rache in Barmherzigkeit umwandelt.

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