Gericke

  • 23.6.1995

    Während die Logik des Weltbegriffs das Bewußtsein ans Vergangene heftet (das Präsens, die wiederhergestellte Unmittelbarkeit, ist durch die Vergangeheitsform, durch Natur und Geschichte vermittelt), findet die prophetische Vision ihren Gegenstand in der vergangenen Zukunft: durch die Kritik von Natur und Geschichte hindurch; deren Medium aber ist der Name, die benennende Kraft der Sprache. Instrument der Bindung des Bewußtsein ans Vergangene sind die subjektiven Formen der Anschauung, ist das Inertialsystem, dessen „Umkehr“ (in der Gestalt des prophetischen, messianischen, parakletischen Denken) Voraussetzung der Rekonstruktion der Sprache ist.
    Das Inertialsystem (der Kelch) ist der Greuel der Verwüstung am heiligen Ort.
    Die Dinge beim Namen nennen: Das heißt, sie im Angesicht Gottes erkennen.
    Der Begriff der Vermittlung bezeichnet selbst im Bereich der Natur einen gesellschaftlichen, keinen natürlichen Tatbestand.
    Das Eine ist das Andere des Anderen. Gegen das Anderssein, das als Sein für Andere sich konstituiert, richtet sich das Wort: Laßt die Toten ihre Toten begraben, ein Wort, dessen herrschaftskritische Brisanz noch zu entdecken ist.
    Die Beziehung der Geschichte der Hexenverfolgung zur Ursprungsgeschichte der Aufklärung gründet darin, daß die Herstellung des Totenreichs nur möglich war bei gleichzeitiger projektiver Verarbeitung und Verschiebung, wie sie der Hexenwahn dann leistete. Der Hexenwahn hat die Basis geschaffen für die Verdrängungsleistung, die dem Erkenntnisbegriff der Aufklärung zugrunde liegt. Als Otto Gericke mit seinem Magdeburger Experiment den horror vacui zu einem physikalischen Phänomen gemacht hat, hat er das darin verborgene logische Problem endgültig verdrängt.
    Hat die naturwissenschaftliche Aufklärung nicht etwas mit dem Duftmarkensetzen des Hundes zu tun?
    Das Eine ist das Andere des Andern: Es geht nicht um das Andere/den Anderen, sondern es geht um das Eine, das hinter dem Anderssein des Andern sich verbirgt. Der Name dieses Einen ist das Fremde.
    Kann es sein, daß in der Vorstellung, im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung seien die Voraussetzungen geschaffen worden für eine Gesellschaft, die der Herrschaft nicht mehr bedarf, die Prämisse falsch ist? Wird hier nicht der Schein, der einer Abstraktion sich verdankt, mit der Nichtexistenz dessen, wovon abstrahiert worden ist, verwechselt? Das Bild vom Absägen des Astes, auf dem man sitzt, trifft den Sachverhalt recht genau.
    Sind nicht Natur- und Umweltschutz Weiterentwicklungen der Schädlingsbekämpfung, nur daß sie an die Stelle der Raupen, Insekten und sonstigen Schädlinge die Menschen setzen, vor denen „die Natur“ jetzt zu schützen sei? Gehört die Logik, die dem zugrundeliegt, und die in Teilen des Feminismus wiederkehrt, nicht zu den Folgen von Auschwitz, zur Logik der vergeblichen Mühen, diese Schuld noch einmal durch Schuldverschiebung und Projektion, durch die man dem Täter-Opfer-Syndrom zu entrinnen versucht, abzuwerfen? Vergessen wird, daß die zu schützende Natur selber bereits dem Schuldverschubsystem sich verdankt: eine Kopfgeburt der Menschheit ist. Fällt nicht auch der Naturbegriff unter die prophetische Kritik des Götzendienstes?
    Die Anbetung des Marktes, der Natur, der Nation, des Rechtsstaats: Sind das nicht alles Emanationen der gleichen Logik der Exkulpation, des Abwerfens der Last der Verantwortung? Vor allem: Auch dieser Kult fordert seine Opfer.
    Mein ist die Rache, spricht der Herr, aber der Rechtsstaat nimmt ihm diese Last ab. Nur: Wie kommt es, daß die DDR-Vergangenheit einen stärkeren Rachetrieb erzeugt hat als die Nazi-Vergangenheit? Und eine Richterschaft, die angesichts der eigenen Beteiligung am Nazi-Terror gegen sich selbst ausnahmslos das „in dubio pro reo“ gelten ließ, kommt von diesem Fluch nicht mehr los und holt heute das Versäumte in der anderen Richtung nach.
    Person und Sache: Jedes Persönliche ist von Sachlichem durchdrungen, und jede Sache ist in Persönliches verstrickt. Die Trennung von Person und Sache ist in letzter Instanz eine grammatische; eine reale ist sie nur auf der Grundlage der subjektiven Formen der Anschauung, im Reich der Erscheinungen. Das läßt sich deutlich machen am Stichwort „Personalkosten“, wie die Trennung von Person und Sache endgültig erst mit der Lohnarbeit, der differentia specifica des Kapitalismus, die in die Ursprungsgeschichte des Staates zurückreicht, sich durchgesetzt hat. Engels‘ Begriff der Utopie, als er glaubte, das Reich der Freiheit auf der Verwaltung von Sachen gründen zu können, wird widerlegt durch die Existenz von Personalabteilungen, ohne die es eine Verwaltung von Sachen nicht gibt. Die 82er Wende war der Sieg einer gesellschaftlichen Logik, der die Einsicht zugrundelag, daß Personalfragen Sachfragen sind.
    Heute, da es scheint, daß das Proletariat seine revolutionäre Kraft endgültig verloren hat, greifen linke Bewegungen immer häufiger auf das Leninsche Avantgarde-Prinzip zurück und suchen in den nationalen Befreiungsbewegungen, die mit der Revolution des Proletariats wenig zu tun haben, ihre Verbündeten. Die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt, die das Proletariat ersetzen sollen, stehen nicht zufällig in Gefahr, Vorläufer von Militärdiktaturen zu werden. Ähnlich scheint die Gefahr zu sein, in der die Nachfolgestaaten des real existierenden Sozialismus stehen, Folge des parvus error in principio, der seit der Oktoberrevolution ungelösten Frage, ob ein Sozialismus in einem Lande möglich sei.
    Der Weltgeist stand seit je auf der Seite der Instrumentalisierung.
    Heute geht es nicht mehr darum, auf welcher Seite einer steht; die Front ist nicht mehr draußen; und das Scheiden der Schafe und Böcke ist Sache des Jüngsten Gerichts.

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie