Gesellschaft

  • 29.01.88

    Eine Revolution, die Opfer fordert, ist eine contradictio in adjecto. Das Ziel der Revolution steht nicht an deren Ende, sondern ist in ihr selbst präsent. Es drückt sich eher in den Mitteln der Revolution als in dem, was man sich gemeinhin als ihr Ziel vorstellt, aus. Die Revolution ist zuallererst eine Revolution der Mittel, nicht der Ziele. Jegliche Instrumentalisierung verhindert die Revolution, verwandelt sie in ihr Gegenteil, macht sie zu einem Agenten der Gegenrevolution, die bis heute immer stärker gewesen ist.

  • 30.01.88

    Können Opfer „Revolution machen“, ohne aus der Opferrolle herauszutreten? Ist die Revolution überhaupt etwas anderes als dieses aus der Opferrolle Heraustreten?

    Dagegen scheint es eines der charakteristischen Merkmale der Studentenbewegung gewesen zu sein, wenn deren Mitglieder – und zwar wie es scheint bewußt – sich mit der Rolle der Opfer in dieser Gesellschaft (nicht mit den Opfern dieser Gesellschaft) identifizierten. Wenn sie der Gesellschaft im Bilde ihrer Opfer vor Augen hielt, was sie nach Faschismus und ohne Aufarbeitung der Vergangenheit immer noch repräsentierte, provozierte sie – voraussehbar und nicht zufällig – in steigendem Maße Verblendung und Wut, das Wiederaufleben des Faschismus. Die Identifikation mit der Opferrolle war ebenso Voraussetzung wie Haupthindernis einer wirklichen Änderung der Verhältnisse: Unverkennbar die Verführung zu Selbstmitleid und Paranoia sowie – in der Theorie, im Bewußtsein – zum Konkretismus (eine Gefahr, der insbesondere die ökologische Bewegung ausgesetzt zu sein scheint), schließlich die Unfähigkeit, die eigene Rolle in dieser Situation überhaupt noch zu reflektieren.

  • 22.02.88

    In der Talkshow am Freitag (19.02.) Diskussion u.a. mit Frau Noelle-Neumann über ihr neues Buch: Die verletzte Nation.

    Die wesentlichen Kritikpunkte wurden angesprochen:

    – Die „verletzte Nation“ ist in Wahrheit die verletzende: Selbst das Leiden der Deutschen ist sinnvoll nur zu begreifen als Folge ihrer (Un-)Taten;

    – insbesondere das Leiden in den vierziger Jahren hat (als Grund des Selbstmitleids) dazu beigetragen, das Grauen, das man selbst verursacht hatte und das in der täglichen Zeitung ebenso wie in jedermanns Nachbarschaft sichtbar war, auszublenden, unsichtbar zu machen, es in den blinden Fleck zu rücken; nur so ist es verständlich, wenn nach dem Kriege alle – subjektiv ehrlich – sich auf das Nicht-Gewußt-Haben herausreden konnten;

    – Stolz ist – soweit überhaupt – begründbar nur durch Leistungen; Stolz auf Goethe, Beethoven und das deutsche Land ist irrational, pathologisch;

    – zum „Autoritätsverlust“:

    . wer „untergräbt“ denn permanent die Autorität von Eltern, Kirche und Staat?

    . wie kann man nach den Studien über den autoritären Charakter noch so unreflektiert die Wiederherstellung von Autorität und Vertrauen in die Autorität als Ausweg aus der Krise anpreisen?

    . wie kann man – nachdem Instrumentarien zur Analyse von Meinungen entwickelt, erprobt und bekannt sind – so auf „Forschungsergebnisse“ sich berufen und dann noch Folgerungen daraus ableiten, die aller bisherigen Forschung Hohn sprechen?

  • 27.02.88

    Kann es sein, daß mit dem Verschwinden der Gottesidee (die im übrigen lange vor dem Verschwinden des manifesten Gottesglaubens einsetzt) etwas in der Struktur des Subjekts derart sich verändert, daß auch die Anwendung der Psychoanalyse davon berührt wird? Verschwindet nicht zugleich auch der Ödipuskomplex; und zwar in der Folge von Änderungen in der Ich-Struktur, die die Relation von Neurose und Psychose im Kern verändert haben? Sind diese Änderungen u.a. Grund dafür, daß in der Schizophrenie-Forschung heute Therapie-Möglichkeiten entdeckt werden können, die es vor achtzig Jahren einfach noch nicht gab? Ist m.a.W. die Normalität heute der Psychose näher als die Neurose? Ist der Faschismus historisch erkennbar geworden? (Vgl. hierzu nochmals Theweleits „Männerphantasien“).

    Die Narzißmus-Diskussion scheint den gleichen Sachverhalt als Anlaß gehabt zu haben: Eine Theorie der Gesellschaft, die aus dem Stand der Naturbeherrschung (dem Erkenntnisstand der Naturwissenschaften) zu entwickeln wäre, müßte das Problem auflösen können. Der Feminismus ist ein ebenso begründeter wie ohnmächtiger Protest gegen diesen gegenwärtigen Weltzustand.

  • 26.05.88

    Wer die Urteile in Terroristenverfahren auf Naziverbrechen anwenden wollte, müßte das ganze Volk, das ein Volk von Sympathisanten war, in Isolationshaft halten; aber verhält sich dieses Volk nicht bereits so, als befände es sich in Isolationshaft? – Die Einführung eines Sozialversicherungsausweises paßt gut dazu: so bekommt man das Volk in den Griff; man versetzt alle sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer unter Verdachtsanklage, Schwarzarbeiter – „Ausbeuter“, wie Herr Blüm sie zu nennen beliebt – zu sein, ein Verdacht, von dem man sich nur befreien kann, wenn man Inhaber eines Ausweises ist: „wer nichts zu verbergen hat, …“ – Das Schlimme ist, daß diese Aktion genau die Stimmung bestimmter Gewerkschaften und in der rechten SPD zu treffen scheint, die nicht merken, vor welchen Karren sie gespannt werden.

  • 06.06.88

    Heute ist jeder in den Apparat, in die Maschinerie, eingespannt, die zugleich seine Erfahrung und seinen Begriff von der Welt bestimmt. Und zwar in einer Weise bestimmt, daß der Eindruck immer mehr sich verstärkt, das Beste entziehe sich dem Blick, rücke immer mehr in den blinden Fleck. Religion, die heute immer mehr genutzt wird, um das Eingespanntsein (das „In-der-Welt-Sein“) erträglich zu machen, kann auch – wenn man sie nur einen Moment ernst, beim Wort nimmt – der verzweifelte Versuch sein, den Punkt zu bestimmen, von dem aus sich das Ganze wenden läßt; ja es könnte sein, daß sie als die einzige Möglichkeit, überhaupt noch den Gedanken einer Änderung ernsthaft und ohne trübe Vermischung mit Ungelöstem ins Auge zu fassen, sich erweist.

  • 14.06.88

    Folter und paranoide Systeme gehören zusammen; der Gebrauch von Folter ist bereits der Beweis für die zugrundeliegende paranoide Verfassung des Bewußtseins ihrer Anwender. Umgekehrt: Aussagen, die durch Folter (und dazu gehört auch die Isolationshaft) erzwungen werden, bestätigen immer nur die paranoiden Vorstellungen und Erwartungen der Folterer und ihrer Vorgesetzten (es scheint übrigens Folter immer nur im Kontext hierarchisch organisierter Gruppen/Instanzen zu geben: Ein nicht zu vermeidender Konstruktionsfehler? Zusammenhang von Verwaltung und Paranoia?.

    Das gilt sowohl politisch wie in der Wissenschaft: für jegliche Art von Inquisition wie fürs Experiment (Arbeitshypothese: Physik als paranoides System; Zusammenhang von Inquisition, Ketzer-/Hexenverfolgung und Ursprung der modernen Naturwissenschaften).

  • 16.06.88

    Das Bürgertum – als Subjekt des Rechts – ist der Ursprung der Utopie, der Idee einer Gesellschaft, die – ihrer selbst mächtig – der Unterdrückung eigentlich nicht mehr bedarf. Die Funktion der Strafe sollte es sein, den Irrenden auf den rechten Weg zurück zu führen; ihre reale Funktion jedoch war die Abschreckung: sie war Strafe für andere, und der einsitzende Delinquent nur zufälliges Opfer wie das Tier im Experiment. Eigentlich jedoch – und das verweist auf das Moment des Scheins im Ursprung der Utopie – war die Strafe (die der Intention nach immer nur den anderen treffen durfte, mit dem niemand sich zu identifizieren wagte) reine Demonstration der Macht, die Grenze zwischen Subjekt und Objekt in der von Macht geprägten Gesellschaft, eine Grenze, die mitten durchs Subjekt verläuft (und hier Ich und Es, Bewußtsein und Unbewußtes trennt). Oberhalb dieser Grenze ist die eine, wahre und eigentliche Welt, der der anständige Mensch angehört; unterhalb liegt das Verdächtige, Verrufene, die Schuld. Strafe ist das Instrument der Internalisierung des Terrors, sie wirkt zugleich auf eine infame Art desorientierend: Strafe wirkt nur von oben nach unten; die Vorstellung, das Verhältnis ließe sich umkehren, die Oberen könnten zur Rechenschaft gezogen werden, ist der Grund für das Mißlingen jeder Revolution bis heute (Austausch des Personals, nicht Änderung der Verhältnisse). Die wirkliche Revolution wäre die Abschaffung der Strafe (und des richtenden Rechts).

  • 20.06.88

    Zur Theorie des Namens: Gesetze werden „im Namen des Volkes“ erlassen, Urteile „im Namen des Volkes“ gefällt. Gesetze wie Urteile, das Wesen des Richtens überhaupt, sind per definitionem nur von oben nach unten anwendbar, d.h. gegen das Volk gerichtet. Der Name des Volkes hat demnach hier im präzisesten Sinne double-bind-Funktion, er soll dem Volk das schlechte Gewissen machen; er treibt das Volk in die Arme seiner Feinde, die seinen Namen nur usurpieren. M.a.W. der „Name des Volkes“ ist Ausdruck der kollektiven Selbstfeindschaft, deshalb faschistisch.

    Nachtrag 02.02.89: Volk läßt sich bestimmen als Schicksalsgemeinschaft. D.h. Volk ist als Objekt des Schicksals durch den Schuldzusammenhang des Schicksals definiert. Völker gibt es erst, seit des Könige gibt, beide gehören dem mythischen Zeitalter an. Die Königstradition im Christentum (die sich im Gegensatz zur Reichstradition, die am Caesar sich orientiert, auf David, den Stammvater des Messias, beruft) bezeichnet demnach genau die Wiederkehr des Mythos, den Bereich, auf den sich die Idee der Umkehr, die Christentum und Judentum konstituiert und verbindet, bezieht.

  • 10.07.88

    Der christliche Höllenglaube ist nicht nur Produkt der Auseinandersetzung mit dem Mythos, sondern zugleich Grund der Wiederkehr des Mythos im Christentum. Und zwar vor allem als Grund und Rechtfertigung des Rechts, der Strafe, eigentlich des theologischen Kompromisses, das notwendig war zur Begründung und Rechtfertigung des Staates.

    Je mehr ich mich mit dem Deutschen Herbst und seinen Folgen befasse, umso entsetzter und fassungsloser; Verdrängung der Realität, Durchsetzung von Gesinnungen und Fakten durch Rechtsmittel, gefährliche Entwicklung, Verdrängung des Gewissens, der Humanität (des „inneren Schweinehundes“). Zusammenhang der Isolationshaft von Irmgard Möller mit den ungeklärten Toden in Stammheim; Interesse der Justiz sowohl an den Toden als auch an der Verweigerung der Aufklärung setzt sich fort in der Aufbauschung der gesamten alternativen Szene zum Terrorismus; wieviel Isolationshäftlinge gibt es eigentlich inzwischen? was ist an dem Hinweis von Klaus Jünschke, wonach die verantwortlichen Stellen wissen, daß aufgrund von Aussagen im Vorgriff auf die Kronzeugenregelung Urteile gefällt (und Menschen verurteilt) wurden, obwohl diese Aussagen nachweislich falsch sind? Herr Bode, den Herr Jünschke direkt angesprochen hat, hat nicht widersprochen (in einer Talkshow vor kurzem).

    Verdacht, daß eine parlamentarische Aufklärung – wie in der Parteispenden-Affaire – nicht zu erwarten ist, weil alle beteiligt sind (SPD/FDP als damals verantwortliche Regierung; CDU ohnehin).

    Vorfall Startbahn:

    . Staatsanwaltliche Ermittlung ohne Ergebnis: nicht herauszubekommen, wer die Festnahme überhaupt vorgenommen hat;

    . Schreiben an einen Landtagsabgeordneten landet bei der Polizei.

    Weitere Erfahrungen:

    . Frage nach dem Namen eines Polizeibeamten: „Ich heiße Anders, heute heißen hier alle Anders (anders)“,

    . Frage nach der Dienstnummer: „4711“.

    Zu den sieben Werken der Barmherzigkeit vgl. Matth. 25, V. 34-40.

  • 12.07.88

    Zum Begriff des Volkes: die differentia specifica der Volksgemeinschaft war (ist) die Komplizenschaft, ihr präzisester Ausdruck die Denunziation dessen, der sich nicht einordnete. Vgl. auch „Volkslied“, „Volkspartei“, „Im Namen des Volkes“. Das Volk (als Gattung) ist eigentlich die Wiederkehr eines Verdrängten: des Stammes, der die Menschen einmal, vor der Geschichte ihrer Individuation, unter sich subsumierte; Inbegriff des Schuldzusammenhangs (des Mythos), der insbesondere in der Institution des Rechts überlebt.

  • 16.07.88

    Die Nazizeit hat bei den Beteiligten (und den Nachfahren) Rechtfertigungszwänge für Tatbestände, die nach den Kriterien persönlicher Schuld kaum noch sich dingfest machen lassen, ausgelöst, die dann in den neuen Schuldzusammenhang (der „zweiten Schuld“) erst hineingeführt haben; insbesondere die Hypostasierung des Rechts (vor dem diese Schuld sich nicht fassen läßt) hängt hiermit aufs folgenträchtigste zusammen. Wenn der Satz „Ideologie ist Rechtfertigung“ stimmt (wie übrigens auch die theologische Umkehrung „Rechtfertigung ist Ideologie“), dann ist ein Zustand erreicht, der droht, reine Ideologie zu werden. Vor dem Recht sind offensichtlich die Beamten (Richter, öffentliche Verwaltung, Polizei), ohne die die Verbrechen nicht möglich gewesen wären, unschuldig, während die, die es wirklich sind, an der Last des Entsetzlichen zerbrechen. Hier läßt sich mit Händen greifen, was Benjamins Hinweise auf den Zusammenhang von Recht, Schicksal und Mythos in der Realität bedeuten. (Luthers Rechtfertigunglehre war die notwendige Folge seiner verzweifelten Anerkennung der „rechtmäßigen Obrigkeit“: das Tor für den Einbruch des Mythos ins Christentum hat Paulus eröffnet; Zusammenhang der Rechtfertigungslehre mit der paulinischen Rechtfertigung der Herrschaft und dem Ausschluß der Frauen! – Gibt es eigentlich ein matriarchalisches Recht? Ist das Recht gleichursprünglich mit dem Patriarchat? Hat es irgendwann einmal Richterinnen gegeben? Sind Recht, Patriarchat und Mythos gleichursprünglich?)

    Barock als Ideologie-Generator: Die Reformation hat die Kirche unter Rechtfertigungszwang gestellt, die Gegenreformation hat das Gesetz der Rechtfertigung rein durchgesetzt.

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