Gesellschaft

  • 4.5.1995

    Schuldverschubsystem (Buße und Umkehr): Der Staat ist die Buße für die Sünde der Bekehrung (durch die das Volk aus der Gemeinschaft des Stammes (gens, phylä) sich löst und als Volk (populus, laos) sich konstituiert). Er erweist sich als Organisationsform des Schicksals (mit dem Volk als „Schicksalsgemeinschaft“, als passivem Objekt des Staats), aus dessen Bann nur die Umkehr herausführt.
    Vom Tempel zum Fernsehen: Erst im Staat gibt es ein Publikum, das Kollektiv der Zuschauer, den Begriff der Öffentlichkeit. Die subjektiven Formen der Anschauung (in denen die Geschichte der Verinnerlichung des Opfers und der Legitimation des staatlichen Gewaltmonopols sich vollendet) repräsentieren den Staat im Subjekt (ohne den Bann, den die Geschichte der Vergangenheit auferlegt, und ohne objektivierende Naturerkenntnis, das aber heißt: ohne die Einordnung der Dinge in Raum und Zeit, gibt es keinen Staat).
    Beachte die Bedeutungsverschiebung: Im Lateinischen schloß das Wort populus auch die Bedeutungen noch mit ein, die wir heute nur noch mit dem Begriff des Publikums verbinden (Zuschauer und Öffentlichkeit), während publicus, -a, -um adjektivische Bedeutung hatte und die Zugehörigkeit einer Sache zum populus (zum Volk, zur Öffentlichkeit) bezeichnete (was sind die griechischen Entsprechungen hierzu?). Seit wann bezeichnet das Wort Publikum (publik, Publizität) die Zuschauer in öffentlichen Veranstaltungen (nicht bei Ereignissen: Zuschauer sind nicht Zeugen), und seit wann gibt es „die Leute“?
    Öffentlich ist, was vor den Augen aller sich ereignet. Während öffentliche Ereignisse die Zeugenschaft begründen, gibt es bei öffentlichen Veranstaltungen nur Publikum (Zuschauer eines inszenierten Schauspiels, eines Films, einer Sportveranstaltung, deren „Wirkung“ die Ohmacht und Passivität des Kollektivs einsamer Zuschauer voraussetzt; dem „reinen Zuschauer“ ist jeglicher Eingriff in das Geschehen, das vor ihren Augen sich abspielt, verwehrt; selbst die moralische Würde der Zeugenschaft ist liquidiert, hat sich verflüchtigt).
    Das ist möglicherweise der entscheidende Effekt jeglicher Ästhetisierung (vom naturwissenschaftlichen Objektbegriff über das Schauspiel bis zum Sport und zur Medialisierung der Politik), daß sie die moralische Gemeinschaft mit dem Objekt aufhebt. Ontologien gibt es erst, seit (über die Entfaltung der Raumvorstellung und unter der Herrschaft des Tauschprinzips) die Ästhetik (der „Schein“) in den Kern des Realen eingedrungen ist. In dieser Konstellation gründet der kantische Begriff der Erscheinung, der allen Phänomenologien seit Lambert und Hegel zugrunde liegt.

  • 1.5.1995

    Die Erkenntnis des Guten und Bösen, die daran sich orientiert, wofür oder wogegen einer ist, orientiert sich damit am Prinzip der Selbsterhaltung.
    Erinnerungsarbeit heißt nicht sich dessen erinnern, was man einmal empfunden hat, sondern in die Erinnerung zurückrufen, was man von der Sache her hätte empfinden müssen und auch empfunden hätte, wäre das Wahrnehmungsvermögen nicht durch Rechtfertigungszwänge blockiert gewesen. Ziel der Erinnerungsarbeit ist nicht die Bewahrung der Identität, sondern ihre Sprengung: Wo Es war, soll Ich werden. Identitäten gibt es nur im Bann des Feind-Denkens.
    Die 68er Bewegung läßt sich daran erkennen, daß sie für ihre Eltern (für ihr Versagen unterm Faschismus) sich schämte. Aber blieb nicht die Scham in den Schatten dessen, wofür sie sich schämte, gebannt: den Schatten des Faschismus?
    Die Beziehung des ersten zum zweiten Teil des Stern der Erlösung ist das Modell einer Umkehr, die auch die Natur vom Bann der Naturwissenschaften zu befreien vermöchte. Das Christentum hat seit seinem Ursprung die Umkehr mit der Bekehrung verwechselt: Dadurch ist es zu einem Teil der Geschichte der Aufklärung geworden. Der Begriff der Bekehrung gehört zur Ursprungsgeschichte des modernen Objektivationsprozesses, der an den Bekehrten zuerst erprobt worden ist. Unter dem Bann dieser Konstellation steht die christliche Theologie (als Bekenntnistheologie) seit ihrem Ursprung. Das Bekenntnis bezieht sich in ähnlicher Weise auf die Wahrheit wie die Bekehrung auf die Umkehr: nämlich als Form ihrer Instrumentalisierung; beide sind Teil der Herrschaftsgeschichte, der Geschichte der Naturbeherrschung, in die das Christentum verstrickt ist.
    Zur Konstruktion der Mechanik und zum Bild der Stoßprozesse, die nicht zufällig am Verhalten von Billardkugeln demonstriert werden, gehört das Bild einer ebenen und glatten Fläche: die Realabstraktion vom Einfluß und von den Wirkungen der Gravitation, die Eliminierung der Fallbewegung. Das so Eliminierte kehrte dann als vergegenständlichtes Gesetz im Gravitationsgesetz, das zu den Konstituentien des Inertialsystems gehört, wieder.
    Entspricht nicht die Abstraktion vom Fall im Konzept des Inertialsystems in der Gesellschaft die Abstraktion von der Arbeit im Prozeß ihrer Subsumtion unters Tauschprinzip? Ist nicht die Logik, die das Geld aus dem Tauschverhältnis (statt aus der Institution der Schuldknechtschaft) herleitet, ein Teil der Logik, die das Inertialsystem als naturgegeben hinnimmt und von dem Abstraktionsprozeß, in dem es entspringt, abstrahiert? Den gleichen konstitutiven Abstraktionsschnitt (der dann in den Antinomien der reinen Vernunft reflektiert wird) vollzieht in der Transzendentalphilosophie Kants das Konstrukt der subjektiven Formen der Anschauung.
    Die Geschichte der Erfindung von Instrumenten (der Verdinglichung der Objekte) setzt historisch und genetisch die Entdeckung des Feuers voraus: Prometheus hat die Menschen den Gebrauch des Feuers gelehrt. Gibt es zu diesem Mythos eine Parallele in der Tradition der Bibel?
    Zu Metz‘ Bemerkung, daß man auch nach Auschwitz noch beten könne, weil auch in Auschwitz gebetet worden sei, wäre zunächst zu fragen, ob die Frage Adornos, ob man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben könne, auf das Gebet überhaupt sich übertragen läßt. Müßte im Falle des Gebets die Frage nicht heißen, wie man nach Auschwitz noch beten kann (ohne die Opfer zu verraten), nicht aber, ob man nach Auschwitz noch beten kann (diese Frage wäre zu erledigen mit dem Hinweis, daß, wer nach Auschwitz nicht betet, die Opfer nochmals verrät). Zu ergänzen wäre einzig, daß nur die Beantwortung der ersten Frage die Bejahung der zweiten zu begründen vermag.
    Lag nicht die Frage, wie man nach Auschwitz noch beten kann, unbewußt schon der Problemlage, aus der die „liturgischen Bewegung“ hervorgegangen ist, zugrunde; wobei die „Liturgiereform“ nur nur als Ausdruck dieses Problems, nicht als dessen Lösung sich erwiesen hat. Die Frage nach der Möglichkeit der öffentlichen Repräsentanz des Gebets nach Auschwitz, scheint mir, ist noch unbeantwortet. Ist diese Frage nicht eine Frage an die Theologie, die in der These sich zusammenfassen läßt:
    Die christliche Theologie ist seit den Kirchenvätern eine Theologie hinter dem Rücken Gottes,
    es käme aber darauf an, endlich Theologie im Angesicht Gottes zu treiben.
    Hierzu einige Erläuterungen:
    – Im Angesicht und Hinter dem Rücken, Beispiel: Kinder in der Familie („machen wir Gott autistisch?“),
    – Cohen/Levinas: Die Attribute (der Gegenstand der Gotteserkenntnis) sind Attribute des Handelns, nicht des Seins, sie haben den Charakter des Gebots (Der Satz: Gott ist barmherzig, heißt: Seid auch ihr barmherzig),
    – Sehen und Hören: Begriff und Name (Rosenzweig und Ernst Schlenker oder die Heiligung des Gottesnamens),
    – Theologie und Naturwissenschaften (Objektivation und Instrumentalisierung),
    – Apologetik, Rechtfertigung und parakletisches Denken,
    – das Gebet als Erinnerungsarbeit (die Vergangenheit offenhalten),
    – Camilo Torres: Revolution, Opfer und Gebet (Mt 522f, Mk 1125; vgl. Elena Hochman und Heinz Rudolf Sonntag: Christentum und politische Praxis: Camilo Torres, Frankfurt 1969, S. 92ff u. 108),
    – Reinhold Schneider: Allein den Betern kann es noch gelingen …,
    – Joh 129 und die sieben Siegel der Apokalypse,
    – der Weltbegriff.
    Zu Mt 1619 und 1818: Hat nicht die Kirche bis heute nur gebunden, nicht gelöst?
    Gunnar Heinsohn hat kürzlich auf die „Methode der parallelen Rätselkumulation“ aufmerksam gemacht: „Sie besagt, daß ein Einzelrätsel leichter zu lösen ist, wenn man es mit benachbarten Rätseln gleichzeitig angeht und einen gemeinsamen Grund für alle sucht.“ („Parallele Rätselkumulation – ‚Warum Auschwitz?’“, Zeitensprünge 1/95, S. 56f) Heinsohn verweist auf mehrere Beispiele, bei denen die Lösung eines Rätsels durch den direkten Zugriff nur erschwert, wenn nicht blockiert wurde, während sie durch Häufung paralleler Rätsel aus deren wechselseitiger Beziehung sich gleichsam von selbst ergab. Alle Beispiele, die er hierbei anführt, beziehen sich auf „Rätsel“, die selber wieder in einer merkwürdigen wechselseitigen Beziehung stehen und auf ein gemeinsames Zentrum zu verweisen scheinen. Und die Vermutung ist vielleicht nicht ganz unbegründet, daß die „Lösungs“-Methode selber auf einen gemeinsamen logisch-systematischen Grund zurückweist.

  • 28.4.1995

    Auch: Das tun die Andern doch auch; was andere können, wirst du doch auch wohl können; ich auch. Die Reflexion auf den anderen, die in dem Wörtchen „auch“ drinsteckt, gehört zu den Implikationen des Weltbegriffs. Es ist die Logik des „außengeleiteten Charakters“, die in politischem Zusammenhang das Gewissen durch das Ausland (oder die Geschichte) ersetzt. Ist das „auch“ nicht der Statthalter des Inertialsystems in der Sprache? Wie steht es überhaupt mit jenen Sprachpartikeln, die als logische Partikel fungieren, zu denen neben Und und Oder das Sowohl-als-auch und das Ohnehin gehören.
    Kritik der Informatik als Gesellschaftskritik: Verweist nicht die Schwierigkeit, Computerprogramme in Gebrauchsanweisungen zu erklären, auf einen Mangel in den Programmen selber? Gleichen diese Schwierigkeiten nicht den Problemen, die heute bei der Formulierung von Rechts- und Verwaltungstexten (Gesetzen, Verordnungen, Richtlinien, behördlichen Formularen) auftreten? Hängen diese Probleme damit zusammen, daß in der Technik wie in der Gesellschaft die Beziehungen zwischen Intention und Resultat, Ziel und Nebenwirkungen, immer undurchschaubarer werden? Der Rückzug auf den Positivismus löst das Problem nur subjektiv (er schafft zur unzulänglichen Tat das gute Gewissen), nicht objektiv, er verschärft es nur.
    Heute eine Meldung in der FR: Der Asylantrag eines russischen Offiziers, der sich geweigert hat, am Tschetschenien-Krieg teilzunehmen, und dem in seiner Heimat wegen Desertation die Todesstrafe droht, ist abgelehnt worden. Nach diesem Rechtsverständnis sind Bürger Leibeigene ihres Staates, hat der Staat ein Eigentumsrecht an seinen Bürgern, das ihm ein anderes Land auch im Rahmen des Asylrechts nicht streitig machen darf.
    Kritik des Personbegriffs: Der Personbegriff hat sich erst im Kontext der staatlichen Organisation einer Gesellschaft von Privateigentümern konstituiert; er bezeichnet genau diesen Sachverhalt: die Eigentumsfähigkeit, durch die er in die staatlichen Institutionen eingebunden wird (nur deshalb gibt es juristische Personen, nach Scheler auch Gesamtpersonen). Wenn der Personbegriff (beispielsweise im Kontext der christlichen Mission) auch auf Menschen in nicht staatlich organisierten Gemeinschaften angewandt wurde, war das nicht schon ein erster fundamentaler Akt zur Vorbereitung der kolonialistischen Unterwerfung (ihrer Eingliederung in staatliche Strukturen)? Vor allem aber: Hat nicht die Einführung des Personbegriffs in die (lateinische) Trinitätslehre durch Tertullian der christlichen Theologie die entscheidende Wendung gegeben, durch die sie fähig wurde, zur Legitimationsgrundlage des Römischen Reiches zu werden? Hat nicht die Theologie mit der Rezeption des Personbegriffs sich selbst in die Eigentumsstrukturen verstrickt, die es dem Staat ermöglichten, ein Eigentumsrecht an der Theologie zu erwerben? Mit der Rezeption des Personbegriffs ist der Idee der Heiligung des Gottesnamens der Grund entzogen, ist die Idee des Namens (und damit der Gotteserkenntnis selber) entwurzelt worden, hat die Theologie sich dem Zugriff des Begriffs preisgegeben. Der Personbegriff hat die Kraft des Namens gelöscht.
    Müssen nicht die Tiersymbole der Apokalypse (der Drache, das Tier aus dem Meer und das Tier vom Lande) auch auf die Trinitätslehre bezogen werden (das Tier vom Lande, das zwei Hörner hat wie das Lamm und redet wie der Drache, der falsche Prophet, ist eine offenkundige Parodie des Heiligen Geistes)?
    Drückt in dem Hegelschen Satz, daß die Natur den Begriff nicht halten kann, nicht etwas von der Logik sich aus, die der symbolischen Tierkonstellation in der Apokalypse zugrunde liegt? Wenn die Natur den Begriff nicht halten kann, so ist das eine Folge des Zirkels, in den die Vorstellung, daß die Idee die Natur frei aus sich entläßt, sich verstrickt. Natur und Idee konstituieren sich, indem sie sich gegenseitig ausschließen: Deshalb vermag weder die Idee die Natur aus sich zu entlassen, noch die Natur den Begriff in sich zu halten; beide, Natur und Begriff (oder Idee), sind durch die Urteilsform vermittelt, ihre Geltung reicht soweit wie die Erkenntniskraft des Urteils, unabhängig davon haben sie keine Bedeutung. Kann es sein, daß die zum Drachen hinzutretenden Tiere als symbolische Repräsentanten des Urteils (und damit des Weltbegriffs) sich begreifen lassen?
    Hängt das Buch Hiob mit dem Buch Jona nicht insofern zusammen, als beide nicht auf jüdische, sondern auf Verhältnisse in der Völkerwelt sich beziehen: Der prophetische Auftrag des Jonas ist an Ninive gerichtet, und Hiob war ein Mann aus Uz. (Was bedeutet es, daß Hiob zusammen mit Noah und Daniel bei Ezechiel – 1414+20 – genannt wird?) Im Buch Hiob erscheinen erstmals die beiden Tiere (Behemoth und Leviathan); im Buch Jonas ruft der König auch die Tiere (die Rinder und Schafe) zur Buße auf, und Gott begründet sein Erbarmen gegen Ninive u.a. mit dem Hinweis auf „so viel Vieh“.
    Zu Jona: Hat Tarschisch nicht doch etwas mit Tarsos, dem Geburtsort des Paulus, zu tun?
    Wenn der Fisch etwas mit dem Schiff zu tun hat (die beide durch Umkehrung aufeinander sich beziehen lassen), hat dann auch das Schaffen etwas mit dem Faschismus zu tun (und das bara mit dem arab)?
    Ist der Ismael ein Israel ohne Isaak (ohne die Konstellation von Schrecken, Lachen und Akeda)? – Ist die arabische Schrift eine Sternschrift?
    Erinnert nicht der Hinweis Edgar Morins, daß die Musik dem Film Tiefe, Plastik und Materialität verleiht, an eine Bemerkung Spenglers, daß die Musik in der modernen Welt die Stelle einnimmt, die in der alten Welt die Skulpturen, die Statuen innehatten? War nicht schon das kopernikanische System eine dramatische Konzeption für eine Guckkastenbühne, deren Wände der Fixsternhimmel bildete: Produkt einer Ästhetisierung der Welt? Und hat diese Ästhetisierung nicht im politischen Faschismus, der das Produkt einer Inszenierung und eigentlich ein Film war, sich vollendet? Welche Bedeutung hat dann heute die allgegenwärtige Musik (und was drückt in ihr sich aus)?
    Verweist nicht der kantische Begriff der Erscheinung (vor dem Hintergrund der transzendentalen Ästhetik, die das Reich der Erscheinungen begründet) auf die Ästhetisierung der gesamten Wirklichkeit? Nicht erst die mathematischen Naturwissenschaften, sondern schon ihr Vorläufer, die Orthodoxie, hat die Wahrheit durch das Verhältnis von richtig und falsch ersetzt: Indiz der vollständigen Ästhetisierung der Theologie. Die Orthodoxie war das Produkt der Monologisierung der Theologie, ihrer Subsumtion unter die Logik der Schrift. Sie hat die Theologie gegen das „Heute, wenn ihr Seine Stimme hört“ immunisiert.
    Die Apokalypse ist eine Gesellschaftstheorie; sie gehört zur Geschichte der Logik der Schrift: So wie auch die Passion Jesu, zu der das „damit die Schrift erfüllt werde“ (in dem Gespräch auf dem Weg nach Emmaus und und in der Belehrung des äthiopischen Eunuchen durch Philippus) gehört.
    Ist nicht der Unterschied zwischen dem „et sanabitur anima mea“ im „Domine, non sum dignus“ und seiner deutschen Übersetzung „so wird meine Seele gesund“ der Unterschied ums Ganze? Hier liegt das finstere Geheimnis einer durch die Bekenntnislogik verhexten Erlösungslehre: Das sanabitur verweist aufs Hören des Worts, das Gesunden auf einen magischen Akt. Der Bann wird erst gesprengt, wenn der Gehorsam, den alle Kirchen fordern, durchs Hören gelöst wird.
    Daß Primo Levi, Jean Amery und Paul Celan Selbstmord begangen haben, sagt etwas über den Stand der Prophetie heute.

  • 26.4.1995

    Wenn den Regierungen die politischen Argumente ausgehen, berufen sie sich auf das Gewaltmonopol des Staates (vgl. hiermit den Gesamtzusammenhang der Konzepte Standort Deutschland, Stabilität der DM und die Neuorientierung der deutschen Außenpolitik an den wirtschaftlichen Interessen des Landes: wer definiert diese wirtschaftlichen Interessen?).
    Wodurch unterscheiden sich die Ergebnisse des Ersten von denen des Zweiten Weltkrieges? Liegt nicht der Unterschied darin, daß nach dem Ersten Krieg der Terrorismus in der Metropole als Staatsterrorismus sich etablierte, während er nach dem Zweiten Krieg zu einem Instrument gegen den Staat geworden ist (vielleicht, weil der Staat gelernt hat, seinen eigenen Terrorismus hinter einer legitimierenden Rechtsfassade zu verbergen)?
    War nicht der Elternbann, in den die Kindheit nach dem Krieg geraten ist, eine qualitativ neue Form der Verdrängung (in der sich die neue Funktion des nachfaschistischen Staates, seine veränderte Selbstdefinition, widerspiegelte: hat nicht die Logik der väterlichen Gewalt etwas mit der Logik des staatlichen Gewaltmonopols – und mit der Gewalt in der Logik generell – zu tun)?
    Zu Jer 3134: Ist nicht die Bekenntnislogik die Logik der wechselseitigen Belehrung aller durch alle und die Verhinderung der Gotteserkenntnis aller? Hat nicht die Kirche, als sie das göttliche Gebot zur Grundlage der kirchlichen Jurisdiktion machte, die Theologie verhext?
    Auch die Inquisition ist nicht vergangen, sondern nur formalisiert und neutralisiert worden und so in den Forschungsbetrieb mit eingegangen. Seitdem ist jedes Schuldurteil ein synthetisches Urteil apriori.
    Das Apostolat gründet nicht in einem Bekehrungsauftrag, sondern in dem Auftrag, Zeugnis abzulegen für die Auferstehung. Das war das Evangelium, die frohe Botschaft. Dieses Zeugnis ist von Paulus formalisiert und in einen Bekehrungsauftrag umgefälscht worden. Die Zukunft öffnet sich erst, wenn auch die Gräber sich öffnen.
    Ist das Englische nicht eine Neutrums-Sprache, erkennbar sowohl an dem to be, der Verwendung des Praefix be- als Infinitiv des Seins, als auch daran, daß die Futur-Bildungen über das Hilfsverb will laufen, mit der doppelten Pointe, daß das Werden in den Willen eines anonymen Subjekts zurückverlegt wird und zugleich das im Deutschen ontologisierte Werden auf einen (Subjekt-)Willen bezogen wird?

  • 25.4.1995

    Der Schlüssel ins Innere der Materie (die kein Inneres hat) ist das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Oder genauer: Übers Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit dringt die Scham ins Innere der Materie vor.
    Apokalypse: Mit der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit kehrt die Zeit sich um: Rückt die Zukunft in den Ursprung und die Vergangenheit ans Ende. Die Bewegung, in der das Subjekt ans Ende einer endlosen Zeitreihe sich setzt, um die Zeit insgesamt ins Vergangene einzutauchen, ist das Korrelat der Vergegenständlichung der Natur. Ihr Reflex in der Naturerkenntnis ist das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit: die Zeitdilatation.
    Ist das Feuer des brennenden Dornbuschs ein Symbol der Beziehung von Wort und Schrift? Und bezeichnet es nicht den Ursprung und die Bedeutung der Schrift im Kontext der Offenbarung?
    Die Vergöttlichung Jesu gehört (wie auch die Opfertheologie) zur Logik einer Theologie hinter dem Rücken Gottes. Sie trennt die Nachfolge von ihrer Erfüllung in einer Theologie im Angesicht Gottes, die mit der Vergöttlichung Jesu ins Unerreichbare verrückt wird. Die große theologische Tradition, auch die Theologie des Paulus, war die objektivierende Erinnerung an eine Theologie im Angesicht Gottes und damit der Anfang einer Theologie hinter dem Rücken Gottes. Allein in dieser vergegenständlichenden Erinnerung erhält die Person Jesu anstelle seiner Tat diese ganz unangemessene Bedeutung.
    Das griechische Wort, das in den Evangelien mit „Jünger“ übersetzt wird, ist mathaetaes, der Schüler (der Adressat der Lehre). Das Nachfolgegebot ist an die Jünger gerichtet. Von den Jüngern unterscheiden sich die Apostel als (durch ihre Erwählung vorausbestimmte) Zeugen der Auferstehung; die Apostel waren die Teilnehmer beim Abendmahl, bei der Kreuzigung haben sie Ihn verlassen und sind geflohen. Steht nicht Maria Magdalena, die von den sieben unreinen Geistern Befreite, im Zentrum des Apostolats?
    Der Name repräsentiert die Stimme in dem Satz: „Heute, wenn ihr Seine Stimme hört“. Er lebt von der Kraft des Gebots: Er ist ein Imperativ, und widersetzt sich jedem Versuch, ihn in den Indikativ zu übersetzen. Sind nicht die Sternbilder an den Himmel versetzte Namen, und hängt nicht die Vorstellung von den „Heiligen im Himmel“ damit zusammen? Hängt nicht der katholische Jenseits-Mythos zusammen mit der Transsubstantiationslehre, mit der Geschichte der Eucharistielehre und deren Bedeutung für den Ursprung des Dingbegriffs? Gilt nicht (wie für die Eucharistie) auch für den Himmel, daß der Glaube ersetzt, was die Sinne nicht erkennen (ist nicht die kopernikanische Wende der Beginn eines Prozesses gegen den Himmel, in dem er schon zu Beginn zu lebenslanger Haft vorverurteilt wurde)?
    Gibt es nicht eine den Juden und Christen gemeinsame Tradition, die auf beiden Seiten durch eine Logik verhext ist, deren Reflexion heute auf der Tagesordnung steht?
    Kapitalismus-Kritik heute: Den Namen des Proletariats aus dem Gefängnis der klassifikatorischen Logik befreien: aber heißt das nicht, den Schub der Proletarisierung der Gesamtgesellschaft, die im Faschismus mündet, endlich begreifen.
    In welchem Kontext steht das Wort von Rind und Esel im Dt?
    Ist nicht im Christentum das Wort, daß die Erstgeburt des Esels durch ein Lamm auszulösen ist, bis heute unverstanden geblieben? Kann es sein, daß Rind und Esel verwechselt wurden und an die Stelle des Esels das Rind gerückt wurde? Diese Verschiebung läßt als zwangsläufige Folge der Rezeption des Weltbegriffs in der Theologie (der Trennung von Joh 129 vom Nachfolgegebot) sich begreifen.
    Die Theologie hinter dem Rücken Gottes gehorcht einer Logik, die als Bekenntnislogik zu dechiffrieren wäre. Ähnlich hat die Natur hinter dem Rücken der Schöpfung und der Staat hinter dem Rücken der Armen sich etabliert.

  • 21.4.1995

    Der Schatten des Faschismus: Ich glaube, den Faschismus versteht man erst, wenn man begreift, daß Hitler eine Welt hinterlassen hat, die alle Überlebenden und Nachgeborenen zu Komplizen macht; aber nur die Überlebenden auf der Seite der Opfer haben sich nachher schuldig gefühlt, während die, die überlebt und sich arrangiert haben, allen, die die Erinnerung einforderten, entgegenhalten konnten: Du bist mitschuldig, du hast auch überlebt. Zu Joh 129 gibt es keine Alternative mehr.
    Heute kann jede Kritik durch den Hinweis auf die „praktischen Konsequenzen“ zum Schweigen gebracht werden. So bleibt nur noch Feuilleton und Kurturkritik (das folgenlose Schimpfen). Das Prinzip der Lüge ist so tief in der Realität verankert (ein Indiz dafür war schon der Existenzbegriff der zwanziger Jahre), daß Kritik dem Verdacht, bloß Rechtfertigung zu sein, sich nicht mehr entziehen kann. Den Komfort des guten Gewissens (der Freiheit von Schuldgefühlen) kann sich heute niemand mehr leisten. Dagegen setzt die Idee der Erbsünde ihre Ehre darin, auch für die Sünde gerade zu stehen, die man nicht begangen hat.
    Das Vaterproblem Jesu ist ein dreifaches: Er war der Sohn des Zimmermanns, der Menschensohn und der Sohn Gottes.
    Die Eliminierung des kritischen Moments, das in der Frage enthalten ist, weshalb die subjektiven Formen der Anschauung auch objektiv und real sind, macht die transzendentale Logik zum Strick, der das Denken stranguliert, ihm die Luft zum Atmen nimmt. Die subjektiven Formen der Anschauung sind nicht nur der Kelch, sie sind auch Grauen, Grube und Garn (Jer 4843ff), die Reflexionsformen des Kelches.
    Waren nicht in der Antike die Münzbezeichnungen in der Regel zugleich auch Gewichtsbezeichnungen (vgl. Faure: Magie der Düfte, S. 246), und war nicht das Gewicht (wie es auch im Bilde der Waage sich darstellt) die Urform des Vergleichs, der Äquivalenzbeziehung (der Mathematisierung der Dinge)? Das Gewicht ist die Selbstreflexion der Beziehung zu anderen in den Dingen.
    Maß, Zahl und Gewicht: Kontinuierliche Größen lassen sich messen. Aber die unmittelbare Form des Messens findet sich nur im Raum, im räumlichen Verschieben und im Anlegen des Maßes an ein Objekt. Das Messen der Zeit ist eigentlich ein verstecktes Zählen; an die Zeit läßt sich kein unmittelbares Maß anlegen, dem Zeitmaß liegt das Zählen periodischer Bewegungen zugrunde, die Umläufe der Sonne, die Periodizität des Jahresablaufs, bis hinunter zum Pendel, zur Unruhe, zur Quarzfrequenz. Periodische Bewegungen (Reflexe des Zeitablaufs im Raum) sind Kreis- und Wellenbewegungen. Zeitmessung setzt Redundanz, die Wiederkehr des Gleichen, voraus.
    Wie hängt der Zufall (gebildet als Übersetzung von accidens) mit dem Fall zusammen? Und wie mit der Kontingenz (dem sprachlichen Reflex des Kelches)? Ist nicht die kantische Erscheinung die Totalität des Kontingenten, und das Kontingente das durch die subjektiven Formen der Anschauung Vermittelte (in ihnen Enthaltene)?
    Wenn die Bekenntnislogik der Repräsentant der subjektiven Formen der Anschauung in der Theologie ist, dann ist jeder Inhalt eines Bekenntnisses etwas Kontingentes (das Anderssein dessen, als was es „bekannt“ wird). Das Absolute als innere Grenze der Erscheinungen ist ein Teil des Reichs der Erscheinungen, es transzendiert die Erscheinugnen nicht: wie die Feste des Himmels, an die die Sterne geheftet sind.
    Wie sind die Sterne des Himmels und der Sand am Meer aufeinander bezogen?
    Zur Beziehung des Buchs Tobit zum Buch Jona: Ist nicht der Spruch „In vierzig Tagen wird Ninive zerstört“ wahr, auch wenn Gott am Ende barmherzig ist?
    Ist die Mischung aus Desinteresse, Zudringlichkeit und Selbstbezogenheit nicht auch ein Produkt der Logik des Fernsehens, der Bindung der „Information“ an ein optisches Medium.
    Verkommenes Herrendenken: Die Ambivalenz des Begriffs Ausland läßt sich an den Extremen festmachen, am „Ausländer raus“ der Nazis (an der Xenophobie) und an der moralischen Autorität, die die Politiker so gern mit dem Namen des Auslands zitieren, wo ihnen das Gewissen nicht mehr einfällt. Es steht zu befürchten, daß beide Begriffe im Grunde eins sind: Wenn Nazis die Ausländer totschlagen, meinen sie das eigene Gewissen. Deshalb ist der Kern jeder Xenophobie der Antisemitismus. Spiegelt sich nicht in der Ambivalenz des Ausländerbildes die des Frauenbildes?

  • 19.4.1995

    Nicht der leere Raum, sondern der Begriff der trägen Masse bezeichnet den horror vacui aufs genaueste: nämlich an seinem Objekt. Produziert nicht die neoliberale Wirtschaftspolitik heute das ökonomische Äquivalent des horror vacui? Bei Jeremias erscheint dieser Sachverhalt in dem prophetischen Wort vom „Grauen um und um“ und im Bilde von „Schwert, Hunger und Pest“. Die moderne Geschichte beginnt mit der Subsumtion der Arbeit unters Tauschprinzip: mit der Produktion der Armut, die man dann ausbeuten kann; sie endet mit dem Entzug der vergesellschafteten Arbeit: mit der Überproduktion von Armut in einer Welt, in der es unmittelbare Verwertungsmöglichkeiten hierfür nicht mehr gibt. Heute verzehren bereits alle, die noch überleben, die Häuser der Armen, die keine Chance mehr haben.
    Das Angesicht Gottes ist kein Gegenstand der Anschauung; und in Seinem Licht die Dinge sehen, heißt: die Dinge im Licht der Sprache sehen. „Laß leuchten, Herr, Dein Angesicht“: Dieses Leuchten ist das Wort. Der Sündenfall der christlichen Theologie war es, als die Kirche glaubte, das Angesicht Gottes zu einem Gegenstand der Anschauung machen zu können, als sie die Schamgrenze, die das Anschauen von der Wahrheit trennt, glaubten überspringen zu können. So ist die Religion zu einem Herrschaftsinstrument geworden. Und das war der Kelch, von dem Jesus wünschte, er möge an ihm vorübergehen. Dieser Kelch war in der Tat der Grund seines Todes.
    Nach Auschwitz: Hat nicht, wer Auschwitz überlebt hat, den Weltuntergang überlebt? Auschwitz ist das Opfer, das nicht mehr sich instrumentalisieren läßt, sondern nur noch nach Barnmherzigkeit schreit.
    Im Hogefeld-Prozeß die transzendentale Logik studieren: die Konstruktion eines synthetischen Urteils apriori. Grundlage ist die selbstlegitimierende und -rechtfertigende Gewalt einer transzendentalen Vorurteils-Ästhetik (die in der Beziehung von Staat und Anschauung, in der Logik der Weltanschauung, gründet), zu der die Antinomien, auf die sie hinausläuft, längst verdrängt worden sind.
    Die raf-Prozesse beweisen insgesamt, daß die Selbstrechtfertigung des Staates nur im Kontext eines Feindbildes möglich, der den Vernichtungstrieb, der zur Konstruktion des Staates gehört, legitimiert.
    Enthält nicht auch das Konzept der subjektiven Formen der Anschauung (mit dem Objektbegriff, zu dessen Konstituentien sie gehören) das verdrängte Feindbild, die verdrängte Paranoia und die verdrängte Frauenfeindschaft?
    Zum Begriff der Materie oder das steinerne Herz der Welt: Der Massenbegriff bezeichnet zwei scheinbar getrennte Sachverhalte:
    – die physikalische „träge Masse“ (in der alle Unterschiede, die der verschiedenen Materien und die ihrer sinnlichen Qualitäten, verschwinden) als auch
    – die gesellschaftliche Form des Kollektivs, in der die Individualität verschwindet, sich auflöst, und Kollektivität, das Anderssein aller, den Schein des Substantiellen gewinnt.
    Die Masse ist eine Erscheinung im Bannkreis von Herrschaft: In der Masse wird das Substrat, ohne das es Herrschaft nicht gibt, das Objekt von Herrschaft, zu einer Gewalt, die dem Herrn seine Selbständigkeit raubt, ihn zu einer Funktion ihrer selbst macht. Masse ist das Sich-auf-sich-selbst-Beziehen des Objekts von Herrschaft, die gegen den Herrn ihre Trägheit geltend macht, ihn so in den Bann ihrer Trägheit zieht, als Herr des Herrn sich etabliert. Im Begriff der Masse wird „mit Rind und Esel zusammen“ gepflügt (Dt 2210): wird die Differenz von Joch und Last verwischt. Keiner weiß mehr, daß die Last, unter der er stöhnt, dem gleichen Joch sich verdankt, das alle allen auferlegen. Logische Äquivalente dieses Jochs sind
    – eine Moral, die nur noch als Maßstab des Urteils über andere, jedoch nicht mehr als Gebot: als Richtschnur des eigenen Handelns, begriffen wird, und
    – eine Form des Bekenntnisses, die seinen Inhalt neutralisiert (ihn austauschbar macht), das Bekenntnis selbst jedoch instrumentalisiert, mit der Folge, daß niemand auf den Gebrauch seiner Funktion, als Bekenntnis für andere ein Instrument der Herrschaft und Kontrolle über alle anderen zu sein, mehr verzichten kann.
    Der Kern des Massenbegriffs ist der einer ethischen Verblendung: der Schein der Unschuld als objektiver Grund des universalen Schuldzusammenhangs. Im Begriff der Masse erfüllt und vollendet sich das Schuldverschubsystem.
    Das Sehen führt in das stumme Innere der Gattung; auch Tiere urteilen, wenn sie ihrem Selbsterhaltungstrieb folgen.

  • 17.4.1995

    Die mathematische Rationalität ist eine der Ebene (die ihr Gegenteil als Spiegelung in sich enthält). Das Problem kommt herein mit der Tiefe, die die Mathematik als Physik realisiert: mit dem Plastischen, mit dem Widerstand, mit der Schwere. Hierbei verweist die Schwere auf die Gravitation, der Widerstand auf die Mechanik und das Plastische auf das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Die dritte Dimension ist als deren Norm das Innere der Fläche. Und verhalten sich nicht Norm und Fläche wie die Gravitation zum Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit?
    Ethik: Ist das nicht heute der Versuch, Perspektiven und Rechtfertigungen für institutionelles Handeln zu gewinnen (allgemeingültige Normen)? Ethik richtet sich an Institutionen; das gilt auch für die „personalistische Ethik“ (für die Wertethik, die sich an die Repräsentanz der Institutionen in Subjekt richtet, an die „Person“). – Merkwürdig, daß ich Adornos Satz zur Sexualethik als einen Satz zur Sexualmoral in Erinnerung habe: Verhält sich die Ethik zur Moral wie die Ästhetik zur Kunstphilosophie? Schließen nicht Moral und Kunstphilosophie die Vergegenständlichung dessen mit ein, was Adorno in der Reflexion halten möchte? Aber sind nicht Vergegenständlichung und Reflexion siamesische Zwillinge, die sich nicht von einander trennen lassen, ohne daß beide sterben?
    An welchen Stellen kommt der Kaiser im NT vor? (Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, Mt, Mk, Lk. – Wir haben keinen König als den Kaiser, Joh. – Vgl. die Kindheitsgeschichte bei Lk und Paulus in der Apg.)
    Ist die Sünde wider den Heiligen Geist nicht aus ihren Folgen zu erschließen: Sie wird weder in dieser noch in der zukünftigen Welt vergeben. Nicht vergeben aber wird dem, der selber nicht vergibt, der zur Verteidigung des Andern nicht bereit oder fähig ist, weil er mit dem Ankläger sich identifiziert. Das aber ist das Prinzip der Welt, der Grund ihrer Verführungsgewalt.
    Müßte nicht insbesondere die Kirche endlich begreifen, was der Satz bedeutet: Mein ist die Rache, spricht der Herr? Dieser Satz schließt jede kirchliche Komplizenschaft mit der Rechtsordnung, der gesellschaftlichen Organisation des Rachetriebs, aus. Hiernach dürfte sich die Kirche durchs Gewaltmonopol des Staates nicht mehr dumm machen lassen. Die Idee des Staates gründet im Prinzip der Vergesellschaftung der Rache, und das Gewaltmonopol des Staates („Alle Gewalt geht vom Volke aus“) hat seine Wurzeln im unaufgelösten Rachetrieb der Menschen. Ist nicht der Staat selber der Terrorist, den er projektiv mit dem 129a verfolgt? Müßte nicht endlich der Faschismus zum Gegenstand einer Selbstaufklärung der staatlich organisierten Gesellschaft werden (zum Gegenstand einer Selbstaufklärung, die die Sensibilisierung für Gewalt zum Ziele hat)?
    Rotes Tuch: Ein Staat, der geliebt werden will, ist wie ein Stofftier, das die Liebe instrumentalisiert und ausbeutungsfähig macht (war nicht die goldene Statue des Nebukadnezar das erste Stofftier?). Der Staat, der geliebt werden will, ist eine Projektion derer, die den Staat (den „Schöpfer der Welt“) als Ich-Stütze brauchen: Ihnen werden alle, die dieser Stütze nicht bedürfen, zu Objekten der Wut. Ist das nicht ein Hinweis auf Bölls Sakrament des Büffels (und auf das Verständnis der Tatsache, daß das Symbol des Rindes in der christlichen Symbolwelt nicht mehr vorkommt, weshalb das Symbol des Esels unverständlich geworden ist).
    Der „Götzendienst“ gehört (wie die antiken Kosmologien) zur Ursprungsgeschichte des Weltbegriffs.
    Beruht nicht die gesamte Physik auf der Übertragung des Tauschprinzips auf die Erscheinungen der Natur (die in diesem Akt zur Natur erst wird)? Das Instrument dieser Übertragung war einmal der Begriff, der dann im Inertialsystem sich entfaltete und vollendete, sich aus seinem eigenen Grunde selbst erzeugte und begriff. Das Inertialsystem hat die Natur in ein System mathematischer Äquivalenzbeziehungen aufgelöst (sie damit in einen mathematischen und einen dynamischen Teil aufgespalten).
    Ulrich Sonnemanns „Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten“: War das nicht eine Paraphrase zum Thema „Im Angesicht und Hinter dem Rücken“?
    Theologie wird wieder möglich, wenn es gelingt, die Beziehung von oben und unten aus dem Räumlichen ins Sprachliche zurück zu transformieren.
    Im 18. Kapitel des Johannes-Evangeliums steht ein Satz über Petrus, mit dem „angedeutet“ werden soll, „durch welchen Tod er Gott verherrlichen werde“ (V. 18f), während es über Johannes heißt: „Wenn ich will, daß er bleibt, bis ich komme, was geht es dich an?“
    Haben sich die Gewichte nicht schon so verschoben, daß es nicht mehr um das Neue unmittelbar, um das zukünftige Neue, sondern nur noch um das Neue im Alten, um das vergangene Neue geht? Nicht, daß die Vergangenheit uns hilft, wir müssen dem Vergangenen helfen.
    Herrschaft, Gewalt und Macht: Auch Frieden und Gerechtigkeit sollen herrschen. Eine ähnliche Bedeutung von Gewalt und Macht scheint es nicht zu geben. Wie es Herrschaft über andere (und mit ihr Knechtschaft) gibt, gibt es auch Gewalt über andere (Sklaverei); Macht hingegen wird an anderen ausgeübt. Herrschaft ohne Beherrschte wäre denkbar, wenn sie die Herrschaft aller ist. Gewalt und Macht hingegen enthalten (wie die transzendentale Logik) eine apriorische Beziehung zum Objekt in sich, von dem sie (wie das Urteil) abhängig sind.
    Der Satz „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“ wäre zu korrigieren: Es kommt darauf an, das Erbe zu reflektieren, daß man nicht davon besessen wird.
    Tiere haben die Scham (den Blick der Andern) verinnerlicht und instrumentalisiert: In der Farbe ihres Fells oder ihres Federkleids, aber auch in ihren wesentlichen (Flucht- und Aggressions-) Merkmalen. Die Scham gehört zum logischen Existenzgrund und zu den Formbestimmungen der Gattung.
    Zu dem Titel „Die Autorität der Leidenden“ (J.B.Metz): Wäre hier nicht zu unterscheiden zwischen dem Leiden der Anderen und dem eigenen Leiden, zwischen Last und Joch (das Leiden der Anderen ist meine Last, die ich auf mich zu nehmen habe, mein Leiden ist ein Joch, das ich anderen auferlege)? In jedem Fall ist die Verführung durchs Selbstmitleid zu reflektieren. Dieser Unterschied rührt an die Differenz zwischen dem steinernen Herzen und dem Herzen aus Fleisch, zwischen Barmherzigkeit und strengem Gericht.
    „Die Autorität der Leidenden“: Gibt der Begriff der Autorität die Intention von J.B.Metz korrekt wider?
    Der Satz aus den Passionsgeschichten „Den Andern konnte er helfen, sich selbst nicht“ liefert den Schlüssel zum Verständnis des Ganzen. Durch diesen Satz werden die Richtenden überführt.
    Sind die Disteln und Dornen nicht das Symbol des Staates (der zum Fluch über Adam nach dem Sündenfall gehört)?
    Sind nicht die sieben unreinen Geister die durch Selbstbezogenheit verunreinigten Geister: das Inertialsystem?
    Das Bekenntnis ist die geheuchelte Nachfolge, seine pharisäische Form (das „getünchte Grab“).
    Dritte Leugnung: Die Selbstverfluchung beginnt dort, wo die Paranoia anfängt, von den Freunden sich verfolgt zu fühlen, um sie dann präventiv zu Feinden zu erklären („Viel Feind, viel Ehr“). Zugleich wird man sich jedoch selbst zum Feind: Prinzip des Faschismus, der darin sein eigenes Gemeinschaftsprinzip, das Band, das alle „zusammenschweißt“, erkennt.
    Das Sakrament des Büffels: Der Büffel ist eine Art des Rindes. Es verweist auf das im Christentum verschwundene Stieropfer. Hat nicht die Kirche den Opferbegriff seit je zweideutig gehalten, so daß beides, das Sakrament des Lammes und das des Büffels darunter verstanden werden konnte? Vgl. Horkheimer: Das Christentum ist die menschenfreundlichste Religion; aber es gibt keine Religion, in deren Namen solche Untaten begangen worden sind.
    Der Letzte, der den Himmel offen sah, aber nicht mehr genau zu beschreiben vermochte, was er dort sah, war Swedenborg.
    War nicht die Auferstehung, das Hervorgehen aus dem Felsengrab, in das ihn Joseph von Arimathäa gelegt hatte, auch ein Bild der Geburt?
    Die Väter der Apostel:
    – Simon (und Andreas?) war der Barjonas, der Sohn des Johannes;
    – Jakobus und Johannes waren die Zebedäussöhne;
    – war Nathanael der Bartholomäus (und wer ist Tholomäus)?
    – der kleine Jakobus war (der Sohn) des Alphäus (und der andere Judas, nicht Ischarioth, sein Bruder?).
    Zu Judas Ischarioth: Steckt in dem Beinamen „isch“, der Mann, und die Pluralendung -oth? Und hat das -ari- etwas mit dem Löwen (vgl. Ariel: leo dei, symbolischer Name für Jerusalem) zu tun? Verweist diese Zusammensetzung (Judas als einer der „Löwenmänner“) auf zelotische Herkunft? (War Paulus ein Judas redivivus, mit Stephanus anstelle von Jesus: Beide, Judas und Paulus, handelten im Sold bzw. im Auftrag der Hohenpriester?)
    Vulgata, hebraicorum, chaldaeorum et graecorum nominum interpretatio:
    – Joseph – Augmentum, Domini Augmentum,
    – Simon – Obediens,
    – Andreas – Fortissimus,
    – Jacob – Supplantator,
    – Johannes – Gratiosus, Pius, Misericors,
    – Nathanael – Donum Dei,
    – Bartholomaeus – Filius suspendentis aquas,
    – Matthaeus – Donatus,
    – Levi – Copulatus,
    – Thomas – Abyssus, Geminus,
    – Judas – Laudatus,
    – Thaddaeus – Laudans,
    – Zebedaeus – Dos, Dotatus,
    – Iscariot – Vir occisionis,
    – Jonas – Columba,
    – Lazarus (Eleazar) – Dei adjutorium,
    – Barthimaeus – filius caecus,
    – Israel – Praevalens deo,
    – Hebraeus – Transiens,
    – Amalek – Populus lambens
    – Aegyptus (hebr. Misraim) – Angustiae, sive tribulationes,
    – Pharao – Dissipans,
    – Nabuchodonosor – Planctus judicii,
    – Gog (Agag) – Tectus,
    – Magog – De tecto,
    – Saul – Postulatus, Commodatus,
    – David – Dilectus,
    – Daniel – judicium Dei,
    – Cana – Zelus, Aemulatio.
    Was haben Visionen und Träume mit dem Exil (und mit der politischen, herrschaftsgeschichtlichen Konstellation, zu der das Exil gehört)? War (neben den Träumen des Pharao) der Traum des Nebukadnezar das Urbild des Traumes? Ezechiel hatte seine Vision „am Flusse Chebar, unter den Verbannten“ (Kap. 1 u. 10), aber nach Jerusalem wurde er (durch den Geist Gottes) „entrückt“ (Kap. 11), um dort die Greuel zu sehen, während der Tempel am Ende Gegenstand von „Gottesgesichten“ im Land Israel, auf einem sehr hohen Berg, war (Kap. 40-48).
    Gründet das Problem, daß Apokalypsen unter fremden Namen geschrieben wurden (ähnlich der Pseudodionysius und der Sohar), in der logischen Konstruktion von Vision und Traum?
    Konstruktion eines parakletischen Begriffs der Kritik: In der Ursprungsgeschichte der Naturwissenschaften, von Kopernikus bis Newton, wurde der Himmel (zusammen mit Hölle und Fegefeuer) aus dem Raum hinauskomplimentiert. Newtons „absoluter Raum“ (der bei Kant zur subjektiven Form der Anschauung geworden ist) war das „leere Grab“ des christlichen Himmels.

  • 6.3.1995

    Die Sünde Hitlers: Das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinwegnimmt („die Welt entsühnt“), ist das nicht der Wolf?
    Zur Logik der Schrift: Dem Autor geht es wie dem Fernsehmoderator: Er sieht und hört seine Leser nicht, aber sie sehen und hören ihn.
    Jede Wand hat eine Rückseite: Darin liegt der Grund der Mathematik. Und wenn in modernen Kirchen die Rückseite nach innen gekehrt wird, so ist das ein Indiz für den Grad der Versteinerung des Herzens.
    Setzt die Verdrängung der Vergangenheit nicht an dem Punkt ein, an dem das Bewußtsein, daß diese Vergangenheit (und zwar nicht nur, aber vor allem das prophetische Wort) uns richten wird, unerträglich wird? Jetzt richtet uns die verdrängte Vergangenheit (die „Sünde der Welt“). Das Produkt dieser verdrängten Vergangenheit ist die verinnerlichte Scham, und deren kosmisches Korrelat die Feste des Himmels.
    Der Begriff einer historischen Naturkatastrophe ist real und paradox zugleich: Wenn es so etwas gibt, ist es eben keine Naturkatastrophe.
    Gewinnen die neutestamentlichen Texte, die auf die Hölle sich beziehen, nicht einen ganz anderen Sinn, wenn man den Namen der Hölle durch der Unterwelt, des Grabs (Scheol), ersetzt? Hier werden auch die Verweise auf das Feuer, das nicht erlischt, und den Wurm, der nicht stirbt, konkret.
    Die Bedeutung und Funktion der Astronomie für die Herrschaftsgeschichte (für die Geschichte des Ursprungs des Staates) gründet darin und verweist darauf, daß die Grenze, die uns von den Sternen trennt, der Grenze zur Vergangenheit korrespondiert. Kann es sein, daß die Wahrheit des Gravitationsgersetzes (der Zusammenhang der physikalischen Bedeutung des Falls mit seiner grammatischen und theologischen Bedeutung) in diesem Sachverhalt begründet ist? Und verweist nicht Wittgensteins Satz, daß die Welt alles ist, was der Fall ist, daß sie alles ist, was sich unter die Vergangenheit subsumieren läßt?
    In der Äußerlichkeit, die in der Form des Raumes begründet ist, drückt die Gewalt der Vergangenheit sich aus. Die gleiche Form der Äußerlichkeit beherrscht über das Geld die durchs Privateigentum definierten materiellen, gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Banken verwalten das vergangene Unrecht.
    Das Paradies liegt nicht in der Vergangenheit, es hat vielmehr Teil an der zeitlichen Struktur des Ewigen, das nicht als vergangen gedacht werden kann.
    Die Feste des Himmels: Sind die „Leuchten“ und „Sterne“ nur an diese Feste „geheftet“, oder sind sie nicht die Instrumente, die den Himmel aufspannen und die Feste begründen? Das aber würde bedeuten, daß die „Planeten“ (im Sinne der Astrologie, nicht des heliozentrischen Systems) in der gleichen Sphäre gründen, in der auch die Sprache gründet: daß sie eine Konstellation repräsentieren, die der Grammatik entspricht. Frage: Was hat die Venus mit dem Ursprung des Neutrum zu tun? Sie ist der Morgen- und der Abendstern, die astrologische Entsprechung des A und O. Berührt sich hier das Signum des Tieres, das war, nicht ist und wieder sein wird, mit dem Luzifer?
    Hat nicht der Versuch, den Ursprung des Weltbegriffs zu begreifen, etwas mit dem Lösen zu tun?
    Die Mathematik ist eine Emanation der Logik der Schrift: Sie ist das Schwert, das den Knoten durchschlagen hat, den es zu lösen gilt. Die Ursprungsgestalt dieses Schwertes: das kreisende Flammenschwert des Kerubs vorm Eingang des Paradieses.
    Gott hat am ersten Tag das Licht von der Finsternis geschieden, und er nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Am zweiten Tag hat er durch die Feste die oberen von den unteren Wassern geschieden; während die Wasser namenlos geblieben sind, nannte er die Feste Himmel. In die dritte Scheidung war Adam verstrickt: Nachdem er die Tiere benannt hatte, scheidet Gott selbst ihn von seiner Seite: Eva. Zu dieser Scheidung, die dann die ganze Schöpfung ergreift, gehört dann die Geschichte vom Sündenfall. Das Symbol dieser dritten Scheidung ist das kreisende Flammenschwert, Symbol der Trennung der Welt vom Paradies.
    Der Sündenfall ist der Grund der Trennung von Welt und Natur, der Grund der Urteilsform, die mit dieser Trennung sich konstituiert, in ihr sich ausdrückt. Mit dem Sündenfall (und durch die Urteilsform) ist dem Menschen sein Anteil an der richtenden Gewalt in die Hand gegeben. Seitdem wissen sie nicht mehr, was sie tun.
    Haben die Menschen im Kreuzestod nicht die Folgen des Nichtwissens vor Augen? Und hat das Wort „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ nicht den Toten, der am Kreuz hängt, als Objekt? Ist Sein Kreuzestod nicht das stellvertretende Objekt unseres Richtens, und dadurch der Anfang des Gerichts über uns (der Anfang des Gerichts der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht, dessen Subjekt wir sind)? Die opfertheologische Instrumentalisierung des Kreuzestodes verletzt das Verbot zu richten. Ist nicht das Dogma die gegenständliche Repräsentation dieses Richtens, der Kelch, von dem er wollte, er ginge an ihm vorüber, Ursprung und Produkt der Bekenntnislogik und seiner drei Emanationen: Antijudaismus, Ketzerfurcht und Frauenfeindschaft?
    Das entsetzliche theologische Konstrukt, daß Jesus die Sünden Welt hingweggenommen habe, hat das Lamm zum Wolf gemacht und macht uns selbst zu dem Esel, für den kein Lamm mehr eintritt, und dem das Genick gebrochen wird (hat dieses Brechen des Genicks etwas mit der „Halsstarrigkeit“ zu tun: mit der Starrheit der Orthogonalität, mit der Erstarrung der Rechten – vgl. Ps 1375)?
    Kann es sein, daß die Erklärung von Birgit Hogefeld im Prozeß am vergangenen Donnerstag als Hinweis verstanden werden muß, daß der Anschlag am Flughafen, der auch ihr mit angelastet werden soll, nicht die raf als Urheber hat?

  • 24.2.1995

    Nach Gerhard Fink (Die griechische Sprache, Darmstadt 1986, S. 151) haben sich „die griechischen Neutra aus ursprünglichen Sammelbegriffen wie Dt. ‚Gehölz‘, ‚Gesinde‘ entwickelt“ (deshalb steht bei einem „Neutrum Plural als Subjekt … das Prädikat meist im Singular“). Ähnlich sind auch die lateinischen Pluralia tantum in der Regel Neutra (allerdings mit Ausnahmen wie divitiae, arum, f der Reichtum, die sich müßten begründen lassen?).
    Gibt es hierzu eine Vorgeschichte im Hebräischen: Welche Funktion haben die „neutrischen Verben“ (Körner, S. 56), welche sprachlogische Bedeutung haben Kollektivbegriff wie „elohim“, „majim“ (und davon abgeleitet „schamajim“)? – Nach Hans-Peter Stähli kann „das Femininum … auch die Funktion unseres Neutrums annehmen“ (Hebräisch-Kurzgramatik, S. 22).
    Neutrum und Konjugation: „Eigentliche Tempora gibt es im Hebräischen nicht. Es werden nicht – wie im Deutschen (und ähnlich in den indoeuopäischen Sprachen generell, H.H.) – Zeitformen, d.h. absolute, objektive Zeitstufen angegeben, sondern nur relative Zeitstufen, die aus dem Textzusammenhang zu erschließen sind.“ (Körner, Hebräische Grammatik, S. 118) Schafft nicht die Subsumtion der Sprache unter die „objektiven Zeitstufen“ (die Historisierung der Gegenwart) eine sprachlogische Situation, die nur mit der Bildung von Kollektivbegriffen und des Neutrum sich bewältigen läßt. Ist das nicht die sprachlogische Voraussetzung sowohl des Natur- und Weltbegriffs als auch, im Zusammenhang damit, der Historisierung der Zeit, der Philosophie und des objektivierenden, begrifflichen Denkens? Und steht diese sprachlogische Situation nicht in objektivem Zusammenhang mit dem Ursprung und der Geschichte der politisch-gesellschaftlichen Institutionen, insbesondere des Staats (der Organisationsform einer Gesellschaft von Privateigentümern)?
    Das innere Kollektivum, der Materiebegriff im Objekt, entspringt (zusammen mit dem Begriff der Gattung) mit der Historisierung der Gegenwart (der Zeit), im Kontext der Logik des Herrendenkens. Modell und Korrelat des dem Objekt einbeschriebenen Kollektivums ist das Zeitkontinuum (die kantische Form der inneren Anschauung).
    Neben-, Hinter- und Übereinander, wie hängt das mit Dauer und Folge und Gleichzeitigkeit zusammen?
    Ist nicht das Neutrum (und seine innere, sprachlogische Beziehung zum Objektivationsprozeß und zum Kollektivum) die Wasserscheide der Sprachgeschichte? Und ist es nicht die dem Neutrum zugrunde liegende Sprachlogik, die die Auflösung des Problems
    – des „Schuldverschubsystems“,
    – des Konkretismus und der Personalisierung,
    – der Beziehung von „dynamischem und mathematischem Ganzen“,
    – der „intensiven Kollektive“ wie Materie und Natur, insbesondere des Massenbegriffs (dessen logische Konstruktion in die Theologie zurückreicht, hier am scholastischen Eucharistie-Problem sich demonstrieren läßt, zuletzt, neben dem der gleichen Logik sich verdankenden gesellschaftlichen Gebrauch des Begriffs, im physikalischen Ätherproblem und in den Problemen der Mikrophysik sich manifestiert),
    fast unmöglich macht?
    Die Historisierung der Zeit (und die ihr entsprechenden Formen der Konjugation) ist ein Korrelat (und Sinnesimplikat) der Logik der Schrift. Deshalb ist die Logik der Schrift auf die Katastrophe bezogen.
    Für das durch die Naturwissenschaft geformte Bewußtsein wird das Bestehen der Dinge (die Erhaltung der Welt) schon durch die Form des Raumes garantiert. Der Gedanke, daß Gott die Welt erschaffen hat und erhält, ist nach Kopernikus und Newton irrational geworden, nicht mehr nachvollziehbar. Erschaffung und Erhaltung sind zu Attributen der Herrschaft geworden: der Unterdrückung und Ausbeutung. Deshalb gehört die Opfertheologie mit zu diesem Weltverständnis; oder umgekehrt: durch dieses Weltverständnis ist die Opfertheologie unverständlich, obsolet geworden. Wird in der Opfertheologie nicht das Lamm, das für die Erstgeburt des Esels eintritt, mit dem Rind verwechselt? Hierauf bezieht sich Heinrich Bölls Unterscheidung des Sakraments des Lammes von dem des Büffels (in Billard um halb zehn?).
    Sind im Jesaia nicht schon die Sätze vom Rind und Esel Vorverweise auf die Gottesknecht- und Gotteslamm-Kapitel? Haben nicht das Dogma und in seiner Folge die naturwissenschaftliche Aufklärung die ungeheure Symbolik, auf die der Kreuzestod und die Opfertheologie aufgetragen sind, ins Gewaltsame, Destruktive verfälscht? Die Verwechslung von Joch und Last verbindet das Dogma logisch und historisch mit der naturwissenschaftlichen Aufklärung. (Lamm und Esel sind ins christliche Symbol übernommen worden, während das Rind in den Evangelien nicht vorkommt.)
    Das Femininum, das Neutrum und das Kollektivum bilden die Folie, auf die die Begriffe der Gattung und der Materie aufgetragen worden sind. Dazu gehören die Konnotationen des Naturbegriffs, Zeugung und Geburt. Während der Begriff der Natur auf die weibliche Seite verweist, erinnert der Weltbegriff nicht zufällig an die männliche Seite: Bezieht sich nicht hierauf das Gebot der Keuschheit?
    Mit der Physik wurde dem Kosmos die Erinnerung ausgetrieben. Sie hat den Baum des Lebens zerstört, das Buch des Lebens zugeschlagen.
    Wenn der Himmel sich aufrollt wie eine Buchrolle: Bezeichnet das nicht das Schließen und das Öffnen des Buches zugleich? Hier ist der Punkt, an dem wir die ganze Vergangenheit nicht mehr hinter uns haben werden, sondern vor uns: von Angesicht zu Angesicht. Das wäre das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht, an dem wir durch Anpassung an die Welt teilhaben. Erinnerungsarbeit ist eine der Möglichkeiten, darauf sich vorzubereiten.
    Wenn das Wasser im Namen des Himmels mit dem „Was“ zu tun hat, hat dann das Feuer mit dem „Wer“ zu tun?

  • 3.2.1995

    Das Präsens bezieht sich nicht auf die Gegenwart, sondern auf die erinnerte Vergangenheit. Diese erinnerte Vergangenheit ist der Boden, aus dem das Neutrum erwächst. Das tode ti ist das philosophische Äquivalent des Präsens: der Vorhang vor der Erkenntnis der Gegenwart.
    Die Geistverlassenheit der Kirche läßt sich an der wachsenden Konfliktunfähigkeit in der Kirche demonstrieren und nachweisen. Damit hängt es zusammen, wenn es – von einem bestimmbaren Zeitpunkt an – keine erkennbare Freiheitsperspektive in der Kirche mehr gibt.
    Die Welt ist der institutionalisierte Rechtfertigungszwang, als deren Subjekt der Staat sich begreift. Nur durch die Auf-sich-Nahme der Sünde der Welt kann man sich daraus befreien.
    Der naturwissenschaftliche Massenbegriff steht in einer dreifachen Reflexions- und Äquivalenzbeziehung:
    – als träge Masse (bezogen auf den mechanischen Stoß),
    – als schwere Masse (in der Beziehung äußerlich getrennter, wechselseitig sich attrahierender Massen, im Bereich des Gravitationsgesetzes) und
    – als Energie (durch die relativistische Äquivalenz von Masse und Energie).
    Verweist nicht die Äquivalenzbeziehung von Masse und Energie auf den gesellschaftlichen Zusammenhang von Reichtum und Armut („Energie“-Erzeugung durch Proletarisierung) und deren Institutionalisierung in der Geschichte der Banken (der Arbeitsstätte des Geldes)?
    Hat Hegels „Arbeit des Begriffs“ etwas mit der Geschichte der Banken zu tun?
    War nicht der „ungerechte Verwalter“ aus dem jesuanischen Gleichnis ein frühes Modell des späteren Managers, spätkapitalistisches Realsymbol der vergesellschafteten (und proletarisierten) Herrschaft? Auch der Manager ist heute ein proletarisierter Lohnabhängiger. Herrschaft gründet heute nicht mehr in gleichsam substantiellen Eigentumsverhältnissen, sondern in funktionalisierten Organisations- und Verwaltungsstrukturen, denen zwar immer noch Eigentumsverhältnisse zugrunde liegen, die aber weitestgehend polarisierten und atomisierten Eigentumsverhältnissen geworden sind (zusammengehalten nur durchs Finanzsystem der Banken).
    Krankt der Vulgärmaterialismus (neben dem es einen andern nicht mehr zu geben scheint) nicht daran, daß er immer noch von einem längst obsolet gewordenen Eigentumsbegriff ausgeht (und von einem personalistischen Begriff des Klassenkampfs)?
    Erst wer im Problem des Eigentums das Problem der Materie wiedererkennt, wird den Zusammenhang von Ökonomie und Physik begreifen. Im Materiebegriff der traditionellen Metaphysik spiegelt sich deren Abhängigkeit von den Strukturen der Eigentumsgesellschaft. Die Durchdringung der Objektivität mit dem Tauschprinzip (oder die Entfaltung der Herrschaft des Tauschprinzips) hängt mit der Durchdringung der Objektivität mit dem Trägheitsgesetz (mit der Entfaltung der Herrschaft des Inertialsystems) zusammen.
    Arbeiten nicht die Förderung der Weltraumforschung und der Kernforschung (der kapitalintensivsten Forschungsbereiche) nur gleichsam aus Alibigründen an sachlichen, inhaltlichen Problemen, während ihr Hauptaufgabe die der Legitimation des Bestehenden ist?
    Enthält nicht die Bibel selber den Hinweis, daß die Frage, weshalb Jesus sterben mußte, erst beantwortet werden wird, wenn die Bedeutung der Austreibung der Händler und Geldwechsler aus dem Tempel begriffen wird (was erst möglich ist im Kontext der Erkenntnis der Bedeutung der Geschichte der Banken)?
    Die Befreiung des Erkennens vom Bann des Wissens: Gründen nicht die prophetischen und die apokalyptischen Visionen darin, daß sie den Zusammenhang von Sehen, Wissen und Erkennen aufsprengen (das Wort: da gingen ihnen die Augen auf, rückgängig machen)? Bleibt von den drei eschatologischen Motiven (Unsterblichkeit der Seele, selige Anschauung Gottes und Auferstehung der Toten) am Ende nicht doch nur die Auferstehung der Toten? Die selige Anschauung Gottes liegt jenseits (in der „Gegenrichtung“) dessen, was sonst Anschauung heißt: nach dem Lösen der sieben Siegel.
    Läßt sich aus der Befreiung der Maria Magdalena von den sieben unreinen Geistern schließen, daß sie die einzige gewesen ist, die Jesus von Angesicht zu Angesicht gesehen hat, während der Kirche die dreifache Leugnung, und mit der dritten Leugnung die Selbstverfluchung, vorhergesagt ist? Die Idee der Erfüllung der Schrift ist von der der Erfüllung des Wortes in der Tat durch eine Todesgrenze getrennt (so wie das Angesicht vom Angesicht.
    Beschreibt nicht der Satz vom Stein, den die Bauleute verworfen haben (und der dann zum Eckstein geworden ist), im Nachhinein einen objektiven, gegen jedes moralische Urteil abgeschirmten Sachverhalt?
    Die memoria passionis gewinnt ihre theologische Bedeutung durch ihre das Herrendenken auflösende Kraft. Aber hat nicht die Theologie auch die memoria passionis noch im Interesse der Selbstlegitimation von Herrschaft instrumentalisiert: als Opfertheologie, die dann ihre logische Begründung in der Bekenntnislogik gefunden hat? Die Opfertheologie war in der Zeit vor der Bekenntnislogik, diese jedoch logisch vor der Opfertheologie. Die Opfertheologie war gleichsam der Quellpunkt der Bekenntnislogik, und diese der Quellpunkt der modernen Naturwissenschaften. Der naturwissenschaftliche Objektbegriff gründet in der Opfertheologie; für beide gilt: Barmherzigkeit, nicht Opfer.
    Ist nicht das Inertialsystem der „Witwenschleier der Natur“, der Materie, die die Mutter von allem ist?
    Die Sexualmoral ist die Unzucht, deren Bewußtsein sie durch projektive Verarbeitung zu verdrängen, zu tilgen versucht. Deshalb ist sie zum Generator des Fundamentalismus (den es nur in den drei Buchreligionen gibt) geworden.
    Die Rosenzweigsche Sprengung des All läßt sich daran demonstrieren, daß in der Moral zwischen der Richtschnur des Handelns und des Maßstab des Urteils unterschieden werden muß. Beide lassen sich nicht auf einen Nenner bringen. Das hat seinen Grund in der Nichtobjektivierbarkeit des Subjekts, in der Asymmetrie von Ich und Du. Die Leugnung (oder Verkennung) dieser Asymmetrie macht das befreiende Gebot zum verknechtenden Gesetz.
    Ist nicht das Nichtwissen, das dann als das Nichtwissen der drei getrennten Elemente Gott Mensch Welt sich erweist, selber noch begründbar und ableitbar? Und zwar ableitbar aus einer Logik, die zugleich als die Logik eines der drei Elemente sich erweist: als Logik der Welt?
    Sind nicht die drei kantischen Totalitätsbegriffe Wissen, Natur und Welt durch die subjektive Form der inneren Anschauung, durch die Zeit, an die Vergangenheit gebunden? Ist das nicht die Fessel, von der unser Erkenntnisvermögen sich nicht befreien kann? Und ist der Ursprungspunkt dieser Fessel nicht aufs genaueste bezeichnet in dem biblischen Wort: Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren?
    Wer die Moral nur aufs Handeln, und nicht schon aufs Erkennen bezieht, wer an einem neutralen Erkenntnisbegriff glaubt festhalten zu können, wird den Ursprungspunkt der Moral nie begreifen. Die Ontologie ist eine Moralvernichtungsmaschine.
    Haben die vier Grundfarben etwas mit den vier Himmelrichtungen zu tun: Weiß (Gelb) und Schwarz (Blau), Rot und Grün? Und ist nicht der Bogen in den Wolken die Bestandsgarantie der Welt?
    Hat die Finsternis über dem Abgrund etwas mit der Tier aus dem Abgrund zu tun?
    Ist nicht das Blau die Rückseite des Lichts, und sind Rot und Grün das Innen und Außen der Dinge? Gibt es eine biblische Farbenlehre?
    Hängt die Farbenblindheit, die Unfähigkeit, Rot und Grün zu unterscheiden, mit der Unfähgigkeit, das Innere und Äußere der Dinge zu unterscheiden, zusammen?

  • 8.1.1995

    Zur Definition des Eigentums gehört der Staat als Organisationsform einer Gesellschaft von Privateigentümern und die Unterscheidung von Eigentum und Besitz (Verfügungsrecht, Nutzung und Haftung).
    Der Staat begründet und neutralisiert die Unterscheidung von Vorn und Hinten, Rechts und Links und Oben und Unten und konstituiert so die subjektiven Formen der Anschauung (und deren Basis: die Form des Raumes).
    Begriff und Name sind zwei inverse Formen der Reflexion des Fremden in der Sprache.
    Die Idee des Absoluten ist das Produkt einer von der Anschauung beherrschten (durch die Anschauung neutralisierten) Erkenntnis. Die Anschauung gründet in der Leugnung des Angesichts und begründet zugleich die Objektvorstellung und die Urteilsform.
    Die Hegelsche List der Vernunft ist ein Sinnesimplikat der Logik der Schrift: Die Logik der Schrift und die List der Vernunft begründen sich wechselseitig.

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie