Ginzburg

  • 22.06.93

    „Zorn ist ein Verlangen nach Rache.“ (Katechismus, Nr. 2302) Diese Definition, die auch durch das nachfolgende Thomas-Zitat nicht besser wird, rührt an den Kern der theologischen Unkenntnis und der Dummheit dieses Katechismus. Wenn sie stimmen würde, dürfte es keinen göttlichen Zorn geben, es sei denn, man unterstellte auch Gott ein Rachebedürfnis (das dann die projektive Abfuhr durch den Antisemitismus nach sich zieht: z.B. durch die Unterscheidung des christlichen Liebesgottes vom jüdischen Rachegott). Die deutsche Sprache unterscheidet Wut und Zorn; und die Katechismus-Definition trifft die Wut, nicht den Zorn. Aber ist nicht die Unfähigkeit, beide zu unterscheiden, beide unterschiedslos auf das „Verlangen nach Rache“ zu beziehen, eine zwangsläufige Folge eines theologischen Konzepts, in dem Gottesfurcht und Herrenfurcht, Umkehr und Umdenken sowie Nachfolge und Unterwerfung unter jegliche Autorität nicht mehr sich unterscheiden lassen, in dem m.a.W. der Gegenstandsbereich, auf den der Begriff des Zorns sich bezieht: die Verletzung der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens, längst aus dem Blickfeld geraten ist? Hier gibt es keine Möglichkeit mehr, den göttlichen Zorn und die teuflische Wut (einen teuflischen Zorn gibt es nicht) zu unterscheiden. Zu prüfen wäre insbesondere der Begriff des Rachebedürfnisses selber (der eigentliche Existenzgrund des Rechts, der Strafe und der gesellschaftlichen Einrichtungen des Strafvollzugs): Bezeichnet er nicht das subjektive Korrelat des Schuldverschubsystems, steckt nicht in jedem Rachebedürfnis ein projektives Element, die lustvolle Verschiebung eigener Schuld auf andere? Ist nicht in jedem Objekt eines Rachebedürfnisses auch etwas vom Sündenbock? Dann aber wäre nach der Katechismus-Definition der Begriff des Zorns auf Gott nicht anwendbar, dann wäre der Begriff des gerechten Zorns gegenstandslos. Aber ist nicht die kirchliche Theologie heute dabei, mit dem theologischen Begriff des Zorns die Theologie selbst gegenstandslos zu machen?
    Auschwitz hat in Deutschland (und in der Kirche?) stärkere Rachebedürfnisse ausgelöst als bei den Juden (ist nicht die kirchliche Position in der heutigen Abtreibungsdiskussion, die nicht selten bei den kirchlichen Hardlinern mit Auschwitz-Assoziationen sich verbindet, eine Form der projektiven Abfuhr dieses Rachebedürfnisses: der ihr zugrunde liegenden Mordlust, die man dann in die Frauen hineinprojiziert?).
    Wenn der Zorn ein Verlangen nach Rache ist, dann ist die Welt ein Geschöpf des göttlichen Zorns und der Kreuzestod der bis heute mißlungene Versuch, diesen Zorn zu besänftigen (die Welt zu „entsühnen“). Aber diesen Anschein erweckt ja nun in der Tat die christliche Theologie (aus diesem finsteren Konstrukt hat die Gnosis einmal versucht, die Konsequenzen zu ziehen). Gehört nicht in diesen Zusammenhang nicht auch der Satz: Extra ecclesiam nulla salus, der die Konsequenz mit einschließt, daß es nur um die Rettung der einzelnen aus der bösen Welt, nicht aber um die Rettung der Welt selber geht, und daß, wenn es Heil nur in der Kirche gibt, alles, was draußen ist, verworfen ist.
    Der Gott, der den Tod seines eigenen Sohns als Sühne fordert: nimmt der nicht seine eigene Selbstoffenbarung im brennenden Dornbusch zurück, ist das nicht die Rücknahme des JHWH (in der Geschichte der Bindung Isaaks war es der Engel der Elohim, der das Opfer forderte, und der Engel JHWH’s, der die Forderung zurücknahm)?
    Merkwürdige Stelle bei Kant (Kr.d.r.V., S.403f), wo er in der Verlängerung einer geraden Linie ins Unendliche die gleiche Logik erkennt wie bei dem Elternpaar, von dem man „in absteigender Linie der Zeugung ohne Ende fortgehen“ könne. Liegt hier, in der Beziehung der endlos sich fortzeugenden Geraden zu den endlos sich fortzeugenden Gattungen in der Natur, nicht ein Hinweis auf den Ursprung des christlichen Sexualtabus und auf sein anderes, verdrängtes Objekt: in der Verdrängung des Zeugungselements bei der Mathematisierung der Raumes (in der Abstraktion vom Licht, das beides, das Sehen und das Gesehenwerden, in sich enthält, und darin den Ursprung sowohl des Lebens wie des Angesichts; vgl. den biblischen Zusammenhang des Gesehenwerdens mit der Scham: „Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren“).
    Auch eine Bemerkung zur feministischen Theologie: Die Vorstellung einer unendliche Ausdehnung des Raumes steht unter dem Zwang der Verdrängung des Gesehenwerdens, der Scham, die dann im Begriff der trägen Masse (und im Realsymbol des Blutes?) wiederkehrt: Ist die mathematische Raumvorstellung nicht (wie in anderer Hinsicht das Geld und das Bekenntnis) ein Realsymbol der Vergewaltigung (und der Onanie)? Liegt der Anfang hierzu in der geschlechtsspezifischen Trennung der Heiligen nach der Märtyrerzeit in Confessores und Virgines? Und liegt hier nicht ein Hinweis auf den Zusammenhang der Hexenverfolgung (einschließlich der damit verbundenen Mythen – vgl. Carlo Ginzburg: Hexensabbat) mit dem Ursprung der naturwissenschaftlichen Aufklärung?
    Meistveraltet ist die jeweils jüngst vergangene Mode. Ist nicht auch das ein Teil des Schuldverschubsystems, seiner Mikrologik: Indem das gerade Vergangene nur durch den Zeitablauf reflexionsfähig wird, erzeugt es nur den Zwang zur Verdrängung; dieser das Ich bedrängenden Scham- und Schuldflut ist unser Reflexionsvermögen nicht gewachsen. Zu verarbeiten ist sie nur über die projektive Schuldverschiebung. – Anwendung auf die Beziehung zur Vergangenheit in Deutschland.
    Liegt hier nicht auch der Schlüssel zum kritischen Verständnis der Habermasschen Verarbeitung der Kritischen Theorie? War nicht der „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ schon eine affirmative, neutralisierende Umformung des Begriffs der Kulturindustrie? Unter diesem Neutralisierungsdruck ist die Kommunikations- und Diskurstheorie entstanden (die letzte Fluchtburg vor der andringenden Notwendigkeit der Restituierung der benennenden Kraft der Sprache). Ist nicht das Reale in der Habermasschen Intersubjektivität verdampft (unter dem Hitzedruck der rekursiven und selbstreferentiellen Logik der Intersubjektivität)?
    Der Geist Gottes brütend über den Wassern ist bei Heidegger zur Mordlust ausbrütenden Daseins-Philosophie verkommen (Rückfall in die gleiche Finsternis über dem Abgrund, die Habermas jetzt als Neue Unübersichtlichkeit überfällt).
    Der Weltbegriff bedarf der quasitheologischen Idee der Entsühnung (er bedarf der Opfertheologie), und das deshalb, weil nur auf diesem Wege die projektive Verarbeitung der Erfahrung (der historische Objektivationsprozeß), die der Weltbegriff absichert, möglich gewesen ist. Die projektive Verarbeitung selber lief unter dem Titel Naturerkenntnis.
    Wie verhalten sich eigentlich die bestimmten Artikel im Deutschen, in die die Deklinationsformen sich verlagert haben, zu den Nomen selber (den deutschen „Substantiven“), an denen die Deklinationen nur noch fragmentarisch an Endungsresten erkennbar sind? Die ehemaligen Suffixe sind zusammengeschrumpft und nur noch ein verhallendes Echo der die Deklination repräsentierenden bestimmten Artikel. Welcher Unterschied liegt zwischen der Deklination des Nomens Deutscher (der D’e, des D’en, dem D’en, den D’en) und der des Nomens Wald (der W, des W’es, dem W’e, den W)? In dem einen Fall drücken sich alle Beugungen durch das -en aus, in dem anderen stehen neben der Einheit des Nominativ und Akkusativ die getrennten Formen des Genitiv und Dativ. Sind in den femininen Nomen die Deklinationen insgesamt endungslos (die Frau, der F, der F, die F)? Aber sind hier die Deklinationen nicht ohnehin nur Varianten der fem./masc. Artikelbildungen? Und sie die Wald-Endungen nicht versteckte Neutrums-Endungen (vgl. das Haus, des H’es, dem H’e, das H)? Kann es sein, daß im Deutschen die Flexionen (die Deklinationen) durch genus-spezifische Elemente überlagert werden, gleichsam eine zweite Reflexionsstufe zum Ausdruck bringen? Wenn ja, welche Sprachlogik verbirgt sich dahinter? Auffällig ist eine merkwürdige Reflexions-Beziehung des Femininum zum Maskulinen (der maskuline Artikel erscheint als Genitiv- und Dativ-Artikel im Femininum, und die feminine Deklination des Artikels ist zugleich das Modell der allgemeinen Deklination im Plural) wie des Maskulinum zum Neutrum. Gibt es einen sprachlogischen Zusammenhang mit der Ersetzung der Suffixbildung durch Bildung mit Hilfe von Hilfszeitverben bei den Konjugationen (und der Ersetzung der hierarchischen Begriffs- durch hierarchische Satzkonstruktionen) und schließlich mit dem exzessiven Gebrauch von Prä- und Suffixen im Deutschen?
    Wie verhält sich eigentlich das Wort vom Weizenkorn, das sterben muß, um hundertfältige Frucht zu bringen, zu dem Gleichnis vom Weizen, der unter die Dornen, auf felsigen und auf fruchtbaren Grund fällt? Sind die Dornen und der Felsen nicht Symbole der Hypostasierung des Todes (die in die Theologie durch den affirmativen Gebrauch des Weltbegriffs hergekommen sind, und in denen sich die entscheidenden Aspekte dieses Weltbegriffs, seine Subjekt- und Objektfunktion, ausdrücken)? Grund ist die Weigerung, das Nachfolge-Gebot in die Grundlagen der Theologie (der Gotteserkenntnis) mit hereinzunehmen. Aber Gott will nicht, daß sein Wort leer zu ihm zurückkehrt.
    Ist nicht die Versteinerung (der Fels) Grund und Folge der nicht übernommenen Arglosigkeit (der Unfähigkeit, die Klugheit der Schlange ohne projektive Entstellung, ohne der Paranoia zu verfallen, zu übernehmen)? Ist sie nicht eine Folge der bis heute unaufgelösten Paranoia im Kern der Welt?
    Zum Brief an Metz: Das „Zeit ist’s“ verweist auf den Aktualitätskern der theologischen Erkenntnis, auf das, was die Mystiker das „nunc stans“ (und Ernst Bloch das „Dunkel des gelebten Augenblicks“) nannten. Dieser Aktualitätskern ist die bis heute ungehobene Wahrheit des Sterns der Erlösung.
    Ist nicht die Kirchengeschichte der paulinischen Theologie die Geschichte des kirchlichen Kleinglaubens, und hat nicht die lutherische Rechtsfertigungslehre diesen Kleinglauben auf den Begriff gebracht? Aber Jesus ist der, der dem Sturm und den Wellen des Meeres gebietet, und ist uns nicht ein Teil dieser Kraft in seinem Namen mitgegeben?

  • 14.12.92

    Ist die mittelalterliche Dämonenlehre nicht eine entfremdete und verdinglichte Erkenntnis- und Gesellschaftskritik, der notwendige Schatten der Aufklärung: der mit ihr dogmatisierten Form der Objektbeziehung? So ließe sich der Hexenwahn, auch seine inhaltliche Bestimmung (sh. u.a. Carlo Ginzburg: Hexensabbath), als Deckbild der beginnenden naturwissenschaftlichen Aufklärung begreifen, der Antisemitismus und Auschwitz als Widerspiegelung des Endes der Aufklärung.
    „In der griechischen und in der von ihr herstammenden russisch-orthodoxen Kirche gab es keine Hexenverfolgung, keine Inquisition, keine Massenabschlachtungen.“ (Rudolf Krämer-Badoni, S. 180) Weil es dort den Ursprung der Naturwissenschaften nicht gegeben hat.

  • 16.05.90

    Walter Benjamin in einem Brief an Scholem vom 05.08.37: er wolle der Jungschen Archetypenlehre, die er für „echtes und rechtes Teufelswerk“ hielt, „mit weißer Magie zu Leibe rücken“. (Briefwechsel S. 247; vgl. Carlo Ginzburg: Hexensabbat, S. 244 und Anm. Nr. 112 dazu) – Nochmal die Geschichte von der Hexe von En Dor lesen.

    Ist das Sexualtabu ein Teil des Tabus über den Totenkult? (Genesis/Sündenfall, Ursprungsgeschichte der Sexualmoral, Zusammenhang mit politischer Theologie)

    Ginzburgs Hexensabbat: Gibt das Buch nicht auch Hinweise und Kriterien zur Beurteilung des Gesamtkomplexes der Terroristenverfolgung? Gibt es nicht gemeinsame oder auch nur vergleichbare Vorurteile (begründet in der Absicht der Stabilisierung von Herrschaftsstrukturen)? Insbesondere: Ist die Paranoia, die in beide hereinspielt, ein Nebeneffekt der Verdrängung des eigenen Schuldanteils an dem Konflikt, Blockade der Analyse dessen, was sich wirklich abspielt?

    Die merkwürdige Haßbindung der Rechten an die Toten (Grabschändungen, Schmierereien auf Friedhöfen, an Grabsteinen u.ä.): Die Gefahr der Linken ist die Instrumentalisierung des Todes, die der Rechten seine Magisierung. Man wird es sich nach Art einer Mutprobe (als Teil eines Initiationsritus) vorstellen müssen: die, die die Gräber schänden, scheinen auch von der Erwartung motiviert zu sein, daß nicht auszuschließen ist, daß die Gräber sich öffnen und die Toten hervorkommen (um sich an den Überlebenden zu rächen). Nicht zufällig ist der Werwolf (überhaupt der Wolf) eine faschistische Identifikationsfigur. Zum Werwolf wird, wer den „inneren Schweinehund“ in sich besiegt hat; den inneren Schweinehund besiegt man mit Mutproben, die die moralische Identität untergraben sollen (die Toten kommen nicht heraus, der liebe Gott greift nicht ein). Die erwünschte Befreiung ist eine Befreiung von den Tabus der Moral, vom Über-Ich. Ein weiterer Nebeneffekt: diese Mutproben haben eine gewaltige Bindungskraft: die der Komplizenschaft. Elemente davon sind nicht zufällig bei Polizeieinsätzen anläßlich linker Demonstrationen zu erkennen, die dann regelmäßig das Lob der Politiker nach sich ziehen. Der rein technische Aspekt dieses Verfahrens, durch projektive Kriminalisierung den politischen Grund der Sache zu verdrängen, sich die politische Auseinandersetzung zu ersparen, hat die Vorurteilsstrukturen, die er zugleich produziert und ausbeutet, zur Voraussetzung.

    Drewermann: „Es ist der in unserem Zusammenhang vielleicht wichtigste Satz der ganzen Angsttheorie der Psa, wenn Freud sagt: „Leben ist … für das Ich (Hervorhebung H.H.) gleichbedeutend mit Geliebtwerden, vom Über-Ich geliebt werden …“ (Drewermann II, S. 155; vgl Freud: Das Ich und das Es, XIII 288) – Anstatt dieses Zitat kritisch zu begreifen (Struktur und Genese des Idealismus anhand der Struktur des Ich) rezipiert er es affirmativ: als Beweis für den (zutreffenden, aber theologisch irrelevanten) Konnex von Ich und Geliebtwerden. Die Position Drewermanns bezeichnet genau den Punkt, den sie dann auch beschreibt: den Abfall von Gott (er beschreibt, ohne es zu wissen, seine eigene Position). – Drewermanns Begriff des Bösen ist ein infantiler Begriff: So verstehen Kinder sich selbst als böse (das Ich, das sich als Nein konstituiert, als apriori schuldig, das ebendeshalb des Geliebtwerdens bedarf, weil es selbst der Liebe nicht fähig ist), nachdem es die Eltern, aus deren Bannkreis sie nicht herauskommen, ihnen einsuggeriert haben. Das Schlimme ist, daß dieser infantile Begriff des Bösen der in der Gesellschaft immer noch herrschende ist; er ist der Nährboden insbesondere für die neue Welle des Nationalismus, für die Weigerung, den gesellschaftlichen Schuldzusammenhang (und das Ich als Moment darin) zur Kenntnis zu nehmen. Es steckt die Weigerung mit drin, erwachsen zu werden, die Verantwortung für sich und für die Welt, in der man lebt, zu übernehmen (Grund sind die Angst und die Panik, die Kritik an den Eltern immer noch auslöst; Deutschland: das sind die Toten – die toten Helden – der Vergangenheit, von denen man nicht loskommt – vgl. Bitburg und Kohls „Versöhnung über Gräbern“).

    Drewermanns Haltung erinnert an die um Umkreis der Psychoanalyse nicht seltene Geste der Heilung durch Abwehr von Schuldgefühlen, der Unfähigkeit zu realer Schuldbearbeitung (Trauer- und Erinnerungsarbeit), die nach Auschwitz das erste Erfordernis einer theologischen Rezeption der Psychoanalyse sein sollte.

    Verantwortung übernehmen ist etwas anderes, als zur Verantwortung gezogen zu werden, d.h. sich schon im vorhinein gegen eine apriorische Anklage, einen apriorischen Verdacht rechtfertigen zu müssen und dadurch in das Gravitationsfeld der Autorität hereingezogen zu werden (in den Bannkreis der Eltern).

    Gott ist nicht beleidigungsfähig; jede andere Vorstellung ist (subjektiv wie objektiv) pathologisch und blasphemisch.

  • 14.05.90

    Dogma und Welt: Das Dogma ist ein wesentliches Moment in der Geschichte der Verweltlichung der Religion, der Verweltlichung des Christentums. Der Zusammenhang mit der Herrschaftsgeschichte spielt hier mit herein. Wenn die Umkehr eine erkenntnistheoretische Kategorie ist, dann ist sie auch aufs Dogma anzuwenden; nur so kann man es vermeiden, daß Theologie zur bloßen Ausschmückung des Dogmas wird, anstatt endlich deren Wahrheit zu realisieren, die nur durch die Umkehr zu realisieren ist. Alle Versuche der Modernisierung, der bloßen Anpassung des Dogmas an veränderte Welt- und Erkenntnisbedingungen verfehlen das Ziel theologischer Erkenntnis; verschoben wird die Relation von Maß und Gemessenem. Nicht die moderne Welt ist Maßstab für das, was am Dogma noch wahr ist, sondern das Dogma ist Maß dessen, was an der modernen Welt falsch ist. So sagen es zwar alle kirchlichen Lehrämter auch, und die Gefahr, mißverstanden zu werden, ist sicherlich groß. Aber wer der Gefahr des Mißverständnisses entgehen will, verstellt sich selbst den Zugang zur Wahrheit.

    Zu Drewermann: Seine Adaptation der Psychoanalyse leidet daran, daß es ihm nicht gelingt, den Bann des Psychologismus zu sprengen. Bezeichnend seine Rezeption des Begriffs des Unbewußten, der der Innerlichkeit des Subjekts verhaftet bleibt. Eine objektive Anwendung der Psychoanalyse ist wahrscheinlich erst möglich, wenn es gelingt, den Begriff des Unbewußten statt bloß formal, nämlich gegen das Bewußtsein, in Abgrenzung vom Bewußtsein zu definieren, ins Objektive zu wenden und inhaltlich zu bestimmen, d.h. darauf abzustellen, was in der Objektivität das Bewußtsein nicht mehr erreicht, welche Bereiche der Objektivität vom Bewußtsein ausgeblendet werden, und die besondere Rolle, die der moderne Säkularisationsprozeß darin spielt. Verdrängungsprozesse wären heute nicht mehr in erster Linie in der Privatsphäre, im Bereich der Sexualität, zu studieren, sondern in der Öffentlichkeit, in einem Bereich, der durch Diskriminierung, Ausgrenzung, neue Formen der politischen Gewalt von der Atombombe bis hin zu Polizeigewalt, die qualitativ neue Formen angenommen hat; hier geht es in erster Linie um Verdrängungsprozesse und eines der wesentlichen Instrumente ist hier die Produktion des pathologisch guten Gewissens. Hier haben die Studies in Prejudice, die Untersuchungen über das Vorurteil ganz erhebliche Vorarbeit bereits geleistet.

    Der Hinweis Jesu, daß man das Opfer nicht feiern soll, bevor sich nicht mit seinem Bruder versöhnt hat, ist heute das schlagendste Argument gegen die weitere Teilnahme an der Feier der Opfers. Würden die Christen dieses Wort ernst nehmen, die Kirchen wären leer. Die Sache ist nicht harmlos. Der historische Prozeß, in den auch die Geschichte der Sakramente verflochten ist, hat uns deren Gebrauch entfremdet, er hat uns mehr noch die Sakramente entwendet, und zwar entwendet in einem sehr wörtlichen Sinne: Ihr Inhalt ist so verkehrt worden, daß sie uns gleichsam nur noch die Rückseite zukehren, für uns unkenntlich geworden sind. Übrig geblieben ist eine barbarische Ästhetik.

    Zweifellos krankt Drewermanns Buch über die Kleriker daran, daß auch er hier das Problem von der falschen Seite anfaßt. Es ist keine Frage der Psychologie, die an die Lösung des Rätsels führt, sondern es ist eine Frage des historischen Prozesses. Und berührt wird nicht die Frage des Klerikertums, sondern betroffen ist die Frage des Priestertums im Kern. Und genau das hätte das eigentlich Objekt von Drewermann sein müssen, das er aber nicht wahrgenommen hat. Und genau das ist es, woran die Priester für alle sichtbar so intensiv leiden, nur sie selber merken es nicht mehr.

    Habe ich bei dem Hinweis auf Esther und Judith die Ruth vergessen? Es erscheint mir bemerkenswert, daß diese drei Frauengestalten im „Alten Testament“ die Beziehung der Juden, des jüdischen Volkes zur Außenwelt widerspiegeln, von den Heiden über die Machthaber bis hin zu den Tyrannen. Zu überprüfen wäre, wie sich Hiob, der Leidende, die Propheten zu dieser Außenwelt verhalten, wie verhält sich die Apokalypse hierzu. Propheten und Apokalyptiker scheinen doch zu sehr in die Innerlichkeit des erwählten Volkes versponnen zu sein, bis zum Exzeß versponnen, und die Außenwelt nur noch wahrzunehmen als Gegenstand der Verurteilung, des Banns. Und wohin gehört in diesem Zusammenhang das Hohe Lied der Liebe?

    Fällt in der säkularisierten Welt die Theologie insgesamt unter das Bilderverbot?

    Das Wesentliche an dem „Hexensabbat“ von Carlo Ginzburg scheint mir zu sein, daß es einen Blick auf eines der wichtigsten Motive der Hexenverfolgung wirft, nämlich auf die Verdrängung der Erinnerung an die Toten. Diese zugleich verdrängte Beziehung zu den Totenheeren scheint mir der Schlüssel zu sein. Verdrängt wurde hier mit der bedrängenden und möglicherweise falschen Erinnerung an die Toten der Grund für die Lehre von der Auferstehung.

    Was das Christentum nie geschafft hat, war der gelassene Umgang mit den Häresien. Grund dafür war die Komplizenschaft mit der Herrschaft. Erst das Staatschristentum kennt den Häretiker (wie zuvor der heidnische Staat das Christentum) als den zu eliminierenden Feind. Das Christentum ist in der Geschichte seiner Komplizenschaft mit der Herrschaft bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden, aber es ist darin nicht aufgegangen; ein Rest ist geblieben, der möglicherweise heute fähig wäre, seine rettende Kraft zu entfalten. Erst wenn das Bewußtsein seine Härte ablegt, sich selbst als offene Wunde begreift, erst dann ist Theologie wider möglich. Hier ist das Leiden und der Schmerz nichts, worauf einer sich berufen kann, woraus er Ansprüche herleiten könnte; sie bleiben Leiden und Schmerz. Sie finden keinen Trost. Wer aber in diesem Leiden, in diesem Schmerz sich selbst und seinen Gott zu finden und zu bewahren sucht, der … Selbstmitleid, das Verlangen, geliebt zu werden, ist der Tod der Theologie.

    Franz Rosenzweig hat den Streit zwischen Realismus und Nominalismus nicht geschlichtet, sondern auf eine Ebene gehoben, auf der er dann aufgehoben wird. Zentraler Punkt ist seine Lehre vom Namen. Der Name ist nicht Schall und Rauch. Der Name ist das Zentrum seiner Philosophie, deren Intention es ist, die Dinge beim Namen zu nennen oder auch – das ist die andere Seite der Sache – sie zum Sprechen zu bringen. Der kirchliche Zug, den Gershom Scholem an F.R. bemerkt hat, hängt offensichtlich zusammen damit, daß bei ihm keine Apokalypse gibt. Die Apokalypse war zu nah, zu brennend, zu direkt, als daß er sie hätte mit aufnehmen können. Auschwitz kam nach Rosenzweig.

    Wenn die Theologie nur dazu dient, die Vorstellung, durch Handeln ließe sich etwas ändern, zunächst einmal beiseite zu stellen, und die ganze Schwere und die den Umfang der Negativität ins Auge zu fassen, jede Illusion darüber beiseite zu lassen, und damit die Gefahr zu meiden, Räuber- und Gendarm-Spiel mit Revolution zu verwechseln, dann hat sie schon einiges erreicht. Aber der Schock der Radikalität ist nicht zu vermeiden. Vor allem dann nicht, wenn man kein Zyniker werden möchte.

    Die Hexen haben in der Auseinandersetzung mit der Natur auf der falschen Seite gestanden.

    Ein Schmerz, der nicht beleidigt, ein Schmerz, der keine Empörung wachruft, sondern nur Trauer. Es gibt keine Empörung mehr ohne Projektion. Zumindest auf der Seite der Täter. Wir haben kein Recht mehr beleidigt zu sein. Mehr noch, das Beleidigtsein ist Teil des pathologisch guten Gewissens.

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie