Ist es nicht das ganze jämmerliche Rechtfertigungsgerede, das Anton-Andreas Guha heute (in seinem Beitrag zur Goldhagen-Debatte) zusammengestellt hat, vom „die andern auch“ über „Versailles“ bis zu den gesellschaftlichen Umständen der 20er und 30er Jahre? So hofft er, den Schrecken, an den Goldhagen erinnerte, neutralisieren zu können (mit der besonderen Infamie, mit der der Kollektivschuld-Vorwurf, den wir aus dem Ausdruck „die Deutschen“ reflexartig heraushören und offensichtlich nur noch rassistisch verstehen können, dann auf den Autor zurückprojizieren: weil der Kollektivschuld-Vorwurf zu den Wurzeln des Rassismus gehört, sind Rassisten gegen ihn immun?).
Die Verführung der Urteilsmagie liegt in ihrem Rechtfertigungseffekt: Deshalb schlagen die Rechtfertigungszwänge, die Wiederholungszwänge sind, den Takt zu den kunstvollen Eiertänzen, zu denen Goldhagen seine Kritiker gezwungen hat. Die Rechtfertigungsorgie funktioniert nach der Logik „100 Millionen km Schweif! – Was sind wir doch für kleine Würstchen“.
Steckt nicht in den Rechtfertigungszwängen, die in dem „jämmerlichen Schauspiel“ sich manifestieren, das Bedürfnis und der Trieb nach neuen Objekten der Eliminierung?
Das Kind der Ehe, die die Gnade der späten Geburt nach dem Krieg mit der Urteilsmagie eingegangen ist, wird der neue Faschismus sein.
Käme es nicht endlich darauf an, das apokalyptische Bild des „großen Zeichens am Himmel“ (Off 12) ins Sprachlogische zu übersetzen?
Auch der Naturschutz ist ein Instrument der Ausgrenzung, der Perhorreszierung des Eingedenkens.
Jede Rechtfertigung beruft sich auf die Natur, wenn sie die Freiheit verleugnet.
Die Rechtfertigungslehre ist längst an der Hoffnung verzweifelt, daß der Himmel sich zu öffnen vermag.
Monaden sind fensterlos: War die Leibniz’sche Monadenlehre der Anfang der Selbstreflexion einer anderen Planetentheorie, gehört nicht zu den „Wegen des Irrtums“ der nach außen versperrte Blick? Der aber war das Werk der kopernikanischen Wende.
Die Hypothese, daß die RAF derzeit in ihre autistische Phase kommt, greift weit über den Bereich der RAF hinaus. Die Angriffe von Vertretern der naturwissenschaftlichen Medizin in den letzten Tagen gegen die psychosomatische Medizin (auch gegen die Homöopathie und andere alternative Methoden) hängt mit der Unfähigkeit zur Reflexion zusammen, die jetzt auf die Objekte und Inhalte der Medizin zurückzuschlagen scheint. Das in die Naturwissenschaften eingebaute Unschuldssyndrom (die mit der kopernikanischen Wende begründeten und dann automatisierte Rechtfertigungszwänge) entfaltet sich als Leugnung des Objekts, wird zu eliminatorischen Gewalt. „Objektiv“ ist nur noch das Innere der Monade.
Es käme darauf an, an den Punkt heranzukommen, an dem die Reflexion die Kraft gewinnt, die Gewalt der Rechtfertigungszwänge zu sprengen.
Der Autismus und die Geiselhaft-Logik der RAF sind der ohnmächtige Reflex der zugrundeliegenden Logik des Staatsschutzes.
Ähnlich wie die RAF-Unterstützer die Gefangenen nehmen heute die Ärzte die Kranken als Geisel. Gibt es zum Korpuskel-Welle-Dualismus, dem Reflex der Verdinglichung in der modernen Physik, eine Entsprechung in der Medizin (sind nicht schon Proton und Elektron Produkte des Korpuskel-Welle-Dualismus, Emanationen der grammatischen Logik des Substantivs)?
Der Terrorismus der RAF und die Unfähigkeit, den Schrecken des Faschismus zu reflektieren, sind Teile der gleichen Logik. Die RAF hat die Logik der Verurteilung, die die Erinnerung an den Schrecken bannen sollte, nur exekutiert.
Identitätsprinzip: Im Autismus schlägt der horror vacui, den die philosophischen Idee des Subjekts auf die Welt abzuleiten versucht, aufs Subjekt zurück. Im Autismus erfährt sich das Subjekt selbst als Objekt der Logik, mit deren Hilfe es gegen die Welt sich zu behaupten versucht.
Die Fensterlosigkeit der Leibniz’schen Monade ist ein sprachlicher Sachverhalt: das Resultat der Tilgung der erkennenden Kraft des Namens.
War der Hitlerismus nicht ein Reflex des heliozentrischen Systems?
Das Entscheidende am Werk Einsteins waren nicht seine mathematischen Konstruktionen, die auch von anderen hätten erarbeitet werden können, sondern das, was er damit „beweisen“ wollte: seine „intuitiven“ oder auch „spekulativen“ Einsichten, die im Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit und im Postulat der Identität von träger und schwerer Masse sich ausdrücken.
Marx, Freud und Einstein sind Opfer der gleichen Verblendung, zu deren Kritik sie den Grund gelegt haben.
Hat der Anfang des Matthäus-Evangeliums, das „Wir haben seinen Stern gesehen“ und die Träume der Magier und Josephs, etwas der Apokalyptik, mit Daniel, zu tun?
War es Jakob Taubes, Emmanuel Levinas oder Jeshajahu Leibowitz, der die Halsstarrigkeit als metaphysischen Teil der jüdischen Anatomie erkannt hat? Haben nicht das Dogma und die Bekenntnislogik diese Halsstarrigkeit zum kosmologischen Prinzip gemacht?
Die schärfsten Kritiker Netanjahus (und zuvor des Zionismus) sind die, die ihn immer schon als Alibi ihrer Unfähigkeit zur Reflexion brauchten.
Thematische Wünsche an eine Theologie, die die Impulse der jüdischen Aufklärung in Deutschland aufnimmt, den durch sie gesetzten Standards genügt:
– die Verstockung des Herzens Pharaos,
– Daniel und der Traum Nebukadnezars,
– das Menetekel und der wie eine Buchrolle sich aufrollende Himmel (Lev 26 und Dt 28),
– Rezeption des Jakobusbriefs („Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht“, „Wer einen Sünder von den Wegen seines Irrtums bekehrt …“),
– Barbaren und Hebräer (Philosophie und Prophetie),
– Kritik der kantischen Totalitätsbegriffe und Hegels Hinweis zum Begriff der Geschichte (Rosenzweigs Kritik des Historismus und der Stern der Erlösung),
– die Logik der Schrift.
Guha
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8.4.1997
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