Harnack

  • 24.5.1995

    Das Angesicht leuchtet im Licht der Sprache.
    Das Licht, das den Tag hell macht, und dessen Gegenteil das Dunkel, die Finsternis, die Nacht, ist, ist eine Erkenntniskategorie, aber keine naturwissenschaftliche: Ist nicht das Licht der „Aufklärung“ (wie das der Bühne, des Films, des Fernsehens) das des Mondes, der nicht selbst leuchtet, sondern das Licht der Sonne nur reflektiert? Und sind nicht die Lichter der Wandelsterne die getrennten, durch definierte Aspekte determinierten Lichter (des Herrendenkens, des Feinddenkens, des Geliebtwerdenwollens, des Handels: Eigentum und Tausch); sie allesamt sind Lichter der Nacht. Sie sind der Grund der ihnen korrespondierenden „Erscheinungen“, die hervortreten, wenn die anderen Aspekte ausgeblendet werden.
    Der Tierkreis: Inbegriff der Totalitätssymbole?
    Das moderne Drama unterscheidet sich von der antiken Tragödie u.a. durch seine Beziehung zum Licht: Das Drama findet im geschlossenen Raume auf der Bühne statt (vor dem Publikum, das im Dunklen sitzt), die Tragödie im Amphitheater am hellen Tag unter freiem Himmel.
    Das Inertialsystem verletzt das achte Gebot: Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten.
    Der Zeuge muß die Wahrheit sagen, nichts als die Wahrheit, während der Angeklagte lügen darf. In der Regel wird vor Gericht davon ausgegangen, daß der Angeklagte lügt. Darin gründet der Indizienprozeß (das rechtliche Korrelat der transzendentalen Logik, des synthetischen Urteils apriori).
    Die transzendentale Logik wäre anhand der Gesetzesänderungen im Zusammenhang mit den Terroristenprozessen zu demonstrieren: Alle gesetzlichen Vorkehrungen dieser Prozesse waren Maßnahmen zur Begründung und Absicherung synthetischer Urteile apriori. Prämisse war, daß der Angeklagte nicht nur lügen darf, sondern daß er grundsätzlich lügt (die vorgeblich politischen Motive der terroristischen Handlungen waren nur Vorwände zur Befriedigung der Mordlust, zum Ausleben krimineller Triebe). Nach Auffassung von Staat und Gerichten waren selbst die „Selbstmorde“ in Stammheim noch Teil einer Aktion, die nach draußen die „Lüge“ transportieren sollte, der Staat habe die Gefangenen ermordet. Unter der Voraussetzung, daß die Wahrheit nicht zu ermitteln ist, weil Sprache keine Wahrheit mehr auszudrücken vermag, sondern nur noch hinterhältig-mörderische Absichten, die es rechtzeitig zu durchschauen gilt, gibt es zur Gewalt (zur terroristischen Aktion wie zu Hochsicherheitstrakt und Isolationshaft) keine Alternative mehr.
    Das Grundurteil, das jedem synthetischen Urteil apriori zugrundeliegt, ist das Urteil: Der Angeklagte lügt. Damit aber ist der paranoische Zirkel geschlossen, aus dem beide Seiten nicht mehr herauskommen. (Bestätigt nicht Gisela Dutzis Wort vom „Rechtsstaatsgetöse“, das das synthetische Urteil apriori nur umkehrt, nicht aufhebt, nachträglich den Faschismus? Ist die Vermutung so unbegründet, daß diese Generation die Geschichte revidieren möchte, indem sie den Ermordeten, die keine Chance hatten, auch nicht die eines Rechtsstaats, im Nachhinein zeigt, was sie hätten tun können, ohne zu bemerken, daß sie in die Logik der Täter sich verstrickt?)
    Die Lust der Philosophie, der Wissenschaft und des Rechts, die Lust des argumentativen Streits, ist die Lust des Rechtbehaltens, während es die Lust der Theologie ist, zu retten, zu ändern.
    Das Schwert des Richters ist das Schwert Alexanders, das den gordischen Knoten durchschlagen, nicht aufgelöst hat. Das Bild dieses durchschlagenen Knotens ist die Waage der blinden Justitia, die erst, wenn sie die Binde von den Augen nimmt, in der Lage sein wird, den Knoten zu lösen.
    Anti, contra, gegen: Was drückt in diesen Kategorien sich aus?
    Die Verkörperung der Logik der symbolischen Erkenntnis ist der Engel. Darin gründet ihre Beziehung zu den Himmelsheeren (zu den paulinischen Elementarmächten, den Archonten, den „Thronen und Mächten, Herrschaften und Gewalten“).
    Die Hellenisierung der Theologie, nach Harnack der Grund des Dogmatisierungsprozesses, hat dem Glauben, der das Zukünftige zu erkennen versucht, die Form des Wissens aufgeprägt und die Kirche dann zur Hüterin dieses Wissens gemacht. Kein Wunder, daß den Kirchen heute dieser Schatz unter den Händen sich auflöst.
    Aus alten Notizen:
    Eine der Ursachen weitreichender Mißverständnisse und Verwirrungen in der Theologie ist die Verwechslung von Schöpfung und Sündenfall. (24.06.83)
    Über Gott kann man nicht sprechen? – In der Tat, über Anwesende kann man nicht, ohne sie zu beleidigen, sprechen. (11.09.83)
    Religion hat keine reale Bedeutung mehr, sondern nur noch eine sozialisationstechnische (als Erziehungsmittel): Kommt daher die wachsende Zahl von Singles?
    Langer Atem: Keiner hält die Spannung zwischen den erkenntniskritischen Einwänden gegen die Naturwissenschaft und dem realen Erkenntnisfortschritt mehr aus.
    Physik heute: Entspannte (spannungslose) Erkenntnis; Erkenntnis, die sich selbst zu tragen scheint, in Wahrheit aber auf den Grund zurückgesunken, zugrunde gegangen ist. Physik geht nicht mehr der Sache auf den Grund, sondern ist das Zugrunde-Gehen der Sache, ihre Vernichtung, und das im wörtlichen Sinne: Ihre Projektion ins Vergangene. (04.11.84)
    Jede Theodizee heute wäre blasphemisch, die Entfaltung des Begriffs der Blasphemie hingegen die einzig noch mögliche Theodizee. (28.03.85)
    Das Grauen des Faschismus bildet das Chaos vor der Schöpfung ab. Die Leugnung dieses Grauens hat mit der Gottesleugnung zu tun. (06.06.85)
    Helmut Kohl verkörpert ein irrationales Harmoniebedürfnis, dessen aggressive Gewalt der Gradmesser einer zugrunde liegenden Katastrophenstimmung ist. (02.01.86)

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