Hegel

  • 17.11.1996

    Steckt nicht in jeder Verdrängung ein Stück Euphorie, Todeslust? Haben die Christen die Idee des seligen Lebens (und die dazugehörige Unsterblichkeitsvorstellung) vielleicht mit dieser Euphorie verwechselt?
    Die Hölle, deren Wahrnehmung und Reflexion in uns selbst wir uns verweigern, fügen wir dann zwangshaft anderen zu. Auch die Hölle steht unter dem Gesetz der Asymmetrie.
    Aus welchem Kontext stammt eigentlich der Begriff der Rasse? Sein Gebrauch verweist eher auf den Bereich des Ackerbaus, der Haustierhaltung, der Züchtung, als den der normalen Biologie, auf die die Begriffe Gattung und Art sich beziehen; m.a.W. er transportiert die Logik der Naturbeherrschung in die Biologie. Sein Ursprung liegt im Bereich der Domestikation; es darf vermutet werden, daß seine Anwendung auf „wilde Tiere“ erst nach deren Aufnahme und Zur-Schau-Stellung in Zoologischen Gärten erfolgte. Der Rassebegriff ist aus dem Kontext der Vererbungslehren nicht herauszulösen; der Begriff der Vererbung ist selbst ein Rassebegriff. Dem entspricht es, daß der Rassenbegriff schon vom Grunde her ein wertendes Element in sich enthält; die eigentliche Rasse ist die „edle Rasse“.
    Die Genforschung ist ein letzter Ausläufer einer Entwicklung, die am Rassebegriff sich orientierte: Bezeichnend der Begriff des „genetischen Materials“ (des biologischen Äquivalents der Mikrophysik), der das Lebendige insgesamt dem gesellschaftlichen Zugriff erschließt.
    Läßt nicht der Charakter der Hegelschen Philosophie an der Stellung des Begriffs der Art in dieser Philosphie, zentral in der Hegelschen Logik, sich demonstrieren? Hegel hat bereits den Begriff der Rasse rezipiert (und auf Menschenrassen bezogen).
    Omne animal post coitum triste: In welcher logischen Beziehung stehen die Begriffe Rasse und Masse? Ist nicht die Rasse das biologische Äquivalent zum physikalischen Massebegriff, wobei der Begriff der Vererbung dem der Gravitation entsprechen dürfte? Hat nicht die Schwangerschaft etwas mit der Schwere (deren sprachliches Umfeld in das der Schwangerschaft hereinreicht)? Und ist nicht die Gebärmutter der Ort der Transsubstantiation von Schwere in Leben (und der Akt der Begattung der biologische Reflex des freien Falls, der zugleich als Bild des Todes sich enthüllt: hat nicht jede Lust etwas von der Euphorie)?
    Der Begriff der Rasse korrespondiert dem des Organischen. Aber ist nicht das Organische Ausdruck des Schuldzusammenhangs: Reflex des Widerstandes, an dem alles Lebendige (von der Botanik bis in die Ökonomie) sich abarbeitet? Der Rassebegriff ist ein Schicksalsbegriff (das moderne Gegenstück der antiken Astrologie).
    Der Begriff der Rasse (der bezeichnenderweise aus dem Bereich der Sprachforschung stammt) entspringt dem Versuch, den Mangel der Natur, die Hegel zufolge den Begriff nicht halten kann (Hegels Beweis: daß es mehr als zwei Arten gibt), zu beheben, den Begriff selber zu naturalisieren: Der Begriff der Rasse indiziert einen herrschaftsgeschichtlichen Sachverhalt, dessen reale politische Entsprechung der Faschismus (und in seinem Kern der Antisemitismus) war. Sind die Hegelschen zwei Arten (die Verkörperungen des Allgemeinen und des Besonderen) eine Vorstufe der faschistischen Polarisierung der Rassen, derzufolge zu der zur Herrschaft berufenen Rasse der Arier die absolute Gegenrasse der Juden gehört?
    War es nicht ein sehr tiefer Gedanke, wenn im Kontext der Astrologie die menschlichen Organe den Planeten zugeordnet worden sind?
    Die ezechielische Individualisierung der Schuld wird mißverstanden, wenn sie der Strafrechtslogik subsumiert wird. Sie zielt nicht darauf ab, den Sohn von den Sünden der Väter zu entlasten, sondern ihn anzuleiten („dixi et salvavi animam meam“), die Sünden der Väter (die in Babylon zur Sünde der Welt geworden sind) als seine eigenen zu erkennen. Diese Individualisierung der Schuld ist der Grund, aus dem Joh 129 sich herleitet. Hier ist der Punkt, an dem die Menschen erwachsen werden.
    Der Abgrund, auf den der Zug zurast, ist einer, den wir selbst hervorbringen, wenn wir glauben, wir könnten ihm entgehen, wenn wir andere hineinstoßen. Das logische Modell, das diesem Bild zugrunde liegt, war eine Unsterblichkeitslehre, die am Zustand der Welt desinteressiert war und deshalb eigentlich nur zur Hölle paßte. Eine dieser Unsterblichkeitslehre angemessene Himmelsvorstellung hat es eigentlich nie gegeben.
    Das pathologisch gute Gewissen ist ein Euphorie-Effekt. Der freudsche Todestrieb und die Weiterentwicklung dieses Konstrukts durch Erich Fromm (in seiner „Anatomie der menschlichen Destruktivität“) läßt sich nicht aufs Psychologische eingrenzen; er wird erst durchsichtig, wenn in seine Konstruktion seine Beziehung zum Zustand der Welt mit hereingenommen wird.
    Die 68er Bewegung hat ihre Wurzeln in der kollektiven Verdrängung nach dem Krieg, an der sie partizipierte und die sie verstärkt hat. An der 68er Bewegung wird zugleich sichtbar, daß es kein deutsches Spezifikum mehr ist (auch wenn es hier in besonderer Schärfe hervorgetreten ist), sondern ein gesamtgesellschaftliches. Dieser Zusammenhang wäre zu demonstrieren an der Geschichte des Ursprungs und der Entfaltung der Naturwissenschaften (an ihrer Beziehung zu ihren ökonomischen Wurzeln).
    Die Beziehung der Naturwissenschaften zur Ökonomie ist das Modell und die Wurzel des Konstrukts der Reversibilität, das in den Naturwissenschaften, in der transzendentalen Logik, die sie beherrscht, sich entfaltet. Diese Reversibilität hat ihre Grenze an der Schwere (Begriff und Objekt; Empörung, Hochmut und Niedertracht; Gemeinheitslogik und die besondere Schwere der Schuld).
    Wie hängt die Gemeinheitslogik („besondere Schwere der Schuld“) mit dem Ursprung des Rassebegriffs zusammen?
    Nach Kluge (Etymologisches Wörterbuch, 22. Aufl., S. 583) wurde das Wort Rasse im 18. Jhdt. aus dem Französischen (race) übernommen (race gehört zusammen mit it. razza, span. raza, port. razo; Herkunft umstritten: lat. ratio – Vernunft, arab. ra’s – Kopf, auch lat. radix – Wurzel, Zusammenhang mit radikal).
    Das „mathematische Symbol“ des Menschen bei Franz Rosenzweig, das B = B, ist der Beweis dafür, daß es zur Reflexion keine Alternative gibt.
    Ist nicht in der christlichen Tradition der Kontext der Herrlichkeits-Theologie (kabod; Ezechiel und die Merkaba-Mystik) durch Ästhetisierung von der Reflexion des Weltzustandes getrennt, damit aber herrschaftslogisch instrumentalisiert und neutralisiert (und d.h. narkotisiert und euphorisiert) worden?
    Die Idee der Barmherzigkeit sprengt die Fesseln der Herrschaftslogik, sie eröffnet das Reich der Freiheit in den Kirchen. Dem entspricht das Wort „Barmherzigkeit, nicht Opfer“, dessen christliche Variante der Jakobus-Satz enthält „die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht“. Sie bezeichnet den Beginn der Gotteserkenntnis. Sie löst das Problem der Theodizee durch Erkenntnis ihrer Gegenstandslosigkeit. Sie ist das Pendant des Kafkaschen Satzes „Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns“.
    Wie die christliche Buße die Umkehr von der Erinnerung getrennt (und mit dieser Trennung die Umkehr ins Sadistische transformiert) hat, so hat der Gehorsam sich von dem Hören getrennt, auf das das sch’ma Jisrael verweist.
    Die Transformation der Umkehr in den Sadismus wäre am Beispiel des Antisemitismus (an dem Problem, auf das Daniel Jonah Goldhagen hingewiesen hat: weshalb der Judenmord mit den zusätzlichen Demütigungen, Gemeinheiten und Grausamkeiten einherging) zu demonstrieren.
    Mein ist die Rache, spricht der Herr: das heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß wir auf die Erfüllung des Rachetriebs verzichten sollen; wie Seine Rache dann aussieht, ist ein anderes Problem. Rachegott: da gibt’s nur einen, das Absolute, das in dem Staat sich verkörpert, dessen konsequenteste Gestalt der Faschismus ist.
    Zum evangelischen Rat der Armut, „Mein ist dein, dein ist dein“: Der Anspruch, etwas für mich als Eigentum zu reklamieren, ist blasphemisch, und er bleibt es, auch wenn er inzwischen in die Fundemente der Gesellschaft mit eingebaut worden ist. Dieses blasphemische Moment in der gegenwärtigen Konstruktion des Lebens hängt mit dem Problem der Euphorie zusammen (mit den Wurzeln der Ästhetik und mit der Verhärtung der Herzen).

  • 16.11.1996

    „Es war, als sei man einfach dadurch, daß man am Leben war, in ein fremdes Grundstück eingebrochen, und der das Wort an dich richtet, läßt dich wissen, daß dein Dasein unerwünscht ist“ (Ruth Klüger, weiter leben, S. 113): Deutlicher kann man den Zusammenhang des Antisemitismus (der Feindbildlogik) mit dem Eigentumsprinzip, das den Staat begründet, nicht zusammenfassen.
    Zur Bemerkung über Adornos Satz, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, der hier wieder einmal nur in der Gestalt zitiert wird, in der ihn das öffentliche Gerücht kolportiert (Klüger, S. 127), wäre einfach auf die Fundstelle in den Prismen (1955. S. 31), die keiner zu kennen scheint, zu verweisen.
    Heute in der FR ein Hinweis auf Rene Girard („Religion und Gewalt“): In den Erklärungsansatz wäre das Problem des Objektivierungsprozesses, der Zusammenhang von Ökonomie und Naturwissenschaften und ihres gemeinsamen Apriori, in denen die Sündenbockmechanik und die mythische Opferlogik (Feindbildlogik, Sündenbockmechanismus und Bekenntnislogik) sich reflektieren, mit aufzunehmen.
    Der Grund der Unterscheidung von Welt und Natur liegt in der Unterscheidung der subjektiven Formen der äußeren und der inneren Anschauung (in der Unterscheidung von Raum und Zeit). Der Begriff der Natur (der auf das „dynamische Ganze der Erscheinungen sich bezieht) steht unter dem Gesetz der inneren, der der Welt (der auf das „mathematische Ganze der Erscheinungen“ sich bezieht) unter dem der äußeren Anschauung. Der Naturbegriff gründet in der Vergegenständlichung der Zeit, der Weltbegriff in der des Raumes.
    Natur und Ökonomie sind beides Produkte des Seitenblicks auf die Zeit: die Ökonomie unter dem Aspekt der Produktion (des ante rem: der Vergegenständlichung der Zeit), die Natur unter dem des Konsums (des post rem: der bereits vergegenständlichten Zeit): Nach der biblischen Geschichte vom Sündenfall produziert Adam den Staub, den die Schlange frißt. Das Subjekt der Ökonomie setzt sich gleichsam an den imaginären (unendlichen) Anfang der Zeit, das der Natur an ihr imaginäres (unendliches) Ende: so sind die säkularisierten Formen der Schöpfung und des Gerichts auf einander verwiesen. Hiermit hängt es zusammen, wenn der Weltbegriff die Schöpfung leugnet und der Naturbegriff die Auferstehung.
    Die RAF-Prozesse sind Teil einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, in deren Folge Auschwitz uns immer näher auf den Leib rückt. Es gibt eine Form der Aufarbeitung der Vergangenheit, die ohne es zu wissen in Wiederholungszwänge umschlägt. Der Transmissionsriemen dieses Umschlags ist die Urteilsmagie, die Vorstellung, man könne den Schrecken durchs Urteil bannen.
    Auf einem Sportplatz spielen zwei Mannschaften von 10-Jährigen Fußball; am Rande die Trainer der beiden Mannschaften, die ihre Kommandos ins Feld brüllen, die die Kinder dann begeistert befolgen: So werden Pawlowsche Reflexe eingeübt, die nicht nur die Grundlage sportlicher Erfolge sind, sondern zugleich die Erfolgsreligion (die winner-Mentalität und die Logik, die ihr zugrundeliegt: die Feindbildlogik) eintrainieren. So wird der Sport zu einem Nebenzweig einer von der BWL dominierten Ökonomie, zu einer die Herrschaft des Selbsterhaltungsprinzips stabilisierenden Ideologie. Vor dieser Folie ist der Graf-Prozeß ein nationales Ereignis.
    Ließe sich nicht anhand der Steuerprozesse zunächst gegen Graf Lambsdorf und jetzt gegen Graf der „Fortschritt“ der politischen Ökonomie aufs genaueste bestimmen? Im Zuge der Privatisierung staatlicher Aufgaben und der gleichzeitigen Transformation von Politik in Verwaltung lassen private und öffentliche Interessen sich schon fast nicht mehr unterscheiden.
    Boris Becker und Steffi Graf: So wurden die Funktionen, die früher einmal Filmstars hatten, vom Film in den Sport, vom Himmel auf die Erde, transformiert. Rührt das nicht an den Kern der Logik, aus der der Antisemitismus sich herleitet?
    Haben nicht das Tier aus dem Meer und das Tier vom Lande schon etwas mit der Unterscheidung von Himmel und Erde zu tun, und ist nicht der falsche Prophet und der Antichrist die Verkörperung einer Phase des Säkularisationsprozesses, die das Feuer des Himmels zum Objekt von Naturbeherrschung zu machen strebt (Off 1313: „Und es tut große Zeichen, sodaß es sogar Feuer vom Himmel fallen läßt, vor den Menschen“)?
    Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet: Wenn am Ende die Menschen (die „Väter“) der Verblendung verfallen, selber Schöpfer der Dinge geworden zu sein, werden die Dinge sie verbrennen.
    Ist nicht die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos die früheste Gestalt der Hegelschen Geschichtsphilosophie (mit dem Untergang der Streitmacht Pharaos im Schilfmeer als Weltgericht)?
    Die Gestalt der Selbstreflexion, die heute notwendig wäre, läßt sich nur mit dem Wort in Joh 129 noch bestimmen: Das Sehet, mit dem dieses Wort beginnt, richtet sich nicht an den Zuschauer, sondern an den Nachfolger, es steht nicht im Indikativ, sondern im Imperativ.
    Die Urteilsmoral ist die Moral des Zuschauers (und des Richters). In dieser Konstellation gründet der Zwang zum Geschwätz. Die Feindbildlogik ist ein Teil der Logik des Geschwätzes.
    Beziehen sich das Angesicht, der Name und das Feuer auf eine Trinitätslehre von innen, und was hat diese Trinitätslehre mit einem Schöpfungsbegriff zu tun, in dem neben Himmel und Erde auch das Meer vorkommen?
    Auschwitz hat die Erinnerung des Himmels verbrannt, die Asche gegen den Himmel gestreut. Aber dieses Feuer ist nicht erloschen: in diesem Feuer sind wir.
    Die Logik, die die Oben-Unten-Beziehung reversibel gemacht hat, hat das Ungleichnamige gleichnamig gemacht: Sie hat die Herrschaftslogik ausweglos gemacht und die Feuer der Hölle in der Sprache entzündet.
    Hängt nicht das Wort, daß die Pforten der Hölle sie (die Kirche) nicht überwältigen werden, mit dem anderen zusammen: Was ihr auf Erden lösen werdet, wird auch im Himmel gelöst sein?
    Der ungeheure Gedanke, daß der Himmel die sinnliche Grenze zur Vergangenheit ist (eine Grenze, die nur die Gebete der Heiligen zu durchdringen vermögen). Die Erinnerung an diese Grenze wurde durch Kopernikus verdrängt. Seitdem erreicht das Gebet den Himmel nicht mehr, bleibt es ins monadologische Subjekt, in die Bedürfnisse der Einsamen (wie der Gegenstand der Planckschen Strahlungsformel in den dunklen Hohlraum, aus dem keine Strahlung mehr nach draußen entweicht), eingesperrt.
    Die ergreifende Symbolik des Satzes: „Wenn mei dä Augen togeiht, wär’n se enk opgaohn“, auch das Bild der alten Frau im Krankenhaus, die 1945 immer nur den einen Vers sang „Wildgänse rauschen durch die Nacht … die Welt ist voller Morden“.
    Wenn es einen Fortschritt in der Geschichte gibt, dann müßte er in der Linie Assur, Babylon, Persien, Griechenland und Rom liegen: Militärmacht, Tempelwirtschaft, Rechtsstaat, Zivilisation zur öffentlichkeitsfundierten respublica und zum Caesarismus.
    Das Sklavenhaus Ägypten, der Eisenschmelzofen, ist zu dieser Geschichte exterritorial.
    War es nicht der „politische Auftrag“ der Geschichtswissenschaft seit der Erfindung der Sumerer, diese klaren und durchsichtigen Strukturen zu verwirren? Und gleicht dieser Auftrag nicht dem, den die Kopenhagener Schule in der Physik dann übernommen hat?
    Newton hat das to be ins naturwissenschaftliche Grundgesetz übertragen: ins Gravitationsgesetz (das Präfix be-: Kristallisationskern der Verräumlichung und Verdinglichung).

  • 15.11.1996

    Das Bild des in den Abgrund rasenden Zuges ist ebenso real wie es auch nur Schein ist: ein Reflex der Vorstellung des Zeitkontinuums. Die Beschleunigung des Zuges zieht ihre Energie aus dem Verbot, in andere sich hineinzuversetzen.
    Der Faschismus war die Probefahrt des in den Abgrund rasenden Zuges.
    Die Welt wird erst anders, wenn es mit der Logik, die glaubt, aus dem Leiden ein Recht auf Rache herleiten zu können, ein Ende hat. Die einzige rationale Konsequenz, die aus dem irrationalen Leiden sich ziehen läßt, ist die, daß es nicht sein soll.
    Mein ist die Rache, spricht der Herr: Das heißt auch, daß Er sie nicht an den Staat, nicht einmal an den Rechtsstaat, delegiert.
    Was ist, wenn einer nach Tarschisch flieht, aber bei aufkommendem Sturm es unterläßt, vor den Schiffsleuten sich als Hebräer zu bekennen, der den Gott des Himmel verehrt, der das Meer und das Trockene gemacht hat? (Kommt eine vergleichbare Wendung sonst nur in der Apg vor (424: Petrus, und 1415: Paulus und Barnabas)?
    Es gibt keine autobiographischen Texte ohne Legendenbildung. Hegel hat einmal gesagt, für den Kammerdiener sei der Held kein Held: Gehört nicht in jede Selbstdarstellung auch zumindest der Versuch einer Korrektur durch Hereinnahme auch des Blicks des Kammerdieners?
    Die Deklination des bestimmten Artikels im Deutschen, dieses innere Reflexion des Deiktischen, hat ihre Entsprechung in dem Reichtum der Präpositionen und der Präfixe (und gehört zur Hypostasierung des Substantivs, der Grundlage der Großschreibung).
    Hängt die deutsche Staatsmetaphysik (bis hin zu Auschwitz) nicht auch damit zusammen, daß wir die Sprache in einer Weise gegen Reflexion glauben abschirmen zu können, daß wir nur noch Objekte der Sprache sind, nicht der Sprache mehr mächtig. Grundfrage jedes Deutschunterrichts: Was wollte der Dichter damit sagen? Ein Wort, das hilft, den Schülern jede Lust an der Literatur auszutreiben, ihnen statt dessen die Grundregeln der Paranoia beibringt. Wer nur Objekt der Sprache ist, sie nicht zu reflektieren vermag, ist zwangsläufig paranoid.
    Ist nicht die Linguistik inzwischen zu einem Instrument der Neutralisierung und Verdrängung der Sprachreflexion geworden? Die Bemerkung, daß der Begriff des Akkusativ Produkt eines Mißverständnisses und einer Fehlübersetzung sei, mag insoweit zutreffen, als vielleicht im Griechischen der Akkusativ noch keiner war; dann aber ist er im Lateinischen (mit dem Wegfall des bestimmten Artikels) dazu geworden, und seitdem ist er’s geblieben.
    Die Wahrheit hat mehr mit der Selbstverständigung, mit dem Versuch, mit sich selbst ins Reine zu kommen, zu tun als mit der Abstraktion von allem Subjektiven. Es liegt vielmehr ein Stück Hoffnung darin, auf dem Wege der Selbstverständigung an einen Punkt zu gelangen, an dem Einsichten möglich sind, die die Kraft in sich tragen, sich mitzuteilen, an dem der Funke sich bildet, der überspringt. Dieser Funke, das wäre das Paradigma der Wahrheit.
    Ist nicht jede Belehrung heute nur noch ein Indiz für die mißlungene Selbstverständigung, die dann die Gemeinschaft und die Zustimmung der Andern sucht?
    Neigte nicht auch die RAF dazu, das „System“ an seinen schwächsten Stellen, an den Stellen, die die geringsten Risiken in sich bargen, anzugreifen?
    Die Staatschutzsenate reproduzieren zwangshaft den Fehler, den Mangel, der der Grund war für die mißlungene „Aufarbeitung der Vergangenheit“: Diese Vergangenheit war nicht durch allgemeine Verurteilung zu „bewältigen“, sondern allein durch die Einübung und Erhaltung der Fähigkeit, in den Schrecken sich hineinzuversetzen, ihn zu reflektieren.

  • 12.11.1996

    Ähnlich wie die Staatsschutzsenate die Grenzen des Rechtsstaats, testen die „Sparprogramme“ der Regierungen in der Europäischen Union unter dem Zwang des Maastricht-Vertrags die Schmerzgrenzen derer, die unten sind. Beide Grenzen, die der Gemeinheit wie auch die der Armut, sind dehnbar: die letzten dehnbaren Grenzen in der versteinerten Welt. Die versteinerte Welt ist die von den Gesetzen der Verwaltung beherrschten Welt.
    Gemeinheit ist kein moralischer, sondern ein logischer Tatbestand. Ihre Grenzen sind die Grenzen der Beweisbarkeit, auf die es in der Verwaltung allein noch ankommt (Tatsachen werden erst durch ihre Beweisbarkeit zu Tatsachen; Akten sind potentielle Beweise: Tatsachen werden erst durch Akten zu Tatsachen. Der Augenschein macht Tatsachen gerichtskundig: zu Akten).
    Eigentlich ist es ein archaisches Relikt, wenn in Staatsschutzprozessen überhaupt noch Zeugen benötigt werden. Verwertbare Zeugen sind insbesondere „Kronzeugen“, oder Zeugen, die entweder selber unter Anklagedruck stehen (erpreßte Zeugenaussagen) oder aus anderen Gründen eine Gewähr dafür bieten, daß ihre Aussagen dem Verurteilungswillen nicht im Wege stehen werden (z.B. Staatsbedienstete mit eingeschränkter Aussagegenehmigung). Der vollkommene Staatsschutzprozeß wäre einer, in dem die Beweiserhebung gleichsam nur behördenintern erfolgt (über Akten, eigene Ermittlungsergebnisse, behördeneigene Gutachten und „gerichtsbekannte Tatsachen“, die über Urteile aus früheren Prozesse ins Verfahren eingeführt werden; nicht im Sinne des Verurteilungswillens verwertbare Akten können durch verwaltungsmäßiges Anbringen von Geheimvermerken der prozessualen Beweiserhebung entzogen werden). M.a.W. der ideale Staatsschutzprozeß wäre ein reiner Verwaltungsakt, der von diesem nur durch das Öffentlichkeitsgebot, dessen Wirksamkeit auf anderem Wege neutralisiert werden muß, sich unterscheidet. Es ist dieser – objektiv bereits abgeschlossene – Verwaltungsakt der federführenden BAW, der im Prozeß unter der Moderation des Staatsschutzsenats der desinteressierten Öffentlichkeit vorgeführt wird und in der Regel dann auch mit dem in der Anklage bereits begründeten Urteil endet (bezeichnend ist selbst noch die Ausnahme von dieser Regel im Urteil im Hogefeld-Prozeß: der Freispruch im Falle Bad Kleinen ist nicht durch den Verhandlungsverlauf begründet; die Gründe dieses Freispruchs hätten schon zu Beginn des Prozesses zur Zurückweisung dieses Anklagepunktes führen müssen, was nur deshalb nicht erfolgt ist, weil nur so ein revisionssicheres gerichtliches Urteil über den „Mord an dem GSG-9-Beamten Newrzella“ durch den toten Wolfgang Grams gefällt werden konnte; der Nebeneffekt, daß in der Öffentlichkeit der Eindruck eines „objektiven Verfahrens“, in dem das Gericht vom Antrag der BAW abweichen konnte, entstanden ist, war sicher nicht unerwünscht; den Prozeßbesuchern ist das hierzu passende Grinsen aus dem Prozeß bekannt).
    Der Feindbild-Clinch ist der Dynamo, der den in den Abgrund rasenden Zug beschleunigt.
    Das Kapital beherrscht heute nicht mehr nur die Kapitalisten, sondern auch ihre Feinde: Während die einen Charaktermasken des Kapitals sind, sind die anderen seine Marionetten, die, ohne es zu wissen, an den Fäden seiner Logik hängen, die längst zur Logik der Welt geworden ist.
    Links und Rechts unterscheiden: Der „Seitenblick“, in dem wir nicht nur die andern und die Welt, sondern auch uns selbst nur noch von außen sehen, ist die gemeinsame logische Basis sowohl des kopernikanischen Systems als auch der kapitalistischen Revolution in Europa. Im Hinblick auf diesen Blick allerdings gibt es kein Außen mehr, gibt es die „Seite“ nicht mehr, von der aus er selber „objektiv“ zu bestimmen wäre, sondern nur noch das Mittel der Reflexion, dessen Kraft am Andern, an der Fähigkeit, in den Andern sich hineinzuversetzen, allein sich entfaltet. In der Ausschaltung und Unterdrückung dieser Reflexion konstituiert sich DIE BANK, DIE IMMER GEWINNT.
    Jürgen Ebach weist darauf hin, daß die „großen Meeresdrachen“ insofern „eine Sonderstellung unter den Lebewesen haben …, als von ihnen nicht eindeutig gesagt wird, sie seien ’nach ihren Arten‘ erschaffen, Auf diese Weise sind sie als ‚Un-Tiere‘ gekennzeichnet“ (Hiob II, S. 151). Vgl. hierzu die Bemerkung Hegels zur „Ohnmacht der Natur, die Strenge des Begriffs nicht festhalten und darstellen zu können und in diese blinde Mannigfaltigkeit sich zu verlaufen“. Diese „Ohnmacht der Natur“ begründet Hegel mit dem Hinweis, daß „in der Natur … in einer Gattung mehr als zwei Arten“ sich finden (Logik II, Felix Meiner Leipzig 1951 <Nachdruck der Ausgabe von 1934>, S. 247). Nach Hegel dürfte es nur zwei Arten in einer Gattung geben, die wie Allgemeines und Besonderes zueinander sich verhalten: Allgemeines und Besonderes ist für ihn nicht Ausdruck der (Subsumtions-)Beziehung, durch die Gattung und Art in der traditionellen Logik aufeinander sich beziehen, er begreift beide als getrennte, reversible, ineinander sich spiegelnde Reflexionsbestimmungen, zu denen sie jedoch erst durch die idealistische Prämisse werden (die unter dem logischen Zwang der subjektiven Formen der Anschauung die Umkehr säkularisiert, die Irreversibilität der Beziehung von Objekt und Begriff, damit aber am Ende die Idee der Barmherzigkeit leugnet). Zu fragen wäre überdies, ob nicht Allgemeines und Besonderes im Kontext des Gattungsbegriffs nichts weniger repräsentieren als die „Arten“, die in der Tat allein in theologischem Zusammenhang (als Werk der sie hervorbringenden „Erde“) sich begreifen lassen, ob sie nicht vielmehr die im Gattungsbegriff selber mit benannte Geschlechtertrennung bezeichnen, die erst unter idealistischem Vorzeichen am Ende zu getrennten Arten sich verselbständigen. Die „Ohnmacht des Begriffs“ ist ein offener Hinweis auf den „Triumph der Barmherzigkeit über das Gericht“.
    „Nach ihrer Art“ (Gen 1):
    – Die Erde lasse sprossen … Die Erde ließ sprossen junges Grün: Kraut, das Samen trägt nach seiner Art, und Bäume, die Früchte tragen, in denen ihr Same ist, je nach ihrer Art,
    – Es wimmle das Wasser … Gott schuf die großen Meerestiere und alles, was da lebt und webt, wovon das Wasser wimmelt, und alle geflügelten Tiere, ein jegliches nach seiner Art,
    – die Erde bringe hervor … Gott machte alle die verschiedenen Arten des Wildes und des Viehs und alles dessen, was auf dem Erdboden kriecht.

  • 11.11.1996

    Das Inertialsystem (das mit den „subjektiven Formen der Anschauung“, mit der transzendentalen Ästhetik, in den Erkenntnisapparat eindringt) ist das verdinglichte Dogma. In seinem Kontext
    – verändert sich das Urteil und mit ihm die Sprache,
    – wird das Urteilssubjekt zum Objekt,
    – wird das Nomen, das das Subjekt bezeichnet, zum Substantiv,
    – das Opfer, auf das die Opfertheologie sich bezieht, wird verinnerlicht: geopfert wird die Sinnlichkeit, die Vernunft, die Fähigkeit zur Schuldreflexion,
    – die Sprache wird zur bloß subjektiven Reflexion entmächtigt, die an der versteinerten Objektivität abprallt; sie verliert ihre erkennende Kraft, die im Namen gründet, und wird selber zu einem Instrument der Information und der Mitteilung verdinglicht, als welches sie dann der Kommunikationstheorie ihr Objekt liefert.
    Als Endstufe einer verdinglichten und automatisierten Bekenntnislogik, an deren exkulpierender Kraft es partizipiert (als Zerfallsprodukt des Dogmas), begründet das Inertialsystem mit der Verinnerlichung des Opfers, mit der Unfähigkeit, das Undenkbare zu denken, das Schuldverschubsystem und in dessen Kern die Feindbildlogik, die das Bewußtsein aller verhext.
    Das erste, das Christentum begründende Opfer war das Opfer des Lammes, ich hoffe nicht, daß das zweite, die Geschichte des Christentums beendende Opfer das Opfer der Taube sein wird, ein Opfer, das vorgebildet ist in der Verinnerlichung des Opfers, die das Inertialsystem verkörpert.
    Der entscheidende Schritt zur Konstituierung des Objekt ist die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, das Schellingsche „Ahnden“. (Ist diesem Ahnden am Anfang der Weltalter nicht ein Sinn abzugewinnen, wenn man es auf den Satz bezieht „Mein ist die Rache, spricht der Herr“?)
    Kant hat mit seiner Kritik der Urteilskraft die Fähigkeit, Links und Rechts zu unterscheiden, noch einmal zu retten versucht. Diese Fähigkeit ist dann in den Systemen des deutschen Idealismus endgültig untergegangen.
    Das Undenkbare denken: Bei Franz Rosenzweig drückt sich das in der Intention, das Zerdachte zu rekonstruieren, aus, in den Sätzen: „Von Gott (dem Menschen, der Welt) wissen wir nichts, aber dieses Nichtwissen ist Nichtwissen von Gott (dem Menschen, der Welt)“, in der Rekonstruktion der drei Objekte jenseits des Wissens (oder auch: jenseits der Todesfurcht?).
    Was haben die vier Winde mit dem Geist Gottes zu tun?
    Der 68er Marxismus hat, wie es scheint, einen Problembereich der marxistischen Tradition vollständig verdrängt, den Bereich, der durch den kritischen Ideologiebegriff, durch den Begriff des falschen Bewußtseins und das Problem der Beziehung von Unterbau und Überbau sich umschreiben läßt. Genau diese Themen aber sind es, die den Bereich der Reflexion in der Marxschen Theorie bezeichnen. Sie sind gleichsam gegenstandslos geworden, als das Element der Kritik, der kritischen Reflexion, unter die Feindbildlogik subsumiert wurde. Zugleich ist die Theorie der Gefahr der Personalisierung erlegen. Die Vermutung läßt sich begründen, daß diese Verdrängung zusammenhängt mit der anderen, die seitdem die Beziehung zur Vergangenheit insgesamt verhext, nämlich daß man geglaubt hat, den Nationalsozialismus durch bloße Verurteilung bannen zu können, ohne auf das Grauen und den Schrecken, für die der Name steht, sich noch einlassen zu müssen. Mit der Bereitschaft und der Fähigkeit, das Grauen und den Schrecken an sich heranzulassen, aber ist die Reflexionsfähigkeit verdrängt worden. Der Marxismus ist zu einer Art Naturwissenschaft verkommen, Produkt des gleichen reflexionslosen „Seitenblicks“, zu dem es seit der kopernikanischen Wende kein Alternative mehr zu geben scheint.
    Ist nicht der 68er Marxismus selber Ausdruck von politisch-ökonomischen Veränderungen, die er nicht mehr begreift: der versteinerten Verhältnisse, deren Zubetonierung er selber mit provoziert hat?
    Um auf das Bild des in den Abgrund rasenden Zugs zurückzukommen: Dieses Bild ließe sich kritisieren als ein Bild des „Seitenblicks“. Und diese Kritik wäre berechtigt. Aber es gibt kein anderes, so wie es einen anderen, die Totalität ins Auge fassenden Blick außer dem „Seitenblick“ (der dem kopernikanischen Blick auf den Kosmos entspricht) nicht gibt. Den gleichen Sachverhalt hat Adorno einmal mit dem Hinweis zu fassen versucht, daß die Welt immer mehr der Paranoia sich angleicht, die sie doch zugleich falsch abbildet. Aufgabe der Kritik wäre es, dieses Bild durch Reflexion auf seinen Wirklichkeitsgehalt, der mit dem Bild, in dem er sich ausdrückt, nicht identisch ist, aufzulösen.
    Haben die drei obersten Sefirot etwas mit den drei kantischen Totalitätsbegriffen, mit dem Wissen, der Natur und der Welt, zu tun?
    Urteile in RAF-Prozessen brauchen nicht mehr wahr zu sein, sie müssen nur unwiderlegbar sein. Darin gleichen sie dem antisemitischen Vorurteil, das sie zugleich durch einen strategischen Vorteil übertreffen. Das antisemitische Vorurteil war moralisch angreifbar, während diese Urteile die Logik der moralischen Indifferenz des Rechts in sich enthalten (sie neutralisieren die moralische Angreifbarkeit durch ihre rechtliche Unangreifbarkeit), so glauben sie, auch der moralischen Kritik entzogen zu sein, gegen sie als immun sich zu erweisen. Aber wäre nicht an ihnen der Satz aus dem Jakobus-Brief zu erproben: Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht, das Grundprinzip einer wirklich eingreifenden Rechtskritik?
    Der zentrale Punkt ihrer Schwäche ist die Unwiderlegbarkeit der RAF-Urteile: Unwiderlegbar sind sie allein in einem logischen Medium, dessen Funktion und Qualität der der Laborbedingungen im Hinblick auf den naturwissenschaftlichen Erkenntnisbegriff entspricht. Die juristischen „Laborbedingungen“ müssen zuvor hergestellt werden, zu ihnen gehören:
    – das in Gesetzesform bereits vorliegende Instrumentarium der Einschränkung und Behinderung der Verteidigung (Zusammenfassung sh. Bakker-Schut),
    – die Bedingungen, denen die Angeklagten während der Untersuchungshaft (die dann in der Strafhaft zwangsläufig beibehalten werden müssen) unterworfen werden, und die sie aller subjektiven Bedingungen ihrer eigenen Verteidigung berauben (sie imgrunde rechtlos wie den Feind machen) sollen,
    – das Instrumentarium der „instrumentalisierten Anklage“, mit dessen Hilfe Einfluß auf potentielle Zeugen genommen werden kann (sie können unter Druck gesetzt werden, u.a. durch Erpressung der Zustimmung zur Anwendung der Kronzeugenregelung, in anderen Fällen können auf diesem Wege die Voraussetzungen für ein Zeugnisverweigerungsrecht geschaffen werden).
    Nicht zufällig erwecken RAF-Prozesse den Eindruck, daß nicht der erkennende Senat, sondern die Anklage der wirkliche Herr des Verfahrens ist, der durch das vorgenannte Instrumentarium seine Steuerungsfähigkeit auf den Prozeßverlauf und auf alle Prozeßbeteiligten auszudehnen vermag.
    Es läßt sich nicht mehr ausschließen, daß das Urteil gegen Birgit Hogefeld in einem geradezu herzzerreißenden Sinne ein Fehlurteil ist:
    – begründete Zweifel, ob eine Angeklagte die Taten, für die sie verurteilt worden ist, wirklich begangen hat, sind objektiv nicht ausgeräumt worden,
    – das Urteil hat nicht einmal mehr versucht, den Eindruck zu widerlegen, es sei die Rache dafür, daß die Angeklagte sich geweigert hat, sich als Kronzeugin zur Verfügung zu stellen, und
    – es kann nicht mehr ausgeschlossen werden, daß diese Weigerung letztlich darin begründet war, daß sie ihr wirkliches Ziel, in die RAF Reflexionsfähigkeit hereinzubringen, wenn sie anders sich verhalten würde, selber verraten würde.
    Aber zu der Fähigkeit, diese Möglichkeit sich auch nur vorzustellen, fehlten dem Gericht und vor allem der BAW die Freiheit der Phantasie, die durchs Apriori des eigenen Feindbildes und des daraus resultierenden Verurteilungswillens außer Kraft gesetzt war. Diese Verfahren sind insgesamt nur noch Verkörperungen mythischer Gewalt, die im mythischen Schrecken der Urteile (in den mehrfach lebenslänglichen Haftstrafen, der „besonderen Schwere der Schuld“) sich entlädt.
    Staatsschutzverfahren als Verkörperungen mythischer Gewalt: Liegt das nicht in Konsequenz der Logik ihres Auftrags und der vorgegebenen Rahmenbedingungen ihrer Durchführung?
    Ist die Geschichte vom Traum des Nebukadnezar, den Daniel, bevor er ihn deuten kann, erst rekonstruieren muß, da Nebukadnezar ihn nicht mehr weiß, nicht ein Modell des Satzes, daß, wer einen Sündern vom Weg seines Irrtums bekehrt, damit seine (eigene) Seele vom Tode rettet?
    Hat nicht der Fernhandel, der heute in der Globalisierung des freien Marktes sich vollendet, seit je nur den Staat, nicht die Menschen genährt?
    Läßt sich die Geschichte von den sieben unreinen Geistern nicht auf die hegelsche Dialektik von Herr und Knecht beziehen:
    – es gibt nicht nur einen Knecht, sondern eine arbeitsteilige Organisation von Knechten, einen subjektlosen Organismus unterschiedener knechtlich-abhängiger Funktionen;
    – es gibt nur einen Herrn, und wenn die Knechte ihn ablösen, werden dann die letzten Dinge nicht ärger sein als die ersten?
    Die Gemeinheiten des Herrn reproduzieren (und potenzieren) sich in denen des Knechts. Der Ausweg wäre allein eine Gestalt der Herrschaft, die aus dem Bann der Gemeinheit, der Feindbildlogik und des Herrendenkens herauszutreten vermöchte.
    Die Konstellation, in die die Reklame die „Liebe“ zur Eigentumslogik rückt (durch Instrumentalisierung des Bedürfnisses nach Anerkennung, des Geliebtwerden-Wollens, des Selbstmitleids): ist das die Venus-Katastrophe?
    In den stalinistischen Schauprozessen der 30er Jahre soll es die Fälle gegeben haben, in denen angeklagte Genossen, die wußten, daß die Anklagen frei erfunden waren, sich diese gleichwohl zueigen machten, auch das – für sie dann vernichtende – Urteil akzeptierten, weil sie auch noch in dieser Situation die Parteiraison über ihre persönliche Einsicht stellten und glaubten, so der Partei, deren weltbefreiender Auftrag für sie außer Frage stand, noch einen Dienst zu erweisen.
    Politische Prozesse konstituieren so etwas wie ein innerstaatliches Völkerrecht. Nicht nur der Status der Angeklagten, sondern auch der der Strafgefangenen ist zweideutig. Ähnlich changiert die Logik der Strafen zwischen der Logik des Strafrechts und der des Kriegsrechts. Mehrfach lebenslängliche Haftstrafen und ein Begriff wie der der „besonderen Schwere der Schuld“ transportieren das Urteil und die Strafe über die Grenzen des Strafrechts hinaus; ihre Irrationalität ist ein Teil ihrer Rationalität: in ihrer Wirkung gleichen sie den Wirkungen der Aberkennung der bürgerlichen Rechte oder der Ausbürgerung, dem Entzug der Staatsbürgerschaft, der in der nationalsozialistischen „Endlösung der Judenfrage“ der letzte Schritt vor der Vernichtung war. Deshalb erwecken RAF-Prozesse den Eindruck kurzer Prozesse, die nur deshalb so lange dauern, weil anders das Selbstverständnis der Ankläger und der Richter, das auf ihr Handeln keinen Einfluß mehr hat, nicht zu begründen wäre.
    Wie hängt diese Logik mit der der Ware <zu deren Ursprungsgeschichte der Fernhandel, der Sklaven- und Frauenmarkt, die Geschichte der Eroberung und Unterwerfung anderer Völker und in der letzten Geschichtsphase ein Kolonialismus gehört, dem die ganze Welt zum herrenlosen Gut geworden ist> zusammen?

  • 9.11.1996

    1945: Der unreine Geist, nachdem er wasserlose Orte durchzogen und keine Ruhestätte gefunden hat, in sein Haus zurückkehrt, es leer, gereinigt und geschmückt vorfindet, geht hin und nimmt sieben andere Geister mit, die schlimmer sind als er, und sie ziehen ein und wohnen dort, und es wird nachher mit jenem Menschen schlimmer als vorher. (Mt 1243ff, vgl. Lk 1124ff)
    Ist nicht die rhetorische Frage in der Regel die Frage der Empörung, oder auch das in Frageform gekleidete kontrafaktische Urteil? Wie hängt die Massenbildung mit der Empörung zusammen?
    Die rhetorische Frage, wie auch das kontrafaktische Urteil, ist ein Element der Klage; in ihr gründet das Problem der Theodizee. Ist nicht diese Klage das Element, aus dem Anklage erwächst, und dann das Schuldurteil?
    Wenn eine Vorstellungswelt zerbricht, zerbricht nicht die Welt.
    Die Sprengung der Herrschaftslogik schließt die Sprengung der Vorstellung des Zeitkontinuums mit ein, das aber heißt, sie schließt die Idee der Auferstehung der Toten mit ein.
    Die heroische Attitüde Heideggers gibt es auch schon bei Hegel, dort wo er von der Kraft, der Negativität und dem Tod standzuhalten, ihnen ins (leere, nicht vorhandene) Angesicht zu sehen, spricht.
    Der Satz „Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist“ ist ohne die Idee der Auferstehung der Toten nicht mehr zu denken.
    Kann es sein, das das „Mein ist die Rache, spricht der Herr“ in dem Allereinfachsten besteht, daß dann jede Träne abgewischt wird: daß Herrschaft ihr Objekt, auf das sie sich stützt, verlieren und das nicht ertragen wird? Wäre das nicht der Triumph der Barmherzigkeit über das Gericht?
    Hat nicht der 5. Strafsenat Birgit Hogefeld dafür mit dieser wütenden Verbissenheit zur Rechenschaft gezogen und verurteilt, weil sie ihn in eine Situation gebracht hat, der er nicht gewachsen war? Sie hat diesen Senat vor eine Entscheidung gestellt, die er nur hätte treffen können, wenn er den Mut und den Verstand gehabt hätte, die er nicht hatte.
    Dieser Prozeß und dann dieses Urteil hat etwas verändert. Jetzt wird man reden müssen
    – über den Geist und das Handeln der Strafschutzsenate und der Bundesanwaltschaft,
    – aber auch über die RAF, die einerseits diesen Institutionen die Vorwände geliefert hat, so zu werden, wie sie heute sich darbieten, andererseits aber zugleich den Opfern dieser Institutionen die Solidarität verweigert,
    – und nicht zuletzt über die Öffentlichkeit, die ihre Wahrnehmungsfähigkeit eingebüßt hat und wieder einmal das Wegsehen einübt, und an der es sich jetzt rächt, daß in diesem Lande die Aufarbeitung der Vergangenheit in folgenlose Bekenntnisse sich verflüchtigt hat, real aber nie gelungen ist.
    Manchmal überkommt mich der böse Verdacht, ob die Frage des Richters Klein an die Angeklagte nicht eigentlich hätte lauten müssen: Hat es die RAF überhaupt noch gegeben? Und ist es wirklich ganz auszuschließen, daß der Anschlag auf Weiterstadt auf eine konspirative Provokation (BAW/VS/Steinmetz?) zurückzuführen ist, die dann ihren Zweck voll erfüllt hat, nämlich der Öffentlichkeit zu den nie aufgeklärten Taten der 80er Jahre nachträglich eine RAF zu liefern, die es eigentlich schon nicht mehr gab? Und bekennen sich die Hardliner der RAF vielleicht heute zu Handlungen, von denen sie selbst nicht wissen, wer sie begangen hat, an denen sie nur deshalb festhalten, weil ihre von der Realität abgespaltene Phantasie sie als Identitätsstütze braucht? Und das bis zu der bitteren Konsequenz, daß sie die eine, die den Sinn dieser Handlungen in Frage stellt, mit dem Bann belegen und aus ihrer wahnhaften Bekenntnisgemeinschaft zwangshaft ausschließen müssen? Zugleich muß der Staatsschutz sie mit der Verurteilung zu lebenslänglicher Haft aus dem Verkehr ziehen, weil sie, ähnlich wie Irmgard Möller nach der Stammheim-Katastrophe, die einzige ist, die vielleicht auf die Spuren stoßen und sie öffentlich machen könnte, die den Alptraum, zu dem dieser Staat in gleichem Maße zu werden scheint, in dem keiner es mehr für möglich zu halten fähig ist, als Realität erweisen würden.
    Die Nazis haben ihre Untaten durch ihre Dimensionen und ihr Ausmaß vor der Öffentlichkeit schützen können: Die Greuel waren leicht als Greuelmärchen zu dementieren, weil niemand (außer ihren Opfern, die sie real an sich selbst erfuhren) sie mehr für möglich halten konnte. Nur waren damals die Grenzen zwischen Realität und Vorstellungsvermögen noch nicht so scharf definiert: Zur Stabilisierung des abgespaltenen Vorstellungsvermögens, als wirksame kollektive Verdrängungshilfe, brauchten die Nazis das Gerücht von der Realität, das Klima des Terrors als allgegenwärtige und für alle spürbare Gewalt, die die Menschen zum Wegsehen zwang. Dieses Konstrukt hat die Nazizeit überlebt in dem Wort „Nestbeschmutzer“. Diskriminiert wurden nach dem Krieg nicht die Täter, sondern die, die ihre Taten an die Öffentlichkeit brachten.
    So gleicht sich die Realität immer mehr der Paranoia an, die sie doch zugleich falsch abbildet. Oder anders: So wird die Paranoia zu einem Erklärungsmuster der Realität, mit der Folge, daß heute die Realität nicht mehr begreift, wer nicht bereit ist, auch das Undenkbare zu denken, ohne daraus ableiten zu können, es sei so. Die Logik der Paranoia ist eine Erkenntnishilfe, aber man darf ihr nicht verfallen.
    Gegen diese Logik sind die Lyotardschen Reflexionen über das perfekte Verbrechen (die an die Erinnerung an Auschwitz anknüpfen) noch harmlos, weil sie zum Vebrechen verdinglichen, was in Wahrheit nur als kritische Reflexion eines logischen Sachverhalts sich begreifen läßt. An diesen logischen Sachverhalt, der an den Grund des Strafrechts selber rührt, reicht der strafrechtliche Begriff des Verbrechens nicht mehr heran.
    Der Versuch, das Undenkbare zu denken, liefert den Schlüssel zu den finsteren Geheimnissen des Staates (oder auch der Bekenntnislogik und der Opfertheologie, die die Religion zur Staatsreligion gemacht haben), vielleicht hilft er, Licht in dieses Dunkel hineinzubringen.
    Das Undenkbare denken: Dazu gehört auch, daß man einer Logik, die davon ausgeht, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, sich entzieht, daß es gelingt, die Kräfte, die es unterm Nationalsozialismus erlaubten, reale Greuel als „Greuelmärchen“ zu dementieren und so ihre Wahrnehmung zu verhindern, zu reflektieren und damit unwirksam zu machen. Ein Denken, das Herrschaftsinteressen, die heute mit dem Eigeninteresse derer, die an dem Privileg des Denkens noch teilhaben, konvergieren, sich unterordnet, mag sich als klug erweisen, es mag von einem hohen Grad der Intelligenz zeugen, es ist doch im Kern zugleich auch dumm, es verlernt, die Verblendung, deren Opfer es wird, zu durchschauen, es sieht insbesondere nicht mehr, was es anrichtet.
    Was einmal das „pathologisch gute Gewissen“ genannt wurde, ist eine in die Logik des Bewußtseins selber mit eingebaute Automatik; diese Automatik hat die kantische Philosophie, und zwar in der transzendentalen Ästhetik, erstmals rein herauspräpariert, sie ist damit bestimmbar und analysierbar geworden. Der erste, bis heute freilich nicht verstandene Beginn der Analyse dieser Automatik war Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung, ein im Kern logisch-philosophisches Werk, das nur aufgrund seiner Konsequenzen der speziellen Disziplin der Religionsphilosophie zugeordnet und so neutralisiert worden ist (der Gedanke, daß der Kern der Logik in der Theologie liegt, gehört zu dem Undenkbaren, auf das die Forderung, es endlich zu denken, sich bezieht). Der Stern der Erlösung gehört zu den epochalen Werken der Philosophie dieses Jahrhunderts, von gleichem Rang wie das Werk Walter Benajmins, Georg Lukacs‘ „Geschichte und Klassenbewußtsein“ oder die „Dialektik der Aufklärung“.
    Der Begriff Greuelmärchen war ein prophylaktischer Teil des aus ihm entwickelten Mechanismus, der nach dem Krieg den kollektiven Verdrängungsprozeß mit getragen hat. Danach konnten alle (und das subjektiv ehrlich) sagen, sie hätten nichts gewußt.
    „Satanisch, teuflisch, dämonisch“: An diesen Begriffen läßt die Magie des Urteils sich demonstrieren. Deren Bann wird erst gebrochen, wenn man, ohne Verharmlosung in der Sache, diese Begriffe reflexionsfähig macht, wenn man im Satanischen den Ankläger, im Teuflischen die feindbild-logische Instrumentalisierung der Sprache, ihre Subsumtion unter fremde Zwecke, im Dämonischen die Sprache der Rechtfertigung erkennt, in ihnen allen die Formen der Selbstzerstörung der erkennenden Kraft der Sprache; auch das ist ein Teil des Versuchs, das Undenkbare zu denken. Der Ansatz zur Lösung des Banns ist in dem Jesus-Wort vom Geist enthalten: „Wenn sie euch dann hinführen, um euch zu überliefern (Einheitsübersetzung: und <man> euch vor Gericht stellt), so sorget euch nicht im voraus darum, was ihr reden sollt, sondern was euch in jener Stunde gegeben (E.: eingegeben) wird, das redet. Denn nicht ihr seid es, die reden, sondern der heilige Geist.“ (Mk 1311) Der heilige Geist ist das Subjekt der erkennenden, aus dem Bann ihrer Instrumentalisierung befreiten Sprache. Der Kern dieses Banns ist die Logik der Welt: die Feindbildlogik, die dem Feind aus freien Stücken die Waffen liefert, mit denen er uns besiegt.
    Das Undenkbare denken, auch im Anblick des Schreckens den klaren Verstand zu behalten: Das wäre der Schlüssel zu einer Theologie im Angesicht Gottes.
    Zur Ursprungsgeschichte der Öffentlichkeit: Die stoische Ataraxia, die dann in den Begriff und in die Konstruktion der Öffentlichkeit mit eingegangen ist, ist kollektiv eingeübt worden in den römischen Arenen, in dem freiwilligen und zum Genuß (zur „Augenlust“) dargebotenen Anblick des Schreckens, der nur die Opfer, nicht die Zuschauer des Spektakels traf. Schon die aristotelischen Affekte Furcht und Mitleid, die die Tragödie im Zuschauer hervorruft, hatten Teil an dieser Ataraxia: Dem Mitleid war durch die ästhetische Grenze, durch die Abstraktion vom eingreifenden Handeln, die den Zuschauer vom tragischen „Geschehen“ trennt, die moralische Gemeinschaft mit dem ästhetischen Objekt aufhebt, der Weg zur Barmherzigkeit abgeschnitten: Im Mitleid genießt das Publikum (der Zuschauende) nur noch seinen eigenen Affekt, es erreicht sein Objekt nicht mehr. Die Arenen haben diese (die logische Konstruktion der Öffentlichkeit begründende) ästhetische Grenze zum Objekt vergesellschaftet. In diese Ursprungsgeschichte der Öffentlichkeit gehören die Scheiterhaufen, auf denen die Ketzer und Hexen verbrannt worden sind, die öffentlichen Hinrichtungen. Auch der Kreuzestod Jesu ist durch die christliche Opfertheologie zu einem öffentlichkeitskonstituierenden Akt geworden (der in den Christen das schlechte Gewissen installiert hat, das dann bekenntnislogisch abgearbeitet werden mußte). Die Theologie war seit den Kirchenvätern nur das Exil der Philosophie, diese war das Schiff, auf dem sie aus Furcht vor ihrem Auftrag, Ninive den Untergang anzusagen, nach Tarschisch zu fliehen versucht hat.
    Aber war die Philosophie nicht auch der eine unreine Geist, der am Ende mit sieben anderen Geistern in das leere, gereinigte und geschmückte Haus zurückkehren wird; und die letzten Dinge werden dann ärger sein als die ersten?
    Der Staat ist die Quelle und der Produzent des „Seitenblicks“, der in den Arenen (und in der nachfolgenden Geschichte der Kunst) zunächst eingeübt und dann auch reflektiert worden ist. Und das hegelsche Absolute ist der Gott, der in diesem Staat sich verkörpert (und durch ihn hindurch das Reich der Erscheinungen als seine Welt erschafft, die am Ende niemand von der wirklichen mehr unterscheiden kann).
    Das kantische Religionsverständnis unterscheidet sich vom hegelschen dadurch, daß es das Moment der Hoffnung (auch für die Toten) noch in sich enthält, es weder verleugnet, noch verdrängt, noch unterdrückt hat, und in dieser Hoffnung die Kraft der Reflexion, die er in der Kritik der Urteilskraft zu entfalten versucht hat.
    Das Undenkbare denken, oder die Bundeanwaltschaft als Verkörperungen der Staatsparanoia.
    Der Konkretismus und die Personalisierung verstören die Sprache der Reflexion, versuchen ständig, sie eine Sprache des bestimmenden Urteils (der synthetischen Urteile apriori), des Indikativs, zu übersetzen.
    Das Undenkbare denken (Gliederung):
    – Indikativ und Imperativ (Levinas),
    – Verstörung des reflektierenden Denkens durch die Mechanismen der Verdinglichung,
    – die Auflösung des Problems der Verhärtung des Herzens (Pharao und hodie, si vocem eius audieritis),
    – Theologie im Angesicht Gottes,
    – die Sünde wider den heiligen Geist (die Sünde der Übersetzung des reflektierenden Urteils ins bestimmende Urteil, der Verdinglichung, der Feindbildlogik, die Sünde der Welt <im Kontext des Nachfolgegebots, nicht der Opfertheologie>).
    Die Theologie im Angesicht Gottes ist eine herzzerreißende Theologie: Sie zerreißt das steinerne Herz (das sentimentale Herz) und ersetzt es durch das fleischerne Herz (ein Herz, in dessen Verletzlichkeit seine erkennende Kraft gründet). – „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht.“
    Auch der Satz, daß Gott am Ende das steinerne Herz durch ein fleischernes ersetzen wird, steht im Imperativ, nicht im Indikativ.
    Zu Kafkas Bau: Das Tier hat vierzig Jahre im Untergrund gewühlt, und jetzt steckt es die Nase heraus in der Hoffnung, daß da nicht ein Gärtner mit dem Spaten steht und es erschlägt.
    Das Undenkbare denken: Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns (Kafka). Auf diesen Satz antwortet eine Theologie, die die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele aufgibt, dafür aber an der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten festhält. Nicht für mich (und nicht für die, die unter Rechtfertigungszwängen auf einen gnädigen Gott hoffen), nur für die Andern gilt: Die Liebe deckt eine Menge Sünden zu. Das Jakobus-Wort, daß, wer einen Sünder von seinem Weg des Irrtums befreit, seine eigene Seele vor dem Tode rettet, schließt die Frage mit ein, wer ist dieser Sünder? Ist es nicht der gleiche, über dessen Bekehrung mehr Freude im Himmel sein wird als über die 99 Gerechten?
    (Adressaten: Christiane Dannemann, Michael Schwenn, auch Pfarrer Nieder, Antje Vollmer?)
    Wenn ich die „objektive“ Analyse einer Sache durch die Erfahrung, die ich mit ihr gemacht haben, ersetze, so ist das der einzige Ausweg, über den ich die Sache selbst noch herauszubringen vermag.
    Instrumentalisierung der Anklagepraxis durch die Bundesanwaltschaft (mit dem Ziel der Aussagenerpressung: Angebot der Kronzeugenregelung bei Birgit Hogefeld, Ermittlungsverfahren gegen Steinmetz, Anklage mit Kronzeugenangebot bei Frau Andrawes), dazu paßt die fiktive Anklage im Hogefeld-Prozeß (eine Anklage, die aus den gleichen Gründen, die dann zum Freispruch führten, eigentlich schon bei Prozeßeröffnung hätte zurückgewiesen werden müssen, die aber nur so ihren Zweck erfüllen konnte: die zwar nicht nachgewiesene, aber wegen der Freispruchs der Angeklagten auch nicht mehr revisionsfähige gerichtliche Feststellung, daß Wolfgang Grams den GSG-9-Beamten Newrzella erschossen hat). Steht nicht die Anklagepraxis der BAW, die ein Teil ihres Politikverständnisses ist, in einem so exzessiven Maße unter dem Zwang der Feindbildlogik, daß sie deren Reflexion schon vom Grunde her auszuschließen gezwungen ist?

  • 8.11.1996

    „Wir Deutschen“, sind das nicht die Nachfahren der Hitlerschen Masse?
    Als Micha Brumlik den Namen des Angesichts mit „Ausdrucksgeschehen …“ übersetzte, hat er ihn in die Sprache einer EG-Verordnung übersetzt, in die vergegenständlichende Sprache des Rechts und der Verwaltung. Wenn Levinas zufolge die Wirklichkeit des Angesichts die Unendlichkeit des Raumes widerlegt, dann drückt die Brumliksche Übersetzung den Zwang aus, die räumliche Unendlichkeit wiederherzustellen, die den Objektivierungszwang begründet und perpetuiert.
    Die stockende Verlesung des Urteils im Hogefeld-Prozeß durch den vorsitzenden Richter erweckte den sicherlich nicht unbegründeten Eindruck, daß darin Widerstände sich ausdrückten, die mit dem, was die Nazis den „Kampf gegen den inneren Schweinehund“ nannten, zu tun haben mochten: Der eigentliche Gegner dieses Kampfes (des „inneren Ringens“, wie es die gewähltere Formulierung des Feuilletons damals nannte) waren die humanen Regungen, von denen auch Nazis nicht frei waren. In diesem Kontext löst sich ein Problem, das Daniel Jonah Goldhagen benannt hat, die Frage, weshalb der Judenmord mit den zusätzlichen Grausamkeiten, Verhöhnungen und Demütigungen verbunden war, die ihn begleiteten: Darin drückte dieser „Kampf gegen den inneren Schweinehund“ sich aus, der auf die Juden verschoben und an ihnen vollstreckt wurde. So paradox das klingen mag: In diesen Manifestationen der Gemeinheit kam zum Ausdruck, daß das Gewissen in den Tätern noch nicht ganz erloschen war und in den Juden immer wieder mit erschlagen werden mußte. Genau das begründete auch den Wiederholungszwang, das suchthafte Verhalten der Täter: Nachdem sie einmal in die Zwänge dieser Logik hineingeraten waren, konnten sie nicht mehr davon lassen. Es gibt Taten, die nur als Wiederholungstaten möglich sind, weil sie das, was sie intendieren, nicht erreichen, aber eben dadurch ihre Wiederholung erzwingen.
    Die Urteilsbegründung ist der Beweis, daß der Eindruck, den Gericht und Bundesanwaltschaft erweckten, wenn Birgit Hogefeld ihre Erklärungen vortrug, nicht getrogen hat: Ankläger und Richter haben sich in einen synthetischen Schlaf versetzt, in dem sie nur das noch hörten, was sie hören wollten; die Erklärungen selbst haben sie nicht mitbekommen.
    Man muß das auch mitdenken, und sollte es nicht verdrängen: Anklage und Gericht sind selber auch „Opfer der RAF“, die sie zu den erbarmungslosen Handlungen, wie es die Urteile von Anfang an gewesen sind, gezwungen haben; und dafür haben sie sich gerächt. Dieser Mechanismus drückt in der geradezu verwilderten Logik der Urteilsbegründung sich aus.
    In einem Land, in dem alle nur noch ihre Pflicht tun, aber keiner mehr weiß, was er tut, weil alle unter Zwängen stehen, die sie nicht mehr zu durchschauen vermögen, gibt es dann nur noch ein Verfahren: Augen zu und durch! Das gefährliche dieses Verfahrens ist: es ist ansteckend.
    Kohl: Heute, in dem Erfolg, den sie nicht veursacht hat, der ihr wirklich nur zugefallen ist, plustert sich die Blindheit und Stummheit der „deutschen Frage“, die in Kohl sich verkörpert, zu welthistorische Größe auf.
    Flucht nach Tarschisch: Tarschisch liegt am Ende der Welt; aus Tarschisch hat Salomo mit Schiffen die Goldschätze geholt, die er für den Bau und die Ausstattung des Tempels benötigte. – Rom hat nicht mehr Handel getrieben, sondern die Welt erobert und ausgeplündert und die Beute im Triumphzug nach Rom geführt. Die Triumphbogen des imperialen Rom: Heute sind das die Auslandsjournale des Fernsehens.
    Läuft nicht Franz Rosenzweigs Verständnis des Christentums darauf hinaus, daß das Christentum genau diese Flucht nach Tarschisch ist? Und legt seine Beschreibung nicht den Gedanken nahe, daß nicht die Synagoge, sondern die Kirche die Binde vor den Augen trägt?
    Israel heute: Ist es nicht, als seien die Sadduzäer auferstanden, die an die Auferstehung nicht glaubten? Aber hatte es eine andere Wahl?
    Was hat der Begriff der Ruhe in den beiden Relativitätstheorien (die sich von der Bewegung nicht mehr unterscheiden läßt) mit der Sabbatruhe zu tun, oder auch mit dem Wort, demzufolge der Menschensohn Herr des Sabbat ist? Ist hier nicht ein weiteres Beispiel für den Greuel am heiligen Ort?
    Liegt nicht die Aufgabe der Theologie heute in dem Problem, vor das Nebukadnezar den Daniel gestellt hat: einen Traum zu deuten, den Nebukadnezar vergessen hat?
    Gewinnt nicht in der Gestalt Birgit Hogefelds, in dem Urteil über sie, das auf eine neue Weise die Identifikation mit dem Objekt des Urteils erzwingt, diese Identifikation eine neue Qualität, und das dank der Reflexionskraft Birgit Hogefelds?
    Steckt nicht das „Zeichen des Jona“ in dem Problem, vor dem Jona selber steht, und das er mit seiner Flucht nach Tarschisch vergeblich zu lösen versucht: im Problem des Anfangs? Dieser Satz „In vierzig Tagen wird Ninive zerstört“, der einzige Satz, den er dann noch herausbringt, steht zwar in der prophetischen Tradition, hat aber nicht mehr die Qualität eines prophetischen Satzes, er ist kein „Wort des Herrn“. Prophetisch ist allein – und das auf eine ungeheuerliche Weise – seine Wirkung. Hierin liegt das Grundproblem des Buches Jona. Ist es nicht das gleiche Problem, das Hegel einmal in dem Satz ausgedrückt hat, er sei dazu verdammt, ein Philosoph zu sein?
    Die jüdische Tradition zieht die Grenze zwischen Prophetie und Geschichte an anderer Stelle als die christliche. Für die jüdische Tradition gehören die Bücher Josue, Richter, Samuel und Könige zu den prophetischen Büchern, für die christliche zu den historischen (ich halte die Entscheidung Bubers, der in dieser Frage den Schriftkanon an die christliche Tradition angleicht, wenn nicht für falsch, so jedenfalls nicht für jüdisch). Das Problem, das in dieser Differenz sich anzeigt, war genau das Problem, das Franz Rosenzweig mit einer sehr präzisen Begründung dazu gebracht hat, mit dem Stern der Erlösung dem Historismus abzusagen. Das Problem Historismus/Offenbarung war der Gegenstand der Gespräche, in denen seine Vettern Ehrenberg und sein Freund Rosenstock ihn dazu bringen wollten, den Schritt, den sie vollzogen hatten, nämlich Christ zu werden, ebenfalls zu vollziehen. Seine Antwort darauf war: Ich bleibe Jude, und das übrigens mit einer Begründung, die im Entscheidenden auf Texte aus dem Neuen Testament, aus dem Kontext christlichen Selbstverständnisses und nicht gegen dieses Selbstverständnis, sich bezog. Der Stern der Erlösung war dann gleichsam das Siegel auf dieser Entscheidung, in deren Kern eine Kritik des Historismus aus dem Geist der Prophetie sich findet. Dieses Verhältnis (der Prophetie zum Historismus) läßt an seiner Beziehung zu Hegel sich demonstrieren; hier liegt der Anfang einer Bewegung, an deren Ende vielleicht ein Satz stehen könnte, der auch Rosenzweigs Werk in ein neues Licht zu rücken vermöchte: Das Weltgericht ist nicht das Jüngste Gericht, das Jüngste Gericht wäre vielmehr das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht. Um das zu sehen, hätte Rosenzweig vielleicht den Jakobusbrief lesen müssen, den Satz: Die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht.
    Gibt es nicht die Kaskaden rhetorischer Fragen auch bei Klaus Heinrich, dessen „Schwierigkeit nein zu sagen“ gleichwohl zu den Texten gehört, die (wie auch Ulrich Sonnemanns „Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten“) ihre unmittelbare Aktualität überleben werden.
    Der Gott der Hebräer ist der Gott derer, die Fremde für andere sind, während der Gott der Philosophen der Gott derer ist, für die Andere Fremde sind, die deshalb der Projektionsfolie der Barbaren oder der Heiden bedürfen. Und es ist der Gott der Hebräer, den der Pharao, der Herr des Sklavenhauses, nicht kennt, und der, indem der Pharao in dieser Nichtkenntnis zu verharren versucht, die Geschichte seiner Herzensverhärtung begleitet.
    Zu dem Satz „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“: Das Bild ist falsch, hier hat Brecht den Schoß mit einer anderen Körperöffnung verwechselt.
    Tatsachen sind nackt, aber erkennen wir in dieser Nacktheit nicht doch nur den Spiegel unserer eigenen Nacktheit?
    Wenn es heißt, daß die Liebe eine Menge Sünden zudeckt, so sollte man dazu in Erinnerung behalten: Sie deckt die Sünden der Andern zu, nicht die eigenen.
    Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht: Heißt das nicht, daß nur, wer die eigenen Sünden reflexionsfähig hält – und das ist der Barmherzige -, die Abwehrmechanismen außer Kraft setzt, die uns zu Richtern über andere macht.
    Nicht zufällig fällt die kopernikanische Wende, die universale Verdinglichung der Welt, die Himmel und Erde gleichnamig gemacht hat, mit einer weltgeschichtlichen Wende zusammen, in der die europäische Gesellschaft, die damalige Christenheit, die gesamte Welt zu herrenlosem Gut erklärt und das Werk ihrer politischen und ökonomischen Aneignung und Ausbeutung begonnen hat. Die Wende in der Astronomie war das Bild und der Reflex einer Wende in der Geschichte der politischen Ökonomie. Hier ist Europa zum Tier aus dem Meer geworden. Die Welt, die den Himmel ins Licht des Gravitationsgesetzes gerückt hat, ist die Welt dieses Tieres. Gehört nicht die Geschichte der Inquisition zur Ursprungsgeschichte naturwissenschaftlichen Aufklärung?
    Das Verbindungsglied zwischen dem allgemeinen Gravitationsgesetz und der Wendung in der Geschichte der Aufklärung insgesamt liegt in der metaphorischen (oder der realsymbolischen) Beziehung der Schwere zur Schuld. Seitdem sucht das positivistische, vom Feindbild-Denken durchsetzte Rechtsverständnis nach einem Objekt, dem sie zur eigenen Entlastung die absolute Schwere der Schuld anhängen kann. Die Geschichte des Antisemitismus (wie auch der Ketzer- und Hexenverfolgung) ist noch nicht zu Ende.
    Zur perversen Logik der Staatsschutzverfahren gehören der Begriff der „besonderen Schwere der Schuld“ und die mehrfach lebenslänglichen Haftstrafen, für die offensichtlich ein Leben nicht ausreicht, um den Projektions-, Rache- und Sühnetrieb zu befriedigen. Sie erweisen sich als Elemente eines nationalen Schuldverschubsystems, das insbesondere im deutschen Staatsverständnis sich zu verkörpern scheint.
    (Wachsen etwa die Widerstände in dem gleichen Maße, in dem ich versuche, sie durch Reflexion aufzulösen?)
    Es gibt Leute, die immer so reagieren, als wüßten sie schon alles. Dringt das nicht immer mehr auch in den Universitätsbetrieb ein? Ein Hinweis darauf, daß Professoren heute nicht besser sind, als es die Oberlehrer, die sich auch Professor nannten, einmal waren.
    Die verwaltete Welt erzeugt im Bildungswesen eine eigene und sehr spezifische Art von Katastrophen.




  • 3.11.1996

    Wie hängt das Problem des apagogischen Beweises mit der Logik der Instrumentalisierung (des „Seitenblicks“ und der Fähigkeit, rechts und links zu unterscheiden) zusammen? Gründen die Probleme, in deren Zusammenhang für Kant der apagogische Beweis zum Problem wird, in der doppelten Instrumentalisierung (der Instrumentalisierung der instrumentalisierenden Gewalt durch die subjektiven Formen der Anschauung), und hängen sie nicht mit der Konstituierung der drei Totalitätsbegriffe (der Begriffe des Wissens, der Natur und der Welt, die in der kantischen Vernunftkritik erstmals rein hervortreten), mit deren Hilfe sie gegen die Reflexion sich abschirmen, zusammen? Und ist nicht die Reversibilität aller Richtungen im Raum (derzufolge jede Richtung in die gleiche schlechte Unendlichkeit, ins gleiche nihil, führt) das Modell, an dem der apagogische Beweis (und durch ihn hindurch der Hegelsche Begriff der Dialektik) sich orientiert? – In diesem Zusammenhang gewinnt die kantische innere Differenzierung des nihil, des Begriffs des Nichts (in der Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe, Kr.d.r.V., Insel-Ausgabe, S. 267ff), eine hochsignifikante Bedeutung.
    Das Prinzip der Reversibilität aller Richtungen im Raum erzeugt den Schein der Gleichheit von Anklage und Verteidigung im Rechtsstreit und verdrängt das Herrschaftsmoment, an das der deutsche Titel Staatsanwalt so deutlich erinnert, und das in Staatsschutzprozessen zu der Situation führt, die Birgit Hogefeld mit dem Satz „die Bank gewinnt immer“ aufs genaueste bezeichnet hat. Aber wird dieser Schein nicht schon durch die Beziehung des Begriffs zum Objekt, in der die herrschaftsmetaphorische Zuordnung von Oben und Unten eindeutig festgelegt ist, widerlegt, während doch zugleich der Materialismus oder das Postulat vom Vorrang des Objekts von der Hoffnung lebt, daß die Barmherzigkeit über das Gericht triumphiert? Und ist nicht das Prinzip der Reversibilität aller Richtungen im Raum (und damit die subjektive Form der äußeren Anschauung selber, die darin sich ausdrückt) der Grund, aus dem die Feindbildlogik hervorgeht, und das Konstrukt, in dem sie zugleich sich vollendet, sowie die Verkörperung der logischen Struktur, die die Herrschaftsbeziehung von Begriff und Objekt begründet und sie zugleich verstellt, als Herrschaftsbeziehung unkenntlich macht? Löst sich nicht in dieser Konstellation das Problem der kantischen Antinomien und des apagogischen Beweises, damit aber das Problem der Beweislogik überhaupt? Diesen Knoten aufzulösen wäre eine der Hauptaufgaben der Philosphie, die dann aber sich nicht wundern darf, wenn sie in der Theologie sich wiederfindet.
    Das Prinzip der Reversibilität aller Richtungen im Raum leugnet den Tod und macht ihn irreversibel zugleich (darin gründet die Logik der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit). Schließt nicht die Idee der Unsterblichkeit der Seele, die in diesem Prinzip gründet, die Vorstellung mit ein, daß sie für die Toten nicht gilt, und liegt nicht ihr Haupteffekt in der Leugnung der Idee der Auferstehung, die sie nach außen zugleich dementiert? Hier liegt die fast unüberwindbare Hemmung, die der Lösung des Problems der Raumvorstellung sich entgegenstemmt. Das Prinzip der Reversibilität aller Richtungen im Raum ist der fast nicht mehr aufzuhebende Grund der Irreversibilität der Zeit, und die Außengrenze, die der Raum für mich definiert, ist eine Grenze zur Vergangenheit, die nur ich nie überschreiten werde, während alle andern sie bereits überschritten haben, für mich schon tot sind (sic, B.H.). In dieser Konstellation gründet das Problem des apagogischen Beweises und seine Lösung (vgl. hierzu die kabbalistische Tradition, daß die sechs Richtungen des Raumes auf göttliche Namen versiegelt sind, auch die Gestalt der Maria Magdalena und die Geschichte von ihrer Befreiung von den sieben unreinen Geistern).
    Das Canettische Bild vom Sieger, der als letzter Überlebender auf einem Riesenleichenberg steht, ist das genaueste Symbol der Logik der subjektiven Formen der Anschauung. Die Form der äußeren Anschauung ratifiziert an den Dingen, was in der Form der inneren Anschauung, in der Vorstellung des Zeitkontinuums, vorgebildet ist: die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, die Konstituierung des Totenreichs, über das der Anschauende starr, sprach- und empfindungslos als einziger sich erhebt. Durch die Subsumtion der gesamten Zukunft unter die Vergangenheit (die den Begriff des Wissens begründet) mache ich mich selbst zum Sieger, der alle überlebt; und das ist die der Idee der Unsterblichkeit der Seele zugrunde liegende Vorstellung, die als eine ihrer Konstituentien den Widerspruch gegen die Idee der Auferstehung der Toten in sich enthält. Heideggers Hinweis, daß wir den Tod nur als den Tod der anderen erfahren, nie als den eigenen, gründet in dieser Logik, deren Bann allein durch den Levinas’schen Hinweis auf die Asymmetrie, die den Anderen als Medium der Selbsterkenntnis ins Blickfeld rückt, sich auflösen läßt.
    Die subjektiven Formen der Anschauung, in denen die richtende Gewalt, die sie für die gesamte Objektwelt repräsentieren, zugleich gegen das richtende Subjekt sich erstreckt, sind der Beweis des Satzes „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“.
    Die subjektiven Formen der Anschauung sind der blinde Fleck in der Ursprungs-, Entfaltugns- und Durchsetzungegeschichte der Marktgesetze.
    Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren: Der richtende Blick erfährt sich selbst im richtenden Blick des Andern, und d.h. als nackt.
    Gehört nicht zu dieser Problem-Konstellation aus Logik der Gemeinheit, Beweislogik, Feindbildlogik auch das der Beziehung des Rechts zum Staat, daß insbesondere ein Recht, das sich zum Organ des Staates macht, indem es die Selbstreflexion des Staates, in dessen Logik seine eigene Ursprungsgeschichte beschlossen ist, grundsätzlich ausschließt, damit die Idee der Gerechtigkeit selber tangiert? Die Instrumentalisierung des Rechts, die im Hogefeld-Prozeß am gesamten Beweisverfahren, insbesondere aber an der (Nicht-)Behandlung des Gesamtkomplexes Bad Kleinen sich demonstrieren läßt, läßt keine andere Wahl.
    Wenn die RAF zum Symbol für das grundsätzliche und generelle Verbot, in den Angeklagten sich hineinzuversetzen und damit die Selbstreflexion des Staates in den Prozeß der Urteilsfindung mit hereinzunehmen, wird, dann kann sie nur noch unter der Bedingung zum Objekt des Rechts gemacht werden, daß das Recht auf die Idee der Gerechtigkeit keine Rücksicht mehr nehmen darf, daß es aus dem Bereich, in dem Gerechtigkeit allein möglich wäre, sich verabschiedet. Wenn das Recht, wie im Bereich der „Staatsschutz-Verfahren“, dem Staatsinteresse sich unterordnet (wenn der „Staatsanwalt“ nicht mehr Partei ist, sondern Herr des Verfahrens wird), dann wird es zu einem reinen Machtinstrument, und das ist in RAF-Verfahren geradezu sinnlich wahrnehmbar. Die besonderen Haftbedingungen derer, die Objekte solcher Verfahren sind, – und zu diesen Haftbedingungen gehören nicht nur die physischen Haftbedingungen, die Isolationshaft und die rigorose Einschränkung aller Beziehungen zur Außenwelt, zu Angehörigen und Freunden, sondern auch die damit zusammenhängenden Einschränkungen der Möglichkeiten der Verteidigung und der Verteidigerrechte (Beispiele: der vorenthaltene Text einer Rede Carlchristian von Braunmühls – Begründung: sie sei nicht wegen des Mordes an von Braunmühl angeklagt, der Zusammenhang mit der Anklage wegen Mitglieschaft in der RAF, der in anderem Zusammenhang als Beweismittel mit verwandt wurde, wurde schlicht verdrängt; dazu gehört die Ausgrenzung des Gesamtkomplesxes Bad Kleinen, die Ablehnung unabhängiger Gutachter sowie die – durch den Tenor des Senatsbeschlusses offen diskriminierende und beleidigende – Ablehnung des Antrags eines katholischen Pfarrers auf Genehmigung eines von der Angeklagten gewünschten seelsorglichen Gesprächs; zum Gesamteindruck dieses Prozesses gehört es, daß alles, was nicht in die vorprogrammierte Beweisführung <in das Verfahren der Konstruktion eines synthetischen Urteils apriori> hineinpaßte und zur Entlastung der Angeklagten hätte beitragen können, rigoros ausgegrenzt wurde; der geradezu wütende Verurteilungswille beherrschte den ganzen Verlauf des Verfahrens). Auch wenn vor dem endgültigen, rechtskräftigen Urteil grundsätzlich die generelle Unschuldsvermutung gilt, die realen Folgen, die der Verdacht für den Angeklagten hat, haben die massive und irreversible Qualität einer Vorverurteilung und einer präventiven, das offenbar schon feststehende Urteil vorwegnehmenden Strafe.
    Wie es scheint, waren für die Ablehnung von Anträge der Verteigung drei Gesichtspunkte maßgebend:
    – der ungestörte Ablauf der vorprogrammierten Beweisführung,
    – die Ausgrenzung jeder Reflexion des Selbstverständnisses der Angeklagten und
    – die Eingrenzung des Verfahrens auf das einen reinen Kriminalprozesses.
    Im Hogefeld-Prozeß, in dem jedem, der die Dinge verfolgt hatte, klar war, daß ernsthafte Störungen des Prozesses nicht zu erwarten waren, liefen die Begleitumstände gleichwohl nach den üblichen, ebenso massiven wie diskriminierenden Methoden ab, vom Transport der Gefangenen mit Blaulicht und Martinshorn bis zu den Eingangskontrollen der ProzeßbesucherInnen. Und das nicht nur aufgrund der behördenüblichen Trägheitsgesetze, sondern, wie vermutet werden darf, auch wegen der durchaus beabsichtigten Öffentlichkeitswirkung dieser Verfahrensweisen. Das hat zur Stabilisierung des Klimas beigetragen, in dem dieser Prozeß und sein Verlauf allein möglich war.
    RAF-Prozesse dienen nur noch der Herrschaftssicherung; dazu braucht man zwar Angeklagte, die aber sollten tunlichst nicht durch Reflexion den Zweck des Verfahrens, in dem sie nur Geisel sind, stören. Hier geht es um Wichtigeres: Hier werden Instrumente auf ihre Brauchbarkeit getestet, die eines Tages auch zur Erledigung anderer Aufgaben, die man offensichtlich auf sich zukommen sieht, brauchen wird; dann nämlich, wenn das Umverteilungsprojekt auf die Hilfe der Justiz angewiesen sein wird.
    Nach Hegel ist die bürgerliche Gesellschaft bei all ihrem Reichtum nicht reich genug, der Armut und der Entstehung des Pöbels zu steuern. Nachdem der Westen bisher die Armut in die Dritte Welt hat exportieren können, scheint dieser Markt jetzt gesättigt, und der Reimport der Armut, der mit der weltweiten Ausdehnung der Marktgesetze, dem Zerfall und der Verrottung der politischen (staatlichen) Souveränität, der fortschreitenden Ersetzung politischer Entscheidungskräfte durch Verwaltungseinrichtungen einhergeht, beginnt. War es bisher notwendig, den Reichtum mit dem militärischen Droh- und Vernichtungspotential nach außen zu schützen, wird es möglicherweise schon bald sich als notwendig erweisen, ihn gegen die fehlende Einsichtsfähigkeit der eigenen Bevölkerungen auch nach innen zu verteidigen. Hierzu bedarf es anderer Einrichtungen, deren Brauchbarkeit und Effizienz bisher vor allem in den Auseinandersetzungen um wirtschaftliche und militärische Großprojekte, die gegen den Willen der betroffenen Bevölkerungen durchgesetzt werden mußten, aber auch in der Terrorismus-Bekämpfung, in der die RAF als nützliches Testobjekt sich erwiesen hat, erprobt werden konnten. Jetzt gibt es ein erprobtes und schlagkräftiges Instrument, das man sich durch eine Angeklagte, auch wenn man ihr die Taten, deretwegen sie verurteilt werden soll, partout nicht nachweisen kann, nicht kaputtmachen läßt. Wo gehobelt wird, da fallen Späne.
    Zur Ersetzung der Regierung durch Verwaltung, die mit dem ökonomischen Privatisierungsprojekt (mit der Ersetzung nationalökonomischer Prinzipien und Kriterien durch betriebwirtschaftliche) zusammengeht, gehört auch ein Strukturwandel in der Justiz, der dahin tendiert, dem Verwaltungsrecht, das ein Subsumtionsrecht, ein Recht des bestimmenden, nicht des reflektierenden Urteils ist, sich anzugleichen. Es ist dieses Subsumtionsrecht, für das dort, wo das gerechte Urteilen sich hineinzuversetzen hätte, nichts mehr ist. Hier ist der Staatsschutz ein Vorreiter, der das Selbstverständnis des Angeklagten vom Grunde her ausgrenzen zu müssen glaubt, mit der Folge, daß diese Prozesse unter dem Zwang, als reine Kriminalprozesse geführt zu werden, zu politischen Prozessen werden: Sie sind Teil eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses, der in der Ökonomie wie in der Politik selber auf eine fortschreitende Entpolitisierung, auf eine schleichende Erosion der politischen Logik hinausläuft, auf ein Ausblenden dessen, was als Reflexionsfähigkeit einmal als Grundlage der politischen Freiheit begriffen worden ist.
    Das Faszinierende am Hogefeld-Prozeß war die Wahrnehmung, daß es hier der Angeklagten erstmals gelungen ist, durch eine Reflexion, die auch das Verfahren mit einbezog, aus dem Bann der Logik, die dieses Verfahren beherrscht, auszubrechen, ihn für sich selber zu brechen. Daß dieser Akt auf Seiten des Gerichts nur Abwehrmechanismen wachruft, war zu erwarten, und es ist zu befürchten, daß das auch aufs Urteil sich auswirken wird. Aber könnte es nicht sein, daß dieses Gericht genau dadurch, daß es die Dehnbarkeit der Grenzen des Rechststaats nicht mehr einzuschätzen vermag, den Bogen überspannt, damit aber diesen ganzen Bereich in ein Licht rückt, in dem er nackt dastehen wird, in dem erstmals erkennbar wird, was hier passiert?
    Die RAF hat bisher auf die Probleme, vor die sie sich gestellt sah, nur mechanisch reagiert. So hat sie, ohne es zu wissen oder gar zu wollen, ihrem Widersacher in Hände gearbeitet. Grund war die Feindbildlogik, in deren Netze sie seit ihren Anfängen sich verstrickt hat. Diese Feindbildlogik ist Teil einer Logik, in deren Herrschaftsbereich – nach einer wie ein Blitz einschlagenden Formulierung Birgit Hogefelds – die Bank immer gewinnt. Es wäre nicht nur im ureigensten Interesse der RAF, wenn sie endlich die Reflexionsfähigkeit gewinnen würde, deren erstaunliche Anfänge hier, bei Birgit Hogefeld, wahrzunehmen sind.
    Diese Reflexionsfähigkeit ist im Falle Birgit Hogefelds der Beweis, daß das Urteil, wie es auch ausfallen wird, nur ein Fehlurteil sein kann, daß nicht sein Objekt, das vom Urteil nicht getroffen wird, verurteilt wird, sondern das Gericht, das – wie so viele in diesem Lande – nur seine ihm von den Verhältnissen auferlegte Pflicht tut, dabei aber nicht mehr weiß was es tut, mit diesem Urteil sich selbst verurteilt. Nur wenn es selber reflexionsfähig gewesen wäre, hätte dieses Gericht sich selber durch das einzig gerechte Urteil, das möglich war, freisprechen können.
    Hegels Philosophie beschreibt nicht nur die Stationen auf dem Wege des Weltgeistes, sondern auch das Ende des Weges, an dem der Weltgeist sein Ziel erreicht hat. Was danach kam, läßt sich eigentlich nur noch unter dem Stichwort des Endes des Weltgeistes, seiner Selbstzerstörung, beschreiben. Das Ende des Weltgeistes ist das Ende der Geschichte, die das Weltgericht ist, das hiernach nicht mehr über die Geschichte, sondern erstmals über den Richtenden selber ergeht. Das Ende des Weltgeistes ist das Ende der richtenden Gewalt, die er verkörpert.
    Wer Billardkugeln, die Objekte der Mikrophysik und die Sternenwelt unter ein gemeinsames Gesetz bringt, ist ein Agent Beelzebubs, dessen Reich nur besteht, wenn es nicht mit sich selbst uneins ist. Die Angst vor dem Zerfall der Identität ist die Angst Beelzebus, des Herrn der Fliegen, eine Angst, die zu den Konstituentien des Insektenstaats gehört. Die Einheit des gemeinsamen Gesetzes, das die drei Sphären mit einander verbindet, wäre auf zwei Wegen zu sprengen: durch die Reflexion des Falls und durch die Reflexion des Feuers. Die Ansätze hierzu liegen vor in den beiden Relativitätstheorien Einsteins, in dem Theorem der Identität von träger und schwerer Masse und im Prinzip der Konstanz der Lichgeschwindigkeit. Aber werden die Probleme, die den beiden Reflexionen zugrundeliegen, durch sie zu lösen wären, nicht aufs merkwürdigste rerpäsentiert durch die beiden Seiten, die in den RAF-Prozessen sich gegenüberstehen: durch die Seite der Anklage und des Gerichts, und durch die der Angeklagten und RAF?
    Der Fortschritt gegenüber den Hexenprozessen, mit dem RAF-Prozesse sich durchaus vergleichen lassen, scheint mir, liegt darin, daß die Beziehung sich umgekehrt hat: In den Hexenprozessen bezeichnet der Fall (der Sturz in den Fundamentalismus) den Ausgangspunkt und das Brennen (die Scheiterhaufen) die Folge, RAF-Prozesse spielen mit dem Feuer und eröffnen in ihm den Abgrund, in den sie selber dann hineinstürzen. Das Feuer, in dem das Gericht glaubt, die Angeklagten verbrennen zu können, bevor es sie verurteilt, wird es selbst ergreifen, wenn die Urteile zu Fehlurteilen werden.
    Die erste und die zentrale Manifestation des Feuers, in dem „die Welt untergehen“ wird, war der Antisemitismus. Auch die Juden sind in Deutschland unter der Herrschaft der Judengesetze schon verbrannt worden, bevor man sie dem Abgrund überantwortet hat, dessen Verkörperung Deutschland war.
    Der Urknall steht am Anfang, das schwarze Loch am Ende: Die Realsymbolik dieser Begriffe wird erkennbar, wenn man sie auf die Selbstzerstörung der Moral durchs Urteil bezieht (der verdorrte Feigenbaum).
    Ist nicht der Antisemitismus „genial“ in dem Sinne, in dem Kant diesen Begriff definiert, nämlich als das Handeln der Natur im Subjekt? Wer das begreift, weiß, worauf Adornos Konzept des „Eingedenkens der Natur im Subjekt“ abzielte: durchs Eingedenken den Naturzwang zu brechen. Adorno meinte nicht das Mitleid mit den Tieren, das Habermas im Sinn zu haben schien, als er das Wort Adornos abänderte ins „Eingedenken der gequälten Natur im Subjekt“.
    Hat die kantische Unterscheidung von bestimmendem und reflektierendem Urteil nicht etwas mit der von Wasser und Feuer (oder auch mit der Beziehung des Was zum Wer) im Namen des Himmels zu tun? Und verweist nicht das bestimmende Urteil, auf das die transzendentale Logik sich bezieht, auf die Sintflut, die die Welt überschwemmt hat, das reflektierende Urteil, die Manifestation der Urteilskraft, hingegen auf das reinigende und verwandelnde Feuer, in dem die Welt am Ende vergehen wird?
    Wer den Versuch einer physiognomischen Beschreibung der Vertreter der Anklage und der Mitglieder des Senats unternehmen wollte, hätte mit Sicherheit einige Beleidigungsprozesse zu erwarten.
    Das Zeichen des Jona: Kann es sein, daß die Flucht des Jona nach Tarschisch in der Angst vor den Folgen seines prophetischen Auftrags begründet ist, und ist nicht die ganze Geschichte des Christentums die Geschichte dieser Flucht?
    Grundwerte und Prinzipien: Rückt nicht der Verfassungspatriotismus die Verfassung selber in die Logik des Feindbilddenkens (in die Bekenntnislogik, deren Symbol der Feigenbaum ist, der nur noch Blätter, keine Früchte mehr hervorbringt und am Ende verdorrt)?

  • 31.10.1996

    Doppelbedeutung von „fit“: Hängt nicht der Kinderspruch „fit, fit, fit“, mit dem sie lernen, mit der Häme umzugehen, mit dem „Fitness-Training“ zusammen?
    Drei Funktionen der Banken, die auch (in variabler Zusammensetzung) unterschiedlichen Formen der Banken zugrundeliegen: Zentralbanken, Depositenbanken, Kreditbanken (haben sie nicht etwas mit der Beziehung von Akkusativ, Genitiv und Dativ zu tun, und mit der Zerstörung des Nomens, seiner Umwandlung zum Substantiv?).
    Betonblock: Die Finanzierungsformen der Wirtschaft, die generell über Kredite laufen (auch Aktien sind Kredite, ebenso wie die Liquiditätskredite der Banken), erzwingen das Rentabilitätsprinzip, das vom subjektiven „Gewinnstreben“ ebenso abgekoppelt ist wie (durch die Schlachthäuser) der Fleischverzehr vom Selberschlachten oder (durch die Justiz) die Strafe von der individuellen Rache. Als Rentabilitätszwang ist das Gewinnstreben zu einer Sache der Verwaltung und damit zu etwas Objektivem geworden. Der Gewinn ist nicht mehr der Gewinn dessen, der ihn „erwirtschaftet“, sondern als Zins oder Rendite (denen ihr Ursprung nicht mehr anzusehen ist) der des Kreditgebers, der „sein Geld arbeiten läßt“. Das verwandelt die Ökonomie in ein Stück Natur, die die ganze lohnabhängige Arbeit unter sich begreift, die so der Reflexion ebenso entzogen zu sein scheint wie das Objekt der Naturwissenschaften. Aber werden durch diesen Prozeß die Kritik der politischen Ökonomie und die Kritik der Naturwissenschaften nicht vom Gang der Dinge selbst in eine Beziehung gerückt, in der sie entweder beide ausgeblendet werden oder nur noch gemeinsam möglich sind?
    Die identitäts- und gemeinschaftsstiftende Kraft der Feindbildlogik ist eine gesellschaftliche und eine logische Kraft zugleich: sie begründet auch die Subsumtionsbeziehung des Begriffs zum Objekt, in der die Feindbildlogik als Herrschaftslogik (als Instrument der Naturbeherrschung) sich materialisiert. In dem Augenblick, in dem die Urteilsfindung in einem Prozeß auf die Subsumtionslogik regrediert und die Reflexion (das Sich-Hineinversetzen in den Angeklagten) aus dem Recht ausgetrieben wird, wird der Angeklagte zum Feind und werden die Knäste zu einer sinnlichen Verkörperung des Objektbegriffs und der Subsumtionslogik.
    Max Horkheimers Satz, daß, wer vom Faschismus redet, vom Kapitalismus nicht schweigen darf, bewahrheitet sich heute auch noch darin, daß die Verdrängung der Vergangenheit in der Tat zur Grundlage des ökonomischen Handelns geworden ist.
    Es gibt keine Feindbildlogik, die sich nicht durch Berufung auf den Feind legitimiert, dadurch aber einer tendentiell paranoiden Zwangsreflexion sich unterwirft, die die freie Reflexion verhindert, indem sie ihren Gegenstand mit Hilfe eines Tabus, dessen Instrument die Empörung ist, unsichtbar macht (wie die Fixierung auf das unmoralische „Gewinnstreben“ die gesamtgesellschaftlichen Wirkungen des Rentabilitätsprinzips unsichtbar macht).
    Waren nicht Kopernikus, die Entdeckung der später kolonialisierten Welten und die Anfänge des Kapitalismus Vorankündigungen einer Explosion der Eigentumslogik, die noch bevorsteht?
    In der kantischen Transzendentalphilosophie haben die subjektiven Formen der Anschauung die Funktion, der transzendentalen Logik das apriorische Objekt bereitszustellen, das dann die Konstruktion synthetischer Urteile apriori nicht nur möglich macht, sondern erzwingt. In der Konsequenz dieser Konstruktion lieferte die transzendentale Logik nicht nur den Nachweis, daß, sondern auch die Begründung, weshalb Naturwissenschaft als Wissenschaft möglich ist, vor allem aber eine Kritik ihres Erkenntnisanspruchs. Diese Kritik ist entweder nicht zur Kenntnis genommen worden, oder aber sie war Anlaß für den wütenden Aufschrei aller Orthodoxien, von der Theologie bis zum Diamat, über den angeblichen Agnostizismus Kants. Beide, das Wegsehen wie auch die Empörung, hatten ein herrschaftslogisch determiniertes Interesse daran, die Unterscheidung der (erkennbaren) Erscheinungen von den (nicht erkennbaren) „Dingen, wie sie an sich selber sind“, die die Notwendigkeit der Reflexion begründete, nicht anzuerkennen, sie zu leugnen und mit einem Tabu zu belegen. Dieses herrschaftslogische Interesse gründet in der Beziehung der Identifizierung von Erscheinung und An sich zur identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Kraft der Feindbildlogik.
    Gründet nicht der Zwang, der in der Habermas’schen affirmativen Kommunikationstheorie und in seinem Konstrukt des „Verfassungspatriotismus“ sich manifestiert, in der Zurückweisung einer Wissenschafts- und Erkenntniskritik, die auch vor dem Naturbegriff nicht haltmacht?
    Der Knast war seit je ein Repräsentant des feindlichen Auslandes im Inland (Joseph im Gefängnis des Pharao). War er nicht in seinem Ursprung eine Privatsache, wie die Blutrache, eine Zwischenstufe zur Institution des Sklaverei, die dann vergesellschaftet worden ist in der Gestalt der Lohnarbeit, des Proletariats?
    Ist nicht der Staatsschutz eine Potenzierung des Schutzes des Privateigentums, dem nicht nur das Strafrecht, sondern eigentlich das Recht insgesamt in letzter Instanz dient?
    Ist nicht der Knast ein Zwangskloster, in dem das Armuts-, Keuschheits- und Gehorsams-Gelübde von außen auferlegt werden, und die Isolationshaft die Zwangsform des Eremitentums? Verhält sich nicht der Knast zum Mönchstum wie die Bekehrung zur Umkehr oder die Natur zur Schöpfung? Die neutralisierte Raumvorstellung ist ein Symbol der Mauern, die die Menschen im Knast von den 99 Gerechten draußen trennen.
    Zu Max Webers Kapitalismustheorie: Waren die Heroen des Kapitalismus nicht die Mönche der Mammonsreligion? Und hängt die Begriffsverschiebung, die aus der Umkehr die Buße gemacht, nicht mit dieser Geschichte zusammen?
    Unter dem Begriff des Lebens beten wir heute die Kreisläufe an, in die alles Lebendige eingebunden ist, ohne daraus sich befreien zu können. Der theologische Begriff des Lebens ist kein Naturbegriff, sondern gründet in der Idee der Auferstehung.
    Die Leibnizsche Monade ist das Symbol eines immer noch ungelösten Problems. Daß Leibniz der Ungelöstheit dieses Problems sich bewußt war, beweist seine Wahrnehmung, daß kein Blatt eines Baumes einem anderen Blatt gleicht.
    Hegels Wort, daß die Natur den Begriff nicht halten könne, ist umzukehren: Dort, wo Natur nicht nur Natur ist, sprengt sie den Begriff (es ist die Gewalt des Begriffs, die dem Befreienden die Maske des Chaotischen aufdrückt).
    Wie hält eigentlich der Vers: „Mach unser Herz von Sünden rein, damit wir würdig treten ein zum Opfer deines Sohnes“ die Erinnerung an die Greuel der Konquistadoren, der Entdeckungs- und Kolonialisierungsgeschichte insgesamt, stand?
    Käme es angesichts des Satzes aus dem Jakobusbrief von der Bekehrung des Sünders nicht darauf an, diesen Namen des Sünders aus der Gewalt des definitorischen Blicks der 99 Gerechten (aus der Gewalt der Männerphantasien) endlich zu befreien? Es sind diese Gerechten, die aus der Tatsache, daß Maria Magdalena im katholischen Heiligenkalender als „Büßerin“ geführt wird, immer nur den Schluß gezogen haben, sie müsse es aber schlimm getrieben haben. Auch das folgenlose „wir sind allzumal Sünder“ hilft darüber nicht hinweg.
    Die Feindbildlogik hängt mit der Logik der Reklame zusammen, die der Menschheit einbläut, daß man, wenn man nicht betrogen sein will, Sprache nicht mehr wörtlich nehmen darf, sondern nur noch instrumentell, indem man sie darauf hin abhört, was andere mit ihr im Schilde führen. Der Verdacht, daß einer nicht meint, was er sagt, sondern eben das meint, was er nicht sagt (daß er „durch die Blume redet“), ist eine der Quellen der Paranoia, er begründet und verstärkt das Gefühl der Bedrohung, das erst ein Feindbild rational zu machen scheint.
    Das „Liebhaben“ verwandelt das geliebte Objekt in Eigentum. Wer Feinde, anstatt sie im jesuanischen Sinne zu „lieben“, nur liebhaben möchte, will sie in Wirklichkeit einsperren.
    Rechtsstaat: Wer nicht in der Lage ist, sich in einen andern hineinzuversetzen, wer dessen Selbstverständis rigoros ausblendet, verbietet damit die Empathie und sperrt alle in die Isolationshaft ihres Egoismus und ihrer paranoiden Phantasien ein. Für sie teilt die Welt sich auf in die, die haben und zu denen man gehört, und die, die nicht haben, die man nicht mehr sieht, die ausgegrenzt werden.
    Man kann nicht Haben gegen Sein ausspielen: in dieser Welt ist nur der etwas, der was hat.

  • 27.10.1996

    Die Grenzen der Asymmetrie sind die Grenzen der Barmherzigkeit: Für die Barmherzigkeit bin ich niemals Objekt, ist der Andere (für mich) niemals Subjekt. Barmherzigkeit schließt Selbstmitleid prinzipiell aus.
    Die Welt lernt nur verstehen, wer in andere sich hineinversetzen kann: Barmherzigkeit als erkenntnisleitendes Prinzip. Unterscheidet sich das Christentum nicht dadurch von der Prophetie, daß es – außer den Armen und den Fremden – auch die Herrschenden in die Intention der Barmherzigkeit mit einschließt, allerdings im Sinne des Jakobus-Worts: des Triumphs der Barmherzigkeit über das Gericht?
    In der Schrift ist der Name des Geistes der Name der Barmherzigkeit als erkenntnisleitendes Prinzip. Zu diesem Namen gehören die drei Sätze: von der Ersetzung des steinernen durch ein fleischernes Herz, von einer Zeit, in der keiner den andern mehr belehren wird, weil alle Gott erkennen, und vom Geist, der die Erde erfüllen wird, wie die Wasser den Meeresboden bedecken.
    Die Idee der Barmherzigkeit gründet in der Idee des Ewigen und trennt sie vom Überzeitlichen. Gegen die Verwechslung des Ewigen mit dem Überzeitlichen richtet sich Levinas‘ Begriff der Asymmetrie, auch der Satz vom Rind und vom Esel.
    Zur Herauslösung von Joh 129 aus der Opferthologie und zu seiner Einbeziehung ins Nachfolgegebot gibt es keine Alternative mehr.
    Hat nicht auch die Jesaias-Stelle über den Leviatan und die Schlange etwas mit dem Neutrum zu tun? – Ist das Neutrum der Turm, der bis an den Himmel reicht, die sprachlogische Gewalt, die den Namen des Himmels (schamajim) sprengt und die Sprachen verwirrt? Gibt es nicht eine sehr merkwürdige Beziehung des deutschen Namens des Himmels zu dem des Hammers (Nietzsche hat „mit dem Hammer philosophiert“). In welcher Beziehung steht die Geschichte vom Turmbau zu Babel zur Sintflut, und hat der Bogen in den Wolken (an der Stelle, an der einmal der Menschensohn erscheinen wird) etwas mit dem Feuer im hebräischen Namen des Himmels zu tun?
    Hängt der erkenntnistheoretische Begriff des Gegebenen mit dem Dativ zusammen, verweist nicht der Ursprung beider auf die Geschichte des Staates (ist die Verwechslung von Genitiv und Dativ in der Sprachlogik der Medien nicht ein Indiz für zunehmende Privatisierung staatlicher Aufgaben, für die fortschreitende verwüstende Gewalt der Marktkräfte)? Haben Genitiv und Dativ etwas mit der Unterscheidung von Land und Meer im Sinne des § 257 der Hegelschen Grundlinien der Philosophie des Rechts zu tun?
    Was sind das für Sträucher, unter denen Adam sich versteckte, unter den Hagar sich legte, auch Elias legte sich unter einen Strauch sowie Jona; haben die etwas dem Gleichnis vom Senfkorn zu tun (sowie mit der Jotam-Fabel und dem Baum im Buch Daniel)?
    Nach dem Register zur Hegel-Ausgabe von Suhrkamp kommt der Begriff der Anklage in der Hegelschen Philosophie nicht vor. – Vgl. aber die Anmerkung zu § 225 der Rechtsphilosophie, in der Hegel auf die „Charakterisierung einer Handlung nach ihrer bestimmten verbrecherischen Qualität (ob z.B. ein Mord oder Tötung) … im englischen Rechtsverfahren“ verweist, in dem sie „der Einsicht und Willkür des Anklägers überlassen“ sei, während er sonst etwas unserer Strafprozeßordnung Vergleichbares nicht zu kennen und insbesondere die Konstellation Ankläger, Angeklagter, Verteidiger und Richter, nicht für erwähnenswert zu halten scheint (wie zu vermuten ist, aus Gründen, die mit der Konstellation, die seinem Begriff der Dialektik zugrundeliegt, zusammenhängen: nicht nur, daß diese Konstellation mit der prozessualen nicht kompatibel ist, ein Vergleich würde das Moment der Gewalt in Hegels Konstrukt kenntlich machen).
    Ist nicht der Titel Staatsanwalt das Produkt eines logischen Kurzschlusses, ein Stück verhängnisvoll automatisierter Staats- und Rechtslogik (ein systemwidriger Hegelianismus im logisch aus anderen Gründen determinierten Strafrecht)? Der Titel Staatsanwalt instrumentalisiert (und neutralisiert) beide: den öffentlichen Ankläger und den Staat.
    Zu Off 13: „Wie für das Prinzip des Familienlebens die Erde, fester Grund und Boden, Bedingung ist, so ist für die Industrie das nach außen sie belebende Element, das Meer.“ (Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 247; Hervorhebungen geändert, H.H.) Vgl. hierzu Carl Schmitt: Land und Meer, Stuttgart 19933, in der er in einer Nachbemerkung von 1981 auf diese Hegel-Stelle hinweist.
    Das Lamm, das stumm zur Schlachtbank geführt wird: Liegt die Auf-sich-Nahme der Sünde der Welt nicht darin, daß er der Schmach und der Schande, die die Welt aus ihren eigenen Voraussetzungen erzeugt und deren Objekt er wurde, sich nicht widersetzt, sie widerstandslos auf sich nimmt und eben damit reflexionsfähig macht, ihrer endgültigen Instrumentalisierung die Grundlage entzog? So begründete er den Akt der Befreiung.
    Wer das Opfer instrumentalisiert, landet bei der Heldenverehrung, im Bann des Mythos. So gehört die deutsche Einrichtung der „Kriegsgräberfürsorge“ zur Logik einer Staatsmetaphysik, die immer noch versucht, dem Krieg einen höheren Sinn zu verleihen, indem sie unterstellt, daß diese Opfer nicht umsonst waren, und so die Toten nochmal schändet und verhöhnt.
    Seit wann gibt es Krieger- und Heldendenkmäler? Stammt diese Tradition nicht aus der Geschichte der „Befreiungskriege“, die nur so hießen und keine waren: Befreit wurde nur der Nationalismus als Ideologie, in deren Folge dann der christliche Antijudaismus endgültig zum Rassen-Antisemitismus geworden ist, seine eliminatorische Qualität gewonnen hat.
    Heute gibt es für die Philosophie nur noch die eine Möglichkeit: die der Selbstreflexion, des Übergangs in Prophetie.
    Der Staat wird zum Insektenstaat in dem Augenblick, in dem er glaubt, seine Aufgabe darin zu erkennen, zum Ungeziefer-Vernichtungs-Staat werden zu müssen. Oder: Es gibt kein besseres Mittel, den Staat zum Insektenstaat und Gemeinschaften zu Heuschreckenschwärmen zu machen, als wenn man ihnen die Aufgabe der Ungeziefer-Bekämpfung gibt. Das Böse konstituiert sich in der Pflicht, das Böse zu vernichten.
    Definiert nicht der Satz aus dem Jakobusbrief, daß, wer einen Sünder vom Weg des Irrtums bekehrt, seine eigene Seele rettet, die Idee der Unsterblichkeit der Seele neu (und erstmals in einem vernünftig nachvollziehbaren Sinn)?
    Wie hängt das Ahnden mit dem Ahnen zusammen? Nach dem Eingangssatz von Schellings Weltalter wird die Zukunft „geahndet“ (nicht geahnt). Hängt das Ahnden sprachlich mit Begriffen wie Gemeinde, Behörde zusammen (durch das gleiche abschließende, perfektische -de), damit aber in der Sache mit dem Logik und Bedeutung des Naturbegriffs (als es Inbegriffs aller Objekte von Urteile)? Ist die Konstituierung des Objekts (und damit des Naturbegriffs) nicht in der Tat Produkt einer Konstruktion, in der „die Zukunft geahndet“ wird, und das in einem dem strafrechtlichen Gebrauch des Wortes Ahnden durchaus angemessenen Sinne? Ist nicht der Objektbegriff, und mit ihm der Naturbegriff, der ihn absichert, Produkt einer Konstruktion, in der die Zukunft unter die Vergangenheit subsumiert, zur Vergangenheit verurteilt wird? Im Objekt- und damit im Naturbegriff wird in der Tat „die Zukunft geahndet“. Die Logik des Objektbegriffs ist die Logik des Anklägers (des „Staatsanwalts“). – Wie hängen die RAF-Prozesse mit Schelling zusammen?
    Der „blinde Fleck der Logik“ gründet in ihrem apriorischen Objektbezug, und es gibt keinen Begriff, der diesen blinden Fleck genauer bezeichnet als der der Natur.
    Haben nicht der Ursprung und die Logik der historischen Bibel-Kritik etwas mit der Ursprungsgeschichte des modernen Nationalismus zu tun, zu deren Vorgeschichte auch Spinozas „Pantheismus“ gehört? Jeder Nationalismus ist ein Pantheismus, und der spinozasche dessen allgemeine logische Form.
    Als die Amsterdamer Synagoge den Bann über Spinoza verhängte, hatte sie zwar formal Recht, zugleich aber hatte sie die wirkliche Intention des Denkens Spinozas gröblich verkannt, die nicht mehr durch einen Bann zu verurteilen, sondern allein durch Reflexion aufzulösen gewesen wäre. Gibt es nicht eine sehr merkwürdige Korrespondenz zwischen dieser Spinoza-Geschichte und der Geschichte Sabbatai Zwis?
    Ist nicht Lessings Ring-Fabel insofern unvollständig, als es sich nicht um drei getrennte Ringe handelt, sondern um die ineinander kreisenden Räder der ezechielischen Vision?
    Die Beziehung der Elektrodynamik zum Licht hat etwas mit der Beziehung des Dogmas zum Zentrum der christlichen Tradition, das erst im Kontext einer Theologie im Angesicht Gottes sich enthüllt, zu tun.
    Bezeichnet nicht der Name der Barbaren den Rohstoff, aus dem die ersten Waren genommen worden sind: Sind nicht die Barbaren potentielle Sklaven, der menschliche Rohstoff der ersten Handelsware? Und gehört nicht der Name der Name der Barbaren zur Ursprungsgeschichte des heutigen Weltzustandes, in dem die „dritte Welt“ immer noch in erster Linie Rohstofflieferant ist?
    Sind nicht die subjektiven Formen der Anschauung ein Instrument, das mit der Ursprungsgeschichte der Warenform und mit der des Dingbegriffs zusammenhängt, in dieser Ursprungsgeschichte mit seiner eigenen, die es doch zugleich verdrängt, konfrontiert wird? Sie sind damit ein Instrument der Verdrängung der eigenen Ursprungsgeschichte. So aber sind die Naturwissenschaften zu automatisierten Instrumenten der Selbstlegitimation des Bestehenden und der kollektiven Selbstverblendung zugleich geworden.
    Der Faschismus unterscheidet sich vom Nationalsozialismus insbesondere dadurch, daß der Antisemitismus in ihm nie die Funktion und Bedeutung gehabt hat, die er im Nationalsozialismus hatte. Kann es sein, daß die Verwechslung beider Begriffe auf Seiten der Linken etwas damit zu tun hatte, daß der Marxismus als Herrschaftsinstrument (als Ideologie, wie er dann selbst sich nannte) den Gebrauch des Antisemitismus nicht mehr grundsätzlich auszuschließen vermochte? Wer den Nationalsozialismus als Faschismus bekämpft, blendet damit genau den Grund aus, aus dem er antisemitisch war: das Feindbilddenken als identitäts- und gemeinschaftsstiftende Kraft. Die Unterscheidung von Nationalsozialismus und Faschismus rechtfertigt nicht den Faschismus, aber sie vermeidet die Verharmlosung des Nationalsozialismus, die in der Gleichsetzung beider liegt.
    Ist nicht diese Verwechslung des Nationalsozialismus mit dem Faschismus ein Indiz dafür, daß die 68er Linke von der Gefahr eines undialektischen Materialismus, des Konkretismus, des Feindbilddenkens, der Unfähigkeit zu Reflexion (der Verdrängung des Problems des „falschen Bewußtseins“), nie sich hat freimachen können? Genau dieses Apriori, diese Vorentscheidung, die sie nicht mehr zu reflektieren vermochte, hat diese Linke dazu verleitet, im Recht nur ein Machtinstrument (und in der Macht ein neutrales Instrument) zu sehen, mit der Folge, daß sie das Gemeinsame der nationalsozialistischen Konzentrationsläger mit dem Archipel Gulag oder des Volksgerichtshofs mit den stalinistischen Prozessen nicht mehr wahrzunehmen vermochte; sie hat sie unfähig gemacht zur Rechtskritik (zur Kritik des Staates von innen).
    Es sollte heute nicht mehr zulässig sein, die gemeinschaftsstiftende Kraft einer Idee mit ihrer befreienden Kraft zu verwechseln. Identitäts- und gemeinschaftsstiftende Kraft gewinnt eine Idee nur, wenn sie die Wahrheit verrät, sie gegen ein stabiles Feindbild eintauscht und auf die Kraft der Reflexion verzichtet. Zentrum der Reflexion ist die des Objektbegriffs, von dem es in der Dialektik der Aufklärung heißt, daß die Distanz zum Objekt vermittelt sei durch die Distanz, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt. Der Objektbegriff ist von den Herrschaftsstrukturen in der Gesellschaft nicht zu trennen. Herrschaftskritik, die diese Reflexion nicht leistet, sie ausspart, reproduziert die gleichen Herrschaftsstrukturen, die sie zu kritisieren glaubt, wird selber zum Instrument von Herrschaft.
    Der Objektbegriff ist ein Denkmal und ein Repräsentant der Überwindung und Versklavung des Feindes und zugleich des Ursprungs der Geschichte der Zivilisation. Diese Wunde im Kern der Zivilisation gilt es reflexionsfähig zu halten, anstatt sie über Feindbilder immer wieder zu verdrängen.
    Das Ganze reicht zurück in die subjektiven Formen der Anschauung, deren Funktion und Bedeutung anhand der unterschiedlichen Folgen des Anschauens für den Anschauenden und den Angeschauten sich demonstrieren läßt. Zu diesen Folgen gehört es, daß sie, indem sie das Angeschaute zum Objekt machen, seine Wahrnehmung, die sie doch begründen sollen, gerade verhindern, sich als Wahrnehmungsverhinderungsapparat etablieren. Sie liefern die Farbe und den Pinsel, mit denen die Fenster in dem Zug, der in den Abgrund rast, bemalt werden.
    In der RAF bestrafen die Staatsschutzsenate ihr eigenes Prinzip.
    In einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der RAF wird man nicht davon abstrahieren können, daß die RAF der Reaktion den Vorwand geliefert hat, mit dessen Hilfe sie sich rekonstruieren und reetablieren konnte.

  • 26.10.1996

    Eine Überschrift in der FR von heute: „Grams-Eltern wenden sich an EU-Kommission“. Erst im Text heißt es dann korrekt, daß die Eltern von Wolfgang Grams (die keine „Grams-Eltern“ sind) vor der Europäischen Menschenrechtskommission in Straßburg (die keine „EU-Kommission“ ist) Beschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland erhoben haben. Inzwischen scheinen nicht mehr nur in der BILD-Zeitung Überschriften auch dem Zweck zu dienen, den Text der Meldung, auf den sie hinweisen, zugleich zu vernebeln. Läßt sich nicht am vorauseilenden Gehorsam solcher „Versprecher“ der Zustand der Öffentlichkeit und die Existenz eines durch die Naturkräfte der Bewußtseinindustrie erzeugten und gesteuerten öffentlichen Unbewußten erkennen? Die Nazis hatten den Spruch: „Keiner soll hungern und frieren“, den der Volksmund dann so ergänzte: „Wer’s doch tut, kommt ins KZ“. Ist nicht mit der Verdrängung der Erinnerung an die Nazi-Verbrechen auch die Wahrnehmungsfähigkeit verdrängt worden, die in dieser aufhellenden Ergänzung sich ausdrückte? Das Feindbild ist ein Naturheilmittel, weil es eine Naturkraft ist; es gehört zu den Konstituentien des Naturbegriffs selber, zu dessen sprachlichen Korrelaten der Name der Barbaren und das Neutrum gehören, und deren Logik in der Geschichte des Objektbegriffs und in der Konstituierung und Entfaltung der subjektiven Formen der Anschauung sich vollendet. Zielte nicht hierauf Adornos programmatisches Wort vom „Eingedenken der Natur im Subjekt“? Als das Christentum den Namen des Logos mit dessen griechischer Tradition in eins setzte, hat es sich in seinem Verhältnis zum Kreuzestod auf die Seite der Täter gestellt. Das war der Beginn der zweiten Kreuzigung, der Instrumentalisierung des Kreuzestodes durch die Opferthologie. Läßt das Christentum insgesamt als ein Akt des Tikkun sich begreifen, der Rettung durch Identifizierung mit dem Feind, einer Rettung, die durch den Verrat, den Abfall, hindurchmuß? War nicht die Bubersche „Begegnung“ eine Ersatzhandlung für das, was den Christen eigentlich notgetan hätte: die Reflexion der Naturkräfte, von denen das Christentum sich bis heute nicht hat befreien können? Das Dogma ist die Wahrheit, aber im Stande einer durch die Dogmatisierung (die Bekenntnislogik) verdrängten und ausgegrenzten Reflexion. Durch die Vorstellung einer „Teilhabe am innertrinitarischen Prozeß“, die die Theologie insgesamt verhext, ist der imperative Gehalt der Theologie, der allein eine Theologie im Angesicht Gottes zu begründen vermöchte, ästhetisiert und neutralisiert worden. So wurde aus der Nachfolge die imitatio, aus der Übernahme der Sünde der Welt deren Hinwegnahme, aus der Gottesfurcht die erbaulichen Formen der Frömmigkeit. Diese Vorstellung hat die theologischen Erkenntniskräfte wie die Spinne die in ihren Netzen gefangene Beute gelähmt. Metz‘ Wort, daß man nach Auschwitz nicht mehr so Theologie treiben könne, als habe es Auschwitz nicht gegeben, ist, wie mir scheint, nur durch Reflexion der Verwurzelung der Theologie in der Philosophie, nicht durch Abstraktion von dieser Beziehung, einzulösen. Die Reflexionen Rosenzweigs über das Verhältnis von Theologie und Philosophie im Stern der Erlösung, sind hier hilfreich. Das göttliche Attribut der Barmherzigkeit, das im Imperativ, nicht im Indikativ steht, rührt an das sprachlogische Problem des grammatischen Geschlechts. Die Erinnerung daran ist im hebräischen Namen der Barmherzigkeit, der der Name der Gebärmutter ist, aufbewahrt. Das erinnert zugleich an den sprachlogischen Zusammenhang der Beziehung von Indikativ und Imperativ mit dem des grammatischen Geschlechts: an den genetischen Zusammenhang des Indikativs mit dem Ursprung des Neutrum. Es ist das gleiche Sprachproblem, das auch der Idee einer Theologie im Angesicht Gottes zugrundeliegt, an die Forderung, die dem Begriff der Lehre innewohnt: den imperativen Gehalt der göttlichen Attribute in den Indikativ zu übersetzen (und nicht, wie es das Dogma tut, durch den Indikativ zu neutralisieren, oder ins Ästhetische zu übersetzen). Allein die Schuldreflexion vermag den Bann zu brechen unter dem die Theologie seit der Rezeption der philosophischen Idee der Unsterblichkeit der Seele steht. Verweist nicht die Geschichte vom Sündenfall, wenn man in ihr die Schlange als Symbol des Neutrum, und ihre Geschichte mit Adam und Eva als ein Bild der Neubestimmung des grammatischen Geschlechts, des Männlichen und des Weiblichen, durch das Neutrum, begreift, auf das Problem des grammatischen Geschlechts? Läßt sich dieses Problem des grammatischen Geschlechts nicht an der Sprache Kants demonstrieren, wenn er den Erkenntnisbegriff sowohl in femininer als auch in neutrischer Bedeutung verwendet (die Erkenntnis, das Erkenntnis)? Das, so scheint mir, rührt an eines der tiefsten Probleme der kantischen Philosophie; die Sprachlogik, die darin sich ausdrückt, scheint aus logischen Struktur der Probleme sich herleiten zu lassen, die den Zwang der philosophischen Revolution, deren Ausdruck Kants Werk ist, begründen. Es rührt an eine Schicht in der kantischen Philosophie, die von seinen Nachfolgern dann konsequent verdrängt worden ist: an den Ursprung der drei Totalitätsbegriffe (Wissen, Natur und Welt; zu Natur und Welt vgl. den großartigen Definitionsversuch Kants in der Kritik der reinen Vernunft, im ersten Abschnitt der Antinomie der reinen Venunft). Nicht zufällig standen Fichte, Schelling und Hegel unter dem Systemzwang, diese Begriffe – nach Verdrängung der Reflexion ihres logischen Ursprungs – nacheinander abzuarbeiten.
    Wie wäre die Frage, welcher Teil eines Menschen zum Regieren der wichtigste ist, eigentlich zu beantworten angesichts einer Regierung, die Entscheidungen, die allein von den Interessen ihrer Klientel bestimmt sind, während die Argumente, die sie öffentlich begründen sollen, schmückende Rhetorik und von Waschmittel-Reklame nicht mehr zu unterscheiden sind, nur noch „durchsetzt“ und Probleme, die dieses Verfahren zwangsläufig produziert, nur noch „aussitzt“? Ist nicht die Folge ein Begriff von Öffentlichkeit, der Erfahrungen, Kritik und Reflexionsfähigkeit, das eigentliche Element demokratisch-bürgerlicher Beteiligung, auf ähnliche Weise ausschließt wie RAF-Prozesse, die u.a. die Aufgabe zu haben scheinen, dieser Logik den Charakter einer rechtlichen Norm zu verleihen, das Selbstverständnis der Angeklagten?
    Adorno hat einmal die Situation eines Gesprächs in einem Eisenbahnabteil beschrieben, in der man, um einen Streit zu vermeiden, sich gezwungen sieht, den Anschauungen eines Mitreisenden nicht zu widersprechen, die imgrunde auf einen Mord hinauslaufen. Gehört diese Situation nicht zum Bild des Zuges, der in den Abgrund rast? Und beschreibt sie inzwischen nicht etwas vom Zustand der Öffentlichkeit insgesamt? Die Bundesanwaltschaft als Verkörperung des Inertialsystems (als eines Konstrukts aus Verachtung, Hohn und Zynismus), und das von ihr verkörperte Anklage- und Beweisverfahren als Verfahren der reinen Objektkonstruktion (mit der Idee des Objekts als eines Konstrukts, zu dem es keine kommunikative Beziehung mehr gibt, das nur noch Objekt eines apriorischen Urteils ist: sind nicht die Haftbedingungen der RAF-Gefangenen der Versuch, dieser Konstruktion die Gewalt einer objektiven, sinnlich erfahrbaren Realität zu verleihen)? Die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos beschreibt einen objektiven, nicht nur einen moralischen Sachverhalt. Aber gilt das nicht für die Prophetie insgesamt? Ägyptische Finsternis (ist „Finsternis Mizrajims“ nicht deutlicher?): die Entfaltung des blinden Flecks der Logik zur Totalität.

  • 24.10.1996

    Auch wer Probleme hat, wenn er das politische Selbstverständnis der RAF mit ihren Taten in Zusammenhang bringen will, wird gleichwohl darauf bestehen müssen, daß dieses politische Selbstverständnis auch in der juristischen Aufarbeitung der Taten mit reflektiert wird.
    Wenn Einstein auch die Fallbewegung als Trägheitsbewegung (für die das Relativitätsprinzip gilt, begreift und davon ausgeht, daß im Innern eines frei fallenden (außer Kontrolle geratenen) Fahrstuhls nicht erkennbar ist, ob der Fahrstuhl ruht oder in freiem Fall sich bewegt, abstrahiert er dann nicht von dem Gefühl der Schwere, das in einem (in einem Schwerefeld) „ruhenden“ Fahrstuhl gleichwohl die Schwere fühlbar ist: Es bedarf des „freien Falls“, um dieses Gefühl gegenstandslos zu machen. Verweist dieser Tatbestand nicht auf den Unschuldstrieb, der, wenn er seine Erfüllung sucht, eigentlich den Zustand des „freien Falls“ sucht, den Moment der Katastrophe, die er zu verdrängen sucht? (Ist nicht die Bewegung der Ökonomie, wenn sie nach dem Konzept des Neoliberalismus rein dem eigenen Bewegungsgesetz folgt, eine Bewegung des freien Falls?)
    Wie hängt das Allgemeine Relativitätsprinzip, die Unterscheidung des Leichten und des Schweren, mit dem Satz von Rind und Esel (Joch und Last – auch Wasser und Feuer?) zusammen? Ist nicht das Leichte das Korrelat des Jochs, das man andern auferlegt? Hat der Hinweis auf das Feuer im 1. Petrusbrief etwas mit der Logik des Leichten (mit dem noch Aristoteles das Feuer zusammenbringt) zu tun, ist das Feuer, dem am Ende der Drache, der Satan und der Tod überantwortet werden, die Innenseite des Leichten, eine Folge des Unvermögens, in andere sich hineinzuversetzen, der leere Kern des Herrendenkens?
    Enthält nicht die Allgemeine Relativitätstheorie eine Staatstheorie, verweist sie nicht auf die Sphäre des Politischen, während die Spezielle Relativitätstheorie auf die der Ökonomie, auf die Logik des Tauschs, verweist? Wittgensteins Satz, daß die Welt alles ist, was der Fall ist, rückt die Welt in eine konstitutive Beziehung zum Staat.
    Läßt die Beziehung von Spezieller und Allgemeiner Relativitätstheorie, als die Beziehung von Tauschprinzip und Macht, an der Beziehung von Merkur und Sonne (oder an der von Merkur und Jupiter) sich demonstrieren?
    Wer einer Sache die Grundlage entzieht, überantwortet sie dem freien Fall.
    Haben die Versuche, die Theologie von der Lehre von der Erbsünde zu befreien, nicht doch sehr viel mit den Verhältnissen im Innern von Einsteins Fahrstuhl, der außer Kontrolle geraten ist, zu tun?
    Ist das Konstrukt des Falles nicht in der Geschichte vom Sündenfall aufs genaueste beschrieben?
    Der letzte Satz in der Entgegnung auf Horst-Eberhard Richter, erinnert an eine Bemerkung, die Georg Lukacs zuerst auf Schopenhauer, später dann auf Adorno bezogen hat, das Wort vom „Grand Hotel Abgrund“ (vgl. Lukacs: Theorie des Romans, Neuauflage 1962, S. 17). Ich meine, die Konstellation, die Lukacs damals bezeichnen wollte, wird genauer getroffen, wenn man das Bild vom ortsfesten Hotel und dem Abgrund daneben dynamisiert und durch das eines Luxuszugs, der auf den Abgrund zurast, ersetzt.
    Die Feindbildlogik ist die Folge eines kollektiven Unschuldstriebs, aus dessen Konstruktion die Elemente dieser Logik sich herleiten lassen:
    – Unfähigkeit, Schuldgefühle durch Reflexion aufzulösen, Abwehrmechanismus,
    – Empörung (automatisierte Verurteilungslogik),
    – Schuldentlastung durch Schuldverschiebung, Exkulpation durch Empörung, moralische Enthemmung durchs Feindbild,
    – identitäts- und gemeinschaftsstiftend in einer Welt, die sich immer mehr der Paranoia angleicht, die sie doch zugleich falsch abbildet,
    – Feindbild und Gegenfeindbild, Feindbild-Clinch, symbiotische Feindbindung; so werden beide Seiten zu Symptomen des Problems als dessen Lösung sie sich selbst verstehen,
    – Verwechslung und Austauschbarkeit von Solidarität und Komplizenschaft,
    – Faschismus-Schock, „Kollektivscham“ (Neutralisierung der Schuld durch Verrechtlichung),
    – Exzesse der Gemeinheit.
    Die Feindbildlogik ist die Mutter des Vorurteils, das in diesem Prozeß über die Schwächen der Beweisführung hinweghelfen wird.
    Sind nicht beide Seiten in den RAF-Prozessen Opfer eines schrecklichen Irrtums, und ist es nicht dieser spiegelbildliche Irrtum, die sie wie in einem Clinch an einander fesselt?
    Der Staat, den die Staatsschutzsenate schützen, ist der gleiche Staat, dessen Anwälte die Ankläger sind; deshalb sind beide in Staatsschutzprozessen nur noch schwer zu unterscheiden. Dieser Staat ist der Kern des Unschuldgenerators, der das eigentliche Objekt des Staatsschutzes ist.
    Ist nicht die Konstruktion von Staatsschutzsenaten ebenso pervers wie der Zustand des Staates, der sie hervorgebracht hat.
    Ist nicht der höhnische und zynische Ton, mit dem die Bundesanwaltschaft die VerteidigerInnen, die Mutter der Angeklagten, die Zuschauer und auch einen Zeugen, wenn seine Aussage nicht in ihr Konstrukt paßt, angreift, eigentlich ein Indiz dafür, daß sie mit dem Rücken zur Wand steht? Nur ist zu befürchten, daß das Gericht sich selbst in der gleichen Situation sieht und am Ende ein Solidaritäts-Urteil fällen wird, das dann aber nur noch wenig mit der Angeklagten zu tun haben wird. Der Eindruck ist ohnehin kaum noch abzuweisen, daß die Dauer des Verfahrens kein Indiz der Gründlichkeit des Verfahrens, sondern nur eine Konzession an eine Öffentlichkeit sein wird, die nicht merken soll, daß es eigentlich ein kurzer Prozeß war, daß das Urteil schon im Voraus feststand.
    Auch wer den Terrorismus für einen verhängnisvollen Irrtum hält, wird gleichwohl in den dadurch verhexten Texten der RAF Elemente entdecken können, deren Vedrängung ebenso verhängnisvoll wäre.
    Zur Kritik des Weltbegriffs gehört das Bewußtsein, daß die Grenzen des Bewußtseins, die diese Kritik überschreiten möchte, eins sind mit den Grenzen des Weltbegriffs, um deren Kritik es geht.
    Auch Hegels Begriff des Weltgerichts gründet in einem justitiellen, nicht aber in einem theologischen Gerichtsbegriff.
    Ist nicht die Öffentlichkeit gleichursprünglich mit dem Recht? Waren nicht die Foren, die dann zu Märkten geworden sind, ursprünglich Gerichtsstätten (vgl. auch den Namen der ekklesia und den auf die Versammlung im Tor verweisenden hebräischen Ursprung dieses Namens, auch die Wortgeschichte von Ding)?
    Der Satz, daß Gott ins Herz der Menschen sieht, gehört auch zu den Sätzen, die nicht im Indikativ, sondern im Imperativ stehen.
    Die Sprache, nicht jedoch die Kunst, rührt an den Grund der Schöpfung. Die Kunst rührt an den des Staates und der Welt.
    Wer die apokalyptische Stimmung mit dem Hinweis auf die Atombombe zu begründen versucht, blendet genau die Sphäre aus, in der die Apokalypse in der Lage wäre, sich als Lichtquelle zu erweisen.
    Verschiebt Jürgen Ebach nicht den Grund und die Bedeutung des hebräischen Namens der Barmherzigkeit ins Neutrische, wenn er sie anstatt auf die Gebärmutter auf den Unterleib bezieht?
    Zur Verharmlosung der Unterscheidung von Rechts und Links gehören die Einfügungen in den Text durch Jürgen Ebach, das „noch“ im letzten Satz des Buches Jona und das „nämlich“ in den beiden Wiederholungspassagen, bei der Umkehr Ninives und beim Ärger des Jonas.
    Nach dem Geist der Utopie stand Ernst Bloch vor der Frage, ab er das symbolische und metaphorische Sprachverständnis, in dem der Geist der Utopie geschrieben wurde, ins Realsymbolische hereintreiben oder zur Rhetorik entmächtigen sollte. Er hat sich für die Rhetorik entschieden, und das in der Folge der materialistischen Wendung seiner Philosophie. War nicht Benjamins Hinweis auf den buckligen Zwerg in der ersten seiner Geschichtsphilosophischen Thesen eine Antwort an Ernst Bloch?
    Läßt sich nicht am Kyffhäuser der Unterschied zwischen Sage und Mythos verdeutlichen? Während der Mythos unter offenem Himmel sich entfaltet, gehört zu den Bedingungen der Sage eine caesarisch bestimmte Welt, in der der Himmel durch Herrschaft verdunkelt ist. In Babylon ist der Mythos zur Sage geworden: Gilgamesch war der erste Sagenheld. Und in Babylon ist die Prophetie zur Apokalypse geworden.
    Ist nicht alles Mitleid heute verhext? – Aber gleichwohl darf man es nicht preisgeben.

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