Hegel

  • 9.6.96

    Das Inertialsystem ist der exzentrische logische Kern einer Sprache, die das dialogische Element verdrängt hat, die nur noch die stumme Gemeinschaft der Gattung herstellt und repräsentiert. Theologie als „Rede von Gott“: Erinnert die Rede nicht an das stumme Volk und den durch die Predigt zum Monologisieren verurteilten Pfarrer? Die Verwaltung verhält sich zu den Subjekten wie das Inertialsystem zu den Objekten. Der Reflex des Inertialsystems im Subjekt ist die Bekenntnislogik. War nicht Konstantin in der Tat ein Kirchenvater, wobei er (wie andere Väter auch) nicht wußte, was er tat, als er sein Votum für die homousia abgab (ist der Kern der homousia, der Wesensgleichheit des Sohnes mit dem Vater, nicht das prophetische Wort <„Spruch des Herrn“>, als dessen Verkörperung und Erfüllung der „Logos“ sich begreift)? Der „Negativismus“ der kritischen Theorie, den übrigens weder Horkheimer noch Adorno streng durchgehalten hat, in den vielmehr beide etwas von der Tradition der Lehre mit eingeschmuggelt haben, ist nur in theologischem Zusammenhang, und d.h. nur außerhalb der monologischen Logik des Wissens, wenn nicht zu widerlegen, so doch so einzugrenzen, daß sich der Blick auf einen Bereich, der dem Begriff der Theorie sich entzieht, dem Namen der Lehre dagegen aufs genaueste entspricht, neu eröffnet. Nur in theologischem Zusammenhang ist der objektive Anspruch der Kritik, der dem Konzept der kritischen Theorie zugrundeliegt, noch zu begründen. Zu gewinnen ist dieser Begriff der Kritik, der zuerst als Kritik der politischen Ökonomie sich entfaltete, in der Kritik der Naturwissenschaften. Deshalb war und ist Kant in diesem Zusammenhang wichtiger als Hegel.

  • 8.6.96

    Das Substantiv ratifiziert ein Verständnis des Urteils, in dem das Subjekt (das Nomen) bereits durch das Objekt, das (wie die durchs Foto im Personalausweis, dem vergesellschafteten Fahndungsfoto, bezeichnete Person) von seinem Namen unterschieden wird, ersetzt ist, es gehört zu einem Wahrheitsbegriff, der durch die „Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand“ sich definiert. Das so definierte Wahre aber ist der „bacchantische Taumel, in dem kein Glied nicht trunken ist“ (Hegel). Das Substantiv ist der Inbegriff des verletzten Bilderverbots. Der Gottesname, dessen Heiligung das Vaterunser gebietet, kommt in den Evangelien nicht vor. Nicht nur daß er vergessen ward, er wird zusätzlich als Name eines „altorientalischen Rachegotts“ diffamiert. Ist der Name nicht das im „Alten Testament“ vergrabene Talent? Ungeheurer Gedanke, daß Salomo „dem Namen Gottes ein Haus gebaut“ hat. Nicht ein Götterbild stand im Tempel, sondern der Name wohnte in ihm. Aber bei Jesu Tod riß der Vorhang des Tempels entzwei (hat nicht die Kirche, ohne es sich je bewußt gemacht zu haben, die Kräfte in sich aufgenommen, sich zu eigen gemacht, die diesen Riß bewirkten?).

  • 7.6.96

    Merkwürdig (in der Buberschen Bibelübersetzung, und in dem Beiheft zum ersten Band dieser Übersetzung) der Gebrauch strafrechtlicher Kategorien, wie die Substituierung des Namens der Gerechtigkeit durch den Begriff der Bewährung, ebenso die Ersetzung des Wortes Frevel durch den Begriff des Verbrechens. Beide zitieren den Staat, setzen ihn als eine unbefragte Ordnung voraus, während die Namen, die sie ersetzten sollen, einer Ordnung angehören, an der auch der Staat zu messen wäre.
    Wenn Ton Veerkamp das Gebet nur mit dem Preisen assoziiert, verschweigt er die Beziehung des Gebets (ähnlich wie die des Opfers) zur „Versöhnung mit dem Bruder“, seine eingreifende, verändernde Kraft (vgl. auch Ernst Blochs „Wahrheit als Gebet“ am Ende des Geists der Utopie).
    Endgültig zu klären wäre die Beziehung der Wahrheit zum Urteil, auch zum Begriff (der in der Urteilsform gründet).
    Wenn das Tier die Widerlegung des Begriffs ist (Hegels Beweis, daß die Natur den Begriff nicht halten kann), dann ist die Farbe die Widerlegung des Raumes: Die Farbe, nicht die geometrische Normale, ist die Norm der Fläche. Deshalb gehört die Abstraktion von den sinnlichen Qualitäten zu den Konstituentien der Raumvorstellung, des Raumes als subjektive Form der Anschauung.
    Das Problem der Unittelbarkeit und des falschen Bewußtseins ließe sich an den täglichen Börsenberichten demonstrieren: Für wen sind „freundliche Tendenzen“ wirklich freundlich, und für wen sind sie existenzvernichtend, das Todesurteil? Aber für das, was im Dunklen bleibt, gilt das Wort: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.
    Wer der Theorie den Ausweis der „praktischen Konsequenzen“ abverlangt, verwechselt Indikativ und Imperativ. Hat die Unfähigkeit, das eine vom andern zu unterscheiden, etwas mit der Unfähigkeit, Rechts und Links zu unterscheiden, zu tun?
    „Sich erscheinigen“: Diese merkwürdige Sprachbildung Bubers (vgl. das Beiheft zum ersten Band seiner Bibel-Übersetzung) scheint eine Praxis zu antizipieren, die erst mit dem Fernsehen voll sich entfaltet hat. So mag der Fernseh-Moderator oder auch ein im Fernsehen auftretender Politiker sein Erscheinungsbild, sein „Image“, im vorhinein kalkulieren, planen und realisieren. Sind nicht Talkshows Exerzitien und Tests dieser Praxis?
    Die Heiligung des Gottesnamens ist das im Wort vom Lösen eigentlich Gemeinte; sie zielt nicht unmittelbar auf den Himmel als Seinen Thron, sondern zuerst auf die Erde, den Schemel Seiner Füße. Hierauf (und nicht auf eine wie auch immer geartete Form der Theokratie) bezieht sich der Paulus-Satz, daß Gott alles in allem sein wird, wenn der Sohn ihm alles unterworfen hat.
    Wenn Himmel und Erde ungleichnamig sind, und wenn die kopernikanische Wende das Ungleichnamige gleichnamig gemacht hat, ist es dann eigentlich die gleiche Zeit (das gleiche einheitliche Inertialsystem), die die himmlischen und die irdischen Erscheinungen unter sich begreift?

  • 1.6.96

    Gehört nicht zum Kaiser-Problem (warum es im Märchen keinen Kaiser gibt) neben dem Satz „Gebt des Kaiser, was des Kaisers ist, …“ und „…, so bist du kein Freund des Kaisers mehr“ auch die Geschichte vom Beelzebub und der Einheit des Reiches? Es ist das Reich des Beelzebub, das zerfällt, wenn es mit sich uneins wird (steckt hier nicht der Kern der Rom-Kritik Jesu?), während „in meines Vaters Haus (und das heißt doch wohl: im Gottesreich, H.H.) viele Wohnungen“ sind. Dieses Einheitsverständnis ist caesarisch: sensibilitätszerstörend und empfindlichkeitsbegründend zugleich.
    War nicht die Reaktion von Gollwitzer und dann auch von Marquardt auf Scholems Aufsatz über die messianische Idee im Judentum ein erneuter Beleg dafür, daß es nicht auf die Empfindlichkeit, sondern allein auf Sensibilität ankommt? Dabei hat Scholem selbst die Stelle bezeichnet, an der ein Dialog möglich gewesen wäre: „Was den alten Propheten als ein Wissen zukam, das gar nicht laut und öffentlich genug verkündet werden konnte, wird in den Apokalypsen zum Geheimnis. Es gehört zu den Rätseln der jüdischen Religionsgeschichte, die von keinem der vielen Erklärungsversuche befriedigend beantwortet worden sind, was eigentlich der wahre Grund dieser Metamorphose ist, die das Wissen um das messianische Ende, wo es den prophetischen Rahmen der biblischen Texte überschreitet, zum esoterischen Wissen macht.“ (Scholem, Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt 1970, S. 128f) Wodurch die Apokalypse von der Prophetie sich unterscheidet, ist der Ursprung des Weltbegriffs, die neue Gestalt der Welt und des Bewußtseins, die damit bezeichnet ist.
    Steht nicht auch die „Israel-Theologie“ in der Gefahr, ihrem Adressaten vorzuschreiben, wie er den eigentlich zu sein hätte, und ihn mit kontrafaktischen Urteilen zu belästigen?
    Was meint Marquardt mit der „Rechtfertigung Gottes“ (vorausgesetzt, daß die Rezension seines neuen Buches im neuen Heft der Jungen Kirche ihn richtig zitiert)?
    Die Unsterblichkeit der Seele, die eben damit verletztbar und empfindlich wird, ist die Unsterblichkeit des pharaonischen oder caesarischen Reichs, dessen Symbole beleidigungsfähig sind, „verunglimpft“ werden können. Das Himmelreich und das Reich Gottes stehen in Opposition zu diesem Reich.
    Zu Martin Bormann und Hermann Heidegger (die sich beide nach der FR von heute zur Schuld ihrer Vätern geäußert haben): Ihre Exkulpationsversuche gründen in der christlichen Tradition, wonach Gott Sünden vergeben kann, ohne daß es dazu einer Versöhnung mit den Opfern bedarf. Diese Vorstellung mag zu den Konstituentien staatlichen Rechts (des „Rechtsfriedens“, der ohne staatliche Gewalt nicht zu sichern ist) gehören; durch ihre Hereinnahme in das kirchliche Bußverständnis und die kirchliche Bußpraxis ist sie zur Quelle der Unsensibilität und des autoritären Wirklichkeitsverständnisses geworden. Deshalb hören wir aus dem Namen der Buße nur noch die Strafpraxis und die Diskriminierung des Sünders heraus, nicht mehr die Umkehr. Das Wort von der Versöhnung mit dem Bruder, das vor dem Opfer steht, ist längst vergessen und verdrängt. Und das Opfer ist durch Verinnerlichung zum Opfer der Vernunft geworden.
    Im Dingbegriff ist die ganze Herrschaftsgeschichte enthalten.
    Gibt es einen Zusammenhang der Possessivpronomina Mein, Dein, Sein (und damit auch des Infinitivs Sein) mit dem unbestimmten Artikel Ein? Drückt nicht in den Anfangskonsonanten (M, D, S) die Besitzergreifung dessen sich aus, was durch den unbestimmten Artikel als eigentumsfähiges herrenloses Gut (als Vorhandenes) sich präsentiert? Und verweist nicht insbesondere das M (der verschlossene Mund) auf die Analogie der Besitzergreifung zur Einverleibung, zum Essen, zur Kommunion (vgl. die Bedeutung der Eucharistieverehrung für die thomistischen Theologie), während das Sein zum Ausdruck der kollektiven Besitzergreifung (der Besitzergreifung durch die unbestimmte dritte Person, die die unvermittelte Besitzergreifung durch den Einzelnen ausschließt, die Grenze zwischen mir und den Anderen in die Dinge verlegt) in der urteilenden Erkenntnis geworden ist?
    In welcher Beziehung steht der bestimmte Artikel zum Eigentum und zum Tausch, und welche sprachlogische Bedeutung hat dann die Deklinierbarkeit des bestimmten Artikels im Griechischen und im Deutschen? – Im Hebräischen durfte der Eigenname nicht mit dem bestimmten Artikel versehen werden.
    Die Alternative ist nicht Sein und Haben (diese bezeichnet nur die Grenze zwischen mir und den andern), sondern Sein und Handeln (die Grenze zwischen Ontologie und Ethik, Natur und Übernatur). Die Verführung der Ontologie (in der das Inertialsystem Gewalt über die Sprache gewinnt) liegt darin, daß sie dem Handeln (und seiner Wahrnehmungskraft: der Sensibilität) den Weg verstellt, statt dessen den Quell (eigentlich den Abgrund: das schwarze Loch) des in seine Ohnmacht eingesperrten Selbstmitleids (der Verletzbarkeit, der Empfindlichkeit) eröffnet.
    Indogermanisch oder der Rock aus Fellen: Wäre es nicht an der Zeit, das Problem der Beziehung von Biologie und Sprache (das Problem des Gattungsbegriffs, aber auch des Rassismus) neu in Angriff zu nehmen? Beide gehören der gleichen logischen Ebene an, bezeichnen gleichsam nur deren zwei Seiten, deren Beziehung zueinander (als das Verhältnis zweier Seiten) zu bestimmen wäre.
    Männlich und weiblich schuf er sie: Ist nicht der Unzuchtsbecher das Produkt der Instrumentalisierung des Zeugens und ein Symbol der caesarischen Logik (ein Attribut der Hure Babylon)? Gehört in diesen Kontext nicht das „dynastische Prinzip“, das die Nachfolge durch Geburt regelt, seine Funktion in Hegels Rechtsphilosophie (in der zu den Aufgaben des Monarchen das Zeugen eines Erben gehört) wie auch in der Trinitätslehre (in der der Vater den Sohn „gezeugt, nicht geschaffen“ hat)? Sind nicht Verwandschaftsbeziehungen (und in ihrem Kern die „Geschlechtsbeziehungen“) die Modelle logischer (begrifflicher und hierarchischer) Beziehungen?
    In einer Sprache ohne Neutrum färben die Geschlechts- und Verwandschaftsbeziehungen auch die kosmischen und historischen Vorstellungen (die Patriarchen, das „ganze Geschlecht“ der Landnahme und die Könige, „gehen“, „legen sich“ oder werden, wenn sie sterben, „zu den Vätern“ versammelt, wogegen Jesus zu einem, der seinen Vater begraben wollte, sagt: „Laß die Toten ihre Toten begraben“).
    Ist das Neutrum, der Ursprungsbegriff der Säkularisierung (der Konstellation von Herrschaft, Objektivierung und Instrumentalisierung), in der Sprache die Schlange, im Bereich des Handelns (in Religion und Politik) hingegen der Unzuchtsbecher, der Inbegriff der Hurerei, der Greuel am heiligen Ort?

  • 31.5.96

    Die kantisch-hegelsche Definition der Wahrheit als „Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand“, die unterstellt, daß Wahrheit ohne Versöhnung möglich sei, ist unerfüllbar.
    Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt/M. 1972:
    – Nach kabbalistischer Anschauung ist es der Hahnenschrei, der die Macht des strengen Gerichts, die am Abend die Welt beherrscht, bricht; danach werden die Geister und Dämonen keine Gewalt mehr haben. (S. 195, vgl. auch Anm. 48, S. 277)
    – Magie ist nach der Kabbala ein erst im Sündenfall Adams, des ersten Menschen, sich eröffnendes Vermögen; magisches Wissen ist ein Wissen um die Blätter vom Baum der Erkenntnis (die gleichen Blätter, mit denen die ersten Menschen ihre Blöße verhüllten); „erst in der Nacktheit Adams … bricht die Magie als ein Wissen ein, das diese Nacktheit verhüllen kann“. (S. 228) Ist das formalisierte Bekenntnis die rationalisierte Gestalt der Magie?
    – Gershom Scholem zitiert eine (bei Hieronymus zitierte) Stelle aus Origenes, wonach der Rock aus Fellen („die Gewänder aus Haut“) die Materialisierung des Leibes symbolisiert. „Diese These findet sich auch öfters in der kabbalistischen Literatur.“ (Vgl. Anm. 37, S. 283) Bezieht sich diese „Materialisierung des Leibes“ auf die der Willkür entzogenen vegetativen Prozesse des lebendigen Organismus?
    – An anderer Stelle verweist Scholem auf die im christlichen Hexen-Wahn wiederkehrende Vorstellung von dämonischen Wesen, in denen reine Geistigkeit und Sexualität eine dämonische (diese Form der Dämonie konstituierende) Verbindung eingehen (succubi und incubi, vgl. S. 203). Reflektiert diese Vorstellung nicht eine Phase im Objektivierungsprozeß, in der Geschichte des Begriffs (und der Sprachlogik): die Konstituierung des gegen die Sprache sich verselbständigenden Objektbegriffs, die Trennung von Ding und Sache, den Ursprung und die Rezeption des Dingbegriffs, schließlich den Ursprung des modernen Naturbegriffs (das Korrelat des apokalyptischen „Unzuchtsbechers“)?
    Ende der Prophetie: Der Objektbegriff ist der ins Sehen transformierte (der der Sprache entkleidete, zum Verstummen gebrachte) Gottesname.
    Es stimmt nicht ganz, daß der Kaiser im Märchen nicht vorkommt: Er wird durch die Figur des Teufels repräsentiert, aus der er nur mit Hilfe des Antisemitismus herausgebracht, getilgt werden konnte (durch die Identifizierung von Teufel und Jude, die schon in der Gnosis, in der projektiven Identifizierung des Demiurgen, der eigentlich den Kaiser und die Form der staatlichen Institutionen, die er repräsentiert, bezeichnet, mit dem jüdischen Schöpfergott, aufs deutlichste hervortritt).
    Kaiser, Teufel und Objektbegriff (Dingbegriff) bilden eine (sprach- und bewußtseinslogische) Konstellation. (Die Krisen der römischen Kaisergeschichte spiegeln die Unfähigkeit wider, Sache und Ding zu trennen. Das ist erst dem mittelalterlichen Christentum auf der Basis der Eucharistieverehrung gelungen.)
    Ist die Trinitätslehre der Inbegriff der drei ersten ägyptischen Plagen als Dauerplage (was die Reduzierung auf die sieben Plagen der Apokalypse, auf das „Lösen der sieben Siegel“, erklären würde)? Ist die Kirche das instantisierte Pantheon (und so zum Bekenntnisgrund der imperialen Weltverfassung geworden)?
    Beitrag zur Kritik der Physik: Die Feuer der Hölle, das sind die Feuer der Empörung, die im entzündeten Ich auflodern und an dessen Ohnmacht (an der Ich-Schwäche) sich nähren.
    Haben nicht die Ableger der 68er Bewegung, von der raf bis zu den Grünen, sich in den Verstrickungen einer Logik verfangen, die die Realität zum Betonblock gerinnen läßt, einer Logik, die seitdem die Öffentlichkeit beherrscht, sie gegen jede kritische Reflexion der Wirklichkeit und gegen Selbstreflexion abschirmt? Antje Vollmer hat ebenso wenig begriffen, was im Hogefeld-Prozeß abläuft, wie Birgit Hogefeld selber.

  • 30.5.96

    Polis und Imperium Romanum: Die Griechen waren in erster Linie Naturphilosophen, die Lateiner Historiker; die Differenz zwischen kosmos und mundus sowie physis und natura scheint damit zusammenzuhängen.
    Worauf bezieht sich der Satz „Wehe aber den Schwangeren und den Stillenden in jenen Tagen“ (Mt 2419)? Geht es nicht eher um einen geschichtslogischen als um einen biologischen Sachverhalt?
    Strukturwandel der Öffentlichkeit: Das Lebenselement der Medien (und in steigendem Maße auch das der Hilfs-, Menschenrechts- und Naturschutzorganisationen, der heute so genannten NGO’s) ist die Skandalisierung, die Vermarktung der Empörung.
    „Privatweg“, oder der Blick ins Schlafzimmer des Staates: Können die Wege in einem Wald, der öffentliches Eigentum ist, als Privatwege deklariert werden? Wird hier nicht unterstellt, daß es auch im öffentlichen Bereich so etwas wie eine Privatsphäre gibt, der vor fremden Blicken zu schützen ist? Die gleiche Logik liegt der Vorstellung zugrunde, daß es auch für den Staat einen Geheimbereich gibt, der wie die Privatsphäre vor der zudringlichen Öffentlichkeit zu schützen ist. Auch für den Staat scheint es den Sündenfall zu geben, in dessen Folge ihm „die Augen aufgehen, und der erkennt, daß er nackt ist“. Der Geheimbereich galt ursprünglich für den Blick anderer Staaten; vor der Konstituierung eines Geheimbereichs mußte der Staat lernen, sich in den Augen anderer Staaten zu sehen, vor denen er seine Blöße verbergen mußte. Inzwischen bedient sich der Staat des Instruments der Geheimhaltung auch im Hinblick auf die eigenen Bürger, das souveräne Volk. Damit aber entsteht eine der Beziehung des Bewußtseins zum Unbewußten korrespondierende logische Konstellation im Kern der res publica, im politischen Zentrum dessen, was einmal Öffentlichkeit hieß. Der Begriff des falschen Bewußtseins emanzipiert sich von seinem individualpsychologischen Gebrauch; er wird zu einer die Struktur der Öffentlichkeit selber charakterisierenden Kategorie. Gewinnt damit nicht der politische Gebrauch der Sexualethik seinen präzisen Sinn, damit aber auch die Beziehung von (prophetischem) Taumelkelch und (apokalyptischem) Unzuchtsbecher; läßt sich hier nicht erstmals das politische Äquivalent der Sexualität aufs genaueste bestimmen? War nicht die Freudsche Libido seit dem Ursprung dieses Begriffs eine Kategorie, in der symbolisch ein politisch-ökonomischer Sachverhalt sich widerspiegelte, und verdankte diese Kategorie vielleicht damals schon dieser Konstellation seine logische Kraft?
    Das logische Äquivalent der Unzucht ist die kantisch-hegelsche Definition der Wahrheit: „die Übereinstimmung von Begriff und Objekt“, die dem Hegelschen Satz vom Wahren als dem „bacchantischen Taumel, in dem kein Glied nicht trunken ist“, zugrundeliegt.

  • 26.5.96

    Zum Gesicht gehören zwei Augen, zwei Ohren, zwei Nasenlöcher und ein Mund: Warum sind die aufnehmenden, empfangenden Sinnesorgane doppelt, das aktive (der sprechende Mund) hingegen nur einfach?
    Sind nicht auch die ersten Manifestationen der Schöpfung doppelt: das Tohu und das Bohu, die Finsternis und der Abgrund, der Geist Gottes und die Wasser?
    Sch’ma Jisrael: Angesprochen ist nicht der einzelne Israelit, sondern Israel (im einzelnen Israeliten Israel?).
    Die Welt: das subjektlose Kollektivsubjekt, die subjektlose Gemeinschaft aller. Der Raum, das Geld und die Bekenntnislogik sind die Elemente der versteinerten Gattung (des versteinerten Herzens).
    Die Eucharistie: Das Brot, das zum Wort wird, ist das gebrochene und mit den Armen geteilte Brot. Vergleiche die Geschichte in der Apostelgeschichte, die der Einsetzung der sieben Diakone vorausgeht, mit der Stelle in 1 Kor, die mit dem Hinweis endet, daß, wer das Brot und den Kelch unwürdig genießt, sich das Gericht ißt und trinkt.
    Die Pforten der Hölle, das ist das Tor des Nordens (der Linken), das Tor aber ist der Ort der Versammlung, der ekklesia, der Kirche.
    Die Urteilsmagie schirmt das Vorurteil gegen die Reflexion ab. Es ist kein Zufall, daß zu den Topoi des Antijudaismus der Hostienfrevel (die Phantasmagorie der Verletzung der Urteilsmagie) gehört.
    Heute darf die Standesehre bestimter Berufe (Ärzte, Soldaten, Polizei) nicht angegriffen, dürfen Staatssymbole nicht verunglimpft werden.
    (Die theologischen Wurzeln der raf:) Im Zentrum der thomistischen Theologie steht die Eucharistieverehrung, in dem der Hegelschen Philosophie der Dingbegriff. Das sensuum defectui aus dem Tantum ergo hat im Inertialsystem (der säkularisierten Gestalt der Orthodoxie, der verdinglichten Bekenntnislogik und der instrumentalisierten Urteilsmagie) sich vollendet.
    Nur wer begreift, daß die Urteilsmagie dem Faschismus nicht nur nichts anhaben kann, sondern im Gegenteil ihn reproduziert, daß alles verstehen nicht alles verzeihen heißt, daß das Verstehen und Verzeihen (ebenso wie das Studium und die Berufsausbildung) vielmehr endlich zu entkoppeln sind, die Vernunft aus den Verstrickungen des Rechtfertigungszwangs zu lösen ist, wird fähig, die Gegenwart zu begreifen.
    Allein die Sprache macht die Welt erfahrbar. Lassen die Kräfte sich bestimmen, die die Sprache (und mit ihr die Erfahrungsfähigkeit) zerstören? (das Urteil, die Mathematik, die intentio recta, die subjektiven Formen der Anschauung <die Unfähigkeit, das Hintere vom Vorderen, Rechts und Links, und das Obere vom Unteren zu unterscheiden>, die Medien, der Positivismus, das Schuldverschubsystem, das Gerede, die Reklame)
    Ohne Sprache gibt es keine Wahrnehmung des Leidens, keine Schulderfahrung (werden Unglück und Verbrechen zu objektiven, wertfreien Vorgängen), lassen Tun und Leiden, Aktiv und Passiv, Täter und Opfer, Ursache und Wirkung, nicht mehr sich unterscheiden (die transzendentale Logik zieht ihre logische Kraft aus der Sprache, ihre „Apriorität“ aus den subjektiven Formen der Anschauung: aus der Neutralisierung des Leidens und der Schuld).

  • 21.5.96

    Wenn die Zeit mit erschaffen ist, dann muß die Zeit die Spur der Schöpfung in sich enthalten, dann ist das Ewige der Zeit nicht äußerlich. Die Subsumtion der Schöpfung unter die Zeit (die den Anfang der Welt zu einem Anfang in der Zeit macht) konstituiert die Welt, indem sie den Widerspruch in ihrem Begriff verdrängt, auf den Staat verschiebt, den sie so zum Schöpfer der Welt macht (zugleich wird die Natur zum Schöpfer ihrer selbst, an welchem Schöpfertum das die Natur konstituierende Subjekt dann Anteil gewinnt: seitdem sind die Menschen beleidigungsfähig).
    Hegel hat die kantischen Antinomien, die in der transzendentalen Ästhetik gründen, nur verdrängt, als er glaubte, sie im Begriff aufgehoben zu haben. Die Hybris der Idee des Absoluten war das Deckbild der islamischen Kapitulation (der „Ergebung“) vor der Fatalität des Begriffs. In der kantischen Antinomie der reinen Vernunft steckt die ganze Apokalypse.
    Die Welt ist ein Produkt des Inertialsystems, der Weltbegriff besiegelt seine (ihn selbst legitimierende) Hypostasierung.
    Rom hat Zeus säkularisiert und durch den Caesar ersetzt (und die Zeugung durch die Adoption). Die Quellen der caesarischen Macht waren die Siege draußen (und die Niederlagen im Innern: Brutus hat die Institution des Caesars durch den Mord an Caesar geschaffen). Das Imperium ist zugrunde gegangen an der Institution, die es hervorgebracht und getragen hat: am Militär.
    Ecclesia triumphans: War nicht das Christentum, das unter Konstantin zur Staatsreligion geworden ist, eine Form der Rationalisierung des Pantheons, des instrumentalisierten Mythos? Und mußten nicht die Mysterienreligionen, die Militärreligionen waren, unterliegen, nachdem sie im Christentum ihre politisch wirksamere Form gefunden hatten?
    Ist mein Theorieverständnis nicht das des Kaninchens vor der Schlange? Und bleibt nicht die Frage: Wie wird das Kaninchen zum Hahn?
    Der Form des Rosenzweigschen B = B (eigentlich seinen „mathematischen“ Formeln insgesamt, auch dem A = A Gottes und dem B = A der Welt) liegen die subjektiven Formen der Anschauung zugrunde: Die beiden Elemente verhalten sich wie die beiden Vakuen, die des „leeren Raumes“ und der „leeren Zeit“, die an das Reale nur angrenzen, es nicht „in sich“ enthalten, in die „wir“ es vielmehr hineintun müssen (das leisten die kantischen synthetischen Urteile apriori). In diesen Formeln steckt die wichtigste Rosenzweigsche „Entdeckung“: die Kritik des Historismus (und, allerdings noch unentfaltet: der Naturwissenschaften). Sofern die „Formen der Anschauung“ auf einen Inhalt sich beziehen, haben sie die Funktion dessen, was die Propheten Kelch genannt haben.
    Natur und Geschichte (das „Reich der Erscheinungen“) spiegeln die Wirklichkeit gleichsam unter Vakuumbedingungen, unter die sie mit Hilfe der subjektiven Formen der Anschauung versetzt werden, wider (der „Inhalt“ der subjektiven Formen der Anschauung ist vakuumverpackt; das Resultat der Entziehung der Luft, in der sie allein zu leben fähig wären: Produkt der Abstraktion vom Geist). Die letzte Erinnerung an ihre eigene theologische Vergangenheit ist in den Naturwissenschaften mit der Verdrängung des horror vacui verdrängt worden.
    Abstrahiert wird in der subjektiven Form der äußeren Anschauung vom Blick des Andern, in der der inneren Anschauung von einer Zukunft, die nicht wie die Vergangenheit ist.
    Ist nicht die Angst ein Sprachproblem, und bezeichnet nicht der selige Sprachgeist der paradiesischen Sprache den utopischen Punkt der Freiheit von Angst in der Sprache selbst?
    Hängt die auffällige Beziehung der Juden in der Philosophie zu Kant nicht damit zusammen, daß die Kritik der reinen Vernunft die erste säkulare Selbstreflexion des Sternendienstes ist (der „kopernikanischen Wende“)?
    Die Lahmen und Blinden: das sind die durchs Trägheitsprinzip Verhexten.
    Nach kabbalistischer Tradition bezeichnet der Buchstabe Jod (das neutestamentliche Jota) die Beschneidung. Hat nicht Paulus das Jesus-Wort Mt 518 verletzt, und heißt er deshalb „Paulus“ (vgl. 519)?

  • 18.5.96

    Der Positivismus ist der logische Kern des Verwaltungswissens, wobei in den Naturwissenschaften das Verwaltungsprinzip in den subjektiven Formen der Anschauung mit enthalten ist (der Positivismus ist die Schlange, die auf dem Bauche kriecht und den Staub frißt, den Adam produziert).
    „Da gingen ihnen die Augen auf …“: In dem Augenblick, in dem die Menschen lernen, sich in den Augen der andern zu sehen, erkennen sie, daß sie nackt sind.
    Das Inertialsystem ist die Rückseite des Buches, in dem die Taten der Menschen verzeichnet sind, des Buches, dessen Siegel am Ende gelöst werden.
    Patriarchen und Erzengel gibt es im Bereich der Orthodoxie, Erzengel und Erzbischöfe (archiepiskopoi) gab es in der lateinischen Kirche, bis die Aufklärung der Angelologie den Boden entzogen hat. Seitdem gibt es nur noch Erzbischöfe (und anstelle der Patriarchen Kardinäle). Welche sprachlogische Bewandnis hat es und was drückt sich darin aus, daß das „arch“, das aus dem griechischen archä (Anfang, Prinzip, Herrschaft) sich herleitet, in dieser historischen und geographischen Konstellation sowohl als Suffix als auch (im Bereich der Orthodoxie) als Präfix erscheint?
    Sind die „Erzengel“ (deren Vorstellung mit der Siebenzahl sich verbindet) nicht astrologischen Ursprungs, hängen sie nicht zusammen mit der angelologischen Verarbeitung der astrologischen Tradition (gibt es Stellen in der Schrift, in der die Heiden Sternendiener heißen; sind die „Völker“ Sternendiener? – vgl. Eveline Goodman-Thau, Zeitbruch, S. 160, Anm. 378)?
    Urbild der Patriarchen sind Abraham, Isaak und Jakob, die „Väter“ der zwölf Stämme Israels.
    Patriarchen sind Ursprungsgestalten, Erzbischöfe Teil einer hierarchischen Organisation, einer Verwaltungsordnung (deren logisches und historisches Modell die astrologische Ordnung war).
    Sind nicht Marx, Freud und Einstein wirklich die Patriarchen der Selbstkritik der Aufklärung?
    Hängt die Differenz im Gebrauch der archä mit der sprachlogischen Beziehung der lateinischen zur griechischen Sprache zusammen. Einer Beziehung, die möglicherweise in der Bildung der Totalitätsbegriffe Natur und Welt vorgebildet ist: der Name der physis leitet von der Zeugung sich ab, der der Natur von der Geburt; und die Zeugung geht der Geburt voraus. Ist nicht die griechische Sprache vordogmatisch (gehört sie nicht zum Bildungsprozeß des Dogmas), während die lateinische Sprache als postdogmatisch sich begreifen läßt (sie setzt das Dogma als gegeben voraus)? Ist die Grenzscheide, die sprachlogische Schwelle, die die Patriarchen von den Erzbischöfen trennt, nicht die gleiche, die auch die physis von der natura trennt (und den kosmos vom mundus: ist nicht die lateinische Variante des Christentums eine „Reinigungs-„, eine Schuldbefreiungsreligion)?
    Ist diese Geschichte nicht ein Teil der Ursprungsgeschichte des modernen Naturbegriffs?
    Hat die Grenze zwischen der prä- und postdogmatischen Sprachlogik etwas mit zwischen der Herrlichkeits- und der Namensmystik (zwischen kabod und schem, Merkaba-Mystik und Kabbala) zu tun, und ist nicht in den zehn Sefirot beides enthalten: die Dreizahl der Patriarchen und die Siebenzahl der „Planeten“ (Kether <Krone>, Chochma <Weiheit>, Bina <Verstand> und Chessed/Gedulla <Liebe/Größe>, Gebura/Din <Macht/Strenge>, Rachamim/Tifereth <Barmherzigkeit/Herrlichkeit>, Nezach <beständige Dauer>, Hod <Schönheit>, Jessod <der Grund>, Malchut <das Reich>)?
    Hängt die Beziehung der „archä“ zu den kirchlichen Verwaltungsorganisationen mit der der Orthogonalität (und Dreidimensionalität) des Raumes zu seiner (durch die Orthogonalität erzeugten) unendlichen Ausdehnung (zur Unendlichkeit der sechs Richtungen im Raum und ihrer gemeinsamen Beziehung zur Vergangenheit) zusammen?
    In welcher logischen Beziehung steht die Form des Raumes zum logischen Begriff der Gattung? Ging Hegel, als er bemerkte, daß „die Natur den Begriff nicht halten kann“, und das mit der Diversifizierung der tierischen Gattungen begründete, nicht von der Objektivität des Raumes aus, hatte er hier nicht vergessen oder verdrängt, daß Kant die Subjektivität des Raumes (und damit seine die Erkenntnis organisierende und zugleich von der Wahrheit abspaltende Gewalt) begründet und nachgewiesen hatte? Gehört nicht die „Gattung“ (ein logischer und biologischer Begriff zugleich) der gleichen Ordnung an, in der auch der Raum sich konstituiert? Begründet nicht die Verabsolutierung des Raumes aus dem gleichen Grunde, aus dem sie mit dem Symbol des Tieres zusammenhängt, den logischen Zwang, der unweigerlich in den Rassismus führt? Ist nicht der Rassismus (der heute dazu führt, daß der Geist auf eine bisher unbekannte Weise geleugnet wird) eine notwendige Folge der Logik des Weltbegriffs, die mit der Form des Raumes mitgesetzt ist? Der Raum ist das Instrument der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, der Grund der falschen Einheit von Vergangenheit und Zukunft, die den „Zeitkern“, die Gegenwart, ausschließt (Kern des Schuldverschubsystems: der Pflug, vor den Rind und Esel zugleich gespannt sind). Die Rosenzweigsche Todesfurcht (die Fähigkeit, Angst nicht zu verdrängen, sondern als Erkenntnisorgan zu nutzen) ist das Wahrnehmungsorgan für diesen Zeitkern.

  • 14.5.96

    Das Gebot der Feindesliebe schließt die Kritik des Urteils mit ein (die gegenständliche, das Objekt aufsprengende Kraft der Erinnerung). Ist nicht – die Kritik der reinen Vernunft eine säkularisierte Schöpfungslehre, – die Kritik der Urteilskraft eine säkularisierte Offenbarungslehre und – die Kritik der praktischen Vernunft eine säkularisierte Lehre von der Erlösung, und sind nicht die nachfolgenden idealistischen Systeme allesamt in der ersten Stufe, in der der Schöpfungslehre, steckengeblieben? – Fichtes Wissenschaftslehre verstand sich ohnehin nur als Entfaltung der Transzendentalphilosophie; – Schellings Naturphilosophie knüpft zwar an die Kritik der Urteilskraft an, übersieht aber, daß das angestrebte Ziel unter dem Apriori des Naturbegriffs unerreichbar war; – Hegel muß, um die Logik des Weltbegriffs entfalten zu können, den Kern der Kritik der praktischen Vernunft, den Pflichtbegriff und das Sollen, dekonstruieren. Ist der Staat der unreine Geist, der in die Wüste geht (und zugleich der eine Sünder, über dessen Bekehrung mehr Freude im Himmel sein wird als über 99 Gerechte)? Die Wahrheit der Opfertheologie: Wenn der Glaube an die magische Kraft des Urteils (der Quellcode der autoritären Persönlichkeit) wächst und nicht mehr reflexionsfähig ist, wird er wieder seine Opfer fordern. Die Deutschen wollen sein wie die andern Völker und begreifen nicht, daß sie es nicht mehr können. Haben Auschwitz und das Nachkriegsdeutschland mit der Geschichte von dem einen unreinen Geist, der in die Wüste geht und mit sieben anderen unreinen Geistern zurückkehrt, zu tun: Die letzten Dinge dieses Menschen werden ärger sein als die ersten? Die Zivilisationsschwelle, die als Ursprungsgeschichte des Weltbegriffs sich bestimmen läßt, ist die gleiche Schwelle, die die Geschichte von der Vorgeschichte trennt. Ägypten, Assyrien, Babylon, Israel, die Hethiter, die Philister, Kanaan: die ganze altorientalische Welt verhält sich zur Geschichte wie die Sozialhilfeempfänger, die Asylanten, die Arbeitslosen zur zivilisierten Welt. Auf sie man ungestraft seine projektiven Bedürfnisse ableiten darf. Die Unfähigkeit, die Ursprungsgeschichte der Zivilisation zu reflektieren, findet hier ihr vorbezeichnetes Objekt. Bezeichnet nicht Israel die eigentliche Verlegenheit der altorientalischen Geschichte? Die pharaonische Verhärtung des Herzens hat ihre objekiven Gründe im Kontext der Herrschaftsgeschichte, und ihre Rekonstruktion ist ein Mittel zur Erkenntnis der Objektivität, die in der Herrschaftsgeschichte sich bildet. Die Vergangenheit ist nicht vergangen: Das Sklavenhaus besteht weiter, nur als ein Sklavenhaus mit Gummizellen, und d.h. als Irrenhaus. Ist nicht der Habermassche Verfassungspatriotismus ein Glaube an die höhere Einsicht der Irrenärzte? Was hat es mit den Philistern auf sich, und was unterscheidet sie (und ihre Stellung in der Geschichte Israels) von Ägypten, Kanaan und Babylon? Die jüdische Tradition ist aus der Reflexion und der bestimmten Negation der Idolatrie entstanden. Verhält sich der gegenwärtige Stand der altorientalischen Geschichte zum Antisemitismus wie die Kopenhagener Schule zur Deutschen Physik? Oder auf der anderen Seite: Gleicht nicht der Historikerstreit dem der Kopenhagener Schule mit der Deutschen Physik?
    Ohne das Gewaltmonopol des Staates gibt es keinen Rechtsstaat. Das aber heißt, daß nur die Reflexion des staatlichen Gewaltmonopols den Rechtsstaat daran hindert, zum Instrument der Selbstzerstörung des Staates zu werden.
    Im Eucharistiestreit ging es um die Frage, ob das Brot der Leib Christi ist, oder ob es den Leib Christi nur bedeutet. Es ging um die Differenz von Sein und Bedeutung. In dieser Frage war der Ursprung der Phänomenologie, von Hegels Phänomenologie des Geistes bis zur Fundamentalontologie Heideggers, vorgebildet. In der „Frage nach dem Sinn von Sein“ hat Heidegger das Problem zur Unlösbarkeit kontrahiert. Seitdem gibt es die Seinsfrage, die Judenfrage und die Ausländerfrage. – Hat diese Geschichte etwas mit der sprachlogischen Geschichte des Ursprungs der grammatischen Geschlechter zu tun (im Hebräischen gibt beim Nomen kein Neutrum, nur die Geschlechterdifferenz, während das Fragepronomen Person und Sache unterscheidet; hat das Hethitische diese Differenz dann ins Substantiv – von der Prädikatsseite zur Seite des Urteilssubjekts – verschoben, und hat mit dieser Verschiebung die Urteilsform überhaupt erst sich gebildet? Welche Rolle spielt das deiktische Moment, auf das das Deuten im Bedeuten verweist, und das beim Nomen durch den bestimmten Artikel repräsentiert wird? Steht nicht Heideggers Begriff des Daseins unter dem Gesetz der Logik der Trennung von Sein und Sinn: „Warum ist überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts“? Im Hebräischen wird der bestimmte Artikel durch den gleichen Laut ausgedrückt, der auch das Lachen bezeichnet <„ha“>. Nur im Griechischen und im Deutschen wird der bestimmte Artikel zusammen mit dem Nomen dekliniert – wird das Lachen sprachlogisch – als ein die ganze Sprache durchdringedes Gesetz – organisiert. Entspringt der Begriff des Substantivs in der deutschen, dieser durch die Deklination des bestimmten Artikels definierten Sprachlogik? – Das Substantiv ist das ausgelachte Nomen, das „Dasein“ der ausgelachte Mensch <und die Fundamentalontologie dessen entfaltete Selbstreflexion>.) Wirft das Zusammenzwingen von Sein und Bedeutung (in der Frage nach dem „Sinn von Sein“ und im Begriff des „Daseins“) nicht rückwärts ein Licht auf den Ursprung des Neutrums? Mit der Frage „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts“ hat sich die Philosophie mit dem Strick erdrosselt, den sie seit den vorsokratischen Anfängen der Philosophie geflochten hat (beschreibt die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos dieses Flechten des Stricks?). Das Objekt (das Ding) ist der Grund und der Reflex der Idee des Absoluten.
    Auch die Spekulationsgewinne müssen „erwirtschaftet“ werden, wenn auch nicht von denen, die die Gewinne machen. Das „Risiko“ (nach Dirk Baecker die Ware der Banken) ist ein Kalkulationsfaktor jeder Produktion heute. (Das Risiko des Unternehmers war noch sein eigenes Risiko; heute, in der Ära der Bankenfinanzierung und des Managements, ist das Risiko vergesellschaft, und treffen tut’s eh den Falschen; real schlägt es nur bei denen durch, die es nicht zu veantworten und keinen Einfluß drauf haben, aber ihre Existenz verlieren. – Liegt hier nicht die Wurzel einer Moral, die nicht mehr an der Tat, sondern allein am Erwischtwerden sich mißt, und längst Vorsorge getroffen hat, daß das Erwischtwerden an andere fällt?) Panik bricht heute zuerst in den Chefetagen aus; die andern trifft’s unvorbereitet.

  • 8.5.96

    „Wenn die Götter schweigen“ (Miskotte): Schweigen denn die Götter wirklich, erteilt nicht der Markt allen seine Kommandos (deren Nichtbefolgung die Strafe auf dem Fuße folgt), und hat nicht Ludwig Erhard schon von der „Sünde wider den Geist der Marktwirtschaft“ gesprochen? Potenziert nicht das „Schweigen der Götter“ ihre Macht, weil keiner sie mehr wahrnimmt?
    Das Wort von der Sünde wider den Heiligen Geist, die weder in dieser noch in der künftigen Welt vergeben wird, hat auch den ganz einfachen Sinn, daß die Sünde wider den Heiligen Geist die künftige Welt dieser Welt gleichsetzt, und daß das dann eine Welt ist, die keine Vergebung mehr kennt. Das ist die Welt des steinernen Herzens. Vgl. hierzu die Verhärtungen des Herzens des Pharao: Er selbst verhärtete sein Herz (2., 4. und 7. Plage), sein Herz blieb verhärtet (1., 3., 5. Plage) und JHWH verhärtete sein Herz (6., 8. und 9. Plage).
    Ist nicht die Verstockung des Pharao ein Hinweis darauf, daß die Reduzierung der Moral auf die Gesinnung zu kurz greift: die Gesinnung ist die Moral des verhärteten Herzens.
    Das Wesen des Tieres wird nicht nur durch den Trieb und die Sexualität, sondern ebensosehr durch das, was Max Horkheimer die instrumentelle Vernunft genannt hat, bezeichnet. Die instrumentelle Vernunft steht unter dem Bann des Weltbegriffs, deren Logik sie blind (weil reflexionslos) gehorcht. Die gleiche Logik rückt die zukünftige Welt in den blinden Fleck, macht sie unsichtbar (mit dem Neutrum ist das perfectum zur Form der abgeschlossenen Vergangenheit geworden; vollendet ist nur noch das Tote: die Ware).
    Wenn der Indikativ das Gericht und der Imperativ die Barmherzigkeit bezeichnet, ist dann nicht das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht der Inbegriff der Lehre?
    Oder anders: Ist nicht das Weltgericht die „Erfüllung der Schrift“, die „Erfüllung des Wortes“ dagegen das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht?
    Goethes Farbenlehre enthält noch die Erinnerung an Licht und Finsternis, die in der naturwissenschaftlichen Farbenlehre verdrängt wird und erinnerungslos verschwindet. Ein ergreifendes Wort: Die Nacht bricht herein! Ist das nicht die Finsternis, die am Tage hinter dem azurblauen Himmel ruht und mit der Nacht „hereinbricht“?
    Die Farben (die sinnlichen Qualitäten insgesamt) wurden verdrängt mit der Konstruktion des dreidimensionalen Raumes, die die Senkrechte zur Norm der Fläche gemacht hat. Der sinnliche Raum ist der Ort von Licht und Finsternis, die im mathematischen Raum nicht mehr sich unterscheiden lassen (die Finsternis ist die letzte der ägyptischen Plagen vor der Tötung der Erstgeburt).
    Das Licht ist die Erinnerung des ersten Schöpfungstags. Der Herrentag, die dies dominica, die auf diesen Tag sich bezieht, ist der Tag der Erinnerung des Schöpfungswerks, nicht der Verdrängung des Sabbats. Die dies dominica sollte nicht mit dem Sabbat verwechselt werden; der Sonntag erinnert an das Gebot: Ihr seid das Licht der Welt.
    Das Sklavenhaus der Sprache: Die subjektiven Formen der Anschauung, das sind die schwarzen Löcher, die mit der Kraft des Namens auch das Licht aus der Sprache heraussaugen, sie entmetaphorisieren, sie zu einem Herrschaftsinstrument entmächtigen.
    Insektenforscher: Im Inertialsystem, dem Referenzsystem der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, hat sich die theologische Tradition verpuppt.
    Die Phänomenologie setzt den gleichen transzendentalen Apparat voraus, dessen Reflexion sie ausblendet. Das gilt schon für die Phänomenologie des Geistes.
    Die Mikrophysik ist eine Theorie des verdinglichten, geronnenen Feuers. Hat die europäische Aufklärung damit nicht den ganzen Himmel vermessen: Im Anfang Wasser (Thales), am Ende Feuer?
    Die Metaphorik rührt an das sprachliche Wesen der Natur, das nur durch die Kritik ihrer Beziehung zur Zeit hindurch zurückzugewinnen ist.
    Steckt im Herrengebet der Dekalog, haben Vater und Mutter etwas mit Himmel und Erde zu tun?
    Die Theologie hinter dem Rücken Gottes gehorcht der Logik des Weltbegriffs, die auf den Verrat der Vergangenheit, den Verrat der realen Welt und auf den Verrat der Menschheit hinausläuft. Horkheimers Frage: Wie kann man auf diesem Riesenleichenberg die richtige Gesellschaft errichten, läßt sich als Erinnerung daran verstehen, daß die richtige Gesellschaft nicht gegen die Toten errichtet werden kann.
    Als die Sowjetunion das Lenin-Mausoleum errichtete, hat sie das Proletariat verraten.

  • 26.4.96

    Wie verhält sich die lateinische (feminine?) Konstellation von res, natura, mundus und materia zur griechischen (maskulinen?) Konstellation von pragma, physis, kosmos und hyle, und wie verhalten sich beide zur Konstellation von Ding, Natur, Welt und Materie?
    Die Welt gründet in einem Akt des Richtens, durch den sie am Ende selbst gerichtet wird.
    Die Einheit des philosophischen Gottes (des griechischen Monotheismus) ist die des subjektlosen Richtens; die reale Einheit Gottes hingegen gründet in Seinem Erwachen, in der Barmherzigkeit.
    Ist nicht in Rosenzweigs Konstruktion des Weltbegriffs (B = A) das A in sich selber vermittelt: ein Reflex des B in der Konstruktion des Begriffs des Menschen (B = B)? Das Allgemeine der Welt ist ein Besonderes. Im Kern des Weltbegriffs steckt die innere Kollektivität des Subjekts, an die der Begriff der Masse erinnert.
    Das Rätsel des Begriffs des Opfers löst sich, wenn das Opfer aus der Verstrickung in den Weltbegriff befreit wird. Dann erweist sich das Opfer als sein eigenes Gegenteil; nicht mehr als Opfer, sondern als Manifestation der Barmherzigkeit. Genau dadurch unterscheidet sich das JHWH-Opfer von dem Opfer des Baal.
    Die Kirche, die die Armen vertritt, hat sich selbst an die Stelle der Armen gesetzt. So hat sie die Sakramentenlehre verhext. Damit aber ist die Kirche zum Modell aller Institutionen seitdem geworden.
    Die Verurteilung (die die Vergangenheit irreversibel macht) ist das Sakrament des Büffels. Die Opfertheologie, die die Welt entsühnt, spricht damit das verurteilende Prinzip frei: Sie legitimiert Herrschaft.
    Gilt nicht für die Sprachen, was Hegel im Kontext seines Naturbegriffs von den Tieren sagt: Die Natur kann nach Hegel den Begriff nicht halten, weil es anders nur ein Tier, nicht aber ein Spektrum unterschiedener Arten und Gattungen geben dürfte. Wie verhält sich die Benennung der Tiere durch Adam, in der die Einheit der Sprache im Paradies sich manifestiert, zum Turmbau von Babel, in der die Sprache verwirrt, ihre Einheit zerstört wurde? Ist Babel nicht das Symbol für die neue Einheit des anderen, des apokalyptischen Tieres (das am Ende sich als eins mit dem philosophischen Gott erweist)?
    Für die Griechen steckt der Teufel, für die Juden steckt Gott im Detail.
    Den Satz „Um das ein für allemal klarzustellen …“ sprechen nur Väter, die im Bestehenden die Herrschaft der Vergangenheit verkörpern. Bezieht sich nicht das Wort „Laßt die Toten ihre Toten begraben“ auf diese Väter? Die Schwierigkeit einer Theologie im Angesicht Gottes gründet darin, daß es in ihr kein Ein-für-allemal gibt.
    Das Ein-für-allemal ist als Prinzip der Väter zugleich das Prinzip von Gesetz und Verwaltung.
    Das Prinzip der Lohnarbeit hat das Verhältnis von Befehl und Gehorsam neutralisiert, es in einen Sachzwang verwandelt, den Arbeiter zum reinen Objekt gemacht. Für die Herrschenden in Wirtschaft und Politik sind die Arbeiter von den materiellen Ressourcen (Maschinerie, Rohstoffe, Energie, Kredit) nicht mehr zu unterscheiden. Sie sind wie diese nur noch ein Kostenfaktor, der möglichst niedrig zu halten ist.
    Die Antwort auf die Materialisierung der Menschen wäre die Humanisierung der Natur.

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie