Hogefeld

  • 29.11.1996

    Hat die Erschaffung Evas aus der Seite Adams etwas mit der Exogamie zu tun?
    Das plancksche Strahlungsgesetz bezieht sich auf eine Versuchsanordnung, zu der insbesondere ein „dunkler Hohlraum“ gehört: ein von allen Seiten umschlossener Raum, in dessen Innern der gleiche Zustand bestehen soll wie außerhalb, nur daß die unmittelbare Wechselwirkung zwischen den Verhältnissen draußen und dem Geschehen im Innern ausgeschlossen werden soll, mit einer Ausnahme, deren Isolierung der Zweck der Versuchsanordnung ist: die thermische Einwirkung. Die Versuchsanordnung soll im Innern des Raumes einen Gleichgewichtszustand herstellen und stabilisieren, der nur noch von einem Parameter abhängt: von der Temperatur.
    Der statistische Charakter der planckschen Strahlungsformel drückt nicht nur ihre Unabhängigkeit von der Konkretisierung mechanischer oder elektromagnetischer Prozesse aus; sie verweist auf einen Systemeffekt, auf den Systemcharakter des Erhaltungssatzes, der hier auf den Gesamtzustand im Innern des Hohlraums sich bezieht. Ob diesem Systemeffekt die mechanischen und elektromagnetischen Modelle, die unsere Vorstellung dem Gesetz zugrundelegt, wirklich zugrundeliegen, ist eine sekundäre Frage.
    Beschreibt nicht Girard in seinem Konzept des „versöhnenden Opfers“ die Ursprungsgeschichte des Rechts? Wenn das Urteil „im Namen des Volkes“ gefällt wird, so ist das in dieser Urteilsformel zitierte Volk der Repräsentant der Opfernden in diesem versöhnenden Opfer, und der Verurteilte das Opfer. Aus dieser Konstellation läßt der Satz, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand ist, sich herleiten.
    Beschreibt René Girard in „Das Heilige und die Gewalt“ nicht aufs genaueste die Wolfsreligion, der auch das Christentum mit der Opfertheologie sich angeglichen hat? Als Staatsreligion hat das Christentum sich auf die Seite der Verfolger (der Wölfe) geschlagen. Die subjektiven Formen der Anschauung sind das Wolfsgesicht (das Gesicht, das nicht mehr barmherzig blickt: das Gesicht des Hundes, das nach christlicher wie nach jüdischer Tradition das Zeitalter des Antichrist kennzeichnet). Nur die Kraft, die in der Lage ist, die subjektiven Formen der Anschauung wieder reflexionsfähig zu machen, ist fähig, ihre verhexende Gewalt aufzulösen.
    Benennt Gott nicht am Ende des Buches Jona, mit dem Hinweis auf die 120000, die rechts und links nicht unterscheiden können, den Grund, weshalb Jona nach Tarschisch geflohen ist?
    Die Bundesrepublik: Ist sie die Finsternis über dem Abgrund, in den das nationalsozialistische Deutschland sich gestürzt hat?
    Staatsschutzprozesse machen eigentlich kurzen Prozeß, und sie dauern nur so lange, und sind nur deshalb so aufwendig, weil sie das vertuschen müssen.
    Das merkwürdige Gefühl bei den ersten Prozeßbesuchen, daß Ankläger und Gericht sich offensichtliche unter dem Zwang sehen, das „in dubio pro reo“ auf sich selber anzuwenden.
    Zu Hubertus J./JU:
    – des Kaisers neue Kleider,
    – der Versuch, die eigene Geschichte zu reflektieren, steht in ausgesprochenem Kontrast dazu, daß das in diesem Urteil völlig unter den Tisch gefallen zu sein scheint,
    – statt dessen der infame Freispruch, das ein Licht wirft auf die instrumentalisierende Logik, die dieses Verfahren insgesamt beherrscht hat,
    – nachdem es eine kritische Öffentlichkeit für diese Prozesse nicht mehr zu geben scheint („RAF-Mitglieder“, die läßt man fallen wie eine heiße Kartoffel), mußte natürlich Hubertus Janssen, der diese Rolle fast als letzter noch übernommen hat, die Infamie geradezu magnetisch anziehen.
    Daß es noch einige gibt, die keine Sympathisanten der RAF sind, die aber diese Art der Prozeßführung gleichwohl erschreckt, hat das vielleicht etwas damit zu tun, daß sie den Schrecken des Faschismus nicht loswerden, mit dem diese ganze Geschichte – übrigens auf beiden Seiten der „Front“ – unendlich viel zu tun hat.
    Eine wutbebende „heilige Empörung“, die Humanität und Reflexionsfähigkeit „christliches Geschwafel“ nennt, weckt nun wirklich schlimmste Erinnerungen.
    Käme es nicht in der Tat darauf, das ungelöste Problem, für das die RAF steht, endlich reflexionsfähig zu machen, anstatt diese Reflexion so wütend und denunziatorisch zu vedrängen?
    Ist hier nicht die JU auf einer Linie mit den Hardlinern der RAF, sind nicht beide darauf aus, diese Reflexion durch Ausgrenzung und Gegendiskriminierung zu unterbinden? Das „leider!“ der JU erschreckt mich mindestens ebensosehr wie die RAF. Hieraus höre ich den Ton der größten terroristischen Vereinigung, die es in diesem Lande gegeben hat, und deren Potential offensichtlich fortbesteht.
    Einer der Effekte der Feindbildlogik ist es, daß sie, ohne es zu merken, den Feind zur Norm des eigenen Handelns macht. Feinde werden nur allzu leicht zu Doppelgängern: Jeder erkennt im andern, was er in sich selbst verdrängen muß. Der Verfolgungswahn ist ein Produkt der Unfähigkeit zur Selbstreflexion.
    Wer den Feind als Wolf erfährt, wird selbst zum Wolf. Für den Wolf aber ist auch das Lamm ein Wolf, das er glaubt, zerreißen zu müssen, um sich zu verteidigen.
    Ist nicht der Girard’sche Doppelgänger ein Feindbildeffekt?

  • 28.11.1996

    Zum Sternkreis gehört der Widder, nicht das Lamm, wie zu den Sternzeichen überhaupt der Adler, nicht die Taube gehört. Zum Sternkreis gehört auch die Jungfrau.
    Inzestverbot: Der Satz, daß auch die Natur durch Kultur vermittelt ist (Girard, S. 330), gilt nicht nur für die Verwandschaftsverhältnisse und die Heiratsregeln.
    Die Symbollogik unterscheidet sich sowohl von der Logik des Begriffs wie auch von der korrespondierenden Logik der Zeitfolge (des Historismus). Der Fundamentalismus versucht, die Logik des Begriffs und die der Zeit auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Aber dieser Nenner ist der der Gewalt. Das hegelsche Weltgericht ist noch harmlos gegen das, was die Nazis daraus gemacht haben.
    Wie ist das mit den sieben Köpfen und den zehn Hörnern des Drachen und des Tiers aus dem Meer? Das Tier vom Lande hat zwei Hörner (wie ein Widder) und redet wie ein Drache.
    Haben die zehn ägyptischen Plagen nicht eine Vorgeschichte und eine Nachgeschichte? Zur Vorgeschichte gehört die Geschichte von den Stäben, die zu Schlangen werden, aber die Schlange Aarons frißt die der ägyptischen Zauberer; die Nachgeschichte, das ist die Geschichte des Passa und der Tötung der Erstgeburt in Ägypten.
    Hören, nicht Gehorsam: Die Idee des Heiligen Geistes bedeutet u.a., daß der Kreuzestod kein Vorbild irgendeiner Nachahmung (kein Objekt der mimesis) ist, sondern Ursprung des Nachfolgegebots, das die Forderung der Autonomie und der Öffentlichkeit mit einschließt.
    Wie hängt das Inertialsystem mit dem Inzestverbot (mit der Exogamie) und mit dem Namen der Barbaren zusammen?
    In der grammatischen Geschichte des Urteils entsprechen das Subjekt und das Nomen dem Namen der Barbaren, während das Objekt und das Substantiv dem Begriff des Wilden korrespondieren. Der durch die kopernikanische Wende neu definierte Naturbegriff bezeichnet eine Natur, zu der die Wilden gehören.
    Niemand kennt den Tag und die Stunde, weder die Engel im Himmel, noch der Sohn, sondern allein der Vater: Der Kapitalismus hat aus den Tagelöhnern die Arbeiter mit Arbeitsvertrag und Stundenlohn gemacht.
    Zum Hogefeld-Urteil:
    Dieses Urteil hat nur die Anklage ratifiziert, und das selbst in dem Punkt, in dem es die Angeklagte freispricht (die Gründe des Freispruchs waren schon bei Einreichung der Anklageschrift offenkundig und hätten eigentlich zur Zurückweisung dieses Anklagepunktes führen müssen; aber es ging um etwas anderes: um die gerichtliche Feststellung, daß – ohne entsprechende Beweiserhebung – Wolfgang Grams den GSG 9-Beamten Newrzella erschossen hat, und das war nur über eine entsprechend instrumentalisierte Anklage gegen Birgit Hogefeld möglich; nach dem Freispruch ist diese gerichtliche Feststellung nicht mehr revidierbar – ist nicht auch die Nutzung der Rechtsprechung zu rechtsfremden Zwecken eine Rechtsbeugung?).
    Den Weg zur Ratifizierung der Anklage durch dieses Urteil hat dieser Senat sich freigeschaufelt
    – durch Ablehnung fast aller Anträge der Verteidigung, insbesondere der Anträge
    . auf Hinzuziehung neutraler, von den ermittelnden Behörden unabhängiger Gutachter,
    . auf Ladung und Befragung der behördeneigenen Gutachter (deren Feststellungen dann zur Grundlage des Urteils geworden sind) – wie begründet diese Anträge waren, konnte man bei Vernehmung eines suspendierten BKA-Beamten erkennen, der von massiven Eingriffen der BAW in die Ermittlungen des BKA berichtete und selber, nachdem er in seinen Ermittlungen zu vom Anklageinteresse der BAW abweichenden Ergebnissen gekommen war, suspendiert und aus dem Verkehr gezogen worden ist,
    . auf Ladung von Zeugen, die die Geschehensabläufe in Bad Kleinen hätten aufklären können, an denen das Gericht jedoch nicht interessiert war,
    – sowie durch eine Beweiserhebung, die z.T. erst nach suggestiver Befragung der Zeugen durch Mitglieder des Senats die für dieses Urteil brauchbaren Ergebnisse brachten,
    – und nicht zuletzt dadurch, daß die Erklärungen der Angeklagten am Gericht wie an einer Betonwand abprallten; im Urteil findet sich nicht einmal mehr der Versuch, auf diese Erklärungen einzugehen: so als wären sie ins Leere gesprochen.

  • 22.11.1996

    Wer immer nur ein gutes Gewissen hat, klinkt sich aus der Solidarität aus.
    Der schärfste Einwand gegen den Unschuldtrieb, gegen den Zwang des guten Gewissens, liegt darin, daß die Freiheit von Schuldgefühlen das Gericht definiert (frei von Schuldgefühlen ist der Ankläger, der Satan).
    Die apokalyptischen Tiere: sind das nicht Verkörperungen des Verfolgers?
    Der Punkt ist die vollständig zusammengeschrumpfte Kugel, die kein Inneres mehr hat, die nur nach nach außen blickt, für die das Innere der anderen ebenso wenig existiert wie das eigene Innere, und die dieses Innere nicht nur nicht erkennt, sondern als inexistent setzt. Die Kugel ist Ausdruck der Gewalt der Rückseite über das Angesicht, der Linken über die Rechte und der unteren über die obere Welt. Der Punkt ist die Basis der Zahlen.
    Haben nicht die Babylonier die Arithmetik und die Ägypter die Geometrie entdeckt? Die Griechen haben Arithmetik und Geometrie mit einander verbunden (nicht versöhnt), und zwar durch die Entdeckung des Winkels.
    Die Entdeckung des Punktes ist eine Folge der Entdeckung des Inertialsystems: Der reine Punkt ist der Schwerpunkt. Die „Definition“ des Punktes ist durch das Bild des „ruhenden Inertialsystems“ vermittelt; der Versuch, dieses „ruhende Inertialsystem“ zu bestimmen, führt in die Paradoxien, deren Ausdruck die beiden Relativitätstheorien Einsteins sind, er führt zu den hochsymbolischen Bildern des fahrenden Zugs und des frei fallenden Fahrstuhls.
    Im Bild des Punktes vollendet sich die Abstraktion, deren Wurzel die Winkelgeometrie ist (der Punkt ist der Eckpunkt eines Winkels, auch im Inertialsystem).
    Daß der Punkt ohne dieses Referenzsystem (das „ruhende Inertialsystem“) nicht sich definieren läßt, drückt im Korpuskel-Welle-Dualismus der Mikrophysik sich aus, einer Konsequenz aus dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, die das Inertialsystem selber dynamisiert. Hier werden beide, der Punkt und das ihn definierende Referenzsystem, in eine gemeinsame, wechselseitig sich reflektierende Bewegung hineingezogen. Hier erscheint das Referenzsystem in dreifacher Gestalt: als doppeltes Referenzsystem: nämlich sowohl der Korpuskel- als auch der Wellenbewegung, und in dieser Wellenbewegung zugleich als Objekt, als Erscheinung im System. Diese selbstreferentielle Konstruktion, deren systemische Wurzel das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit bezeichnet, ist der Inhalt der mikrophysikalischen Strukturen, die in dieser Vermittlung überhaupt erst sich konstituieren.
    In den Dingen ist die Beziehung von Verfolgern und Verfolgtem auf die abstrakteste Form zusammengeschnurrt: auf ihre Beziehung zur Zeit. Die Zukunft des einen ist die Vergangenheit des andern. Die Begriffe Natur und Welt sind logische Zwillinge, die wie Zukunft und Vergangenheit als getrennte auf einander sich beziehen. Die Ontologie ist die Hypostasierung dieses Akts der Trennung (sh. Rosenzweigs „verandernde Kraft des ‚ist’“).
    Ist nicht die Pharao (in der Geschichte der zehn ägyptischen Plagen und der Verhärtung seines Herzens) der verfolgte Verfolger, und drückt das nicht in den Pyramiden aufs genaueste sich aus?
    Wie hängt der Satz „Allein den Betern kann es noch gelingen …“ zusammen mit dem andern „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“?
    War das nicht einer der fatalen Effekte des Historikerstreits, daß mit dem Bestehen auf der „Einmaligkeit“ von Auschwitz es danach eigentlich nichts Einmaliges mehr geben kann? Und ist das nicht gerade die Voraussetzung der Metastasen von Auschwitz? Manifestation des Einmaligen ist der Name, und indem dieses Einmalige in die Vergangenheit versetzt wird, wird auch der Name ins Perfektum, in die vollendete Vergangenheit versetzt: Kein Ruf, der ihn noch erreicht. So hängt Auschwitz mit der Theologie zusammen.
    Der Begriff instrumentalisiert den Tod, dem er das Objekt, auf das er sich bezieht, überantwortet. Dagegen steht der Name und die Idee der Auferstehung, ohne die es den Namen nicht geben würde. Wenn einer kabbalistischen Tradition zufolge die sechs Richtungen des Raumes auf göttliche Namen versiegelt sind, so drückt genau darin (in der Beziehung der Dinge zum Raum) die Beziehung der Dinge zum Namen sich aus.
    Von der Idee der Auferstehung kennen wir nur das sprachlogische Symbol, das am Namen haftet (und vom Begriff geleugnet wird).
    Ist nicht Jer 3134, wonach am Ende keiner mehr den andern belehren wird, weil alle Gott erkennen, ein Hinweis darauf, daß die direkte Belehrung (das „Überzeugen“) in der Tat unfruchtbar ist? Es bleibt allein noch die reine Erkenntnis Gottes und die Hoffnung, daß sie die Kraft hat, sich mitzuteilen, die Erkenntnis des Namens, in dem die Kraft der Erweckung der Toten beschlossen ist.
    Wäre nicht die Kritik der Ästhetik eine zentrale Aufgabe der Philosophie, die an der Kritik der reinen Vernunft anzusetzen hätte (was hat die „transzendentale Ästhetik“, was haben die subjektiven Formen der Anschauung mit der Kunst zu tun)? Die Ästhetik ist das Feuer im brennenden Dornbusch: Es brennt, aber es verbrennt den Dornbusch nicht. Und dieses Feuer ist nicht Gott, sondern Gott spricht aus diesem Feuer.
    Zu den Grenzen gehören: die Grenzen der Nation (die die „Völker“ und das Ausland ausschließen); das Schaufenster (und die Reklame), das den Käufer von der Ware trennt; die subjektiven Formen der Anschauung, die das Anschauen vom Angeschauten trennen, die Sprachgemeinschaft mit dem Angeschauten neutralisieren. Die Wurzeln dieser Grenzen sind die Grenze zum Himmel und die Grenze zur Vergangenheit, zum Hades.
    Zu Kanther fällt mir nur noch ein: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.
    Selbstreferentielle Asymmetrie: Wenn wir heute, in unserer politischen Selbstverständnis, das Handeln des „Auslandes“ zur Norm unseres eigenen Handelns machen, dabei merkwürdigerweise das „Urteil des Auslandes“ (als „Heuchelei“: sie treiben es ja auch nicht anders) ausblenden, weil wir es als Angriff erfahren, holen wir dann nicht über die Metastasen von Auschwitz Auschwitz wieder in unser Handeln zurück? Das Feindbild Ausland bleibt uns so auf jeden Fall erhalten.
    Feindbilder haben seit je auch die Funktion, das, was als Handeln des Feindes erfahren wird, zur Rechtfertigung des eigenen Handelns zu mißbrauchen und damit zur Norm des eigenen Handelns zu machen: die gleiche logische Konstruktion liegt dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozeß zugrunde, sie begründet die Logik der „Naturgesetze“ wie auch die Gesetze des Rechts. Diese Logik wird durchbrochen durchs Gebot der Feindesliebe, das sie aus der Starrheit erlöst und reflexionsfähig macht.
    Die Feindbildlogik ist in sich selber atheistisch, und die einzige Gestalt der Theologie, die heute noch möglich ist, wäre die, die dieses Feindbildlogik sprengt (und die Religion aus dem Bann des Fundamentalismus befreit ohne sie zu verraten). In die Feindbildlogik (und seine religiöse Variante, den Fundamentalismus) gerät zwangsläufig hinein, wer zum Herrendenken keine Alternative mehr kennt.
    Wer Horkheimers Begriff der instrumentellen Vernunft als Angriff erfährt, ist ihr bereits verfallen.
    Wie verhält sich der Satz Reinhold Schneiders „Allein den Betern kann es noch gelingen … und diese Welt den richtenden Gewalten durch ein geheiligt Leben abzuringen“ zu den Reflexionen René Girards über das Heilige und die Gewalt? Ist nicht der Säkularisationsprozeß (der Prozeß der „Verweltlichung der Welt“) Teil einer Geschichte, die diese Forderung eines „geheiligten Lebens“ nachgerade erzwingt? Wie verändert sich der Begriff des Heiligen im Säkularisationsprozeß? Der Säkularisationsprozeß, die Geschichte der Aufklärung, ist ein Prozeß, der, indem er die Idee des Heiligen aus der Objektivität vertreibt, sie ins Subjekt zurücknimmt. Jeder Versuch, das Heilige in der Welt zu erhalten, ist fundamentalistisch, und damit ein Produzent von Gewalt. In diesem Kontext löst sich das Problem der Derridaschen Anfrage an Walter Benjamins „Kritik der Gewalt“ und den Begriff der göttlichen Gewalt, die in keinem Punkt mit irgend einer Form der staatlichen Gewalt sich berührt, es sei denn als Element ihrer Auflösung.
    Johann Baptist Metz‘ Konzept der Verweltlichung der Welt, führt in die Irre, wenn sie nicht die Kritik der Gewalt in sich aufnimmt. Die Kritik der Gewalt ist nicht zu verwechseln mit der Forderung nach Gewaltfreiheit: Während die Forderung nach Gewaltfreiheit sich unter das Gewaltmonopol des Staates stellt, zielt die Kritik der Gewalt auf die Auflösung des Gewaltmonopols des Staates: auf die Manifestation der göttlichen Gewalt. Die göttliche Gewalt leitet sich her aus dem Satz „Mein ist die Rache, spricht der Herr“, sie manifestiert sich im „Triumph der Barmherzigkeit über das Gericht“, im Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht. Dieser Akt ist der einzige Inhalt der Apokalypse.
    Wer glaubt, das Gewaltmonopol des Staates sei verfügbar im Interesse der Verwirklichung der richtigen Gesellschaft, verkennt u.a. auch den Marxschen Hinweis, daß in der richtigen Gesellschaft der Staat sein Ende findet, sich auflöst. Deshalb sind Staatsschutzsenate und ist der Titel Staatsanwalt schon vom Grunde her reaktionär.
    Wenn es dem Staatsschutz wirklich um die Bekämpfung des Terrorismus ginge, müßte er sein Ziel, nachdem die RAF dem Terrorismus abgesagt hat, im wesentlichen erreicht haben. Was er aber jetzt tut, beweist, daß es ihm garnicht um das Ende des Terrorismus, sondern um Rache geht. Verfolgt wird nicht der Terrorismus, sondern verfolgt wird die Reflexion, die schon der Terrorismus selber verraten hatte. Deshalb war dieser Staatsschutzsenat nicht einmal fähig, die Erklärungen Birgit Hogefelds auch nur sich anzuhören; das Urteil lautet so, als hätte es diese Erlärungen überhaupt nicht gegeben.
    Hegels Reflexion über das Problem des Anfangs in der Philosophie läßt an ersten Sätzen in der Philosophie sich demonstrieren, angefangen mit dem ersten Satz der Philosophie überhaupt (Thales: Alles ist Wasser) über den ersten Satz der Dissertation Thomas von Aquins: Parvus error in principio magnum est in fine, bis hin zum Anfang von Schellings Weltalter: … die Zukunft wird geahndet. Auch die ersten Sätze im Stern der Erlösung und in Wittgensteins Logisch-philosophischem Traktat gehören hierher. Außerdem: Seit wann (und aus welchem Grunde) werden zu philosophischen (und wissenschaftlichen) Werken Einleitungen geschrieben (und im Falle der Phänomenologie des Geistes zur Einleitung noch eine Vorrede)? Ist die Furcht, die Werke könnten mißverstanden werden, und damit der Versuch, diese möglichen Mißverständnisse schon im vorhinein durch eine Vorrede oder Einleitung zu zerstreuen, so unbegründet (haben nicht Rosenzweig und Wittgenstein auf eine Einleitung verzichtet)?
    Sind nicht eigentlich alle naturwissenschaftlichen Bücher Einleitungen zu Texten, die keine mehr sind: zu den Formeln, die die Texte dann nur unzulänglich zu erläutern vermögen? Wer vermöchte wirklich Das Gravitationsgesetz, das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit oder die These von der Identität von träger und schwerer Masse in Sprache zu übersetzen?
    Die drei zivilisationskritischen Großprojekte der Aufklärung, Marx, Freud und Einstein, beschreiben sie nicht die Brennpunkte des Aufklärungsprozesses aus der Opferperspektive, Marx aus der des Proletariats, Freud aus der des Unbewußten, und Einstein aus der des materiellen Objekts? Und gehören hierzu nicht die Objekte der Kritik: das Tauschprinzip, das Realitäts- und Lustprinzip und das Trägheitsprinzip?
    Der Unschuldstrieb (das „reine Gewissen“) wird durch die Allgemeine Relativitätstheorie Einsteins symbolisiert und widerlegt.
    Kommt bei René Girard die Geschichte des Stephanus (und des Saulus) vor, und was bedeutet sie für sein Sündenbockkonzept? Ist nicht die Bekehrung des Paulus (die eine Bekehrung und keine Umkehr war) die eines Verfolgers, dessen Opfer „den Himmel offen“ sah?

  • 12.11.1996

    Ähnlich wie die Staatsschutzsenate die Grenzen des Rechtsstaats, testen die „Sparprogramme“ der Regierungen in der Europäischen Union unter dem Zwang des Maastricht-Vertrags die Schmerzgrenzen derer, die unten sind. Beide Grenzen, die der Gemeinheit wie auch die der Armut, sind dehnbar: die letzten dehnbaren Grenzen in der versteinerten Welt. Die versteinerte Welt ist die von den Gesetzen der Verwaltung beherrschten Welt.
    Gemeinheit ist kein moralischer, sondern ein logischer Tatbestand. Ihre Grenzen sind die Grenzen der Beweisbarkeit, auf die es in der Verwaltung allein noch ankommt (Tatsachen werden erst durch ihre Beweisbarkeit zu Tatsachen; Akten sind potentielle Beweise: Tatsachen werden erst durch Akten zu Tatsachen. Der Augenschein macht Tatsachen gerichtskundig: zu Akten).
    Eigentlich ist es ein archaisches Relikt, wenn in Staatsschutzprozessen überhaupt noch Zeugen benötigt werden. Verwertbare Zeugen sind insbesondere „Kronzeugen“, oder Zeugen, die entweder selber unter Anklagedruck stehen (erpreßte Zeugenaussagen) oder aus anderen Gründen eine Gewähr dafür bieten, daß ihre Aussagen dem Verurteilungswillen nicht im Wege stehen werden (z.B. Staatsbedienstete mit eingeschränkter Aussagegenehmigung). Der vollkommene Staatsschutzprozeß wäre einer, in dem die Beweiserhebung gleichsam nur behördenintern erfolgt (über Akten, eigene Ermittlungsergebnisse, behördeneigene Gutachten und „gerichtsbekannte Tatsachen“, die über Urteile aus früheren Prozesse ins Verfahren eingeführt werden; nicht im Sinne des Verurteilungswillens verwertbare Akten können durch verwaltungsmäßiges Anbringen von Geheimvermerken der prozessualen Beweiserhebung entzogen werden). M.a.W. der ideale Staatsschutzprozeß wäre ein reiner Verwaltungsakt, der von diesem nur durch das Öffentlichkeitsgebot, dessen Wirksamkeit auf anderem Wege neutralisiert werden muß, sich unterscheidet. Es ist dieser – objektiv bereits abgeschlossene – Verwaltungsakt der federführenden BAW, der im Prozeß unter der Moderation des Staatsschutzsenats der desinteressierten Öffentlichkeit vorgeführt wird und in der Regel dann auch mit dem in der Anklage bereits begründeten Urteil endet (bezeichnend ist selbst noch die Ausnahme von dieser Regel im Urteil im Hogefeld-Prozeß: der Freispruch im Falle Bad Kleinen ist nicht durch den Verhandlungsverlauf begründet; die Gründe dieses Freispruchs hätten schon zu Beginn des Prozesses zur Zurückweisung dieses Anklagepunktes führen müssen, was nur deshalb nicht erfolgt ist, weil nur so ein revisionssicheres gerichtliches Urteil über den „Mord an dem GSG-9-Beamten Newrzella“ durch den toten Wolfgang Grams gefällt werden konnte; der Nebeneffekt, daß in der Öffentlichkeit der Eindruck eines „objektiven Verfahrens“, in dem das Gericht vom Antrag der BAW abweichen konnte, entstanden ist, war sicher nicht unerwünscht; den Prozeßbesuchern ist das hierzu passende Grinsen aus dem Prozeß bekannt).
    Der Feindbild-Clinch ist der Dynamo, der den in den Abgrund rasenden Zug beschleunigt.
    Das Kapital beherrscht heute nicht mehr nur die Kapitalisten, sondern auch ihre Feinde: Während die einen Charaktermasken des Kapitals sind, sind die anderen seine Marionetten, die, ohne es zu wissen, an den Fäden seiner Logik hängen, die längst zur Logik der Welt geworden ist.
    Links und Rechts unterscheiden: Der „Seitenblick“, in dem wir nicht nur die andern und die Welt, sondern auch uns selbst nur noch von außen sehen, ist die gemeinsame logische Basis sowohl des kopernikanischen Systems als auch der kapitalistischen Revolution in Europa. Im Hinblick auf diesen Blick allerdings gibt es kein Außen mehr, gibt es die „Seite“ nicht mehr, von der aus er selber „objektiv“ zu bestimmen wäre, sondern nur noch das Mittel der Reflexion, dessen Kraft am Andern, an der Fähigkeit, in den Andern sich hineinzuversetzen, allein sich entfaltet. In der Ausschaltung und Unterdrückung dieser Reflexion konstituiert sich DIE BANK, DIE IMMER GEWINNT.
    Jürgen Ebach weist darauf hin, daß die „großen Meeresdrachen“ insofern „eine Sonderstellung unter den Lebewesen haben …, als von ihnen nicht eindeutig gesagt wird, sie seien ’nach ihren Arten‘ erschaffen, Auf diese Weise sind sie als ‚Un-Tiere‘ gekennzeichnet“ (Hiob II, S. 151). Vgl. hierzu die Bemerkung Hegels zur „Ohnmacht der Natur, die Strenge des Begriffs nicht festhalten und darstellen zu können und in diese blinde Mannigfaltigkeit sich zu verlaufen“. Diese „Ohnmacht der Natur“ begründet Hegel mit dem Hinweis, daß „in der Natur … in einer Gattung mehr als zwei Arten“ sich finden (Logik II, Felix Meiner Leipzig 1951 <Nachdruck der Ausgabe von 1934>, S. 247). Nach Hegel dürfte es nur zwei Arten in einer Gattung geben, die wie Allgemeines und Besonderes zueinander sich verhalten: Allgemeines und Besonderes ist für ihn nicht Ausdruck der (Subsumtions-)Beziehung, durch die Gattung und Art in der traditionellen Logik aufeinander sich beziehen, er begreift beide als getrennte, reversible, ineinander sich spiegelnde Reflexionsbestimmungen, zu denen sie jedoch erst durch die idealistische Prämisse werden (die unter dem logischen Zwang der subjektiven Formen der Anschauung die Umkehr säkularisiert, die Irreversibilität der Beziehung von Objekt und Begriff, damit aber am Ende die Idee der Barmherzigkeit leugnet). Zu fragen wäre überdies, ob nicht Allgemeines und Besonderes im Kontext des Gattungsbegriffs nichts weniger repräsentieren als die „Arten“, die in der Tat allein in theologischem Zusammenhang (als Werk der sie hervorbringenden „Erde“) sich begreifen lassen, ob sie nicht vielmehr die im Gattungsbegriff selber mit benannte Geschlechtertrennung bezeichnen, die erst unter idealistischem Vorzeichen am Ende zu getrennten Arten sich verselbständigen. Die „Ohnmacht des Begriffs“ ist ein offener Hinweis auf den „Triumph der Barmherzigkeit über das Gericht“.
    „Nach ihrer Art“ (Gen 1):
    – Die Erde lasse sprossen … Die Erde ließ sprossen junges Grün: Kraut, das Samen trägt nach seiner Art, und Bäume, die Früchte tragen, in denen ihr Same ist, je nach ihrer Art,
    – Es wimmle das Wasser … Gott schuf die großen Meerestiere und alles, was da lebt und webt, wovon das Wasser wimmelt, und alle geflügelten Tiere, ein jegliches nach seiner Art,
    – die Erde bringe hervor … Gott machte alle die verschiedenen Arten des Wildes und des Viehs und alles dessen, was auf dem Erdboden kriecht.

  • 11.11.1996

    Das Inertialsystem (das mit den „subjektiven Formen der Anschauung“, mit der transzendentalen Ästhetik, in den Erkenntnisapparat eindringt) ist das verdinglichte Dogma. In seinem Kontext
    – verändert sich das Urteil und mit ihm die Sprache,
    – wird das Urteilssubjekt zum Objekt,
    – wird das Nomen, das das Subjekt bezeichnet, zum Substantiv,
    – das Opfer, auf das die Opfertheologie sich bezieht, wird verinnerlicht: geopfert wird die Sinnlichkeit, die Vernunft, die Fähigkeit zur Schuldreflexion,
    – die Sprache wird zur bloß subjektiven Reflexion entmächtigt, die an der versteinerten Objektivität abprallt; sie verliert ihre erkennende Kraft, die im Namen gründet, und wird selber zu einem Instrument der Information und der Mitteilung verdinglicht, als welches sie dann der Kommunikationstheorie ihr Objekt liefert.
    Als Endstufe einer verdinglichten und automatisierten Bekenntnislogik, an deren exkulpierender Kraft es partizipiert (als Zerfallsprodukt des Dogmas), begründet das Inertialsystem mit der Verinnerlichung des Opfers, mit der Unfähigkeit, das Undenkbare zu denken, das Schuldverschubsystem und in dessen Kern die Feindbildlogik, die das Bewußtsein aller verhext.
    Das erste, das Christentum begründende Opfer war das Opfer des Lammes, ich hoffe nicht, daß das zweite, die Geschichte des Christentums beendende Opfer das Opfer der Taube sein wird, ein Opfer, das vorgebildet ist in der Verinnerlichung des Opfers, die das Inertialsystem verkörpert.
    Der entscheidende Schritt zur Konstituierung des Objekt ist die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, das Schellingsche „Ahnden“. (Ist diesem Ahnden am Anfang der Weltalter nicht ein Sinn abzugewinnen, wenn man es auf den Satz bezieht „Mein ist die Rache, spricht der Herr“?)
    Kant hat mit seiner Kritik der Urteilskraft die Fähigkeit, Links und Rechts zu unterscheiden, noch einmal zu retten versucht. Diese Fähigkeit ist dann in den Systemen des deutschen Idealismus endgültig untergegangen.
    Das Undenkbare denken: Bei Franz Rosenzweig drückt sich das in der Intention, das Zerdachte zu rekonstruieren, aus, in den Sätzen: „Von Gott (dem Menschen, der Welt) wissen wir nichts, aber dieses Nichtwissen ist Nichtwissen von Gott (dem Menschen, der Welt)“, in der Rekonstruktion der drei Objekte jenseits des Wissens (oder auch: jenseits der Todesfurcht?).
    Was haben die vier Winde mit dem Geist Gottes zu tun?
    Der 68er Marxismus hat, wie es scheint, einen Problembereich der marxistischen Tradition vollständig verdrängt, den Bereich, der durch den kritischen Ideologiebegriff, durch den Begriff des falschen Bewußtseins und das Problem der Beziehung von Unterbau und Überbau sich umschreiben läßt. Genau diese Themen aber sind es, die den Bereich der Reflexion in der Marxschen Theorie bezeichnen. Sie sind gleichsam gegenstandslos geworden, als das Element der Kritik, der kritischen Reflexion, unter die Feindbildlogik subsumiert wurde. Zugleich ist die Theorie der Gefahr der Personalisierung erlegen. Die Vermutung läßt sich begründen, daß diese Verdrängung zusammenhängt mit der anderen, die seitdem die Beziehung zur Vergangenheit insgesamt verhext, nämlich daß man geglaubt hat, den Nationalsozialismus durch bloße Verurteilung bannen zu können, ohne auf das Grauen und den Schrecken, für die der Name steht, sich noch einlassen zu müssen. Mit der Bereitschaft und der Fähigkeit, das Grauen und den Schrecken an sich heranzulassen, aber ist die Reflexionsfähigkeit verdrängt worden. Der Marxismus ist zu einer Art Naturwissenschaft verkommen, Produkt des gleichen reflexionslosen „Seitenblicks“, zu dem es seit der kopernikanischen Wende kein Alternative mehr zu geben scheint.
    Ist nicht der 68er Marxismus selber Ausdruck von politisch-ökonomischen Veränderungen, die er nicht mehr begreift: der versteinerten Verhältnisse, deren Zubetonierung er selber mit provoziert hat?
    Um auf das Bild des in den Abgrund rasenden Zugs zurückzukommen: Dieses Bild ließe sich kritisieren als ein Bild des „Seitenblicks“. Und diese Kritik wäre berechtigt. Aber es gibt kein anderes, so wie es einen anderen, die Totalität ins Auge fassenden Blick außer dem „Seitenblick“ (der dem kopernikanischen Blick auf den Kosmos entspricht) nicht gibt. Den gleichen Sachverhalt hat Adorno einmal mit dem Hinweis zu fassen versucht, daß die Welt immer mehr der Paranoia sich angleicht, die sie doch zugleich falsch abbildet. Aufgabe der Kritik wäre es, dieses Bild durch Reflexion auf seinen Wirklichkeitsgehalt, der mit dem Bild, in dem er sich ausdrückt, nicht identisch ist, aufzulösen.
    Haben die drei obersten Sefirot etwas mit den drei kantischen Totalitätsbegriffen, mit dem Wissen, der Natur und der Welt, zu tun?
    Urteile in RAF-Prozessen brauchen nicht mehr wahr zu sein, sie müssen nur unwiderlegbar sein. Darin gleichen sie dem antisemitischen Vorurteil, das sie zugleich durch einen strategischen Vorteil übertreffen. Das antisemitische Vorurteil war moralisch angreifbar, während diese Urteile die Logik der moralischen Indifferenz des Rechts in sich enthalten (sie neutralisieren die moralische Angreifbarkeit durch ihre rechtliche Unangreifbarkeit), so glauben sie, auch der moralischen Kritik entzogen zu sein, gegen sie als immun sich zu erweisen. Aber wäre nicht an ihnen der Satz aus dem Jakobus-Brief zu erproben: Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht, das Grundprinzip einer wirklich eingreifenden Rechtskritik?
    Der zentrale Punkt ihrer Schwäche ist die Unwiderlegbarkeit der RAF-Urteile: Unwiderlegbar sind sie allein in einem logischen Medium, dessen Funktion und Qualität der der Laborbedingungen im Hinblick auf den naturwissenschaftlichen Erkenntnisbegriff entspricht. Die juristischen „Laborbedingungen“ müssen zuvor hergestellt werden, zu ihnen gehören:
    – das in Gesetzesform bereits vorliegende Instrumentarium der Einschränkung und Behinderung der Verteidigung (Zusammenfassung sh. Bakker-Schut),
    – die Bedingungen, denen die Angeklagten während der Untersuchungshaft (die dann in der Strafhaft zwangsläufig beibehalten werden müssen) unterworfen werden, und die sie aller subjektiven Bedingungen ihrer eigenen Verteidigung berauben (sie imgrunde rechtlos wie den Feind machen) sollen,
    – das Instrumentarium der „instrumentalisierten Anklage“, mit dessen Hilfe Einfluß auf potentielle Zeugen genommen werden kann (sie können unter Druck gesetzt werden, u.a. durch Erpressung der Zustimmung zur Anwendung der Kronzeugenregelung, in anderen Fällen können auf diesem Wege die Voraussetzungen für ein Zeugnisverweigerungsrecht geschaffen werden).
    Nicht zufällig erwecken RAF-Prozesse den Eindruck, daß nicht der erkennende Senat, sondern die Anklage der wirkliche Herr des Verfahrens ist, der durch das vorgenannte Instrumentarium seine Steuerungsfähigkeit auf den Prozeßverlauf und auf alle Prozeßbeteiligten auszudehnen vermag.
    Es läßt sich nicht mehr ausschließen, daß das Urteil gegen Birgit Hogefeld in einem geradezu herzzerreißenden Sinne ein Fehlurteil ist:
    – begründete Zweifel, ob eine Angeklagte die Taten, für die sie verurteilt worden ist, wirklich begangen hat, sind objektiv nicht ausgeräumt worden,
    – das Urteil hat nicht einmal mehr versucht, den Eindruck zu widerlegen, es sei die Rache dafür, daß die Angeklagte sich geweigert hat, sich als Kronzeugin zur Verfügung zu stellen, und
    – es kann nicht mehr ausgeschlossen werden, daß diese Weigerung letztlich darin begründet war, daß sie ihr wirkliches Ziel, in die RAF Reflexionsfähigkeit hereinzubringen, wenn sie anders sich verhalten würde, selber verraten würde.
    Aber zu der Fähigkeit, diese Möglichkeit sich auch nur vorzustellen, fehlten dem Gericht und vor allem der BAW die Freiheit der Phantasie, die durchs Apriori des eigenen Feindbildes und des daraus resultierenden Verurteilungswillens außer Kraft gesetzt war. Diese Verfahren sind insgesamt nur noch Verkörperungen mythischer Gewalt, die im mythischen Schrecken der Urteile (in den mehrfach lebenslänglichen Haftstrafen, der „besonderen Schwere der Schuld“) sich entlädt.
    Staatsschutzverfahren als Verkörperungen mythischer Gewalt: Liegt das nicht in Konsequenz der Logik ihres Auftrags und der vorgegebenen Rahmenbedingungen ihrer Durchführung?
    Ist die Geschichte vom Traum des Nebukadnezar, den Daniel, bevor er ihn deuten kann, erst rekonstruieren muß, da Nebukadnezar ihn nicht mehr weiß, nicht ein Modell des Satzes, daß, wer einen Sündern vom Weg seines Irrtums bekehrt, damit seine (eigene) Seele vom Tode rettet?
    Hat nicht der Fernhandel, der heute in der Globalisierung des freien Marktes sich vollendet, seit je nur den Staat, nicht die Menschen genährt?
    Läßt sich die Geschichte von den sieben unreinen Geistern nicht auf die hegelsche Dialektik von Herr und Knecht beziehen:
    – es gibt nicht nur einen Knecht, sondern eine arbeitsteilige Organisation von Knechten, einen subjektlosen Organismus unterschiedener knechtlich-abhängiger Funktionen;
    – es gibt nur einen Herrn, und wenn die Knechte ihn ablösen, werden dann die letzten Dinge nicht ärger sein als die ersten?
    Die Gemeinheiten des Herrn reproduzieren (und potenzieren) sich in denen des Knechts. Der Ausweg wäre allein eine Gestalt der Herrschaft, die aus dem Bann der Gemeinheit, der Feindbildlogik und des Herrendenkens herauszutreten vermöchte.
    Die Konstellation, in die die Reklame die „Liebe“ zur Eigentumslogik rückt (durch Instrumentalisierung des Bedürfnisses nach Anerkennung, des Geliebtwerden-Wollens, des Selbstmitleids): ist das die Venus-Katastrophe?
    In den stalinistischen Schauprozessen der 30er Jahre soll es die Fälle gegeben haben, in denen angeklagte Genossen, die wußten, daß die Anklagen frei erfunden waren, sich diese gleichwohl zueigen machten, auch das – für sie dann vernichtende – Urteil akzeptierten, weil sie auch noch in dieser Situation die Parteiraison über ihre persönliche Einsicht stellten und glaubten, so der Partei, deren weltbefreiender Auftrag für sie außer Frage stand, noch einen Dienst zu erweisen.
    Politische Prozesse konstituieren so etwas wie ein innerstaatliches Völkerrecht. Nicht nur der Status der Angeklagten, sondern auch der der Strafgefangenen ist zweideutig. Ähnlich changiert die Logik der Strafen zwischen der Logik des Strafrechts und der des Kriegsrechts. Mehrfach lebenslängliche Haftstrafen und ein Begriff wie der der „besonderen Schwere der Schuld“ transportieren das Urteil und die Strafe über die Grenzen des Strafrechts hinaus; ihre Irrationalität ist ein Teil ihrer Rationalität: in ihrer Wirkung gleichen sie den Wirkungen der Aberkennung der bürgerlichen Rechte oder der Ausbürgerung, dem Entzug der Staatsbürgerschaft, der in der nationalsozialistischen „Endlösung der Judenfrage“ der letzte Schritt vor der Vernichtung war. Deshalb erwecken RAF-Prozesse den Eindruck kurzer Prozesse, die nur deshalb so lange dauern, weil anders das Selbstverständnis der Ankläger und der Richter, das auf ihr Handeln keinen Einfluß mehr hat, nicht zu begründen wäre.
    Wie hängt diese Logik mit der der Ware <zu deren Ursprungsgeschichte der Fernhandel, der Sklaven- und Frauenmarkt, die Geschichte der Eroberung und Unterwerfung anderer Völker und in der letzten Geschichtsphase ein Kolonialismus gehört, dem die ganze Welt zum herrenlosen Gut geworden ist> zusammen?

  • 9.11.1996

    1945: Der unreine Geist, nachdem er wasserlose Orte durchzogen und keine Ruhestätte gefunden hat, in sein Haus zurückkehrt, es leer, gereinigt und geschmückt vorfindet, geht hin und nimmt sieben andere Geister mit, die schlimmer sind als er, und sie ziehen ein und wohnen dort, und es wird nachher mit jenem Menschen schlimmer als vorher. (Mt 1243ff, vgl. Lk 1124ff)
    Ist nicht die rhetorische Frage in der Regel die Frage der Empörung, oder auch das in Frageform gekleidete kontrafaktische Urteil? Wie hängt die Massenbildung mit der Empörung zusammen?
    Die rhetorische Frage, wie auch das kontrafaktische Urteil, ist ein Element der Klage; in ihr gründet das Problem der Theodizee. Ist nicht diese Klage das Element, aus dem Anklage erwächst, und dann das Schuldurteil?
    Wenn eine Vorstellungswelt zerbricht, zerbricht nicht die Welt.
    Die Sprengung der Herrschaftslogik schließt die Sprengung der Vorstellung des Zeitkontinuums mit ein, das aber heißt, sie schließt die Idee der Auferstehung der Toten mit ein.
    Die heroische Attitüde Heideggers gibt es auch schon bei Hegel, dort wo er von der Kraft, der Negativität und dem Tod standzuhalten, ihnen ins (leere, nicht vorhandene) Angesicht zu sehen, spricht.
    Der Satz „Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist“ ist ohne die Idee der Auferstehung der Toten nicht mehr zu denken.
    Kann es sein, das das „Mein ist die Rache, spricht der Herr“ in dem Allereinfachsten besteht, daß dann jede Träne abgewischt wird: daß Herrschaft ihr Objekt, auf das sie sich stützt, verlieren und das nicht ertragen wird? Wäre das nicht der Triumph der Barmherzigkeit über das Gericht?
    Hat nicht der 5. Strafsenat Birgit Hogefeld dafür mit dieser wütenden Verbissenheit zur Rechenschaft gezogen und verurteilt, weil sie ihn in eine Situation gebracht hat, der er nicht gewachsen war? Sie hat diesen Senat vor eine Entscheidung gestellt, die er nur hätte treffen können, wenn er den Mut und den Verstand gehabt hätte, die er nicht hatte.
    Dieser Prozeß und dann dieses Urteil hat etwas verändert. Jetzt wird man reden müssen
    – über den Geist und das Handeln der Strafschutzsenate und der Bundesanwaltschaft,
    – aber auch über die RAF, die einerseits diesen Institutionen die Vorwände geliefert hat, so zu werden, wie sie heute sich darbieten, andererseits aber zugleich den Opfern dieser Institutionen die Solidarität verweigert,
    – und nicht zuletzt über die Öffentlichkeit, die ihre Wahrnehmungsfähigkeit eingebüßt hat und wieder einmal das Wegsehen einübt, und an der es sich jetzt rächt, daß in diesem Lande die Aufarbeitung der Vergangenheit in folgenlose Bekenntnisse sich verflüchtigt hat, real aber nie gelungen ist.
    Manchmal überkommt mich der böse Verdacht, ob die Frage des Richters Klein an die Angeklagte nicht eigentlich hätte lauten müssen: Hat es die RAF überhaupt noch gegeben? Und ist es wirklich ganz auszuschließen, daß der Anschlag auf Weiterstadt auf eine konspirative Provokation (BAW/VS/Steinmetz?) zurückzuführen ist, die dann ihren Zweck voll erfüllt hat, nämlich der Öffentlichkeit zu den nie aufgeklärten Taten der 80er Jahre nachträglich eine RAF zu liefern, die es eigentlich schon nicht mehr gab? Und bekennen sich die Hardliner der RAF vielleicht heute zu Handlungen, von denen sie selbst nicht wissen, wer sie begangen hat, an denen sie nur deshalb festhalten, weil ihre von der Realität abgespaltene Phantasie sie als Identitätsstütze braucht? Und das bis zu der bitteren Konsequenz, daß sie die eine, die den Sinn dieser Handlungen in Frage stellt, mit dem Bann belegen und aus ihrer wahnhaften Bekenntnisgemeinschaft zwangshaft ausschließen müssen? Zugleich muß der Staatsschutz sie mit der Verurteilung zu lebenslänglicher Haft aus dem Verkehr ziehen, weil sie, ähnlich wie Irmgard Möller nach der Stammheim-Katastrophe, die einzige ist, die vielleicht auf die Spuren stoßen und sie öffentlich machen könnte, die den Alptraum, zu dem dieser Staat in gleichem Maße zu werden scheint, in dem keiner es mehr für möglich zu halten fähig ist, als Realität erweisen würden.
    Die Nazis haben ihre Untaten durch ihre Dimensionen und ihr Ausmaß vor der Öffentlichkeit schützen können: Die Greuel waren leicht als Greuelmärchen zu dementieren, weil niemand (außer ihren Opfern, die sie real an sich selbst erfuhren) sie mehr für möglich halten konnte. Nur waren damals die Grenzen zwischen Realität und Vorstellungsvermögen noch nicht so scharf definiert: Zur Stabilisierung des abgespaltenen Vorstellungsvermögens, als wirksame kollektive Verdrängungshilfe, brauchten die Nazis das Gerücht von der Realität, das Klima des Terrors als allgegenwärtige und für alle spürbare Gewalt, die die Menschen zum Wegsehen zwang. Dieses Konstrukt hat die Nazizeit überlebt in dem Wort „Nestbeschmutzer“. Diskriminiert wurden nach dem Krieg nicht die Täter, sondern die, die ihre Taten an die Öffentlichkeit brachten.
    So gleicht sich die Realität immer mehr der Paranoia an, die sie doch zugleich falsch abbildet. Oder anders: So wird die Paranoia zu einem Erklärungsmuster der Realität, mit der Folge, daß heute die Realität nicht mehr begreift, wer nicht bereit ist, auch das Undenkbare zu denken, ohne daraus ableiten zu können, es sei so. Die Logik der Paranoia ist eine Erkenntnishilfe, aber man darf ihr nicht verfallen.
    Gegen diese Logik sind die Lyotardschen Reflexionen über das perfekte Verbrechen (die an die Erinnerung an Auschwitz anknüpfen) noch harmlos, weil sie zum Vebrechen verdinglichen, was in Wahrheit nur als kritische Reflexion eines logischen Sachverhalts sich begreifen läßt. An diesen logischen Sachverhalt, der an den Grund des Strafrechts selber rührt, reicht der strafrechtliche Begriff des Verbrechens nicht mehr heran.
    Der Versuch, das Undenkbare zu denken, liefert den Schlüssel zu den finsteren Geheimnissen des Staates (oder auch der Bekenntnislogik und der Opfertheologie, die die Religion zur Staatsreligion gemacht haben), vielleicht hilft er, Licht in dieses Dunkel hineinzubringen.
    Das Undenkbare denken: Dazu gehört auch, daß man einer Logik, die davon ausgeht, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, sich entzieht, daß es gelingt, die Kräfte, die es unterm Nationalsozialismus erlaubten, reale Greuel als „Greuelmärchen“ zu dementieren und so ihre Wahrnehmung zu verhindern, zu reflektieren und damit unwirksam zu machen. Ein Denken, das Herrschaftsinteressen, die heute mit dem Eigeninteresse derer, die an dem Privileg des Denkens noch teilhaben, konvergieren, sich unterordnet, mag sich als klug erweisen, es mag von einem hohen Grad der Intelligenz zeugen, es ist doch im Kern zugleich auch dumm, es verlernt, die Verblendung, deren Opfer es wird, zu durchschauen, es sieht insbesondere nicht mehr, was es anrichtet.
    Was einmal das „pathologisch gute Gewissen“ genannt wurde, ist eine in die Logik des Bewußtseins selber mit eingebaute Automatik; diese Automatik hat die kantische Philosophie, und zwar in der transzendentalen Ästhetik, erstmals rein herauspräpariert, sie ist damit bestimmbar und analysierbar geworden. Der erste, bis heute freilich nicht verstandene Beginn der Analyse dieser Automatik war Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung, ein im Kern logisch-philosophisches Werk, das nur aufgrund seiner Konsequenzen der speziellen Disziplin der Religionsphilosophie zugeordnet und so neutralisiert worden ist (der Gedanke, daß der Kern der Logik in der Theologie liegt, gehört zu dem Undenkbaren, auf das die Forderung, es endlich zu denken, sich bezieht). Der Stern der Erlösung gehört zu den epochalen Werken der Philosophie dieses Jahrhunderts, von gleichem Rang wie das Werk Walter Benajmins, Georg Lukacs‘ „Geschichte und Klassenbewußtsein“ oder die „Dialektik der Aufklärung“.
    Der Begriff Greuelmärchen war ein prophylaktischer Teil des aus ihm entwickelten Mechanismus, der nach dem Krieg den kollektiven Verdrängungsprozeß mit getragen hat. Danach konnten alle (und das subjektiv ehrlich) sagen, sie hätten nichts gewußt.
    „Satanisch, teuflisch, dämonisch“: An diesen Begriffen läßt die Magie des Urteils sich demonstrieren. Deren Bann wird erst gebrochen, wenn man, ohne Verharmlosung in der Sache, diese Begriffe reflexionsfähig macht, wenn man im Satanischen den Ankläger, im Teuflischen die feindbild-logische Instrumentalisierung der Sprache, ihre Subsumtion unter fremde Zwecke, im Dämonischen die Sprache der Rechtfertigung erkennt, in ihnen allen die Formen der Selbstzerstörung der erkennenden Kraft der Sprache; auch das ist ein Teil des Versuchs, das Undenkbare zu denken. Der Ansatz zur Lösung des Banns ist in dem Jesus-Wort vom Geist enthalten: „Wenn sie euch dann hinführen, um euch zu überliefern (Einheitsübersetzung: und <man> euch vor Gericht stellt), so sorget euch nicht im voraus darum, was ihr reden sollt, sondern was euch in jener Stunde gegeben (E.: eingegeben) wird, das redet. Denn nicht ihr seid es, die reden, sondern der heilige Geist.“ (Mk 1311) Der heilige Geist ist das Subjekt der erkennenden, aus dem Bann ihrer Instrumentalisierung befreiten Sprache. Der Kern dieses Banns ist die Logik der Welt: die Feindbildlogik, die dem Feind aus freien Stücken die Waffen liefert, mit denen er uns besiegt.
    Das Undenkbare denken, auch im Anblick des Schreckens den klaren Verstand zu behalten: Das wäre der Schlüssel zu einer Theologie im Angesicht Gottes.
    Zur Ursprungsgeschichte der Öffentlichkeit: Die stoische Ataraxia, die dann in den Begriff und in die Konstruktion der Öffentlichkeit mit eingegangen ist, ist kollektiv eingeübt worden in den römischen Arenen, in dem freiwilligen und zum Genuß (zur „Augenlust“) dargebotenen Anblick des Schreckens, der nur die Opfer, nicht die Zuschauer des Spektakels traf. Schon die aristotelischen Affekte Furcht und Mitleid, die die Tragödie im Zuschauer hervorruft, hatten Teil an dieser Ataraxia: Dem Mitleid war durch die ästhetische Grenze, durch die Abstraktion vom eingreifenden Handeln, die den Zuschauer vom tragischen „Geschehen“ trennt, die moralische Gemeinschaft mit dem ästhetischen Objekt aufhebt, der Weg zur Barmherzigkeit abgeschnitten: Im Mitleid genießt das Publikum (der Zuschauende) nur noch seinen eigenen Affekt, es erreicht sein Objekt nicht mehr. Die Arenen haben diese (die logische Konstruktion der Öffentlichkeit begründende) ästhetische Grenze zum Objekt vergesellschaftet. In diese Ursprungsgeschichte der Öffentlichkeit gehören die Scheiterhaufen, auf denen die Ketzer und Hexen verbrannt worden sind, die öffentlichen Hinrichtungen. Auch der Kreuzestod Jesu ist durch die christliche Opfertheologie zu einem öffentlichkeitskonstituierenden Akt geworden (der in den Christen das schlechte Gewissen installiert hat, das dann bekenntnislogisch abgearbeitet werden mußte). Die Theologie war seit den Kirchenvätern nur das Exil der Philosophie, diese war das Schiff, auf dem sie aus Furcht vor ihrem Auftrag, Ninive den Untergang anzusagen, nach Tarschisch zu fliehen versucht hat.
    Aber war die Philosophie nicht auch der eine unreine Geist, der am Ende mit sieben anderen Geistern in das leere, gereinigte und geschmückte Haus zurückkehren wird; und die letzten Dinge werden dann ärger sein als die ersten?
    Der Staat ist die Quelle und der Produzent des „Seitenblicks“, der in den Arenen (und in der nachfolgenden Geschichte der Kunst) zunächst eingeübt und dann auch reflektiert worden ist. Und das hegelsche Absolute ist der Gott, der in diesem Staat sich verkörpert (und durch ihn hindurch das Reich der Erscheinungen als seine Welt erschafft, die am Ende niemand von der wirklichen mehr unterscheiden kann).
    Das kantische Religionsverständnis unterscheidet sich vom hegelschen dadurch, daß es das Moment der Hoffnung (auch für die Toten) noch in sich enthält, es weder verleugnet, noch verdrängt, noch unterdrückt hat, und in dieser Hoffnung die Kraft der Reflexion, die er in der Kritik der Urteilskraft zu entfalten versucht hat.
    Das Undenkbare denken, oder die Bundeanwaltschaft als Verkörperungen der Staatsparanoia.
    Der Konkretismus und die Personalisierung verstören die Sprache der Reflexion, versuchen ständig, sie eine Sprache des bestimmenden Urteils (der synthetischen Urteile apriori), des Indikativs, zu übersetzen.
    Das Undenkbare denken (Gliederung):
    – Indikativ und Imperativ (Levinas),
    – Verstörung des reflektierenden Denkens durch die Mechanismen der Verdinglichung,
    – die Auflösung des Problems der Verhärtung des Herzens (Pharao und hodie, si vocem eius audieritis),
    – Theologie im Angesicht Gottes,
    – die Sünde wider den heiligen Geist (die Sünde der Übersetzung des reflektierenden Urteils ins bestimmende Urteil, der Verdinglichung, der Feindbildlogik, die Sünde der Welt <im Kontext des Nachfolgegebots, nicht der Opfertheologie>).
    Die Theologie im Angesicht Gottes ist eine herzzerreißende Theologie: Sie zerreißt das steinerne Herz (das sentimentale Herz) und ersetzt es durch das fleischerne Herz (ein Herz, in dessen Verletzlichkeit seine erkennende Kraft gründet). – „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht.“
    Auch der Satz, daß Gott am Ende das steinerne Herz durch ein fleischernes ersetzen wird, steht im Imperativ, nicht im Indikativ.
    Zu Kafkas Bau: Das Tier hat vierzig Jahre im Untergrund gewühlt, und jetzt steckt es die Nase heraus in der Hoffnung, daß da nicht ein Gärtner mit dem Spaten steht und es erschlägt.
    Das Undenkbare denken: Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns (Kafka). Auf diesen Satz antwortet eine Theologie, die die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele aufgibt, dafür aber an der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten festhält. Nicht für mich (und nicht für die, die unter Rechtfertigungszwängen auf einen gnädigen Gott hoffen), nur für die Andern gilt: Die Liebe deckt eine Menge Sünden zu. Das Jakobus-Wort, daß, wer einen Sünder von seinem Weg des Irrtums befreit, seine eigene Seele vor dem Tode rettet, schließt die Frage mit ein, wer ist dieser Sünder? Ist es nicht der gleiche, über dessen Bekehrung mehr Freude im Himmel sein wird als über die 99 Gerechten?
    (Adressaten: Christiane Dannemann, Michael Schwenn, auch Pfarrer Nieder, Antje Vollmer?)
    Wenn ich die „objektive“ Analyse einer Sache durch die Erfahrung, die ich mit ihr gemacht haben, ersetze, so ist das der einzige Ausweg, über den ich die Sache selbst noch herauszubringen vermag.
    Instrumentalisierung der Anklagepraxis durch die Bundesanwaltschaft (mit dem Ziel der Aussagenerpressung: Angebot der Kronzeugenregelung bei Birgit Hogefeld, Ermittlungsverfahren gegen Steinmetz, Anklage mit Kronzeugenangebot bei Frau Andrawes), dazu paßt die fiktive Anklage im Hogefeld-Prozeß (eine Anklage, die aus den gleichen Gründen, die dann zum Freispruch führten, eigentlich schon bei Prozeßeröffnung hätte zurückgewiesen werden müssen, die aber nur so ihren Zweck erfüllen konnte: die zwar nicht nachgewiesene, aber wegen der Freispruchs der Angeklagten auch nicht mehr revisionsfähige gerichtliche Feststellung, daß Wolfgang Grams den GSG-9-Beamten Newrzella erschossen hat). Steht nicht die Anklagepraxis der BAW, die ein Teil ihres Politikverständnisses ist, in einem so exzessiven Maße unter dem Zwang der Feindbildlogik, daß sie deren Reflexion schon vom Grunde her auszuschließen gezwungen ist?

  • 8.11.1996

    „Wir Deutschen“, sind das nicht die Nachfahren der Hitlerschen Masse?
    Als Micha Brumlik den Namen des Angesichts mit „Ausdrucksgeschehen …“ übersetzte, hat er ihn in die Sprache einer EG-Verordnung übersetzt, in die vergegenständlichende Sprache des Rechts und der Verwaltung. Wenn Levinas zufolge die Wirklichkeit des Angesichts die Unendlichkeit des Raumes widerlegt, dann drückt die Brumliksche Übersetzung den Zwang aus, die räumliche Unendlichkeit wiederherzustellen, die den Objektivierungszwang begründet und perpetuiert.
    Die stockende Verlesung des Urteils im Hogefeld-Prozeß durch den vorsitzenden Richter erweckte den sicherlich nicht unbegründeten Eindruck, daß darin Widerstände sich ausdrückten, die mit dem, was die Nazis den „Kampf gegen den inneren Schweinehund“ nannten, zu tun haben mochten: Der eigentliche Gegner dieses Kampfes (des „inneren Ringens“, wie es die gewähltere Formulierung des Feuilletons damals nannte) waren die humanen Regungen, von denen auch Nazis nicht frei waren. In diesem Kontext löst sich ein Problem, das Daniel Jonah Goldhagen benannt hat, die Frage, weshalb der Judenmord mit den zusätzlichen Grausamkeiten, Verhöhnungen und Demütigungen verbunden war, die ihn begleiteten: Darin drückte dieser „Kampf gegen den inneren Schweinehund“ sich aus, der auf die Juden verschoben und an ihnen vollstreckt wurde. So paradox das klingen mag: In diesen Manifestationen der Gemeinheit kam zum Ausdruck, daß das Gewissen in den Tätern noch nicht ganz erloschen war und in den Juden immer wieder mit erschlagen werden mußte. Genau das begründete auch den Wiederholungszwang, das suchthafte Verhalten der Täter: Nachdem sie einmal in die Zwänge dieser Logik hineingeraten waren, konnten sie nicht mehr davon lassen. Es gibt Taten, die nur als Wiederholungstaten möglich sind, weil sie das, was sie intendieren, nicht erreichen, aber eben dadurch ihre Wiederholung erzwingen.
    Die Urteilsbegründung ist der Beweis, daß der Eindruck, den Gericht und Bundesanwaltschaft erweckten, wenn Birgit Hogefeld ihre Erklärungen vortrug, nicht getrogen hat: Ankläger und Richter haben sich in einen synthetischen Schlaf versetzt, in dem sie nur das noch hörten, was sie hören wollten; die Erklärungen selbst haben sie nicht mitbekommen.
    Man muß das auch mitdenken, und sollte es nicht verdrängen: Anklage und Gericht sind selber auch „Opfer der RAF“, die sie zu den erbarmungslosen Handlungen, wie es die Urteile von Anfang an gewesen sind, gezwungen haben; und dafür haben sie sich gerächt. Dieser Mechanismus drückt in der geradezu verwilderten Logik der Urteilsbegründung sich aus.
    In einem Land, in dem alle nur noch ihre Pflicht tun, aber keiner mehr weiß, was er tut, weil alle unter Zwängen stehen, die sie nicht mehr zu durchschauen vermögen, gibt es dann nur noch ein Verfahren: Augen zu und durch! Das gefährliche dieses Verfahrens ist: es ist ansteckend.
    Kohl: Heute, in dem Erfolg, den sie nicht veursacht hat, der ihr wirklich nur zugefallen ist, plustert sich die Blindheit und Stummheit der „deutschen Frage“, die in Kohl sich verkörpert, zu welthistorische Größe auf.
    Flucht nach Tarschisch: Tarschisch liegt am Ende der Welt; aus Tarschisch hat Salomo mit Schiffen die Goldschätze geholt, die er für den Bau und die Ausstattung des Tempels benötigte. – Rom hat nicht mehr Handel getrieben, sondern die Welt erobert und ausgeplündert und die Beute im Triumphzug nach Rom geführt. Die Triumphbogen des imperialen Rom: Heute sind das die Auslandsjournale des Fernsehens.
    Läuft nicht Franz Rosenzweigs Verständnis des Christentums darauf hinaus, daß das Christentum genau diese Flucht nach Tarschisch ist? Und legt seine Beschreibung nicht den Gedanken nahe, daß nicht die Synagoge, sondern die Kirche die Binde vor den Augen trägt?
    Israel heute: Ist es nicht, als seien die Sadduzäer auferstanden, die an die Auferstehung nicht glaubten? Aber hatte es eine andere Wahl?
    Was hat der Begriff der Ruhe in den beiden Relativitätstheorien (die sich von der Bewegung nicht mehr unterscheiden läßt) mit der Sabbatruhe zu tun, oder auch mit dem Wort, demzufolge der Menschensohn Herr des Sabbat ist? Ist hier nicht ein weiteres Beispiel für den Greuel am heiligen Ort?
    Liegt nicht die Aufgabe der Theologie heute in dem Problem, vor das Nebukadnezar den Daniel gestellt hat: einen Traum zu deuten, den Nebukadnezar vergessen hat?
    Gewinnt nicht in der Gestalt Birgit Hogefelds, in dem Urteil über sie, das auf eine neue Weise die Identifikation mit dem Objekt des Urteils erzwingt, diese Identifikation eine neue Qualität, und das dank der Reflexionskraft Birgit Hogefelds?
    Steckt nicht das „Zeichen des Jona“ in dem Problem, vor dem Jona selber steht, und das er mit seiner Flucht nach Tarschisch vergeblich zu lösen versucht: im Problem des Anfangs? Dieser Satz „In vierzig Tagen wird Ninive zerstört“, der einzige Satz, den er dann noch herausbringt, steht zwar in der prophetischen Tradition, hat aber nicht mehr die Qualität eines prophetischen Satzes, er ist kein „Wort des Herrn“. Prophetisch ist allein – und das auf eine ungeheuerliche Weise – seine Wirkung. Hierin liegt das Grundproblem des Buches Jona. Ist es nicht das gleiche Problem, das Hegel einmal in dem Satz ausgedrückt hat, er sei dazu verdammt, ein Philosoph zu sein?
    Die jüdische Tradition zieht die Grenze zwischen Prophetie und Geschichte an anderer Stelle als die christliche. Für die jüdische Tradition gehören die Bücher Josue, Richter, Samuel und Könige zu den prophetischen Büchern, für die christliche zu den historischen (ich halte die Entscheidung Bubers, der in dieser Frage den Schriftkanon an die christliche Tradition angleicht, wenn nicht für falsch, so jedenfalls nicht für jüdisch). Das Problem, das in dieser Differenz sich anzeigt, war genau das Problem, das Franz Rosenzweig mit einer sehr präzisen Begründung dazu gebracht hat, mit dem Stern der Erlösung dem Historismus abzusagen. Das Problem Historismus/Offenbarung war der Gegenstand der Gespräche, in denen seine Vettern Ehrenberg und sein Freund Rosenstock ihn dazu bringen wollten, den Schritt, den sie vollzogen hatten, nämlich Christ zu werden, ebenfalls zu vollziehen. Seine Antwort darauf war: Ich bleibe Jude, und das übrigens mit einer Begründung, die im Entscheidenden auf Texte aus dem Neuen Testament, aus dem Kontext christlichen Selbstverständnisses und nicht gegen dieses Selbstverständnis, sich bezog. Der Stern der Erlösung war dann gleichsam das Siegel auf dieser Entscheidung, in deren Kern eine Kritik des Historismus aus dem Geist der Prophetie sich findet. Dieses Verhältnis (der Prophetie zum Historismus) läßt an seiner Beziehung zu Hegel sich demonstrieren; hier liegt der Anfang einer Bewegung, an deren Ende vielleicht ein Satz stehen könnte, der auch Rosenzweigs Werk in ein neues Licht zu rücken vermöchte: Das Weltgericht ist nicht das Jüngste Gericht, das Jüngste Gericht wäre vielmehr das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht. Um das zu sehen, hätte Rosenzweig vielleicht den Jakobusbrief lesen müssen, den Satz: Die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht.
    Gibt es nicht die Kaskaden rhetorischer Fragen auch bei Klaus Heinrich, dessen „Schwierigkeit nein zu sagen“ gleichwohl zu den Texten gehört, die (wie auch Ulrich Sonnemanns „Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten“) ihre unmittelbare Aktualität überleben werden.
    Der Gott der Hebräer ist der Gott derer, die Fremde für andere sind, während der Gott der Philosophen der Gott derer ist, für die Andere Fremde sind, die deshalb der Projektionsfolie der Barbaren oder der Heiden bedürfen. Und es ist der Gott der Hebräer, den der Pharao, der Herr des Sklavenhauses, nicht kennt, und der, indem der Pharao in dieser Nichtkenntnis zu verharren versucht, die Geschichte seiner Herzensverhärtung begleitet.
    Zu dem Satz „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“: Das Bild ist falsch, hier hat Brecht den Schoß mit einer anderen Körperöffnung verwechselt.
    Tatsachen sind nackt, aber erkennen wir in dieser Nacktheit nicht doch nur den Spiegel unserer eigenen Nacktheit?
    Wenn es heißt, daß die Liebe eine Menge Sünden zudeckt, so sollte man dazu in Erinnerung behalten: Sie deckt die Sünden der Andern zu, nicht die eigenen.
    Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht: Heißt das nicht, daß nur, wer die eigenen Sünden reflexionsfähig hält – und das ist der Barmherzige -, die Abwehrmechanismen außer Kraft setzt, die uns zu Richtern über andere macht.
    Nicht zufällig fällt die kopernikanische Wende, die universale Verdinglichung der Welt, die Himmel und Erde gleichnamig gemacht hat, mit einer weltgeschichtlichen Wende zusammen, in der die europäische Gesellschaft, die damalige Christenheit, die gesamte Welt zu herrenlosem Gut erklärt und das Werk ihrer politischen und ökonomischen Aneignung und Ausbeutung begonnen hat. Die Wende in der Astronomie war das Bild und der Reflex einer Wende in der Geschichte der politischen Ökonomie. Hier ist Europa zum Tier aus dem Meer geworden. Die Welt, die den Himmel ins Licht des Gravitationsgesetzes gerückt hat, ist die Welt dieses Tieres. Gehört nicht die Geschichte der Inquisition zur Ursprungsgeschichte naturwissenschaftlichen Aufklärung?
    Das Verbindungsglied zwischen dem allgemeinen Gravitationsgesetz und der Wendung in der Geschichte der Aufklärung insgesamt liegt in der metaphorischen (oder der realsymbolischen) Beziehung der Schwere zur Schuld. Seitdem sucht das positivistische, vom Feindbild-Denken durchsetzte Rechtsverständnis nach einem Objekt, dem sie zur eigenen Entlastung die absolute Schwere der Schuld anhängen kann. Die Geschichte des Antisemitismus (wie auch der Ketzer- und Hexenverfolgung) ist noch nicht zu Ende.
    Zur perversen Logik der Staatsschutzverfahren gehören der Begriff der „besonderen Schwere der Schuld“ und die mehrfach lebenslänglichen Haftstrafen, für die offensichtlich ein Leben nicht ausreicht, um den Projektions-, Rache- und Sühnetrieb zu befriedigen. Sie erweisen sich als Elemente eines nationalen Schuldverschubsystems, das insbesondere im deutschen Staatsverständnis sich zu verkörpern scheint.
    (Wachsen etwa die Widerstände in dem gleichen Maße, in dem ich versuche, sie durch Reflexion aufzulösen?)
    Es gibt Leute, die immer so reagieren, als wüßten sie schon alles. Dringt das nicht immer mehr auch in den Universitätsbetrieb ein? Ein Hinweis darauf, daß Professoren heute nicht besser sind, als es die Oberlehrer, die sich auch Professor nannten, einmal waren.
    Die verwaltete Welt erzeugt im Bildungswesen eine eigene und sehr spezifische Art von Katastrophen.




  • 6.11.1996

    Nach diesem Urteil wäre es nur noch zynisch, wenn das Angehörigen-Info immer noch nicht bereit wäre, sich zur Ausgrenzung Birgit Hogefelds, zur Aufkündigung der Solidaritat, zu erklären.
    Bezeichnend, daß dieses Urteil die mehrfachen selbstkritischen Erklärungen Birgit Hogefelds völlig verschweigt, umgekehrt Teile ihrer Erklärungen, in denen sie sich selbstkritisch auf die Handlungen sich bezieht, deretwegen sie verurteilt worden ist, gegen sie wendet, als habe sie genau das Gegenteil gesagt. Ein ein solcher Zitatenklau ist so etwas wie „einem das Wort im Munde umdrehen“.
    Der Freispruch zu dem Anklagepunkt „Beteiligung an einem Mord“ (in Bad Kleinen) beruft sich insgesamt auf Fakten und Beweise, die auch zur Zeit der Anklage schon bekannt waren und, wenn man diesen Freispruch ernst nimmt, eigentlich schon damals zur Zurückweisung dieses Anklagepunkts hätten führen müssen. Heißt das nicht, daß der Verdacht nicht unbegründet ist, dieser Anklagepunkt habe von vornherein nur instrumentelle Bedeutung gehabt, nämlich einen Sachverhalt juristisch festzuschreiben, was nur mit Hilfe dieses Anklagepunktes möglich war? Und ergreift dieser Verdacht dann nicht das Verfahren insgesamt?
    Wenn Birgit Hogefeld die Taten, deretwegen sie verurteilt worden ist, nicht begangen hat, wenn sie aber gleichzeitig auch grundsätzlich nicht denunzieren wollte, ist dann die Erklärung, die sie dafür gegeben hat, daß sie keine Unschuldserklärung abgibt, nicht verständlich? Und gewinnen dann ihre öffentlichen selbstkritischen Reflexionen zur RAF nicht eine noch größere Überzeugungskraft (nur eben nicht für die Komplizenschaft aus BAW und Senat)?
    Dieses Urteil hat mit der Angeklagten fast nichts mehr zu tun, sein Adressat sind die Sympathisanten und Unterstützer der BAW.
    Wer diesen Prozeß mit Bewußtsein verfolgt hat, hat in einen Abgrund geschaut (allerdings nicht in den, den Anklage und Urteil sich bemüht haben zu auszumalen). Merkwürdigerweise haben u.a. die das Bild von dem in den Abgrund rasenden Zug nicht verstanden, die glaubten, von den Prozeß-Erklärungen Birgit Hogefelds (mit dem Hinweis auf „politische Differenzen“) sich distanzieren zu müssen.
    War nicht Schreber, der Verfasser der „Denkwürdigkeiten“, auch ein Senatspräsident?
    Soll mich das seit einigen Tagen regelmäßige Aufwachen und Nicht-wieder-Einschlafen etwa um 5.30 Uhr morgens an den Hahn erinnern, an seine Pflicht zu krähen?
    Verweist nicht die Halbierung des Malachias-Wortes, den Lukas dem Engel Gabriel in den Mund legt, auf die Grenze, die das Christentum von der Prophetie trennt, und auf den wirklichen Sinn des Wortes von der Erfüllung der Prophetie?
    Ist nicht das „Kinder in die Welt Setzen“ etwas ähnliches wie „Kinder aussetzen“? Das wirft ein Licht auf die Abtreibungskampagnen der Kirchen: Käme es nicht vielmehr darauf an, die Welt, in die wir die Kinder „setzen“, menschlicher zu machen, als die Kinder dieser Welt in der sie keine Chance auf ein menschenwürdiges Leben mehr haben, auszusetzen?
    Was sich gegenüber Hiob verändert hat: Heute sind die Christen die Ankläger, die alle Hiobs weltweit auf die Probe stellen. Deshalb ist die Anwendung des Hiobbildes nur noch auf andere zulässig, jede Selbstanwendung führt in die Versuchungen des Selbstmitleids und damit in Verstrickungen, in denen ein anderes als fundamentalistisches Religionsverständnis (das das Religionsverständnis der Ankläger ist) nicht mehr möglich ist. Dieses Religionsverständnis ist es, das heute die Besten aus dem Christentum vertreibt.
    Die Versuchungen des Selbstmitleids: Sind sie nicht der Grund des kaum noch zu entwirrenden erbaulichen Schriftverständnisses, dem in den Kirchen fast keiner mehr sich entziehen kann?
    Gibt es nicht einen Zusammenhang zwischen diesen Versuchungen des Selbstmitleids und der Gewalt der subjektiven Formen der Anschauung, die der Barmherzigkeit den Weg verstellen: der Unfähigkeit, rechts und links zu unterscheiden, von der am Ende des Buches Jona die Rede ist?
    Die Unfähigkeit, rechts und links zu unterscheiden, ist die Unfähigkeit, sich in sie hineinversetzen, die Unfähigkeit, zu begreifen, daß es für auch die Andern ein Angesicht und und ein Hinter dem Rücken, das für mich (für den „Seitenblick“) ein Rechts und Links ist, gibt. Und diese Unfähigkeit wird durch die Hypostasierung der subjektiven Formen der Anschauung dogmatisiert.
    Erscheint die Unfähigkeit, rechts und links zu unterscheiden, nicht bei Jürgen Ebach wieder, wenn er den hebräischen Namen der Barmherzigkeit auf den „Unterleib“ bezieht, ihn geschlechtslos macht: Ist sie nicht auf den weiblichen „Unterleib“, auf den Mutterschoß, die Gebärmutter bezogen (das gleiche Organ übrigens, das auch dem Namen der Hysterie und in ihm dem ersten erfolgreichen Versuch, die Barmherzigkeit zu neutralisieren, zugrundeliegt – vgl. die Reflexionen zur Hysterie in Christina von Braun: Nicht-Ich)?
    Anmerkung dazu: Ist der Versuch so abwegig, im (männlichen) Sexismus wie auch in allen Erektionsphantasien ein Bild der Hypertrophie des „strengen Gerichts“ zu erkennen? Und hängt hiermit nicht auch die merkwürdige Rolle der Väter in den Evangelien wie auch das Bild der Jungfrauengeburt (und das der Berufung der Propheten im Mutterschoß) zusammen?
    Kann es sein, daß der messianische Titel Gottessohn ein Titel ist, der nur im Munde der Männer (und der Dämonen) zu finden ist, kommt er im Munde von Frauen überhaupt vor? Maria Magdalena nennt ihn bei der Begegnung im Garten nach der Auferstehung Rabbuni, und eine andere Frau preist den Schoß, der ihn geboren, und die Brust, die genährt hat. Und dann sind da die klagenden und weinenden Frauen in Jerusalem, denen er sagt: Weint nicht um mich, sondern um euch und eure Kinder.
    Das Selbstmitleid ist der Greuel am heiligen Ort: Es erstickt die Barmherzigkeit.
    November: Die Bäume verlieren ihre Farbe, der Wald wird grau wie der Himmel.
    Auch ein Beitrag zur Kritik der Naturwissenschaften: Wer immer schon im Voraus weiß, daß etwas schief ausgehen wird, und dabei auf seine „Erfahrung“ sich beruft, wendet damit eigentlich nur das Prinzip an, das dem Inertialsystem zugrundeliegt: Er subsumiert die Zukunft unter die Vergangenheit, er macht sie zu etwas „Perfektem“, schon Abgeschlossenen, weil er das Offensein der Zukunft nicht erträgt. Außerdem hat der den Vorteil, wenn die Sache tatsächlich so ausgeht, es schon im Voraus gewußt zu haben; wenn es dagegen gut ausgeht, ist seine „Prophetie“ ohnehin vergessen.
    Aber haben sich für ihn die „Pforten der Hölle“ (die die Pforten der Unterwelt, des Totenreichs, sind) damit nicht schon geschlossen, wird ihm nicht die Welt zu einer, in der es ein Glück, das anderes als der Zufall wäre, nicht mehr gibt?
    Das Adjektiv „politisch“ scheint heute nur noch das Prinzip Beelzebub zu bezeichnen: die Vorstellung einer Gemeinschaft, die auf keinen Fall in sich uneins sein darf. Was aber „schweißt“ eine Gemeinschaft mehr „zusammen“ als ein gemeinsamer Feind?
    Hat der Insektenstaat etwas mit den Mücken, dem Geziefer und den Heuschrecken zu tun?
    Zum Bild des fallenden Fahrstuhls: Der fahrende Zug, an dem das spezielle Relativitätsprinzip sich demonstrieren läßt, abstrahiert von der Realität der (durch äußere Bedingungen wie Gravitationsfeld und Luftwiderstand beeinflußten) Bewegung, während der fallende Fahrstuhl, das Demonstrationsobjekt der Allgemeinen Relativitätstheorie, zusätzlich auch von der Schwere abstrahiert. (Ist der dunkle Hohlraum, auf den das Plancksche Strahlungsgesetz sich bezieht, das Innere dieses Fahrstuhls ?) Leicht und schwerelos aber ist nur die Kunst. Deshalb gehören die subjektiven Formen der Anschauung zur transzendentalen Ästhetik; die Formen der Anschauung machen Erfahrungen reproduzierbar, indem sie sie in Vorstellungen transformieren, sie zu Gegenständen unserer Vorstellungskraft machen. Die Vorstellung eines materiellen Objekts aber ist selber kein materielles Objekt. Das reine Inertialsystem, das erst im Innern des fallenden Fahrstuhls sich herstellt, ist die Bühne der zum Schauspiel vergegenständlichten Natur. Die Objekte der Naturwissenschaften sind ästhetische Objekte, für die die Theologie nicht gilt: Sie sind weder geschaffen, noch Empfänger der Offenbarung, und sie haben (nach ihrer Trennung von der Sprache, die sie nicht erreicht) keinen Anteil an der Erlösung.
    Was passiert, wenn man einen Schacht durchs Zentrum der Erde baut, in den der fallende Fahrstuhl dann fällt; was geschieht im Innern des fallenden Fahrstuhls, wenn der Fahrstuhl das Zentrum passiert, an dem die Richtung der Schwerkraft sich umkehrt? Der Fahrstuhl selbst würde (wie die Planeten auf ihrer elliptischen Bahn, wenn sie von der Sonne sich entfernen) den retardierenden Kräften eines seiner Bewegungsrichtung entgegengesetzten Gravitationsfeldes ausgesetzt und in der weiteren Folge in eine Art Pendelbewegung übergehen. Würden diese retardierenden Kräften im Innern des Fahrstuhls nicht wie ein plötzlich mit Gewalt auf alle Bewegungszustände im Innern einwirkendes neues Gravitationsfeld, und d.h. als gewaltiger Aufprall erfahren? Die Rhythmik der Pendelbewegung des Fahrstuhls würde nicht nur in den äußeren Bewegungsabläufen, sondern auch in den Zuständen im Innern des Fahrstuhls sich ausdrücken.
    Ist die Situation in dem fallenden Fahrstuhl in dem Augenblick, in dem er das Erdzentrum passiert, nicht vergleichbar der Situation, in der die Juden am Ende des Krieges sich vorfanden, oder auch der Situation, die entsteht, wenn das Urteil am Ende eines Prozesses den Hoffnungen, die vorher noch bestanden haben mögen, ein Ende macht? Diese Erfahrung, so scheint es, war nicht mitteilbar, und sieht es nicht so aus, als hätten die Schüler der Frankfurter Schule diese Ursprungssituation der Philosophie, die sie „zu vertreten“ glauben, nie begriffen, als stünden sie unter einem Zwang, diese Erfahrung zu harmonisieren.
    Heute ist es die Verweigerung der Reflexion, die die Beschleunigungskräfte, denen der fallende Fahrstuhl sich ausgesetzt sieht, verstärkt. Oder anders: Die Kräfte des freien Marktes sind die Beschleunigungskräfte des Falls.
    Der Faschismus insgesamt beschreibt genau die Effekte an dem Punkt, an dem der Fahrstuhl das Zentrum durchläuft. War nicht 68 die Peripherie der Pendelbewegung erreicht, und bewegen wir uns im Augenblick nicht erneut aufs Zentrum zu?
    Haben die besonderen Haftbedingungen der Gefangenen der RAF nicht auch das Ziel, den Gefangenen jede Chance der Reflexion, jede Möglichkeit, über ihre Situation sich Klarheit zu veschaffen, zu nehmen? Und gehört nicht das Angehörigen-Info inzwischen zu den Kräften, die diese Absperrung, ohne es zu wissen oder gar zu wollen, auf eine schreckliche Weise fördern? Und das, weil sie einem Politikbegriff verfallen sind, der dem Bann der Feindbild-Logik nicht mehr sich zu entziehen vermag. Diese Feindbildlogik ist wahr, weil sie die Logik ihrer realen Situation ist; sie ist unwahr, weil sie die Distanzierung dieser Situation durch Reflexion und damit ihre Erkenntnis unmöglich macht.

  • 5.11.1996

    Heute wurde das Urteil über Birgit Hogefeld gesprochen: Lebenslänglich (Pimental/US-Airbase, Tietmeyer, Weiterstadt <12 Jahre>), Freispruch für „Mord an Newrzella (Bad Kleinen). Im Fall Pimental/US-Airbase wurde eine „besondere Schwere der Schuld“ festgestellt. Keine der Taten wurde wirklich nachgewiesen, es muß offen bleiben, ob sie es gewesen ist.
    Der Freispruch zu Bad Kleinen weckt den Verdacht, ob nicht die Anklage ohnehin nur erfolgte, um den „Mord an Newrzella“ und mit ihm den toten Wolfgang Grams als „Mörder“ juristisch festzuschreiben, auf diesem Wege eine offizielle Geschichtsschreibung der Vorgänge in Bad Kleinen zu installieren. Das würde heißen, daß an eine Verurteilung von Birgit Hogefeld im Ernst nie gedacht worden ist. Damit war der zusätzliche Vorteil verbunden, das ganze Urteil nach außen als ein differenziertes Urteil zu verkaufen und das Gericht von dem Verdacht zu befreien, es handle nur als Erfüllungsgehilfe der BAW.
    Es gibt außerdem hinreichend Anlaß für die Vermutung, daß Birgit Hogefeld möglicherweise an den eigentlich gravierenden Aktionen Pimental/US-Airbase und Tietmeyer nicht beteiligt war. Das würde zwei Rückschlüssse zwangsläufig nach sich ziehen, der eine in Richtung RAF, und der andere in Richtung BAW/Gericht:
    – Wenn sie an diesen Aktionen, die ihr das Lebenslänglich eingebracht haben, nicht beteiligt war, dann muß es andere in der RAF geben, die das auch wissen. Kann es sein, daß ihre Verurteilung auch innerhalb der RAF aus Gründen der Zwangssolidarität in Kauf genommen wird, daß es einige Leute gibt, die die Tat begangen haben, jetzt aber (um der „höheren“ revolutionären Ziele willen) sich wegducken und Birgit Hogefeld im Knast „verbrennen“? Kann es sein, daß die Ausgrenzung von Birgit Hogefeld schon ein Indiz für dieses böses Spiel war, das anders (ohne präventive Diskriminierung auch innerhalb der RAF) nicht durchzuhalten wäre (wenn sie es schon nicht war, dann wäre schon ihr „Verrat“, den sie nicht begangen hat, Grund für ihre Strafe)? Hätte das nicht sogar Folgen auch für die, die nicht eingeweiht sind und es dann nur aus dem Grunde auch nicht wissen, weil sie es aus „Solidarität“ und wegen der „Ziele“ nicht in ihr Bewußtsein lassen dürfen?
    – Vor dem Hintergrund der einzig möglichen Erklärung der Anklage und des anschließenden Freispruchs im Falle Bad Kleinen, das nach einem strategischen Konzept aussieht, sieht dann allerdings auch das Schuldurteil nicht so unschuldig aus, wie es nach außen gerne erscheinen möchte. Ist der Verdacht so abwegig, daß BAW und Gericht imgrunde genau wissen, daß dieses Urteil kein fundamentum in re hat, daß es ebenso wie der Freispruch zum „Mord an Newrzella“ das Ergebnis eines strategischen Kalküls ist, für das die Angeklagte nur instrumentalisiert worden ist? Wenn BAW und Gericht wissen sollten, daß Birgit Hogefeld in diesen Punkten unschuldig ist, wenn sie davon ausgehen, daß in der Öffentlichkeit schon das Stichwort RAF das genaue Hinsehen auf das Urteil und seine Begründung verhindern wird, ist der Verdacht dann nur abwegig, daß auch das Urteil instrumentalisiert, als Waffe gegen den Rest der RAF benutzt wird, sei es als Mittel der Demoralisierung der RAF, oder sei es, daß die Spekulation auf ein noch bestehendes moralisches Gefühl die Erwartung nährt, daß die wirklichen Täter das Opfer Birgit Hogefelds nicht ertragen und sich outen werden? Diese Instrumentalisierung wäre ebenso erfolgs- und machtorientiert wie zynisch. Aber läßt sie sich nach den Erfahrungen mit der BAW und dem 5. Senat des OLG Frankfurt in diesem Prozeß wirklich restlos ausschließen?
    Urteilsmagie: Das Urteil beendet den Prozeß, es sistiert die Bewegung des Prozesses und stellt einen diese Bewegung abschließenden Zustand her; es löscht den Funken der Hoffnung in den Dingen, in dem es sie gegen die Sprache verschließt und durch die Gewalt der Objektivierung der Barmherzigkeit den Weg versperrt. Das Erstarren des Objekts wird erkauft durch eine Konstellation von Knotenpunkten der Feindbildlogik, die in den astrologischen Namen der Planeten erstmals benannt worden sind. Es gibt nicht nur eine transzendentale Logik, sondern ein System von transzendentalen Logiken.
    Abstraktion: Jedes Urteil impliziert einen Akt der Verdrängung, dessen Stabilisator der Begriff ist.
    Daß Jesus nicht gelacht, dafür aber die Dämonen ausgetrieben hat, hängt mit der Befreiung von der Urteilsmagie zusammen.
    Auch das Feindbild ist ein Kuscheltier, dessen Verlust schmerzhaft ist.
    Weltanschauungskriege sind Vernichtungskriege. Sind RAF-Prozesse Weltanschauungskriege?
    Die Feindbildlogik ist die Sünde der Welt (Joh 129): der die Logik der Welt und ihre Herrschaft über die Dinge konstituierende Akt.
    Die Geschichte des Zuschauers (des Publikums, der Öffentlichkeit) reicht von der Trägödie (und dem Ursprung der Philosophie) über die Circenses (die das Zuschauen unter den Bedingungen des Imperium Romanum eingeübt haben: die Neutralisierung des Schreckens durch ihre Vergesellschaftung), die Kirche (das „Meßopfer“ und die Predigt), sowie die öffentlichen Hinrichtungen bis hin zur Prozeßöffentlichkeit (und der Chance, in ihr das entfaltete Gesetz und die innere Logik der Öffentlichkeit selber zu erfahren). Welche Bedeutung und Funktion hat die Logik der Schrift (die Seele des Drachens) in dieser Geschichte der Öffentlichkeit?
    Ließe nicht anhand der Geschichte des Zuschauers (des Publikums, der Öffentlichkeit) eine Geschichte des Sehens sich entwickeln (die mit dem Satz beginnt: Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren), oder auch eine Geschichte der „Außenwelt“, ihrer Verhärtung, die auch die Herzen ergreift?

  • 3.11.1996

    Wie hängt das Problem des apagogischen Beweises mit der Logik der Instrumentalisierung (des „Seitenblicks“ und der Fähigkeit, rechts und links zu unterscheiden) zusammen? Gründen die Probleme, in deren Zusammenhang für Kant der apagogische Beweis zum Problem wird, in der doppelten Instrumentalisierung (der Instrumentalisierung der instrumentalisierenden Gewalt durch die subjektiven Formen der Anschauung), und hängen sie nicht mit der Konstituierung der drei Totalitätsbegriffe (der Begriffe des Wissens, der Natur und der Welt, die in der kantischen Vernunftkritik erstmals rein hervortreten), mit deren Hilfe sie gegen die Reflexion sich abschirmen, zusammen? Und ist nicht die Reversibilität aller Richtungen im Raum (derzufolge jede Richtung in die gleiche schlechte Unendlichkeit, ins gleiche nihil, führt) das Modell, an dem der apagogische Beweis (und durch ihn hindurch der Hegelsche Begriff der Dialektik) sich orientiert? – In diesem Zusammenhang gewinnt die kantische innere Differenzierung des nihil, des Begriffs des Nichts (in der Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe, Kr.d.r.V., Insel-Ausgabe, S. 267ff), eine hochsignifikante Bedeutung.
    Das Prinzip der Reversibilität aller Richtungen im Raum erzeugt den Schein der Gleichheit von Anklage und Verteidigung im Rechtsstreit und verdrängt das Herrschaftsmoment, an das der deutsche Titel Staatsanwalt so deutlich erinnert, und das in Staatsschutzprozessen zu der Situation führt, die Birgit Hogefeld mit dem Satz „die Bank gewinnt immer“ aufs genaueste bezeichnet hat. Aber wird dieser Schein nicht schon durch die Beziehung des Begriffs zum Objekt, in der die herrschaftsmetaphorische Zuordnung von Oben und Unten eindeutig festgelegt ist, widerlegt, während doch zugleich der Materialismus oder das Postulat vom Vorrang des Objekts von der Hoffnung lebt, daß die Barmherzigkeit über das Gericht triumphiert? Und ist nicht das Prinzip der Reversibilität aller Richtungen im Raum (und damit die subjektive Form der äußeren Anschauung selber, die darin sich ausdrückt) der Grund, aus dem die Feindbildlogik hervorgeht, und das Konstrukt, in dem sie zugleich sich vollendet, sowie die Verkörperung der logischen Struktur, die die Herrschaftsbeziehung von Begriff und Objekt begründet und sie zugleich verstellt, als Herrschaftsbeziehung unkenntlich macht? Löst sich nicht in dieser Konstellation das Problem der kantischen Antinomien und des apagogischen Beweises, damit aber das Problem der Beweislogik überhaupt? Diesen Knoten aufzulösen wäre eine der Hauptaufgaben der Philosphie, die dann aber sich nicht wundern darf, wenn sie in der Theologie sich wiederfindet.
    Das Prinzip der Reversibilität aller Richtungen im Raum leugnet den Tod und macht ihn irreversibel zugleich (darin gründet die Logik der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit). Schließt nicht die Idee der Unsterblichkeit der Seele, die in diesem Prinzip gründet, die Vorstellung mit ein, daß sie für die Toten nicht gilt, und liegt nicht ihr Haupteffekt in der Leugnung der Idee der Auferstehung, die sie nach außen zugleich dementiert? Hier liegt die fast unüberwindbare Hemmung, die der Lösung des Problems der Raumvorstellung sich entgegenstemmt. Das Prinzip der Reversibilität aller Richtungen im Raum ist der fast nicht mehr aufzuhebende Grund der Irreversibilität der Zeit, und die Außengrenze, die der Raum für mich definiert, ist eine Grenze zur Vergangenheit, die nur ich nie überschreiten werde, während alle andern sie bereits überschritten haben, für mich schon tot sind (sic, B.H.). In dieser Konstellation gründet das Problem des apagogischen Beweises und seine Lösung (vgl. hierzu die kabbalistische Tradition, daß die sechs Richtungen des Raumes auf göttliche Namen versiegelt sind, auch die Gestalt der Maria Magdalena und die Geschichte von ihrer Befreiung von den sieben unreinen Geistern).
    Das Canettische Bild vom Sieger, der als letzter Überlebender auf einem Riesenleichenberg steht, ist das genaueste Symbol der Logik der subjektiven Formen der Anschauung. Die Form der äußeren Anschauung ratifiziert an den Dingen, was in der Form der inneren Anschauung, in der Vorstellung des Zeitkontinuums, vorgebildet ist: die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, die Konstituierung des Totenreichs, über das der Anschauende starr, sprach- und empfindungslos als einziger sich erhebt. Durch die Subsumtion der gesamten Zukunft unter die Vergangenheit (die den Begriff des Wissens begründet) mache ich mich selbst zum Sieger, der alle überlebt; und das ist die der Idee der Unsterblichkeit der Seele zugrunde liegende Vorstellung, die als eine ihrer Konstituentien den Widerspruch gegen die Idee der Auferstehung der Toten in sich enthält. Heideggers Hinweis, daß wir den Tod nur als den Tod der anderen erfahren, nie als den eigenen, gründet in dieser Logik, deren Bann allein durch den Levinas’schen Hinweis auf die Asymmetrie, die den Anderen als Medium der Selbsterkenntnis ins Blickfeld rückt, sich auflösen läßt.
    Die subjektiven Formen der Anschauung, in denen die richtende Gewalt, die sie für die gesamte Objektwelt repräsentieren, zugleich gegen das richtende Subjekt sich erstreckt, sind der Beweis des Satzes „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“.
    Die subjektiven Formen der Anschauung sind der blinde Fleck in der Ursprungs-, Entfaltugns- und Durchsetzungegeschichte der Marktgesetze.
    Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren: Der richtende Blick erfährt sich selbst im richtenden Blick des Andern, und d.h. als nackt.
    Gehört nicht zu dieser Problem-Konstellation aus Logik der Gemeinheit, Beweislogik, Feindbildlogik auch das der Beziehung des Rechts zum Staat, daß insbesondere ein Recht, das sich zum Organ des Staates macht, indem es die Selbstreflexion des Staates, in dessen Logik seine eigene Ursprungsgeschichte beschlossen ist, grundsätzlich ausschließt, damit die Idee der Gerechtigkeit selber tangiert? Die Instrumentalisierung des Rechts, die im Hogefeld-Prozeß am gesamten Beweisverfahren, insbesondere aber an der (Nicht-)Behandlung des Gesamtkomplexes Bad Kleinen sich demonstrieren läßt, läßt keine andere Wahl.
    Wenn die RAF zum Symbol für das grundsätzliche und generelle Verbot, in den Angeklagten sich hineinzuversetzen und damit die Selbstreflexion des Staates in den Prozeß der Urteilsfindung mit hereinzunehmen, wird, dann kann sie nur noch unter der Bedingung zum Objekt des Rechts gemacht werden, daß das Recht auf die Idee der Gerechtigkeit keine Rücksicht mehr nehmen darf, daß es aus dem Bereich, in dem Gerechtigkeit allein möglich wäre, sich verabschiedet. Wenn das Recht, wie im Bereich der „Staatsschutz-Verfahren“, dem Staatsinteresse sich unterordnet (wenn der „Staatsanwalt“ nicht mehr Partei ist, sondern Herr des Verfahrens wird), dann wird es zu einem reinen Machtinstrument, und das ist in RAF-Verfahren geradezu sinnlich wahrnehmbar. Die besonderen Haftbedingungen derer, die Objekte solcher Verfahren sind, – und zu diesen Haftbedingungen gehören nicht nur die physischen Haftbedingungen, die Isolationshaft und die rigorose Einschränkung aller Beziehungen zur Außenwelt, zu Angehörigen und Freunden, sondern auch die damit zusammenhängenden Einschränkungen der Möglichkeiten der Verteidigung und der Verteidigerrechte (Beispiele: der vorenthaltene Text einer Rede Carlchristian von Braunmühls – Begründung: sie sei nicht wegen des Mordes an von Braunmühl angeklagt, der Zusammenhang mit der Anklage wegen Mitglieschaft in der RAF, der in anderem Zusammenhang als Beweismittel mit verwandt wurde, wurde schlicht verdrängt; dazu gehört die Ausgrenzung des Gesamtkomplesxes Bad Kleinen, die Ablehnung unabhängiger Gutachter sowie die – durch den Tenor des Senatsbeschlusses offen diskriminierende und beleidigende – Ablehnung des Antrags eines katholischen Pfarrers auf Genehmigung eines von der Angeklagten gewünschten seelsorglichen Gesprächs; zum Gesamteindruck dieses Prozesses gehört es, daß alles, was nicht in die vorprogrammierte Beweisführung <in das Verfahren der Konstruktion eines synthetischen Urteils apriori> hineinpaßte und zur Entlastung der Angeklagten hätte beitragen können, rigoros ausgegrenzt wurde; der geradezu wütende Verurteilungswille beherrschte den ganzen Verlauf des Verfahrens). Auch wenn vor dem endgültigen, rechtskräftigen Urteil grundsätzlich die generelle Unschuldsvermutung gilt, die realen Folgen, die der Verdacht für den Angeklagten hat, haben die massive und irreversible Qualität einer Vorverurteilung und einer präventiven, das offenbar schon feststehende Urteil vorwegnehmenden Strafe.
    Wie es scheint, waren für die Ablehnung von Anträge der Verteigung drei Gesichtspunkte maßgebend:
    – der ungestörte Ablauf der vorprogrammierten Beweisführung,
    – die Ausgrenzung jeder Reflexion des Selbstverständnisses der Angeklagten und
    – die Eingrenzung des Verfahrens auf das einen reinen Kriminalprozesses.
    Im Hogefeld-Prozeß, in dem jedem, der die Dinge verfolgt hatte, klar war, daß ernsthafte Störungen des Prozesses nicht zu erwarten waren, liefen die Begleitumstände gleichwohl nach den üblichen, ebenso massiven wie diskriminierenden Methoden ab, vom Transport der Gefangenen mit Blaulicht und Martinshorn bis zu den Eingangskontrollen der ProzeßbesucherInnen. Und das nicht nur aufgrund der behördenüblichen Trägheitsgesetze, sondern, wie vermutet werden darf, auch wegen der durchaus beabsichtigten Öffentlichkeitswirkung dieser Verfahrensweisen. Das hat zur Stabilisierung des Klimas beigetragen, in dem dieser Prozeß und sein Verlauf allein möglich war.
    RAF-Prozesse dienen nur noch der Herrschaftssicherung; dazu braucht man zwar Angeklagte, die aber sollten tunlichst nicht durch Reflexion den Zweck des Verfahrens, in dem sie nur Geisel sind, stören. Hier geht es um Wichtigeres: Hier werden Instrumente auf ihre Brauchbarkeit getestet, die eines Tages auch zur Erledigung anderer Aufgaben, die man offensichtlich auf sich zukommen sieht, brauchen wird; dann nämlich, wenn das Umverteilungsprojekt auf die Hilfe der Justiz angewiesen sein wird.
    Nach Hegel ist die bürgerliche Gesellschaft bei all ihrem Reichtum nicht reich genug, der Armut und der Entstehung des Pöbels zu steuern. Nachdem der Westen bisher die Armut in die Dritte Welt hat exportieren können, scheint dieser Markt jetzt gesättigt, und der Reimport der Armut, der mit der weltweiten Ausdehnung der Marktgesetze, dem Zerfall und der Verrottung der politischen (staatlichen) Souveränität, der fortschreitenden Ersetzung politischer Entscheidungskräfte durch Verwaltungseinrichtungen einhergeht, beginnt. War es bisher notwendig, den Reichtum mit dem militärischen Droh- und Vernichtungspotential nach außen zu schützen, wird es möglicherweise schon bald sich als notwendig erweisen, ihn gegen die fehlende Einsichtsfähigkeit der eigenen Bevölkerungen auch nach innen zu verteidigen. Hierzu bedarf es anderer Einrichtungen, deren Brauchbarkeit und Effizienz bisher vor allem in den Auseinandersetzungen um wirtschaftliche und militärische Großprojekte, die gegen den Willen der betroffenen Bevölkerungen durchgesetzt werden mußten, aber auch in der Terrorismus-Bekämpfung, in der die RAF als nützliches Testobjekt sich erwiesen hat, erprobt werden konnten. Jetzt gibt es ein erprobtes und schlagkräftiges Instrument, das man sich durch eine Angeklagte, auch wenn man ihr die Taten, deretwegen sie verurteilt werden soll, partout nicht nachweisen kann, nicht kaputtmachen läßt. Wo gehobelt wird, da fallen Späne.
    Zur Ersetzung der Regierung durch Verwaltung, die mit dem ökonomischen Privatisierungsprojekt (mit der Ersetzung nationalökonomischer Prinzipien und Kriterien durch betriebwirtschaftliche) zusammengeht, gehört auch ein Strukturwandel in der Justiz, der dahin tendiert, dem Verwaltungsrecht, das ein Subsumtionsrecht, ein Recht des bestimmenden, nicht des reflektierenden Urteils ist, sich anzugleichen. Es ist dieses Subsumtionsrecht, für das dort, wo das gerechte Urteilen sich hineinzuversetzen hätte, nichts mehr ist. Hier ist der Staatsschutz ein Vorreiter, der das Selbstverständnis des Angeklagten vom Grunde her ausgrenzen zu müssen glaubt, mit der Folge, daß diese Prozesse unter dem Zwang, als reine Kriminalprozesse geführt zu werden, zu politischen Prozessen werden: Sie sind Teil eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses, der in der Ökonomie wie in der Politik selber auf eine fortschreitende Entpolitisierung, auf eine schleichende Erosion der politischen Logik hinausläuft, auf ein Ausblenden dessen, was als Reflexionsfähigkeit einmal als Grundlage der politischen Freiheit begriffen worden ist.
    Das Faszinierende am Hogefeld-Prozeß war die Wahrnehmung, daß es hier der Angeklagten erstmals gelungen ist, durch eine Reflexion, die auch das Verfahren mit einbezog, aus dem Bann der Logik, die dieses Verfahren beherrscht, auszubrechen, ihn für sich selber zu brechen. Daß dieser Akt auf Seiten des Gerichts nur Abwehrmechanismen wachruft, war zu erwarten, und es ist zu befürchten, daß das auch aufs Urteil sich auswirken wird. Aber könnte es nicht sein, daß dieses Gericht genau dadurch, daß es die Dehnbarkeit der Grenzen des Rechststaats nicht mehr einzuschätzen vermag, den Bogen überspannt, damit aber diesen ganzen Bereich in ein Licht rückt, in dem er nackt dastehen wird, in dem erstmals erkennbar wird, was hier passiert?
    Die RAF hat bisher auf die Probleme, vor die sie sich gestellt sah, nur mechanisch reagiert. So hat sie, ohne es zu wissen oder gar zu wollen, ihrem Widersacher in Hände gearbeitet. Grund war die Feindbildlogik, in deren Netze sie seit ihren Anfängen sich verstrickt hat. Diese Feindbildlogik ist Teil einer Logik, in deren Herrschaftsbereich – nach einer wie ein Blitz einschlagenden Formulierung Birgit Hogefelds – die Bank immer gewinnt. Es wäre nicht nur im ureigensten Interesse der RAF, wenn sie endlich die Reflexionsfähigkeit gewinnen würde, deren erstaunliche Anfänge hier, bei Birgit Hogefeld, wahrzunehmen sind.
    Diese Reflexionsfähigkeit ist im Falle Birgit Hogefelds der Beweis, daß das Urteil, wie es auch ausfallen wird, nur ein Fehlurteil sein kann, daß nicht sein Objekt, das vom Urteil nicht getroffen wird, verurteilt wird, sondern das Gericht, das – wie so viele in diesem Lande – nur seine ihm von den Verhältnissen auferlegte Pflicht tut, dabei aber nicht mehr weiß was es tut, mit diesem Urteil sich selbst verurteilt. Nur wenn es selber reflexionsfähig gewesen wäre, hätte dieses Gericht sich selber durch das einzig gerechte Urteil, das möglich war, freisprechen können.
    Hegels Philosophie beschreibt nicht nur die Stationen auf dem Wege des Weltgeistes, sondern auch das Ende des Weges, an dem der Weltgeist sein Ziel erreicht hat. Was danach kam, läßt sich eigentlich nur noch unter dem Stichwort des Endes des Weltgeistes, seiner Selbstzerstörung, beschreiben. Das Ende des Weltgeistes ist das Ende der Geschichte, die das Weltgericht ist, das hiernach nicht mehr über die Geschichte, sondern erstmals über den Richtenden selber ergeht. Das Ende des Weltgeistes ist das Ende der richtenden Gewalt, die er verkörpert.
    Wer Billardkugeln, die Objekte der Mikrophysik und die Sternenwelt unter ein gemeinsames Gesetz bringt, ist ein Agent Beelzebubs, dessen Reich nur besteht, wenn es nicht mit sich selbst uneins ist. Die Angst vor dem Zerfall der Identität ist die Angst Beelzebus, des Herrn der Fliegen, eine Angst, die zu den Konstituentien des Insektenstaats gehört. Die Einheit des gemeinsamen Gesetzes, das die drei Sphären mit einander verbindet, wäre auf zwei Wegen zu sprengen: durch die Reflexion des Falls und durch die Reflexion des Feuers. Die Ansätze hierzu liegen vor in den beiden Relativitätstheorien Einsteins, in dem Theorem der Identität von träger und schwerer Masse und im Prinzip der Konstanz der Lichgeschwindigkeit. Aber werden die Probleme, die den beiden Reflexionen zugrundeliegen, durch sie zu lösen wären, nicht aufs merkwürdigste rerpäsentiert durch die beiden Seiten, die in den RAF-Prozessen sich gegenüberstehen: durch die Seite der Anklage und des Gerichts, und durch die der Angeklagten und RAF?
    Der Fortschritt gegenüber den Hexenprozessen, mit dem RAF-Prozesse sich durchaus vergleichen lassen, scheint mir, liegt darin, daß die Beziehung sich umgekehrt hat: In den Hexenprozessen bezeichnet der Fall (der Sturz in den Fundamentalismus) den Ausgangspunkt und das Brennen (die Scheiterhaufen) die Folge, RAF-Prozesse spielen mit dem Feuer und eröffnen in ihm den Abgrund, in den sie selber dann hineinstürzen. Das Feuer, in dem das Gericht glaubt, die Angeklagten verbrennen zu können, bevor es sie verurteilt, wird es selbst ergreifen, wenn die Urteile zu Fehlurteilen werden.
    Die erste und die zentrale Manifestation des Feuers, in dem „die Welt untergehen“ wird, war der Antisemitismus. Auch die Juden sind in Deutschland unter der Herrschaft der Judengesetze schon verbrannt worden, bevor man sie dem Abgrund überantwortet hat, dessen Verkörperung Deutschland war.
    Der Urknall steht am Anfang, das schwarze Loch am Ende: Die Realsymbolik dieser Begriffe wird erkennbar, wenn man sie auf die Selbstzerstörung der Moral durchs Urteil bezieht (der verdorrte Feigenbaum).
    Ist nicht der Antisemitismus „genial“ in dem Sinne, in dem Kant diesen Begriff definiert, nämlich als das Handeln der Natur im Subjekt? Wer das begreift, weiß, worauf Adornos Konzept des „Eingedenkens der Natur im Subjekt“ abzielte: durchs Eingedenken den Naturzwang zu brechen. Adorno meinte nicht das Mitleid mit den Tieren, das Habermas im Sinn zu haben schien, als er das Wort Adornos abänderte ins „Eingedenken der gequälten Natur im Subjekt“.
    Hat die kantische Unterscheidung von bestimmendem und reflektierendem Urteil nicht etwas mit der von Wasser und Feuer (oder auch mit der Beziehung des Was zum Wer) im Namen des Himmels zu tun? Und verweist nicht das bestimmende Urteil, auf das die transzendentale Logik sich bezieht, auf die Sintflut, die die Welt überschwemmt hat, das reflektierende Urteil, die Manifestation der Urteilskraft, hingegen auf das reinigende und verwandelnde Feuer, in dem die Welt am Ende vergehen wird?
    Wer den Versuch einer physiognomischen Beschreibung der Vertreter der Anklage und der Mitglieder des Senats unternehmen wollte, hätte mit Sicherheit einige Beleidigungsprozesse zu erwarten.
    Das Zeichen des Jona: Kann es sein, daß die Flucht des Jona nach Tarschisch in der Angst vor den Folgen seines prophetischen Auftrags begründet ist, und ist nicht die ganze Geschichte des Christentums die Geschichte dieser Flucht?
    Grundwerte und Prinzipien: Rückt nicht der Verfassungspatriotismus die Verfassung selber in die Logik des Feindbilddenkens (in die Bekenntnislogik, deren Symbol der Feigenbaum ist, der nur noch Blätter, keine Früchte mehr hervorbringt und am Ende verdorrt)?

  • 2.11.1996

    „Ich allein bin entronnen …“: Dieser Refrain der „Hiobsbotschaften“ (vgl. Ebach, Hiob, S. 20ff) gilt nicht nur fürs Erzählen (wozu auch an Primo Levi und Jean Amery zu erinnern wäre), sondern auch für die Philosophie: Ohne dieses Motiv sind die Minima Moralia und die Dialektik der Aufklärung nicht zu verstehen. Und Metz Wort, daß man nach Auschwitz nicht mehr Theologie treiben könne, als habe es Auschwitz nicht gegeben, ist ein bis heute uneingelöstes Programm.
    Gemeinheit ist kein strafrechtlicher Tatbestand: Gemeinheit ist präventive Rache (und deshalb ein spezielles Polizei- und Knastdelikt). Strafe aber wird zur Rache, wenn der, über den sie verhängt wird, keine Chance hat, in ihr sich wiederzuerkennen.
    Die Vorstellung, es könne, wenn alle nett zueinander wären, eine harmonische, konfliktfreie Welt geben, wurzelt in der Privatsphäre, wo sie auch schon illusionär ist. Sie wird zu einer Quelle der Gewalt, wenn sie übergangslos auf die Politik angewandt wird.
    In reflektierenden Urteil hat das „ist“ keine feststellende Funktion; reflektierende Urteile sind nicht ontologisch, sie sind keine verurteilenden Urteile: Sie widerstehen dem Tod und leben von der Weigerung, seiner Gewalt sich zu unterwerfen. Nur zu Heideggers Fundamentalontologie gehört das „Vorlaufen in den Tod“.
    Ist eigentlich an dem Eindruck etwas dran, daß irgendwann bei Ebach wie auch bei Metz etwas umgekippt ist? Und vorher schon und geradezu paradigmatisch bei Habermas: Führt nicht die Habermas’sche Kommunikationstheorie, zu der sein „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ eine Vorstufe war, in den Insektenstaat hinein, in dem Kritik zum folgenlosen Raisonnement wird, das an den versteinerten Verhältnissen abprallt?
    Wenn Weizsäckers Begriff der Philosophie (zusammen mit den Konstruktionen der Kopenhagener Schule in der Physik, aus denen sie hervorgegangen ist) aus der Verdrängung der speziellen Relativitätstheorie sich herleiten läßt, dann der Habermas’sche aus der Verdrängung des Allgemeinen Relativitätsprinzips.
    Ein Beitrag zur Reflexion der Gravitationstheorie: Der vom Objektivierungsprozeß untrennbare Prozeß der Subjektivierung (zunächst der sinnlichen Erfahrung, dann der Kritik und am Ende der Schuld) wird irreversibel, wenn die Kritik des Naturbegriffs aus der Philosophie ausgeschieden wird; jetzt gibt es kein Halten mehr: Dieser Prozeß geht (ähnlich wie die Idee des Rechststaats in den Staatsschutzprozessen) über in den freien Fall, dessen Bahn vorgezeichnet ist durch das Gravitationsfeld der Rechtfertigungszwänge, die mit der Subjektivierung der Schuldgefühle, mit dem Schwinden der Kräfte der Schuldreflexion, unüberwindlich werden.
    In den Staatsschutzprozessen gegen die RAF setzen Anklage und richtender Senat dadurch, daß sie die Identifikation mit den Angeklagten grundsätzlich ausschließen und verwerfen, sich selbst dem Rechtfertigungszwang aus, dem Zwang, das Prinzip „in dubio pro reo“ nur noch auf sich selbst statt auf die Angeklagten anzuwenden. Die Logik dieser Bewegung ist die des freien, von keinen moralischen Hemmungen mehr behinderten Falls. Wenn das Urteil, das am Ende herauskommt, nur noch ein Instrument der Selbstverteidigung der Ankläger und der Richter ist, wenn es den Angeklagten nur noch physisch trifft, wie der Hammer den Nagel, nämlich auf den Kopf, dann gibt’s für den Rechtsstaat keinen Halt mehr.
    Das Urteil, das hier herauskommen wird, ist noch auf eine ganz andere Weise ein Symptom der bewußten und gewollten Reflexionsunfähigkeit dieses Gerichts, das sich zum Hilfsorgan der Bundesanwaltschaft hat machen lassen: Der Satz, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand, das sie juristisch nicht zu fassen ist, gewinnt seine volle Bedeutung erst im Zusammenhang mit der weiteren Bemerkung, daß es im Ernstfall diese Gemeinheit ist, die die Grenzen des Rechtsstaats definiert, indem sie sie elastisch macht. Die Aufforderung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidts, „bis an die Grenzen des Rechtsstaats zu gehen“, der man nur zugute halten kann, daß sie von einem Nichtjuristen kam, war eigentlich die Aufforderung, diese Grenzen wenn nicht zu überschreiten, so doch bis Grenze ihrer Belastbarkeit auszudehnen (diese Belastbarkeit des Rechtsstaats ist in den letzten RAF-Prozessen, insbesondere aber im Hogefeld-Prozeß, der einige besondere Anforderungen an dieses Testverfahren gestellt hat, einem Materialtest unterworfen worden: Es waren Versuche, auszutesten, wie weit man gehen kann). Dem entsprach die Prozeßführung im Hogefeld-Prozeß, die Birgit Hogefeld in ihrer Schlußerklärung durchaus zutreffend beschrieben hat. Dieser Prozeß war kein Angriff mehr auf den Rechtsstaat, in diesem Prozeß hat der Rechtsstaat Harakiri begangen.
    Wird man nicht in dem gleichen Maße, in dem man dabei ist, den Sozialstaat abzubauen, die Instrumentarien der Verbrechensbekämpfung und der Vorurteilsproduktion ausweiten müssen? Und wird dieser „Rechtsstaat“ dann nicht fürchterlich sein?
    Während die Reflexionsunfähigkeit auf Seiten der RAF bisher darauf hinauslief, durch blindes Reagieren auf das Unverständliche der Prozesse deren Irrationalität für die Öffentlichkeit zu rechtfertigen, hat im Falle des Hogefeld-Prozesses die Reflexionsfähigkeit der Angeklagten das Gericht gleichsam auf dem linken Bein erwischt; Anklage und Senat waren hierauf nicht vorbereitet und haben stellenweise geradezu hilflos darauf reagiert. Nur, die Öffentlichkeit hat’s unterm dem Bann des Tabus „RAF-Prozeß“, des Trägheitsgesetzes der eigenen Vorurteile, nicht bemerkt.
    Wenn der Bundesanwalt, ohne daß der Senat dazu etwas sagt, in seiner letzten Erklärung der Angeklagten noch einmal das Kronzeugenangebot unterbreitet hat, dann wird man davon ausgehen müssen, daß er dieses Angebot im Einvernehmen mit dem Senat gemacht hat. Und man wird schließlich davon ausgehen müssen, daß die Weigerung der Angeklagten, auf dieses Angebot einzugehen, in die Urteilsfindung mit eingehen wird: Das Urteil, nachdem es als Instrument der Erpressung nicht brauchbar war, wird zu einem Instrument der Rache.
    In den RAF-Prozessen ist der Rechtsstaat zu einem Produkt der Verstaatlichung des gesunden Volksempfindens gemacht worden. Hat nicht der Staat selber in der Geschichte seiner Auseinandersetzung mit der RAF durch eine Reihe von Spezialgesetzen die Instrumente der Reflexionsverweigerung, die der Begriff des „gesunden Volksempfindens“ einmal bezeichnete, so geschmiedet, daß sie beginnen, wirksam zu werden? – Das wäre eines der Themen, die dem Titel „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ wirklich angemessen wären.
    Die Gemeinheit produziert selber die Blenden, die sie davor schützen, gesehen, wahrgenommen zu werden.
    Im Gegensatz zur den Vertretern der Bundesanwaltschaft, die wissen, was sie tun, ist der Vertreter der Nebenklage nur dumm; er ist nur ein apokalyptischer Wadenbeißer.
    Das beweislogische Problem, das dem Satz „Gemeinheit ist kein strafrechtlicher Tatbestand“ zugrundeliegt, weist zurück auf den gleichen Sachverhalt, aus dem auch die Feindbildlogik sich herleitet: Jeder Satz läßt sich sowohl inhaltlich verstehen als auch danach abhören, welcher Zweck damit erreicht werden soll. Die Feindbildlogik, die die Sprache vom Verstehen trennt (das dialogische, kommunikative Element aus ihr entfernt), sie auf ihre instrumentalisierte Form reduziert, ist gleichsam die transzendentale Ästhetik zu einer transzendentalen Logik, die auch in der Justiz synthetische Urteile apriori möglich macht, indem sie die Paranoia instrumentalisiert; das Modell und der genaueste Ausdruck dieser Instrumentalisierung, gleicham ihre naturwüchsige Variante, ist der Antisemitismus.
    Die Unfähigkeit, das Selbstverständnis des Angeklagten in die Beweiserhebung mit hereinzunehmen, macht den Angeklagten zum Objekt (was in diesem Kontext heißt: zum Feind) im strengen transzendentallogischen Sinne. In den bisherigen Prozessen hat dieses Verfahren im Verhalten der Angeklagten aus der RAF, die dieser Rolle aufgrund ihres eigenen, von der gleichen Feindbildlogik determinierten Selbstverständnis allzu willig sich überließen, seine „objektive“ Begründung gefunden. Das Verhalten der Angeklagten paßte zur Verhandlungsführung wie das Verhalten von Billardkugeln zu den Gleichungen der Mechanik, die es erklären, nur daß es hier keine Billardkugeln waren, sondern Menschen, die, weil sie nicht als Menschen wahrgenommen wurden, sich wie Objekte verhielten. Es gab gleichsam eine prästabilisierte Harmonie zwischen Prozeßführung und Angeklagten, die ihren Grund in einer beiden Seiten gemeinsamen Logik hatte, einen Feindbild-Clinch, dem keine Seite sich zu entziehen vermochte, weil keiner die Gewalt der Logik, die sie aneinander fesselte, durchschaute. Hierbei stand von vornherein fest, wer gewinnen und wer das Opfer sein würde.
    Was man der RAF politisch vorwerfen kann und muß, ist, daß sie zu den Kräften gehört, die die Gesetze und die Beschleunigungsmechanismen, deren Opfer sie dann selber geworden ist, mit hervorgerufen hat.
    Der Hogefeld-Prozeß unterscheidet sich von allen bisherigen Prozessen eigentlich nur durch das Verhalten der Angeklagten (und durch das ihrer VerteigerInnen), die erstmals versucht, der Objektrolle sich zu entziehen, den Kopf oben zu behalten, indem sie über beides, die Geschichte und das Selbstverständnis der RAF, aber auch die Mechanik der Prozeßführung und des Prozeßverlaufs, durch Reflexion sich Rechenschaft zu geben versucht. Ihre Erklärungen sprechen eine ebenso deutliche wie mutige Sprache. BAW und Gericht haben sich davon nicht beirren lassen, sie führen ihren Krieg weiter gegen einen „Feind“, von dem sie nicht wahrhaben wollen, daß er keiner ist. Sie scheinen die Reflexionskraft der Angeklagten als eine besonders infame Angriffswaffe zu erfahren, die sie zu besonders harten Abwehrmaßnahmen zwingt (die Erklärungen der Angeklagten mußten in pure Heuchelei umdefiniert werden; ein Pfarrer, der auf Wunsch der Angeklagten um Genehmigung eines seelsorglichen Gesprächs gebeten hatte, wurde per Senatsbeschluß zu einem, „der sich selbst als Pfarrer bezeichnet“, in Wahrheit aber nicht nur Sympathisant, sondern Unterstützer der RAF ist). Und es ist zu befürchten, daß das Urteil danach ausfallen wird.
    Kann es sein, daß Birgit Hogefeld dafür jetzt wird büßen müssen, daß sie versucht hat, den Bann durch Reflexion aufzulösen, unter dem beide Seiten stehen? Dieses Gericht erträgt es nicht, daß ausgerechnet die Angeklagte das zu benennen versucht, was es (das Gericht) hier tut. Wenn die „Belastungen“, denen ein Gericht, das zum Instrument der Rache sich machen läßt, ausgesetzt ist, ohnehin schon so groß sind, dann sollen sie nicht auch noch durch Schuldgefühle vermehrt und verstärkt werden. Das logische Gesetz der Rache, einmal enthemmt, ist nicht mehr aufzuhalten.
    Parvus error in principio magnus est in fine: Ist nicht der Ursprung der Zivilisation mit dem Ursprung von Mechanismen erkauft, die inzwischen in der Lage sind, diese Zivilisation in den Abgrund zu befördern?
    Wer den Antisemitismus durch den Begriff des Rassismus zu einer Weltanschauung macht, verharmlost ihn nicht nur, er bestätigt ihn damit zugleich. Er trägt zu seinem Überleben bei, indem er ihm die Würde einer logischen Konsistenz verleiht, die er nicht hat. Der Antisemitismus ist der reinste Ausdruck eines in Aggression und Vernichtungsdrang umschlagenden Rechtfertigungszwangs (und damit dann ein machtpolitisches Instrument zur Enthemmung und Entfesselung dieser Aggression und dieses Vernichtungstriebs). Er enthält kein „theoretisches“ Element, das ihn auf der Theorie-Ebene kritikfähig machen könnte, er ist nur durch Reflexion aufzulösen.
    Elefantengedächtnis: Wer Erinnerungen, die ihm unangenehm sind, verdrängt hat, hat dafür andere Dinge, die er nie vergessen wird.

  • 30.10.1996

    Die Bekenntnislogik verdinglicht das Bekenntnis und macht den Bruch, auf den der Name des Symbolon noch hinwies, unkenntlich: Die Bekenntnislogik ist das Inertialsystem der Theologie (vgl. § 77 der Kr.d.U.).
    Der Ausdruck „dingfest machen“ stammt aus dem Wortfeld des Thing und bezieht sich auf die Festnahme eines Beschuldigten. Ist in dieser Wortbildung nicht die Isolationshaft schon vorgebildet?
    Unterscheiden sich Genitiv und Dativ wie Privateigentümer und Staat, und sind sie nicht wie diese aufeinander bezogen? Und hängt das grammatische Problem, das insbsondere Journalisten mit dem Gebrauch dieser Kasus haben, mit den objektiven Problemen des gegenwärtigen Stands der politischen Ökonomie zusammen (die im Kontext der objektiv gewaltsamen Durchsetzung der Marktmechanismen dahin tendiert, den Staat aus seiner Eigentümerfunktion zu entlassen)? Ist dieses grammatische Problem (und nicht nur dieses) nicht der Reflex eines politisch-ökonomischen Problems?
    Kann es sein, daß BAW und Senat deshalb aus der Klemme, in die sie sich im Hogefeld-Prozeß selber hineinmanövriert haben, nicht wieder herauskommen, weil, wenn hier auch nur eine kleine Lücke sich auftut, mehr daraus hervorquellen wird als die Probleme dieses Prozesses?
    Als in den Stammheim-Prozessen die Verteidigung zum „Hilfsorgan der Rechtspflege“ gemacht wurde, ist das Gericht zu einem Hilfsorgan der Bundesanwaltschaft geworden. Diese definiert seitdem, was Rechtspflege heißt.
    Was mir nachträglich an der Marxismus-Rezeption der 68er (die keine Marx-Rezeption war) auffällt, ist, daß ein Thema völlig übersehen und dann verdrängt worden ist, das einzige Thema übrigens, das an die Notwendigkeit der Reflexion, das kantische Erbe in der marxschen Theorie, erinnert: das Problem des falschen Bewußtseins. Deshalb ist der Begriff der Ideologie, wie übrigens schon im Sowjetmarxismus, zu einem reinen Kampfbegriff geworden und die marxsche Theorie selber zu einem Herrschaftsinstrument. Der Begriff der Politik, der im Rahmen dieser Logik dann sich herausgebildet hat, war vom faschistischen fast nicht mehr zu unterscheiden, eine Mischung aus Ideologie, Machtpolitik und Propaganda. Hier wiederholt sich etwas, was im Christentum schon vor anderthalb Jahrtausenden das erste Modell des Selbstverrats vor Augen geführt hat: im Prozeß der Dogmatisierung, des Verrats der eigenen Ursprünge und Tradition durch Selbstinstrumentalisierung im Interesse der Partizipation an der Herrschaft und ihrer Absicherung von innen. Das dogmatische Christentum hat die erste Version des Zuges, der heute in den Abgrund rast, geliefert.
    Im Dogma ist die Theologie verstummt und zu einem Instrument der Instinktregulierung des animalisierten Gesellschaftskörpers geworden (im Kontext dieses Vorgangs hat die „Sexualmoral“ ihre zentrale Funktion und Bedeutung gewonnen: als Urteilsmoral, nicht jedoch als das moralisch allein zu begründende Verbot, den Andern zu instrumentalisieren). Aber hat nicht Jona seine Sprache endgültig erst im Bauch des großen Fisches wiedergefunden?
    Den Menschen ist die Sprache gegeben, auf daß sie denen, deren Leiden sonst stumm bleiben würden, zur Sprache verhelfen. Dämonisch ist die Sprache, die, was ohnehin unten ist, zusätzlich noch zur Stummheit des Objekts verurteilt.
    Standort Deutschland: Unter dieser Parole droht das ganze Land zur Garnison der Industrie zu werden, und die Deutsche Bischofskonferenz bewirbt sich als einziges militärbischöfliches Amt, das die Moral der Truppe garantieren will.
    Zum währungspolitischen Auftrag der Deutschen Bundesbank: Hat nicht die Stabilisierung der Währung etwas mit der Orthogonalisierung des ökonomischen Inertialsystems, des Referenzsystems der Wirtschaft, zu tun? (Ist die Bundesbank die Erbin der kaiserlichen Marine, die das Staatsschiff im wogenden Weltwährungsmeer „stabilisieren“ und auf Kurs halten soll?)
    Kann es sein, daß Heide Platen, wenn sie in der taz von heute die „Prozeßbeobachterin“ erwähnt, die „zu Beginn der Verhandlung“ Birgit Hogefeld „Größenwahn, Realitätsverlust, Übersteigerung der eigenen Rolle, Wichtigtuerei und Selbstmitleid … vorgeworfen“ hat, damit von sich selbst in der dritten Person spricht? Diese Konstellation wäre, wenn sie zuträfe, ein wahrhaft erhellendes Modell journalistischen Selbstverständnisses heute. Journalisten sind ja nur „neutrale Beobachter“ dessen, wovon sie berichten, und keinesfalls haftbar zu machen für ihr dummes Geschwätz von gestern, zu dem eine immer punktueller und erinnerungsloser werdende Öffentlichkeit sich selbst und die Welt macht.
    Wenn es überhaupt noch eine Rekonstruktion des autonomen Subjekts im Sinne der Aufklärung geben soll, dann wäre sie nur an der Stelle noch möglich, den der Satz: „Nur Gott schaut ins Herz der Menschen“, aufs genaueste bezeichnet.
    Die Erklärung Birgit Hogefelds ist ein Modellfall der Erinnerungsarbeit. Wäre diese Aufarbeitung der eigenen und der Geschichte der RAF nicht auf die Geschichte insgesamt zu übertragen? Diese Erklärung liefert den Beweis, daß ihre Erinnerung an die Schrecken des Nationalsozialismus für sie nicht nur eine rhetorische Formel war.
    Birgit Hogefeld: Nur wer rücksichtslos gegen sich selbst ist, hört auf, es gegen andere zu sein; wer seine eigene Ehre darein setzt, von den Mitteln der Abwehr, der Verdrängung, der Schuldverschiebung und der Projektion, mit einem Wort: von der Feindbildlogik keinen Gebrauch mehr zu machen.
    Ist die Gleichzeitigkeit des Hogefeld-Prozesses und des Erscheinens des Buches von Daniel Jonah Goldhagen vielleicht doch providentiell?
    Dieses Gericht hätte eine Chance, das Vertrauen in eine Justiz, deren Ziel die Gerechtigkeit ist, und die ihre Aufgabe nicht darin sieht, die Rachebedürfnisse zu befriedigen, die die Welt heute so massenhaft produziert, erstmals zu schaffen.
    Was es mit dem „Insektenstaat“ auf sich hat, läßt an folgenden Assoziationen sich demonstrieren:
    – an Reinhold Schneiders Reflexionen über Insekten in seinem schwärzesten Buch „Winter in Wien“;
    – unterm Gesetz eines tiefsitzenden Rache- und Harmoniebedürfnisses landet das Interesse an Insekten bei den Bienen (der Vorsitzende des 5. Strafsenats am OLG Frankfurt, der den Hogefeld-Prozeß leitet, ist auch Vorsitzender des Deutschen Imkerbundes);
    – am Stichwort Insektenforscher;
    – am Stichwort Spinnenphobie;
    – dazu am Beelzebul, dem Herrn der Fliegen, dessen Reich zefällt, wenn es in sich uneins ist.
    Haben die Mücken, das Geziefer und die Heuschrecken in der Geschichte der „ägyptischen Plagen“ etwas mit dem Konstrukt „Insektenstaat“ zu tun (und gehört hierzu nicht auch die merkwürdige Verknüpfung der Heuschrecken mit den Pferden in apokalyptischem Zusammenhang, aber auch schon in in der Parallele der Heuschrecken-Plage zum Untergang der pharaonischen Streitmacht im Schilfmeer)?
    Feindbild-Logik: Als Natur wird die Welt sich selbst zum Feind (schon bei Kant stehen Natur und Welt nicht idyllisch nebeneinander wie Lukacs‘ Grandhotel und der zugehörigen Abggrund).
    Es gibt eine Feindbild-Symbiose; aber läßt sich dieses Konstrukt nicht auch umkehren: steckt im Kern jeder Symbiose die Feindbild-Logik (und verweist das nicht auf den mit der Trinitätslehre universal gewordenen imperativen Gehalt der dogmatischen Theologie)?
    Die Umkehr, die unsere Theologie in eine Theologie im Angesicht Gottes verwandeln würde, hat ihr Modell nicht mehr an einer Drehung im Raum, sondern eher am Umstülpen, an einem Akt, durch den ein linker Handschuh in einen rechten sich umformen läßt. Steckt ein Hinweis darauf nicht in der Geschichte von der Buße Ninives, in der Verdopplung ihres Ausgangspunkt, der einmal beim Volk, das zweite mal beim König liegt?
    Die Natur ist der Inbegriff des Unbewußten, ohne das es Bewußtsein nicht gibt. Sie ist der Mülleimer der projektiven Objekt-Beziehung, die das Bewußtsein konstituiert.
    Creatio mundi ex nihilo: Ist das Strafrecht der Versuch, im Konzept der Strafe jenes Nichts herzustellen, aus dem das Absolute, das im Staat sich verkörpert, die Welt erschafft? Die Logik des nationalsozialistischen Antisemitismus scheint in diesem Konstrukt zu gründen und ließe leicht aus ihm sich herleiten. Das Strafrecht ist eine Maschine, die die Todesfurcht erzeugt und verdrängt zugleich, indem es ihr die Chance verweigert, als Gottesfurcht sich zu begreifen (der Stern der Erlösung hat diese Beziehung der Todes- zur Gottesfurcht erstmals ins Licht gerückt).
    Das Schwert, das die Wunde schlägt, heilt sie auch: Gilt das nicht für die Anwendung der Mittel der Objektivierung auf die Objektivationsgeschichte selber?
    Wenn K. meint, daß die Schwarz-Weiß-Malerei der RAF doch nicht (wie es nach ihrem Eindruck Birgit Hogefeld tut) auf die RAF selber angewendet werden dürfe, so wäre dazu nur zu sagen, daß der Abgrund, den die Schwarz-Weiß-Malerei erzeugt, leider nur mit den Mitteln der Schwarz-Weiß-Malerei sich zeigen läßt. Hier gibt’s keine Grautöne und keine Farben mehr. Der Abgrund ist das Schwarze Loch. Wer der Gegenseite sich anpaßt, von ihrer Logik sich anstecken läßt, stärkt sie nur.
    Zur Theorie des Feuers: Die Hölle, ist das nicht ein Produkt der Verkörperung und Totalisierung des „hinter dem Rücken Gottes“, das im Angesicht Gottes sich auflösen, im Leuchten Seines Angesichts in Licht sich verwandeln wird? Wer vorher schon die Hölle leugnet, ist ihr bereits verfallen. Die Hölle wird bestehen „per omnia saecula saeculorum“, was nicht heißt: in alle Ewigkeit, sondern in aller Weltzeit. Wer die Hölle leugnet, leugnet die Erinnerung, und ein Verfahren dieser Leugnung ist das Verfahren der Vergegenständlichung ihres Objekts: die Historisierung.
    Wenn das Feuer im Namen des Himmels das Wer symbolisiert, ist dann nicht die Hölle ein Symbol der Unerlöstheit Gottes? Löst sich dann nicht mit der Selbsterlösung Gottes auch der Feuerpfuhl, nachdem der Drache, die Tiere und der Tod ihm überantwortet worden sind: in der Erkenntnis des Gottesnamens und im Leuchten Seines Angesichts?
    Das falsche Bewußtsein ist eine Folge der Verdrängung der Vergangenheit, nur: auch durch Historisierung ist die Vergangenheit zu verdrängen. Deshalb haben deutsche Historiker den Goldhagen als Angriff erfahren.
    Der letzte, heute vielleicht allein noch mögliche „Gottesbeweis“ wäre der, der aus der Einsicht in die Unmöglichkeit einer ursprünglichen Vergangenheit sich ableiten ließe. Gäbe es eine ursprüngliche Vergangenheit, dann müßten alle Blätter eines Baumes einander gleich und mathematisch rekonstruierbar sein, und es dürfte nur eine Tiergattung und eine Insektenart geben.
    Hat nicht die Trinitätslehre Gott zu einem Gott gemacht, der wegsieht (zu einem autistischen Gott), und ist das nicht der bewußtlose imperative Gehalt dieser Theologie, die in ihren Gnaden- und Rechtfertigungslehren dieses Wegsehen zum Kern ihrer Lehre von der Sündenvergebung gemacht hat? Auch hier gilt die Levinas’sche Asymmetrie: Wegsehen darf allein das Opfer, nicht der Täter, darf der Andere, nicht ich.
    Was unter anderem an unserer Theologie falsch ist:
    – das Wegsehen,
    – die Entsühnung der Welt (das Korrelat der creatio mundi ex nihilo),
    – die Individualisierung des Seelenheils (so als habe es mit dem Zustand der Welt, mit der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten, nichts zu tun),
    – die Unfähigkeit, den ungeheuren Verdrängungsblock, der der Rezeption des Weltbegriffs sich verdankt und der in der Bekenntnislogik sich manifestiert, noch zu reflektieren,
    – die Übersetzung des Begriffs Theologie mit „Rede von Gott“, die offensichtlich ein Theologie-Verständnis ähnlich stabilisieren helfen soll wie die Orthogonalität das Inertialsystem und die Bundesbank die Währung, den Geldwert.
    Zur pharaonischen Verhärtung des Herzens: Das Problem der Theologie gleicht dem der fast unmöglichen Rekonstruktion des Raumes aus der Sicht und Erfahrung des Objekts (nicht des Subjekts, dem diese Sicht und diese Erfahrung apriori versperrt ist). Der Raum ist der Inbegriff des Schuldverschubsystems: Er exkulpiert das Subjekt, indem er die ganze Schuld aufs Objekt verschiebt, gleichsam die Levinas’sche Asymmetrie vom Grunde her leugnet. Die christliche Gnaden- und Rechtfertigungslehre, die Individualisierung der Sündenvergebung, die durch die Logik der subjektiven Formen der Anschauung automatisiert wird (und seitdem der Religion als Vermittlung nicht mehr bedarf), hat dem vorgearbeitet. In der säkularisierten Welt hängt die Sündenvergebung nicht mehr vom Sündenvergeben ab, nur noch vom Haben oder Nicht-Haben: Wer hat, dem ist schon vergeben (und der hat es nicht nötig zu vergeben), und wer nicht hat, dem kann auch nicht mehr vergeben werden (wer ist er überhaupt, daß er sich anmaßen könnte, uns zu vergeben, damit auch wir ihm vergeben?).
    „Niemand kann zwei Herren dienen“: Wir haben das Sündenvergeben (die Erlösung) dem Geld überlassen. So ist das Geld unser Gott geworden: Es ist der Schöpfer einer durch es selbst entsühnten Welt, der Welt, in der wir leben, einer Welt, die alle schuldig spricht, die an der magischen Substanz des Eigentums nicht teilhaben.

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