Inquisition

  • 14.06.88

    Folter und paranoide Systeme gehören zusammen; der Gebrauch von Folter ist bereits der Beweis für die zugrundeliegende paranoide Verfassung des Bewußtseins ihrer Anwender. Umgekehrt: Aussagen, die durch Folter (und dazu gehört auch die Isolationshaft) erzwungen werden, bestätigen immer nur die paranoiden Vorstellungen und Erwartungen der Folterer und ihrer Vorgesetzten (es scheint übrigens Folter immer nur im Kontext hierarchisch organisierter Gruppen/Instanzen zu geben: Ein nicht zu vermeidender Konstruktionsfehler? Zusammenhang von Verwaltung und Paranoia?.

    Das gilt sowohl politisch wie in der Wissenschaft: für jegliche Art von Inquisition wie fürs Experiment (Arbeitshypothese: Physik als paranoides System; Zusammenhang von Inquisition, Ketzer-/Hexenverfolgung und Ursprung der modernen Naturwissenschaften).

  • 9.11.1996

    1945: Der unreine Geist, nachdem er wasserlose Orte durchzogen und keine Ruhestätte gefunden hat, in sein Haus zurückkehrt, es leer, gereinigt und geschmückt vorfindet, geht hin und nimmt sieben andere Geister mit, die schlimmer sind als er, und sie ziehen ein und wohnen dort, und es wird nachher mit jenem Menschen schlimmer als vorher. (Mt 1243ff, vgl. Lk 1124ff)
    Ist nicht die rhetorische Frage in der Regel die Frage der Empörung, oder auch das in Frageform gekleidete kontrafaktische Urteil? Wie hängt die Massenbildung mit der Empörung zusammen?
    Die rhetorische Frage, wie auch das kontrafaktische Urteil, ist ein Element der Klage; in ihr gründet das Problem der Theodizee. Ist nicht diese Klage das Element, aus dem Anklage erwächst, und dann das Schuldurteil?
    Wenn eine Vorstellungswelt zerbricht, zerbricht nicht die Welt.
    Die Sprengung der Herrschaftslogik schließt die Sprengung der Vorstellung des Zeitkontinuums mit ein, das aber heißt, sie schließt die Idee der Auferstehung der Toten mit ein.
    Die heroische Attitüde Heideggers gibt es auch schon bei Hegel, dort wo er von der Kraft, der Negativität und dem Tod standzuhalten, ihnen ins (leere, nicht vorhandene) Angesicht zu sehen, spricht.
    Der Satz „Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist“ ist ohne die Idee der Auferstehung der Toten nicht mehr zu denken.
    Kann es sein, das das „Mein ist die Rache, spricht der Herr“ in dem Allereinfachsten besteht, daß dann jede Träne abgewischt wird: daß Herrschaft ihr Objekt, auf das sie sich stützt, verlieren und das nicht ertragen wird? Wäre das nicht der Triumph der Barmherzigkeit über das Gericht?
    Hat nicht der 5. Strafsenat Birgit Hogefeld dafür mit dieser wütenden Verbissenheit zur Rechenschaft gezogen und verurteilt, weil sie ihn in eine Situation gebracht hat, der er nicht gewachsen war? Sie hat diesen Senat vor eine Entscheidung gestellt, die er nur hätte treffen können, wenn er den Mut und den Verstand gehabt hätte, die er nicht hatte.
    Dieser Prozeß und dann dieses Urteil hat etwas verändert. Jetzt wird man reden müssen
    – über den Geist und das Handeln der Strafschutzsenate und der Bundesanwaltschaft,
    – aber auch über die RAF, die einerseits diesen Institutionen die Vorwände geliefert hat, so zu werden, wie sie heute sich darbieten, andererseits aber zugleich den Opfern dieser Institutionen die Solidarität verweigert,
    – und nicht zuletzt über die Öffentlichkeit, die ihre Wahrnehmungsfähigkeit eingebüßt hat und wieder einmal das Wegsehen einübt, und an der es sich jetzt rächt, daß in diesem Lande die Aufarbeitung der Vergangenheit in folgenlose Bekenntnisse sich verflüchtigt hat, real aber nie gelungen ist.
    Manchmal überkommt mich der böse Verdacht, ob die Frage des Richters Klein an die Angeklagte nicht eigentlich hätte lauten müssen: Hat es die RAF überhaupt noch gegeben? Und ist es wirklich ganz auszuschließen, daß der Anschlag auf Weiterstadt auf eine konspirative Provokation (BAW/VS/Steinmetz?) zurückzuführen ist, die dann ihren Zweck voll erfüllt hat, nämlich der Öffentlichkeit zu den nie aufgeklärten Taten der 80er Jahre nachträglich eine RAF zu liefern, die es eigentlich schon nicht mehr gab? Und bekennen sich die Hardliner der RAF vielleicht heute zu Handlungen, von denen sie selbst nicht wissen, wer sie begangen hat, an denen sie nur deshalb festhalten, weil ihre von der Realität abgespaltene Phantasie sie als Identitätsstütze braucht? Und das bis zu der bitteren Konsequenz, daß sie die eine, die den Sinn dieser Handlungen in Frage stellt, mit dem Bann belegen und aus ihrer wahnhaften Bekenntnisgemeinschaft zwangshaft ausschließen müssen? Zugleich muß der Staatsschutz sie mit der Verurteilung zu lebenslänglicher Haft aus dem Verkehr ziehen, weil sie, ähnlich wie Irmgard Möller nach der Stammheim-Katastrophe, die einzige ist, die vielleicht auf die Spuren stoßen und sie öffentlich machen könnte, die den Alptraum, zu dem dieser Staat in gleichem Maße zu werden scheint, in dem keiner es mehr für möglich zu halten fähig ist, als Realität erweisen würden.
    Die Nazis haben ihre Untaten durch ihre Dimensionen und ihr Ausmaß vor der Öffentlichkeit schützen können: Die Greuel waren leicht als Greuelmärchen zu dementieren, weil niemand (außer ihren Opfern, die sie real an sich selbst erfuhren) sie mehr für möglich halten konnte. Nur waren damals die Grenzen zwischen Realität und Vorstellungsvermögen noch nicht so scharf definiert: Zur Stabilisierung des abgespaltenen Vorstellungsvermögens, als wirksame kollektive Verdrängungshilfe, brauchten die Nazis das Gerücht von der Realität, das Klima des Terrors als allgegenwärtige und für alle spürbare Gewalt, die die Menschen zum Wegsehen zwang. Dieses Konstrukt hat die Nazizeit überlebt in dem Wort „Nestbeschmutzer“. Diskriminiert wurden nach dem Krieg nicht die Täter, sondern die, die ihre Taten an die Öffentlichkeit brachten.
    So gleicht sich die Realität immer mehr der Paranoia an, die sie doch zugleich falsch abbildet. Oder anders: So wird die Paranoia zu einem Erklärungsmuster der Realität, mit der Folge, daß heute die Realität nicht mehr begreift, wer nicht bereit ist, auch das Undenkbare zu denken, ohne daraus ableiten zu können, es sei so. Die Logik der Paranoia ist eine Erkenntnishilfe, aber man darf ihr nicht verfallen.
    Gegen diese Logik sind die Lyotardschen Reflexionen über das perfekte Verbrechen (die an die Erinnerung an Auschwitz anknüpfen) noch harmlos, weil sie zum Vebrechen verdinglichen, was in Wahrheit nur als kritische Reflexion eines logischen Sachverhalts sich begreifen läßt. An diesen logischen Sachverhalt, der an den Grund des Strafrechts selber rührt, reicht der strafrechtliche Begriff des Verbrechens nicht mehr heran.
    Der Versuch, das Undenkbare zu denken, liefert den Schlüssel zu den finsteren Geheimnissen des Staates (oder auch der Bekenntnislogik und der Opfertheologie, die die Religion zur Staatsreligion gemacht haben), vielleicht hilft er, Licht in dieses Dunkel hineinzubringen.
    Das Undenkbare denken: Dazu gehört auch, daß man einer Logik, die davon ausgeht, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, sich entzieht, daß es gelingt, die Kräfte, die es unterm Nationalsozialismus erlaubten, reale Greuel als „Greuelmärchen“ zu dementieren und so ihre Wahrnehmung zu verhindern, zu reflektieren und damit unwirksam zu machen. Ein Denken, das Herrschaftsinteressen, die heute mit dem Eigeninteresse derer, die an dem Privileg des Denkens noch teilhaben, konvergieren, sich unterordnet, mag sich als klug erweisen, es mag von einem hohen Grad der Intelligenz zeugen, es ist doch im Kern zugleich auch dumm, es verlernt, die Verblendung, deren Opfer es wird, zu durchschauen, es sieht insbesondere nicht mehr, was es anrichtet.
    Was einmal das „pathologisch gute Gewissen“ genannt wurde, ist eine in die Logik des Bewußtseins selber mit eingebaute Automatik; diese Automatik hat die kantische Philosophie, und zwar in der transzendentalen Ästhetik, erstmals rein herauspräpariert, sie ist damit bestimmbar und analysierbar geworden. Der erste, bis heute freilich nicht verstandene Beginn der Analyse dieser Automatik war Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung, ein im Kern logisch-philosophisches Werk, das nur aufgrund seiner Konsequenzen der speziellen Disziplin der Religionsphilosophie zugeordnet und so neutralisiert worden ist (der Gedanke, daß der Kern der Logik in der Theologie liegt, gehört zu dem Undenkbaren, auf das die Forderung, es endlich zu denken, sich bezieht). Der Stern der Erlösung gehört zu den epochalen Werken der Philosophie dieses Jahrhunderts, von gleichem Rang wie das Werk Walter Benajmins, Georg Lukacs‘ „Geschichte und Klassenbewußtsein“ oder die „Dialektik der Aufklärung“.
    Der Begriff Greuelmärchen war ein prophylaktischer Teil des aus ihm entwickelten Mechanismus, der nach dem Krieg den kollektiven Verdrängungsprozeß mit getragen hat. Danach konnten alle (und das subjektiv ehrlich) sagen, sie hätten nichts gewußt.
    „Satanisch, teuflisch, dämonisch“: An diesen Begriffen läßt die Magie des Urteils sich demonstrieren. Deren Bann wird erst gebrochen, wenn man, ohne Verharmlosung in der Sache, diese Begriffe reflexionsfähig macht, wenn man im Satanischen den Ankläger, im Teuflischen die feindbild-logische Instrumentalisierung der Sprache, ihre Subsumtion unter fremde Zwecke, im Dämonischen die Sprache der Rechtfertigung erkennt, in ihnen allen die Formen der Selbstzerstörung der erkennenden Kraft der Sprache; auch das ist ein Teil des Versuchs, das Undenkbare zu denken. Der Ansatz zur Lösung des Banns ist in dem Jesus-Wort vom Geist enthalten: „Wenn sie euch dann hinführen, um euch zu überliefern (Einheitsübersetzung: und <man> euch vor Gericht stellt), so sorget euch nicht im voraus darum, was ihr reden sollt, sondern was euch in jener Stunde gegeben (E.: eingegeben) wird, das redet. Denn nicht ihr seid es, die reden, sondern der heilige Geist.“ (Mk 1311) Der heilige Geist ist das Subjekt der erkennenden, aus dem Bann ihrer Instrumentalisierung befreiten Sprache. Der Kern dieses Banns ist die Logik der Welt: die Feindbildlogik, die dem Feind aus freien Stücken die Waffen liefert, mit denen er uns besiegt.
    Das Undenkbare denken, auch im Anblick des Schreckens den klaren Verstand zu behalten: Das wäre der Schlüssel zu einer Theologie im Angesicht Gottes.
    Zur Ursprungsgeschichte der Öffentlichkeit: Die stoische Ataraxia, die dann in den Begriff und in die Konstruktion der Öffentlichkeit mit eingegangen ist, ist kollektiv eingeübt worden in den römischen Arenen, in dem freiwilligen und zum Genuß (zur „Augenlust“) dargebotenen Anblick des Schreckens, der nur die Opfer, nicht die Zuschauer des Spektakels traf. Schon die aristotelischen Affekte Furcht und Mitleid, die die Tragödie im Zuschauer hervorruft, hatten Teil an dieser Ataraxia: Dem Mitleid war durch die ästhetische Grenze, durch die Abstraktion vom eingreifenden Handeln, die den Zuschauer vom tragischen „Geschehen“ trennt, die moralische Gemeinschaft mit dem ästhetischen Objekt aufhebt, der Weg zur Barmherzigkeit abgeschnitten: Im Mitleid genießt das Publikum (der Zuschauende) nur noch seinen eigenen Affekt, es erreicht sein Objekt nicht mehr. Die Arenen haben diese (die logische Konstruktion der Öffentlichkeit begründende) ästhetische Grenze zum Objekt vergesellschaftet. In diese Ursprungsgeschichte der Öffentlichkeit gehören die Scheiterhaufen, auf denen die Ketzer und Hexen verbrannt worden sind, die öffentlichen Hinrichtungen. Auch der Kreuzestod Jesu ist durch die christliche Opfertheologie zu einem öffentlichkeitskonstituierenden Akt geworden (der in den Christen das schlechte Gewissen installiert hat, das dann bekenntnislogisch abgearbeitet werden mußte). Die Theologie war seit den Kirchenvätern nur das Exil der Philosophie, diese war das Schiff, auf dem sie aus Furcht vor ihrem Auftrag, Ninive den Untergang anzusagen, nach Tarschisch zu fliehen versucht hat.
    Aber war die Philosophie nicht auch der eine unreine Geist, der am Ende mit sieben anderen Geistern in das leere, gereinigte und geschmückte Haus zurückkehren wird; und die letzten Dinge werden dann ärger sein als die ersten?
    Der Staat ist die Quelle und der Produzent des „Seitenblicks“, der in den Arenen (und in der nachfolgenden Geschichte der Kunst) zunächst eingeübt und dann auch reflektiert worden ist. Und das hegelsche Absolute ist der Gott, der in diesem Staat sich verkörpert (und durch ihn hindurch das Reich der Erscheinungen als seine Welt erschafft, die am Ende niemand von der wirklichen mehr unterscheiden kann).
    Das kantische Religionsverständnis unterscheidet sich vom hegelschen dadurch, daß es das Moment der Hoffnung (auch für die Toten) noch in sich enthält, es weder verleugnet, noch verdrängt, noch unterdrückt hat, und in dieser Hoffnung die Kraft der Reflexion, die er in der Kritik der Urteilskraft zu entfalten versucht hat.
    Das Undenkbare denken, oder die Bundeanwaltschaft als Verkörperungen der Staatsparanoia.
    Der Konkretismus und die Personalisierung verstören die Sprache der Reflexion, versuchen ständig, sie eine Sprache des bestimmenden Urteils (der synthetischen Urteile apriori), des Indikativs, zu übersetzen.
    Das Undenkbare denken (Gliederung):
    – Indikativ und Imperativ (Levinas),
    – Verstörung des reflektierenden Denkens durch die Mechanismen der Verdinglichung,
    – die Auflösung des Problems der Verhärtung des Herzens (Pharao und hodie, si vocem eius audieritis),
    – Theologie im Angesicht Gottes,
    – die Sünde wider den heiligen Geist (die Sünde der Übersetzung des reflektierenden Urteils ins bestimmende Urteil, der Verdinglichung, der Feindbildlogik, die Sünde der Welt <im Kontext des Nachfolgegebots, nicht der Opfertheologie>).
    Die Theologie im Angesicht Gottes ist eine herzzerreißende Theologie: Sie zerreißt das steinerne Herz (das sentimentale Herz) und ersetzt es durch das fleischerne Herz (ein Herz, in dessen Verletzlichkeit seine erkennende Kraft gründet). – „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht.“
    Auch der Satz, daß Gott am Ende das steinerne Herz durch ein fleischernes ersetzen wird, steht im Imperativ, nicht im Indikativ.
    Zu Kafkas Bau: Das Tier hat vierzig Jahre im Untergrund gewühlt, und jetzt steckt es die Nase heraus in der Hoffnung, daß da nicht ein Gärtner mit dem Spaten steht und es erschlägt.
    Das Undenkbare denken: Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns (Kafka). Auf diesen Satz antwortet eine Theologie, die die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele aufgibt, dafür aber an der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten festhält. Nicht für mich (und nicht für die, die unter Rechtfertigungszwängen auf einen gnädigen Gott hoffen), nur für die Andern gilt: Die Liebe deckt eine Menge Sünden zu. Das Jakobus-Wort, daß, wer einen Sünder von seinem Weg des Irrtums befreit, seine eigene Seele vor dem Tode rettet, schließt die Frage mit ein, wer ist dieser Sünder? Ist es nicht der gleiche, über dessen Bekehrung mehr Freude im Himmel sein wird als über die 99 Gerechten?
    (Adressaten: Christiane Dannemann, Michael Schwenn, auch Pfarrer Nieder, Antje Vollmer?)
    Wenn ich die „objektive“ Analyse einer Sache durch die Erfahrung, die ich mit ihr gemacht haben, ersetze, so ist das der einzige Ausweg, über den ich die Sache selbst noch herauszubringen vermag.
    Instrumentalisierung der Anklagepraxis durch die Bundesanwaltschaft (mit dem Ziel der Aussagenerpressung: Angebot der Kronzeugenregelung bei Birgit Hogefeld, Ermittlungsverfahren gegen Steinmetz, Anklage mit Kronzeugenangebot bei Frau Andrawes), dazu paßt die fiktive Anklage im Hogefeld-Prozeß (eine Anklage, die aus den gleichen Gründen, die dann zum Freispruch führten, eigentlich schon bei Prozeßeröffnung hätte zurückgewiesen werden müssen, die aber nur so ihren Zweck erfüllen konnte: die zwar nicht nachgewiesene, aber wegen der Freispruchs der Angeklagten auch nicht mehr revisionsfähige gerichtliche Feststellung, daß Wolfgang Grams den GSG-9-Beamten Newrzella erschossen hat). Steht nicht die Anklagepraxis der BAW, die ein Teil ihres Politikverständnisses ist, in einem so exzessiven Maße unter dem Zwang der Feindbildlogik, daß sie deren Reflexion schon vom Grunde her auszuschließen gezwungen ist?

  • 8.11.1996

    „Wir Deutschen“, sind das nicht die Nachfahren der Hitlerschen Masse?
    Als Micha Brumlik den Namen des Angesichts mit „Ausdrucksgeschehen …“ übersetzte, hat er ihn in die Sprache einer EG-Verordnung übersetzt, in die vergegenständlichende Sprache des Rechts und der Verwaltung. Wenn Levinas zufolge die Wirklichkeit des Angesichts die Unendlichkeit des Raumes widerlegt, dann drückt die Brumliksche Übersetzung den Zwang aus, die räumliche Unendlichkeit wiederherzustellen, die den Objektivierungszwang begründet und perpetuiert.
    Die stockende Verlesung des Urteils im Hogefeld-Prozeß durch den vorsitzenden Richter erweckte den sicherlich nicht unbegründeten Eindruck, daß darin Widerstände sich ausdrückten, die mit dem, was die Nazis den „Kampf gegen den inneren Schweinehund“ nannten, zu tun haben mochten: Der eigentliche Gegner dieses Kampfes (des „inneren Ringens“, wie es die gewähltere Formulierung des Feuilletons damals nannte) waren die humanen Regungen, von denen auch Nazis nicht frei waren. In diesem Kontext löst sich ein Problem, das Daniel Jonah Goldhagen benannt hat, die Frage, weshalb der Judenmord mit den zusätzlichen Grausamkeiten, Verhöhnungen und Demütigungen verbunden war, die ihn begleiteten: Darin drückte dieser „Kampf gegen den inneren Schweinehund“ sich aus, der auf die Juden verschoben und an ihnen vollstreckt wurde. So paradox das klingen mag: In diesen Manifestationen der Gemeinheit kam zum Ausdruck, daß das Gewissen in den Tätern noch nicht ganz erloschen war und in den Juden immer wieder mit erschlagen werden mußte. Genau das begründete auch den Wiederholungszwang, das suchthafte Verhalten der Täter: Nachdem sie einmal in die Zwänge dieser Logik hineingeraten waren, konnten sie nicht mehr davon lassen. Es gibt Taten, die nur als Wiederholungstaten möglich sind, weil sie das, was sie intendieren, nicht erreichen, aber eben dadurch ihre Wiederholung erzwingen.
    Die Urteilsbegründung ist der Beweis, daß der Eindruck, den Gericht und Bundesanwaltschaft erweckten, wenn Birgit Hogefeld ihre Erklärungen vortrug, nicht getrogen hat: Ankläger und Richter haben sich in einen synthetischen Schlaf versetzt, in dem sie nur das noch hörten, was sie hören wollten; die Erklärungen selbst haben sie nicht mitbekommen.
    Man muß das auch mitdenken, und sollte es nicht verdrängen: Anklage und Gericht sind selber auch „Opfer der RAF“, die sie zu den erbarmungslosen Handlungen, wie es die Urteile von Anfang an gewesen sind, gezwungen haben; und dafür haben sie sich gerächt. Dieser Mechanismus drückt in der geradezu verwilderten Logik der Urteilsbegründung sich aus.
    In einem Land, in dem alle nur noch ihre Pflicht tun, aber keiner mehr weiß, was er tut, weil alle unter Zwängen stehen, die sie nicht mehr zu durchschauen vermögen, gibt es dann nur noch ein Verfahren: Augen zu und durch! Das gefährliche dieses Verfahrens ist: es ist ansteckend.
    Kohl: Heute, in dem Erfolg, den sie nicht veursacht hat, der ihr wirklich nur zugefallen ist, plustert sich die Blindheit und Stummheit der „deutschen Frage“, die in Kohl sich verkörpert, zu welthistorische Größe auf.
    Flucht nach Tarschisch: Tarschisch liegt am Ende der Welt; aus Tarschisch hat Salomo mit Schiffen die Goldschätze geholt, die er für den Bau und die Ausstattung des Tempels benötigte. – Rom hat nicht mehr Handel getrieben, sondern die Welt erobert und ausgeplündert und die Beute im Triumphzug nach Rom geführt. Die Triumphbogen des imperialen Rom: Heute sind das die Auslandsjournale des Fernsehens.
    Läuft nicht Franz Rosenzweigs Verständnis des Christentums darauf hinaus, daß das Christentum genau diese Flucht nach Tarschisch ist? Und legt seine Beschreibung nicht den Gedanken nahe, daß nicht die Synagoge, sondern die Kirche die Binde vor den Augen trägt?
    Israel heute: Ist es nicht, als seien die Sadduzäer auferstanden, die an die Auferstehung nicht glaubten? Aber hatte es eine andere Wahl?
    Was hat der Begriff der Ruhe in den beiden Relativitätstheorien (die sich von der Bewegung nicht mehr unterscheiden läßt) mit der Sabbatruhe zu tun, oder auch mit dem Wort, demzufolge der Menschensohn Herr des Sabbat ist? Ist hier nicht ein weiteres Beispiel für den Greuel am heiligen Ort?
    Liegt nicht die Aufgabe der Theologie heute in dem Problem, vor das Nebukadnezar den Daniel gestellt hat: einen Traum zu deuten, den Nebukadnezar vergessen hat?
    Gewinnt nicht in der Gestalt Birgit Hogefelds, in dem Urteil über sie, das auf eine neue Weise die Identifikation mit dem Objekt des Urteils erzwingt, diese Identifikation eine neue Qualität, und das dank der Reflexionskraft Birgit Hogefelds?
    Steckt nicht das „Zeichen des Jona“ in dem Problem, vor dem Jona selber steht, und das er mit seiner Flucht nach Tarschisch vergeblich zu lösen versucht: im Problem des Anfangs? Dieser Satz „In vierzig Tagen wird Ninive zerstört“, der einzige Satz, den er dann noch herausbringt, steht zwar in der prophetischen Tradition, hat aber nicht mehr die Qualität eines prophetischen Satzes, er ist kein „Wort des Herrn“. Prophetisch ist allein – und das auf eine ungeheuerliche Weise – seine Wirkung. Hierin liegt das Grundproblem des Buches Jona. Ist es nicht das gleiche Problem, das Hegel einmal in dem Satz ausgedrückt hat, er sei dazu verdammt, ein Philosoph zu sein?
    Die jüdische Tradition zieht die Grenze zwischen Prophetie und Geschichte an anderer Stelle als die christliche. Für die jüdische Tradition gehören die Bücher Josue, Richter, Samuel und Könige zu den prophetischen Büchern, für die christliche zu den historischen (ich halte die Entscheidung Bubers, der in dieser Frage den Schriftkanon an die christliche Tradition angleicht, wenn nicht für falsch, so jedenfalls nicht für jüdisch). Das Problem, das in dieser Differenz sich anzeigt, war genau das Problem, das Franz Rosenzweig mit einer sehr präzisen Begründung dazu gebracht hat, mit dem Stern der Erlösung dem Historismus abzusagen. Das Problem Historismus/Offenbarung war der Gegenstand der Gespräche, in denen seine Vettern Ehrenberg und sein Freund Rosenstock ihn dazu bringen wollten, den Schritt, den sie vollzogen hatten, nämlich Christ zu werden, ebenfalls zu vollziehen. Seine Antwort darauf war: Ich bleibe Jude, und das übrigens mit einer Begründung, die im Entscheidenden auf Texte aus dem Neuen Testament, aus dem Kontext christlichen Selbstverständnisses und nicht gegen dieses Selbstverständnis, sich bezog. Der Stern der Erlösung war dann gleichsam das Siegel auf dieser Entscheidung, in deren Kern eine Kritik des Historismus aus dem Geist der Prophetie sich findet. Dieses Verhältnis (der Prophetie zum Historismus) läßt an seiner Beziehung zu Hegel sich demonstrieren; hier liegt der Anfang einer Bewegung, an deren Ende vielleicht ein Satz stehen könnte, der auch Rosenzweigs Werk in ein neues Licht zu rücken vermöchte: Das Weltgericht ist nicht das Jüngste Gericht, das Jüngste Gericht wäre vielmehr das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht. Um das zu sehen, hätte Rosenzweig vielleicht den Jakobusbrief lesen müssen, den Satz: Die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht.
    Gibt es nicht die Kaskaden rhetorischer Fragen auch bei Klaus Heinrich, dessen „Schwierigkeit nein zu sagen“ gleichwohl zu den Texten gehört, die (wie auch Ulrich Sonnemanns „Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten“) ihre unmittelbare Aktualität überleben werden.
    Der Gott der Hebräer ist der Gott derer, die Fremde für andere sind, während der Gott der Philosophen der Gott derer ist, für die Andere Fremde sind, die deshalb der Projektionsfolie der Barbaren oder der Heiden bedürfen. Und es ist der Gott der Hebräer, den der Pharao, der Herr des Sklavenhauses, nicht kennt, und der, indem der Pharao in dieser Nichtkenntnis zu verharren versucht, die Geschichte seiner Herzensverhärtung begleitet.
    Zu dem Satz „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“: Das Bild ist falsch, hier hat Brecht den Schoß mit einer anderen Körperöffnung verwechselt.
    Tatsachen sind nackt, aber erkennen wir in dieser Nacktheit nicht doch nur den Spiegel unserer eigenen Nacktheit?
    Wenn es heißt, daß die Liebe eine Menge Sünden zudeckt, so sollte man dazu in Erinnerung behalten: Sie deckt die Sünden der Andern zu, nicht die eigenen.
    Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht: Heißt das nicht, daß nur, wer die eigenen Sünden reflexionsfähig hält – und das ist der Barmherzige -, die Abwehrmechanismen außer Kraft setzt, die uns zu Richtern über andere macht.
    Nicht zufällig fällt die kopernikanische Wende, die universale Verdinglichung der Welt, die Himmel und Erde gleichnamig gemacht hat, mit einer weltgeschichtlichen Wende zusammen, in der die europäische Gesellschaft, die damalige Christenheit, die gesamte Welt zu herrenlosem Gut erklärt und das Werk ihrer politischen und ökonomischen Aneignung und Ausbeutung begonnen hat. Die Wende in der Astronomie war das Bild und der Reflex einer Wende in der Geschichte der politischen Ökonomie. Hier ist Europa zum Tier aus dem Meer geworden. Die Welt, die den Himmel ins Licht des Gravitationsgesetzes gerückt hat, ist die Welt dieses Tieres. Gehört nicht die Geschichte der Inquisition zur Ursprungsgeschichte naturwissenschaftlichen Aufklärung?
    Das Verbindungsglied zwischen dem allgemeinen Gravitationsgesetz und der Wendung in der Geschichte der Aufklärung insgesamt liegt in der metaphorischen (oder der realsymbolischen) Beziehung der Schwere zur Schuld. Seitdem sucht das positivistische, vom Feindbild-Denken durchsetzte Rechtsverständnis nach einem Objekt, dem sie zur eigenen Entlastung die absolute Schwere der Schuld anhängen kann. Die Geschichte des Antisemitismus (wie auch der Ketzer- und Hexenverfolgung) ist noch nicht zu Ende.
    Zur perversen Logik der Staatsschutzverfahren gehören der Begriff der „besonderen Schwere der Schuld“ und die mehrfach lebenslänglichen Haftstrafen, für die offensichtlich ein Leben nicht ausreicht, um den Projektions-, Rache- und Sühnetrieb zu befriedigen. Sie erweisen sich als Elemente eines nationalen Schuldverschubsystems, das insbesondere im deutschen Staatsverständnis sich zu verkörpern scheint.
    (Wachsen etwa die Widerstände in dem gleichen Maße, in dem ich versuche, sie durch Reflexion aufzulösen?)
    Es gibt Leute, die immer so reagieren, als wüßten sie schon alles. Dringt das nicht immer mehr auch in den Universitätsbetrieb ein? Ein Hinweis darauf, daß Professoren heute nicht besser sind, als es die Oberlehrer, die sich auch Professor nannten, einmal waren.
    Die verwaltete Welt erzeugt im Bildungswesen eine eigene und sehr spezifische Art von Katastrophen.




  • 17.08.1996

    Autoritätshörigkeit hat ihre Wurzeln im Rechtfertigungszwang: Führer ist, wer die Verantwortung für das, was einer tut, auf sich nimmt, den Handelnden vom Druck der Verantwortung entlastet, wer ihm die Schuld abnimmt. Daß das im Ernst nicht gelingt, läßt am „eliminatorischen Antisemitismus“ sich demonstrieren. (Übernimmt heute, nach der kollektiven Verdrängung des Schreckens und auf der Grundlage dieser Verdrängung <der Verdrängung durch kollektive Verurteilung>, nicht das Recht genau diese Funktion, insbesondere in den Bereichen, in denen es dazu dient, Gemeinheit zu decken: bei der Polizei, in Staatsschutzprozessen und in Knästen?) Instrumentalisiertes Feindbild oder der logische Kern der Verhärtung des Herzens: Ist nicht das durch die transzendentale Ästhetik, durch die subjektiven Formen der Anschauung, vermittelte apriorische Objekt, die Grundlage der transzendentalen Logik, das Produkt einer apriorischen Verurteilung und Verdrängung, ist nicht die transzendentale Logik, die Konstruktion synthetischer Urteile apriori, das (aus der Bekenntnislogik hervorgegangene) Modell des Vorurteils? Wenn Aufmerksamkeit das natürliche Gebet der Seele ist, dann ist der eliminatorische Antisemitismus die reinste Form des Atheismus. Was hat die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos mit den Versuchungen Jesu in der Wüste zu tun? War Hiob der erste, der die Plagen als Versuchungen erfahren hat? Was haben die zehn ägyptischen Plagen, und was hat die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos mit der Ursprungsgeschichte der subjektiven Formen der Anschauung zu tun? Sollte es nicht ein essentieller Teil der rechtsstaatlichen Grundsätze sein, daß Verwaltungsentscheidungen ebenso wie Gerichtsurteile für die, die davon betroffen sind, verständlich sein müssen? Das aber würde bedeuten, daß fast alle raf-Urteile dieser Forderung nicht genügen. Müßte nicht der Buchtitel „Versuche, die raf zu verstehen“ ein wenig variiert werden: „Versuche, die raf-Prozesse zu verstehen“? Denn auch diesen Versuch scheint die Öffentlichkeit längst aufgegeben zu haben; deshalb nimmt sie sie nicht mehr wahr. Es gibt zwei Begriffe der Reinheit: Der eine würde dem der Reinheit der Lehre entsprechen, der die Umkehr voraussetzt und in der Heiligung des Gottesnamens, der Einigung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, sich erfüllt. Der andere steht unterm Rechtfertigungszwang und agiert ihn aus; dieser Begriff der Reinheit, den man den hygienischen nennen könnte, manifestiert sich in Reinheitszwängen, die von der Ansprechbarkeit durch die Waschmittelreklame über den Begriff der klinischen oder auch chemischen Reinheit bis hin zum eliminatorischen Antisemitismus reichen. Ist nicht der Prozeß der Dogmenentwicklung der Versuch, den ersten Reinheitsbegriff unter den Bedingungen des zweiten zu realisieren? Dieser Begriff der Reinheit der Lehre kommt ohne Antijudaismus, ohne Verurteilung der Häresien und Verfolgung der Ketzer, aber auch ohne Hexenverfolgung nicht aus. Er hat in der Theologie sich etabliert, nachdem an die Stelle des Märtyrers der Confessor trat. Die Bekenntnislogik ist ein Instrument der Abwehr: ein Präventivverfahren gegen Schuldgefühle und Schuldreflexion zugleich. Läßt sich die Geschichte der Theologie im Bann der Bekenntnislogik nicht als die Umkehrung und Radikalisierung der Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos begreifen, mit der Taufe als Wiederholung des Untergangs im Schilfmeer als Anfang, über die Tötung der Erstgeburt und die allgemeine Finsternis bis hin zu den Fröschen (den unreinen Geistern) und zur Verwandlung des Wassers in Blut (der Verwandlung, die Taufe blutig an denen vollstreckt, die sich nicht wollen bekehren lassen)? Durch die Bekehrung ist die Umkehr zu einem Instrument der Herrschaft geworden. „Ein Wind weht vom Paradies her“ (Walter Benjamin): Ist das kreisende Flammenschwert ein Ventilator? Die Enden der Erde: Sind das nicht die Pforten der Hölle und des Paradieses zugleich? Zu den Flüssen des Paradieses gehört auch der Euphrat. An dem „großen Strom Euphrat“ – sind auch die vier Engel gebunden, die beim Schall der sechsten Posaune losgebunden werden, um, nachdem sie für die Stunde, den Tag, den Monat und das Jahr sich bereitgemacht hatten, den dritten Teil der Menschheit zu töten (Off 914); – auf den gleichen Strom wird die sechste Zornesschale ausgegossen, da vertrockneten seine Wasser, damit den Königen vom Aufgang der Sonne der Weg bereitet würde. „Und ich sah aus dem Munde des Drachen und aus dem Munde des Tieres und aus dem Munde des falschen Propheten drei unreine Geister wie Frösche <herauskommen>. Sie sind nämlich Dämonengeister, die Zeichen tun, die zu den Königen des ganzen Erdkreises ausziehen, um sie zum Krieg am Tag des allmächtigen Gottes zu versammeln.“ (Off 1612ff)

  • 23.5.96

    Theologie im Angesicht Gottes ist die Lösung des Problems der Verbindung von Theologie und Gebet: der Versuch, die Welt so zu begreifen, wie sie im Licht Seines Angesichts erscheint. Das Licht in dem Satz „Ihr seid das Licht der Welt“ hat seine Quelle im Leuchten Seines Angesichts. Die Kritik des Anthropomorphismus ist der Weg der falschen Befreiung vom Mythos (der „Weg des Irrtums“). Hilfsmittel dieser falschen Befreiung (und Quellpunkte des Irrtums) sind die Totalitätsbegriffe (Wissen, Welt und Natur), mit denen das Subjekt gegen die Gotteserkenntnis sich abschirmt. Erinnerungsarbeit geht davon aus, daß die vorwissenschaftlichen „Weltbilder“, der Mythos wie auch die Astrologie, keine Lösungen sind, wohl aber Erinnerungen an ein Problem, das wir verdrängt haben, und dessen Verdrängung unser Bewußtsein verhext. Wenn heute keiner mehr an die Auferstehung glaubt, dann hängt das mit Auschwitz zusammen. Sehen Verwaltungen ihre Klientel nicht als ein Stück anorganischer Materie, als ein lästiges Anhängsel der Gesetze und Verordnungen, die die „Lebenswelt“ der Verwaltungen definieren? Der real existierende Sozialismus ist nicht zuletzt daran gescheitert, daß er glaubte, Gerechtigkeit mit Hilfe der Verwaltung durchsetzen zu können (diesem Aberglauben sind alle verfallen, die glauben, daß die Dinge besser werden, wenn nur die „richtigen Leute“ an die Macht kommen: an die Macht, das heißt über das Instrument der Verwaltung verfügen zu können, während in Wahrheit die alte Scheiße mit den Verwaltungen sich reproduziert). Zur Aufklärung und Sensibilisierung, denen die Startbahn-Katastrophe gemeinsam mit allen mit Polizeigewalt durchgesetzten Großprojekten den Boden unter den Füßen weggezogen hat, gibt es keine Alternative. Der Verwaltungsblick ist begrenzt durch die verwaltungsinternen „subjektiven Formen der Anschauung“: die Logik der selbstgesetzten Regelungen und Zwänge des Verwaltungshandelns. Der Sozialhilfeempfänger ist dann nur ein Anwendungsfall der Sozialgesetze. (Die Wittgensteinsche „Welt“ gleicht der Welt der Verwaltung: sie „ist alles, was der Fall ist“.) Hängt nicht das Problem der Beziehung von Kapitalismus und Faschismus mit dem der Funktion der Verwaltung im Kapitalismus zusammen? Horkheimers Wort, daß, wer vom Faschismus redet, vom Kapitalismus nicht schweigen darf, wird heute wahr, wenn man es umdreht: Wer vom Kapitalismus redet, darf vom Faschismus nicht schweigen. Der Faschismus (das Tier aus dem Meere) war eine naturwüchsige und zugleich hybride Form des Verwaltungsdenkens (von hierarchisch organisierter Verantwortungslosigkeit, blindem Gehorsam, Intrige, Zynismus, Empfindlichkeit und Gemeinheit). Er hat die Voraussetzungen geschaffen für eine Welt, in der die von ökonomischen Zwängen determinierte Verwaltung am Ende die Politik abschafft und ersetzt und die Staaten zu Kolonien der alles beherrschenden Ökonomie (des Tieres vom Lande) werden. Ist nicht das Bild der sieben unreinen Geister das biblische Symbol der Verwaltung (und war nicht die Astrologie, die ihr Zentrum im „chaldäischen“ Babylon hatte, eine idolatrische Vorform des Verwaltungsdenkens)? Sind nicht die imperialen Strukturen der Verwaltung über kirchliche Institutionen tradiert worden, insbesondere über das Amt des episkopus (des „Aufsehers“)? Die Verwaltung ist das politische Pendant der subjektiven Formen der Anschauung (der Abstraktion vom Blick des andern): Die kirchliche Verwaltungsorganisation war der gesellschaftliche Grund der Theologie hinter dem Rücken Gottes. Mit der Polizei wurde die vorher nur nach außen gewandte Gewalt des Militärs (die Gewalt der Eroberung und Beherrschung fremder Völker, der Unterwerfung anderer Staaten) nach innen gekehrt. Sind nicht Polizei, Steuerpflicht und Finanzwesen gemeinsamen Ursprungs, und sind sie nicht im kirchlichen Bereich ausgebildet worden (vgl. insbesondere die religions- und herrschaftsgeschichtliche Bedeutung der Inquisition)? Die Kolonisierung des Staates durch die Globalisierung der Ökonomie verändert auch die innere Struktur der privaten Welt: Sie ist das Modell (und das Pendant) der „Kolonisierung der Lebenswelt“, des privaten Bereichs, zu deren Ursprungsgeschichte die Geschichte der Privatisierung der Sexualmoral gehört. Die Medienwelt heute ist die institutionalisierte Leugnung des Namens, eine Einrichtung zur Fütterung des Drachens: Die Einübung des Auf-dem-Bauche-Kriechens und des Staubfressens. Erscheint der Name der Kirche, der ekklesia, nur in der Apokalypse im Plural (in den sieben „ekklesiai“ in Asien)? Zur Verhärtung des Herzens Pharaos: – Bei welchen Plagen treten die Zauberer und Wahrsager Ägyptens auf, wann werden sie in die Plagen mit hereingezogen, wann verschwinden sie? – Wann weist Moses den Pharao darauf hin, daß am dritten Tag in der Wüste das „Scheusal Ägyptens“ geopfert werden soll, und wann ist es wirklich geopfert worden? – Bei welchen Verstockungen ist Gott (JHWH) der Urheber, bei welchen der Pharao, und bei welchen Plagen „bleibt“ das Herz des Pharao verstockt (wie lauten die entsprechenden Übersetzungen von Buber oder Zunz)? Die Prophetie hat einen Aktualitätskern. Im Ernst (zumal im Anblick der fortschreitenden Vergesellschaftung von Herrschaft) gibt es eigentlich nur zwei Haltungen zur Prophetie: Entweder man ist selber Prophet, oder man ist Objekt der Prophetie. Die Historisierung der Prophetie, ihre Neutralisierung durch Objektivierung ist eigentlich unerlaubt, aber ist sie nicht gleichwohl unvermeidbar und notwendig? Und das ist das Modell der Gegenwart, des Aktualitätskerns heute, Grund des Adorno-Worts: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Das Leben, in das wir heute verstrickt sind, ist eigentlich unerlaubt; und die Tatsache, daß es dazu keine Alternative gibt, rechtfertigt es nicht. Notwendig ist seine Reflexion, auch wenn sich keine „praktischen Konsequenzen“ daraus ableiten lassen: Liegt hier nicht der Wahrheitskern dessen, was einmal Gottesfurcht hieß?

  • 3.3.96

    Zum Brief von Antje Vollmer/Felix Ensslin: Der Verzweiflung die Mahnung auf den Weg mitzugeben „Verhärtet euch nicht“ ist zynisch (insbesondere wenn die Vermutung zutrifft, daß die hier Angeklagte zu denen gehört, die in der RAF zur Auflösung der Verhärtung beigetragen hat, und wenn die Befürchtung begründet ist, daß sie allein wegen ihrer Weigerung, sich als Kronzeugin zur Verfügung zu stellen, verurteilt werden sollte).
    Dieser Prozeß ist nun wirklich alles andere als ein Dialog (Erklärungen der Angeklagten werden nicht zur Kenntnis genommen, bewußt und gezielt fehlinterpretiert, Fragen der Verteidigung an Zeugen und Beweis-Anträge, die darauf abzielen, die Vorgänge in Bad Kleinen (die Grundlage der Anklage sind) aufzuklären, werden unterbunden, abgelehnt. Der Eindruck, daß die Angeklagte als Feind und nicht als Angeklagte wahrgenommen wird, gründet u.a. in der offenkundigen Unterbindung jedes dialogischen Elements in der gesamten Verfahrensführung durch das das Verfahren beherrschende Gericht, das es nicht mehr für nötig hält, den Eindruck, Herr des Verfahrens sei die Bundesanwaltschaft, zu vermeiden.
    (Das poker-face der „Persönlichkeit“, die „über der Sache“ steht, weil sie sich nie in die Sache eingelassen hat.)
    Paßt hierzu nicht das Wort aus dem Lukas-Evangelium von der Bekehrung der Väter zu ihren Kindern?
    Zum Begriff der Sünde: Die Abstraktion vom Gegenblick, die zu den Konstituentien der subjektiven Formen der Anschauung gehört, kehrt als subjektloser Blick der Welt wieder. Dieser subjektlose Blick der Welt ist es, der den Raum nach allen Seiten ins Unendliche öffnet (das kopernikanische System begründet).
    Das Theologumenon der „Entsühnung der Welt“ ist die theologische Verführung zum Konformismus. Es ist zugleich Teil der Gottesfurcht-Vermeidungs-Strategie, die die Theologie hinter dem Rücken Gottes begründet, und die Begründung des Schuld-Verschub-Systems, das im Christentum immer wieder mit der Sündenvergebung verwechselt worden ist.
    Zwei Dinge, die schwer auseinander zu halten sind: die persönliche und die moralische Verletzlichkeit.
    Ich wünschte mir eine Theologie wie auch einen politischen Diskurs, die endlich aus den Rechtfertigungszwängen sich befreien.
    Subjektlosigkeit ist Herzlosigkeit. Deshalb gründet die Autonomie in der Barmherzigkeit.
    Anmerkung zur Bekenntnislogik: Es gibt kein Bekenntnis ohne Feindbild, ohne Ketzerverfolgung und ohne Frauenfeindschaft. Das Bekenntnis ist ein Rechtsbegriff; hängt es nicht damit zusammen, wenn Juden an sich schuldig waren, während für Ketzer und für Hexen das Prinzip der Beweisumkehr galt: ihnen brauchte die Schuld nicht nachgewiesen zu werden, sie mußten, wenn sie in Verdacht geraten waren, ihre Unschuld beweisen (nach der gleichen Logik war das Gegenstück zum Confessor die Virgo; und deshalb ließ der Name der Büßerin für Maria Magdalena den Umkehrschluß zu: Sie muß es wohl schlimm getrieben haben).
    Wie hängt diese Konstellation (Feind, Ketzer, Hexen und deren Beziehung zur Beweislogik) mit der Konstituierung der subjektiven Formen der Anschauung, insbesondere mit der Selbstbegründung der Form des Raumes, zusammen (das Objekt ist das neutralisierte Feindbild, Repräsentant des an sich Schuldigen)?
    Was bedeutet es eigentlich, wenn niemand mehr etwas dabei findet, daß im Bereich des § 129a die Verteidigungsmöglichkeiten der Angeklagten (durch entsprechende Gestaltung der Haftbedingungen, durch restriktive Besuchsregelungen, durch Überwachung der Post und durch Behinderung des Verkehrs mit den Verteidigern) weitestgehend eingeschränkt werden, während gleichzeitig den Ermittlungs- und Anklagebehörden ein Riesenapparat, den niemand mehr kontrolliert, und dessen Arbeit selbst im Strafprozeß, in dem die Ergebnisse dieser Arbeit ins Beweisverfahren mit einfließen, gegen den Einblick der Verteidigung durchs Gericht abgeschirmt wird, zur Verfügung steht? Geführt werden diese Prozesse von „Staatsschutz“-Senaten, also von politischen Gerichten, zu deren Aufgabe es dann aber zugleich gehört, ihre eigene Grundlage zu verleugnen. Es gehört zu den praktischen Prämissen des Verfahrens, daß die subjektive Dimension der angeklagten Handlungen (z.B. die wirklichen Ziele und Motive der Angeklagten) strikt ausgeblendet bleibt. So gerät das Verfahren unterm Zwang seiner eigenen Voraussetzungen in eine Engführung der Sachverhaltsermittlung, der Beweiserhebung und der Gesetzesanwendung, die nur noch die reine Objektbeziehung zur Angeklagten zuläßt (sie nicht durch die „Gesinnung“ der Richter, sondern durch die eigene Logik des Verfahrens, zum „Feind“ macht), ein gerechtes Urteil aber von vornherein ausschließt. Oder, um die Sprache von Frau Dr. Vollmer aufzunehmen: Ist es nicht diese „Logik des Verfahrens“, die zu den Verhärtungen beiträgt, die den Dialog so unendlich erschweren, wenn nicht ausschließen? Bekommt der Hinweis auf die Notwendigkeit des Dialogs angesichts dieses Verfahrens nicht einen zynischen Klang?

  • 28.12.95

    Die gelegentliche Bemerkung Emmanuel Levinas‘, daß alle Gewissensprobleme apriorische Probleme sind (Vier Talmud-Lesungen, S. 118), ist eine schlagende Widerlegung jedes affirmativen Verständnisses der transzendentalen Logik. Sie wirft ein Licht auf die Gründe des „Grübelns“: auf das sinnlose Kreisen in dem Raum einer apriorischen Logik (das nicht zufällig dem sinnlosen Kreisen gleicht, in dem das kopernikanischen System die Planeten gefangen hält – hat die „Venus-Katastrophe“ vielleicht etwas mit der Katastrophe des Ursprungs der Sexualmoral zu tun?), aber auch auf das großartige Wort Kants, das das moralische Gesetz in mir zum Sternenhimmel über mir in Beziehung setzt. Wäre es möglich, daß diese Bemerkung das Rätsel der Gravitation löst: ist das Licht das durchs Gravitationsgesetz verschlossene Innere der Schwerkraft (vgl. die Jesaia-Stelle über das Licht und die Finsternis)?
    Auf den gleichen Zusammenhang bezieht sich das Wort Adornos, daß heute alle sich ungeliebt fühlen, weil keiner zu lieben mehr fähig ist.
    „Ihr seid das Licht der Welt“: das Licht, das in jeder Epoche durch Reflexion der Finsternis (der „Sünde der Welt“) der Finsternis neu abzuringen ist.
    Mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit hat das Objekt der naturwissenschaftlichen Erkenntnis sich verschoben: Im kopernikanisch-newtonschen System kreisen die Planeten um die Sonne (um das Gravitationszentrum), in der speziellen Realtivitätstheorie Einsteins kreist das Inertialsystem um die Lichtgeschwindigkeit (ist nicht das Licht die aufgehobene Schwerkraft?). Die Gleichungen der Lorentz-Transformation sind die Gravitationsgleichungen, die dieses Kreisen beherrschen.
    In diesen Kontext gehört der Hinweis von Levinas, daß das Gesicht des Andern das Gebot „Du sollst nicht töten“ verkörpert (das gleiche Gesicht, das den absoluten Charakter der subjektiven Formen der Anschauung, der in der Abstraktion vom Blick des Andern gründet, und damit die Vorstellung der unendlichen Ausdehnung des Raumes und das kopernikanisch-newtonsche System widerlegt).
    Auch die Kirche steht in der Tradition Babels: Ist nicht die Ursprungsgeschichte des Dogmas und die Geschichte der Orthodoxie ein spätes Echo der babylonischen Sprachverwirrung?
    Das Feigenblatt, Ochs und Esel: Gehören sie nicht zu dem Vorgang, in dem das Besserwissen sich vor die Erkenntnis schiebt?
    Inquisition: Ebenso schlimm wie die direkte Zerstörung des Vertrauens (die „wissende“ Kinder hervorbringt) ist der Mißbrauch des Vertrauens: der Kindern, die man selber schamlos belügt, zugleich das Lügen verbietet. Ist die Naturerkenntnis, die unterm Apriori der subjektiven Formen der Anschauung steht, das Paradigma eines solchen „Mißbrauchs des Vertrauens“, sind nicht die subjektiven Formen der Anschauung eine Verkörperung dieses Mißbrauchs?
    Die Kritik der reinen Vernunft verbindet die Begründung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis mit der Kritik dieser Erkenntnis. Die Beziehung von Begründung und Kritik erscheint im System in der Unterscheidung und Trennung der Kritik der Urteilskraft von der Kritik der reinen Vernunft. In der Wirkungsgeschichte Kants scheint allein das Moment der Begründung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis sich durchgesetzt zu haben, während das Motiv der Kritik angesichts der überwältigenden Erfolge der Naturwissenschaften verdrängt und vergessen wurde (vorbereitet wurde das in der Hegelschen Instrumentalisierung der Kritik, die es ihm ermöglichte, sie mit dem erkenntnisbegründenden Teil der kantischen Vernunftkritik zu verschmelzen und die neue Form der Einheit beider als Dialektik zu domestizieren).
    Kritik wird durch Instrumentalisierung zur Komplizenschaft.

  • 23.11.95

    Zu Derrida, Gesetzeskraft: Wie hängt der (den Staat, die Welt und die Bekenntnislogik konstituierende) Begriff der Gewalt mit der Zeitumkehr, mit der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, zusammen (Gesetz und Naturbeherrschung, vgl. S. 15)? Wäre nicht gegen die Derridasche Interpretation des Benjaminschen Aufsatzes auf den Satz, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand ist, und auf den hiermit zu begründenden Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit hinzuweisen? Der Satz über die Gemeinheit gründet in der Fundierung des Rechts in der Logik des Beweises; in der gleichen Sphäre, in der auch die Logik der Dekonstruktion begründet ist. Die Logik der Dekonstruktion ist die Logik der Dekonstruktion der Beweislogik auf dem Boden der Beweislogik und unter Verzicht auf deren Reflexion. Hat Derrida deshalb die Intention des ihm vorgelegte Themas als inquisitorisch empfunden (S. 9)?
    Hat die Levinassche Bemerkung über die Attribute Gottes, die im Imperativ und nicht im Indikativ stehen, etwas mit dem Satz über Rind und Esel zu tun: Ist der Indikativ ein Imperativ für andere, Produkt der Umformung der Last ins Joch und Grundlegung des Schuldverschubsystems? Im Bannkreis der Logik des Indikativs ist die Welt alles, was der Fall ist. Ist nicht die Welt selber (und ihr philosophischer Reflex: die Ontologie) das instrumentalisierte Joch?
    Die Erkenntnisfunktion des Urteils fällt insgesamt unter das Verdikt des Satzes „Richtet nicht, …“
    Buber hat den Anfang des Ps 110 („Es sprach der Herr zu meinem Herrn“) so übersetzt: „Erlauten von IHM zu meinem Herrn: Sitze zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde lege als Schemel zu deinen Füßen“ und Ps 27f: „Berichten will ichs zum Gesetz, ER hat zu mir gesprochen: Mein Sohn bist du, selber habe ich heut dich gezeugt. Heische von mir und ich gebe die Weltstämme als Eigentum dir, als Hufe dir die Ränder der Erde“. Ist Ps 27 die einzige Stelle, mit der die Zeugung des Sohns durch den Vater im Credo sich begründen läßt (und begründet wird)?
    Ist es nicht eine sehr katholische Tradition, die die Zeugung mit einer Schuld (der Schuld des Vaters, die den Opfertod des Sohnes begründet) verknüpft, der gleichen Schuld, vor der die Kirche die Priester durchs Zölibat vergeblich zu schützen versucht? Diese Schuld entspringt genau an der Stelle, an der der bis heute uneingelöste Imperativ der göttlichen Barmherzigkeit durch den mythischen Indikativ des „erlösenden Opfers“ storniert, verdrängt und ersetzt wird. Mit dem Begriff der Zeugung wurde der griechische Naturbegriff (der die Naturbeherrschung an den magischen Kern des Naturbegriffs selber heranführt) ins dogmatische Herz der Theologie transplantiert. War nicht das Zölibat das Instrument, mit dessen Hilfe die Priester sich zu Herren des trinitarischen Gottes gemacht haben? Und ist nicht diese Form des Priestertums die institutionalisierte Weigerung, die Sünde der Welt auf sich zu nehmen (und der character indelebilis des Priesteramts ein Hinweis auf den Grund der Lehre von der Entsühnung der Welt durch den Opfertod Jesu am Kreuz)? Ist es nicht an der Zeit, die Priestertheologie endlich durch eine Laientheologie (durch eine Theologie der Nachfolge) zu ersetzen?
    Unschuldig (und in dem Sinne heilig) sind nach der Logik der Priestertheologie der Confessor und die Virgo, der eine durchs Bekenntnis (durch Schuldumkehr und -verschiebung: kein Bekenntnis ohne Sexualmoral), die andere durch eine durch keine Zeugung befleckte Reinheit.
    Die Priesterlogik hat das Brotbrechen in die Opfertheologie transformiert (das war der Realgrund der dann aufs Objekt verschobenen Transsubstantiation).
    Die Geschichte der Hexenverfolgung ist ein Teil jener Phase der Herrschaftsgeschichte, in der Religion endgültig zur Religion für andere (zu „Privatsache“ der Herrschenden) geworden ist, und in der die „evangelischen Räte“: Armut, Gehorsam und insbesondere die Keuschheit endgültig für Herrschaftszwecke instrumentalisiert worden sind.
    Ist die Verwaltung (die unter dem Druck der Verhältnisse in Institutionen wie UNO, Weltbank, IWF, GATT, EU u.ä. heute erstmals durchgreifend transnational sich etabliert) das Tier aus dem Wasser, und sind die Medien das Tier vom Lande? Zwingt die Verwaltung die Bevölkerung unters Joch, während die Medien ihr die Last auferlegen; macht die Verwaltung die Bevölkerung zu Rindern, machen die Medien sie zu Eseln?

  • 16.11.95

    Die These, man müsse den Staat dazu bringen, sein faschistisches Gesicht zu zeigen, weiß nicht nur nicht, was Faschismus heißt, sie ist ebensosehr Ausdruck der Hilflosigkeit des militanten Antifaschismus. Es kommt nicht darauf ein, ein Urteil zu vollstrecken (auch nicht das Urteil des Geschichte, das selber unterm Bann des Faschismus steht), sondern die Erkenntnis wie das Handeln vom Bann des Urteils zu befreien.
    Es gibt zwei Formen der Beziehung der Vergangenheit zur Erkenntnis: Während die Naturwissenschaft die Zukunft unter die Vergangenheit subsumiert, ratifiziert der Historismus die Vergangenheit des Vergangenen. Beide gemeinsam rücken die Gegenwart in das Licht der Vergangenheit (Ursprung der subjektiven Formen der Anschauung, Grund der Ästhetisierung der Wirklichkeit).
    Nur bei Johannes steht die Geschichte mit der Aufschrift am Kreuz, auf die Pilatus schreiben ließ: Jesus der Nazoräer, der König der Juden (1919).
    Wer war der erste Confessor, und wer war die erste Virgo? Während das Martyrium noch auf die unmittelbar bevorstehende Parusie bezogen war, ist der neue Heiligentyp auch eine Konsequenz aus der Enttäuschung der Parusie-Erwartung (der Rezeption des Weltbegriffs). Confessor und Virgo waren gleichsam das erste aus dem Paradies der zukünftigen Welt vertriebene Menschenpaar, und der katholische Himmel eine Verkörperung der gefallenen zukünftigen Welt (zweiter Sündenfall, mit Alexander und seinen caesarischen Nachfolgern als Cherube mit dem Flammenschwert vor der verschlossenen Zukunft. Ist der Katholizismus die Erzeugungsmaschine der Wolken, auf denen der Menschensohn einst kommen wird?
    Verweist der Satz des Paulus, daß die ganze Schöpfung seufzt und in Wehen liegt, und auf die Freiheit der Kinder Gottes wartet, nicht darauf, daß die ganze Schöpfung teilhat an der Passion und am Kreuzestod Jesu? Hat Kopernikus den Kosmos ans Kreuz geschlagen, und war Newton der Paulus dieser neuen Theologie?
    Die Geschichte ist das Produkt der Historisierung, wie die Welt das Produkt der Verweltlichung und die Natur das Produkt des Objektivationsprozesses ist.
    Die Astronomie, die Elektrodynamik und die Mikrophysik sind auch ein Beweis für die Sprengkraft des Inertialsystems, des Herrendenkens, das in diesem System sich verkörpert.
    Antisemitismus, Ketzer- und Hexenverfolgung gehören zur Vorgeschichte der Konstituierung des Inertialsystems. Der Jude, das war der Feind, der Ketzer der zum Verräter gewordene Genosse und Frau war das, was unten ist.
    Nach welchen Prinzipien sind in den Nationalsprachen die Zahlen gebildet worden, und welche Konnationen stecken in diesen Bildungen (im Deutschen mit der Folge Hunderter, Einer, Zehner: Sechshundert sechs und sechzig, im Englischen in der logischeren Folge Hunderter, Zehner, Einer: sixhundred sixty six; was bedeutet die abweichende, auch auf Subtraktionen zurückgreifende Zahlenbildung im Französischen)? Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Trennung der (arabischen) Zahlen von der Schrift, der Einführung der Null (aus Indien über die Araber), der Bildung der Dezimalzahlen und der modernen Raumvorstellung, der „subjektiven Form der Anschauung“ (die Null ist das Korrelat der unendlichen Ausdehnung des Raumes), dem Ursprung der analytischen Geometrie und der doppelten Buchführung? Die Null hat (als mathematischer Reflex der Unendlichkeit) die Mathematik von der Sprache getrennt, sie gleichsam auf ihre eigenen Füße gestellt. In der Geometrie repräsentiert die Null den Ursprungspunkt des Raumes: den Repräsentanten des Subjekts und des Objekts zugleich. Die Null hat den Raum zur subjektiven Form der Anschauung gemacht, sie war der Ich-Generator; sie hat die Schöpfungslehre verwandelt. Erst das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit hat die Null widerlegt (oder auch dynamisiert).
    In welcher Beziehung steht die Logik der durch die Null neu begründeten Mathematik zur Logik der symbolischen Zahlen (die ihre eigene Rationalität haben, die nicht widerlegt, nur verdrängt worden ist)?
    Habermas‘ Konzept eines herrschaftsfreien Diskurses wird durch schon durch den Hinweis auf die Deklination (insbesondere auf den Genitiv, das innersprachliche Äquivalent der Herrschafts- und Eigentumsbeziehungen) widerlegt.
    Das Substantiv bindet den Nominativ ans Inertialsystem.

  • 2.10.1995

    Männlich und weiblich schuf er sie: Die Beziehung der Herrschaftsgeschichte zu Geschichte der Beziehungen von Männern und Frauen wird in der Erzählung vom Sündenfall symbolisiert: als Beziehung der Schlange zu den Menschen, zu Adam und Eva (als Beziehung des Neutrum zum Männlichen und Weiblichen). Die Identifikation des Männlichen mit der Herrschaft (die im Deutschen schon im Namen der „Herr“schaft sich ausdrückt, der auf den herrschenden Mann zurückweist, während im Lateinischen der dominus von dominare, der „Herr“ von seiner Tätigkeit, vom Herrschen, sich herleitet) hat ihren Ursprung in der verhängnisvollen Herrschaftsgeschichte der Moderne, zu der die Entfaltung der subjektiven Formen der Anschauung gehören wie auch die hierdurch vermittelte neue Beziehung von Begriff und Objekt. Durch die subjektiven Formen der Anschauung ist der Kelch zum Unzuchtsbecher geworden: die Beziehung von Begriff und Objekt, von Welt und Natur zu einem Bild der Geschlechterbeziehung. Die intentio recta ist ein phallisches Symbol (und der Turm von Babel, der „bis an den Himmel reicht“ ein Symbol der Religion als Instrument der Vergewaltigung des Himmels). Weshalb ist im Deutschen die Sonne weiblich und der Mond männlich? Löst sich das Problem des grammatischen Geschlechts im Zusammenhang mit der Lösung des Problems von Herrschaft und Geschlecht?
    Die intentio recta und die begriffliche Erkenntnis bedurften der Sexualmoral, um sie gegen ihre herrschaftskritische Reflexion abzuschirmen. Die Probleme dieses Verfahrens wurden übers Vorurteil abgefertigt: von der Ketzer- über die Hexenverfolgung bis Auschwitz.
    Der Indikativ, das Hinter-dem-Rücken, die Definitionsmacht, das Durch-die-Blume-Sprechen: Wie hängt das mit einander zusammen? Sind sie nicht Teil einer Kommunikation, die unter dem Bann der Herrschaft steht: Kommunikation als Gewinner-/Verlierer-Spiel. Dieses Spiel macht süchtig.
    Heute erhebt auch der Staat seinen Anspruch auf eine Privatsphäre, die die Öffentlichkeit nichts angeht. Nur, was einmal aus außenpolitischen Gründen notwendig war (im Kontext der nicht mehr rechtlich, sondern nur noch durch Diplomatie oder Krieg zu regelnden zwischenstaatlichen Beziehungen), ist heute zu einem Teil der inneren Organisation der Staaten geworden, als Mittel der Vermeidung und Abwehr der Entstehung naturhafter Verhältnisse im Innern. Schließt sich hier nicht der Kreis, der den Naturbereich des Privaten, die Sexualität, und den des Staates, sein Gewaltmonopol und dessen Institutionen, mit einander verbindet?
    Stammen nicht die Phantasien, die einmal in der Alchemie sich entfaltet hatten, aus dem Unzuchtsbecher?
    Die Pornokratie gehört (wie z.B. auch die Geschichte der Fälschungen im Mittelalter) zur Ursprungsgeschichte der kirchlichen Privatsphäre (zu der das Dogma und die Orthodoxie als Feigenblatt, hinter dem die Kirche seitdem ihre Nacktheit verbirgt, dazugehören). Die kirchliche Sexualmoral war seit je ein Mittel der präventiven und projektiven Abwehr.
    Der Kleinglaube ist der Glaube nach Abzug all dessen, woran die Kirche heute nicht mehr glauben kann, wenn sie als Herrschaftsinstrument überleben will.
    Was hat der gordische Knoten mit Rind und Esel zu tun? Hat nicht die Durchschlagung dieses Knotens (der Joch und Deichsel eines Ochsenkarrens miteinander verband) das Rind zum Esel gemacht, das Joch zur Last? Seit dem Ursprung der Großreiche haben alle das Joch, das ihnen mit der Reichsbildung auferlegt wurde, als Last zu übernehmen. Die Lösung des Knotens wäre die Befreiung vom Joch gewesen, mit seiner Durchschlagung (die den Weltbegriff begründete) wurde es verinnerlicht.
    Zur Fremdenfeindlichkeit heute: Handelt es sich vielleicht um die Umkehrung eines alten Verfahrens: innenpolitische Probleme mit Hilfe außenpolitischer (nationalistischer) Aktivitäten wenn nicht zu lösen, so doch zu verdrängen? Werden hier nicht Außenprobleme (das Ausland als Maßstab politischen Handelns) innenpolitisch abgeleitet? Verfassungsschutz, Staatsschutzverfahren, die neue Asylgesetzgebung gehören in diesen Zusammenhang.
    Das Recht insgesamt, insbesondere aber das Staatsschutzrecht, ist ein Instrument der gesellschaftlichen Naturbeherrschung.
    Die Kronzeugenregelung, die in Deutschland einmal mit dem Hinweis auf die organisierte Kriminalität eingeführt worden ist, wird nur in „Terroristen“-Prozessen, im Bereich des Staatsschutzrechts, angewandt. Der Übergang von § 129 zu § 129a war die Schiene, auf der das gelaufen ist. Er war nicht harmlos.
    Zeit ist’s: Die Thora wird als Lehre verfälscht, wenn das prophetische (und auch das typologische) Element herausgebrochen, unterdrückt wird.

  • 22.9.1995

    Zu Off 133: Den Faschismus nicht als Feind, sondern als Verführung begreifen, heißt, auch das Feindbild Faschismus, das mit der Realität seiner Vergangenheit aufs fatalste zusammenhängt, noch als Verführung begreifen. Erst als vergangener siegt der Faschismus (eigentlich dürfte es nach dem Faschismus nichts mehr geben, was ihn nur überlebt).
    Das Feindbild ist (als Teil der Bekenntnislogik) gemeinschaftsbegründend: ein gesellschaftlicher Kitt.
    Die Todesangst wird durch den Historismus, die Vergegenständlichung und Instrumentalisierung der Vergangenheit, verdrängt und begründet zugleich.
    Stammen nicht das Bekenntnis, das Dogma, die Orthodoxie aus dem (weltkonstituierenden) Geiste des Rechts? Und ist nicht der „rechtsfreie Raum“, den es nach Meinung des Münchener Bischofs Wetter nicht geben darf, der Raum, in dem sich die Juden, die Ketzer, die Frauen bewegen?
    (Ist die Existenz der Juden, der Häretiker und der Frauen der Beweis dafür, daß der Raum in keiner seiner drei Dimensionen ins Unendliche sich erstreckt? – Im Kontext der Vorstellung des unendlichen Raumes sind der Antisemitismus, die Unfähigkeit, abweichende Anschauungen zu ertragen, und die Frauenverachtung unvermeidlich.)
    Gerichte, die unter dem Bann des Feindbildes stehen (z.B. in Mord- oder in Staatsschutzprozessen), stehen unter dem Bann des synthetischen Urteils apriori; sie haben nicht mehr die Freiheit, abweichende Fakten zu tolerieren, ohne sie – zynisch und paranoid zugleich – nach Maßgabe des Feindbildes einzuordnen. Jede humane Regung gegenüber einem Angeklagten (der in Wahrheit ein Feind ist) wird zwangsläufig als Unterstützung des Feindes und als Angriff auf das Gericht wahrgenommen.
    Ist nicht der 129a die endgültige Grundlage für die Produktion synthetischer Urteile apriori im Strafrecht? Mit dem Tatbestandsmerkmal „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ wird die Zurechnung einer Tat auch ohne Tatbeteiligung möglich (vgl. den Mordvorwurf wg. des Todes des GSG 9-Beamten im Hogefeld-Prozeß). Eine konkrete Tatbeteiligung braucht nicht mehr nachgewiesen zu werden. Soweit sie dann doch noch erforderlich ist, hat die Kronzeugenregelung die letzte Lücke geschlossen (so im Falle Eva Haule, Christian Klar, Sieglinde Hofmann).
    An der bayerischen Reaktion auf das Kruzifix-Urteil läßt sich erkennen, daß genau jene, die nur noch ein instrumentalisiertes Verhältnis zum Christentum haben, sich über das Urteil empören. Das begründet die Frage, ob das Kruzifix nicht genau dafür das Symbol ist. Der Gebrauch dieses Symbols in den Kreuzzügen, in der Geschichte der Ketzerverfolgung und im Umkreis der Inquisition belegt den gleichen Sachverhalt.
    (Zu Erika Steinbachs Angriff auf die evangelische Kirche in Hessen: So wie den Herrn Hintze hätte die CDU gern alle Pfarrer. Aber verhalten sich nicht in gleichsam vorauseilenden Gehorsam die meisten, allen voran die katholischen Bischöfe, schon entsprechend?)
    Ist der Ausdruck „die Dinge beim Namen nennen“ nicht ein Hinweis auf die fortschreitende Umformung der Sprache zu einem Instrument der Verurteilung (mit ihrer Transformation in den Indikativ)? Ist die benennende Kraft der Sprache endgültig an den gesellschaftlichen Schuldzusammenhang übergegangen? Bezeichnungen wie Nazi, Terrorist, Mörder sind real nur im Kontext eines Schuldverschubsystems, das von der Realität nicht mehr sich unterscheiden läßt.
    Staatsschutzverfahren haben nicht mehr die Kraft zu belehren, weil sie selbst nicht mehr belehrbar, nicht lern- und erfahrungsfähig sind. Es bleibt nur die „Belehrung nach außen“, die Abschreckung, das Errichten eines Tabus (jede „Belehrung nach außen“ ist zugleich eine nach innen, ein Instrument der Verdrängung). Staatsschutzverfahren sind Verfahren der Vorverurteilung, des Vorurteils.
    Zur Genese und zum Begriff des Rassismus: Verdacht und Unterstellung sind experimentelle Anwendungsformen des kontrafaktischen Urteils. Ihre Verwandlung in synthetische Urteile apriori (ihre Biologisierung) macht sie zu Instrumenten des Vorurteils.
    Wie hängt das kontrafaktische Urteil mit dem liberum arbitrium, dem moralischen Äquivalent der „Freiheitsgrade des Raumes“, und wie hängen beide mit den kantischen Antinomien der reinen Vernunft zusammen?
    Erbaulichkeit ist ein Produkt der Übersetzung der Schrift in gegenständliche Vorstellungen, die dann kontrafaktisch ausgemalt werden können (der Mythos war die Einübung dieser kontrafaktischen Ausmalung, der Film ist das Produkt seiner Anwendung). Erbaulichkeit leugnet die Kraft der Sprache. Im Medium kontrafaktischer Urteile hat die transzendentale Ästhetik und Logik (als Inbegriff der Subjektivität) sich konstituiert. Erbaulichkeit nimmt „die Rechte“ der Subjektivität gegen die Idee der Wahrheit wahr. Erbaulichkeit ist blasphemisch.
    Reich der Erscheinungen: Gegenständliche Vorstellungen werden kontrafaktisch ausgemalt, aber durch Musik werden sie verkörpert. Musik verleiht den Vorstellungen Tiefe: Deshalb ist Musik eine aus dem Geist des Christentums (nicht immer jedoch aus christlichem Geist) erzeugte Kunstform, und deshalb bedarf der Film der Musik, um plastische und lebendige Präsenz zu gewinnen.

  • 8.9.1995

    Anblick und Angesicht: Die subjektiven Formen der Anschauung trennen den Anblick vom Angesicht (das Sehen vom Hören), fundieren und fixieren die intentio recta, verdrängen jede Erinnerung an eine Alternative dazu. Das Angesicht (Verkörperung des Gegenblicks und Widerpart des Anblicks) bezeichnet einen sprachlichen Sachverhalt. Es wird repräsentiert sowohl vom Angesicht Gottes als auch vom Angesicht der Kinder. „Wissende“ Kinder (Kinder ohne Angesicht) sind Kinder, deren Vertrauen in die Welt enttäuscht wurde (Schule in der verwalteten Welt drohen zu Produktionsstätten „wissender“ Kinder zu werden; im Angesicht der Kinder leben heißt, die Welt so hell machen, daß Kinder in ihr nicht mehr endgültig enttäuscht werden können. Kinder weinen, bevor sie sprechen (Kindern das Weinen verbieten heißt, sie am Sprechenlernen hindern; Jungen dürfen nicht weinen: mit der Erinnerung ans Weinen wird der Sprachgrund, die erkennende Kraft des Namens, gelöscht, hier entspringt das Lachen, Produkt der verdrängten Erinnerung an das Angesicht im Lächeln des Kindes); Erwachsene lachen, wenn sie aufhören zu sprechen: durchs Lachen (durchs schallende Gelächter) schaffen sie eine Gemeinschaft von Stummen, die eine Bekenntnisgemeinschaft ist; Lachen ist die Ursprungsgestalt der Bekenntnislogik, ihr genauester Ausdruck (mit Feindbild, Ketzerverfolgung und Frauenfeindschaft). Jedes Bekenntnis (und das drückt in dem durch seine Beziehung zum Bekenntnis definierten Begriff des Glaubens sich aus) ist ein Auslachen dessen, was es als seinen Inhalt ausgibt (sh. den Streit um das Kruzifixurteil, in dem alle Heuchler sich zusammenfinden). In der Konsequenz seiner eigenen Logik ist der Glaube blasphemisch.
    Die indoeuropäischen Sprachen haben das Lachen (und damit die Bekenntnislogik) zum Grund ihrer sprachlogischen Organisation gemacht (das Substantiv ist das ausgelachte Nomen – der bestimmte Artikel im Hebräischen mit dem sprchlichen Ausdruck des Lachens identisch -, die letzte Konsequenz aus dem Neutrum, an dessen Ursprung und Geschichte die der indoeuropäischen Sprachen sich erkennen läßt; das symbolische Korrelat des Neutrum in der Schrift ist die Schlange). So sind die indoeuropäischen Sprachen zu Herren-, zu Männer- und zu Weltsprachen geworden. – Was heißt im Anblick dieser Sprachlogik „Heiligung des Gottesnamens“?
    Die Bildung des Neutrum gründet in der Vergegenständlichung der Vergangenheit (in der Bildung der grammatischen Vergangenheitsform, die dann die Bildung der Futur- und Präsensformen nach sich zieht: in der Vorstellung des Zeitkontinuums). Hier – durch die reflexive Gewalt des Gerichts über die Vergangenheit, die die Richtenden unter das Gericht der Vergangenheit stellt – entspringt zusammen mit dem Begriff des Wissens der Objektbegriff (und in seiner Folge das Substantiv, als Form der Vergewaltigung des ausgelachten Namens).
    Hören und Sehen: Die Beziehung von Wasser und Feuer im Namen des Himmels gründet in der sprachlogischen Beziehung des Namens zur Vergangenheit. Durch die Subsumtion der Dinge unter die Vergangenheit, durch die sie zu Objekten des Wissens werden, wird die erkennende Kraft des Namens (das „Feuer des Himmels“) gelöscht. Wer den Himmel offen sieht, sieht in einen Raum, der erst mit der Sprengung der Formen der Anschauung sich öffnet: in einen Raum, dessen Form in der Kraft des Namens sich bildet und öffnet.
    Hören (nicht Gehorsam), Armut und Keuschheit: Die erkennende Kraft des Namens wird durch die subjektiven Formen der Anschauung, durch die Eigentumslogik (die als dessen innerstes Prinzip den Staat begründet und beherrscht) und durch die Bekenntnislogik (die die Idolatrie, die Religionen, begründet) gelöscht.
    Der Satz aus der Dialektik der Aufklärung, daß „die Distanz zum Objekt … vermittelt (ist) durch die Distanz, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt“, wäre dahin zu ergänzen, daß diese Distanz seit ihrem Ursprung in bestimmbaren Institutionen sich verkörpert, selber dingliche Form annimt: im Tempel, im Geld und in der Schrift. Alle drei Institutionen haben einen gemeinsamen Ursprung und erzeugen selber ihren gemeinsamen Grund: den Staat.
    – Der Tempel, die Konzentration des Göttlichen an einem Ort, war auch ein Mittel des Kampfes gegen die Magie, ein Instrument der Entzauberung der Welt (die in dieser Entzauberung als gegenständliche Welt sich konstituiert);
    – das Geld, das im Kontext der Schuldknechtschaft und nicht im Tausch entspringt (wie auch das Inertialsystem zwar in der Analyse der Stoßprozesse sich bewährt, aber ohne die Ordnung des heliozentrischen Systems, das im Gravitationsgesetz seine Begründung findet, nicht sich herausgebildet hätte) war das erste Instrument, das Herrschaftsbeziehungen in sachliche, gegenständliche, selber wieder beherrschbare Beziehungen von Dingen („Waren“) transformiert;
    – und die Schrift, die die Sprache über das Hören, über ihren affektiven und dialogischen Ursprung hinaustreibt, ihre objektivierende Gewalt (und die dieser Gewalt fundierende, sie unterstützende sprachlogische Struktur: die durchgebildete Grammatik) begründet, hervorbringt und stabilisiert, eröffnet damit den herrschaftsgeschichtlichen Prozeß.

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