Inquisition

  • 24.08.92

    Worauf beziehen sich die von Heinsohn (S. 49) aufgeführten Stellen über pharmakeia = Zauberei? Sie gehören zu einem Verworfenheitskatalog, zu dem auch Unzucht, Mord u.ä. gehören. Bezieht sich der Begriff der Zauberei nicht eher auf den dämonischen (instrumentalisierenden) Gebrauch des Opfers (der sich u.a. im Handel fortsetzt)? Und entstammt der Hexenwahn (wie auch die kirchliche Sexualmoral, in deren Geschichte sie hereingehört) nicht der patriarchalischen, verdinglichenden Umdeutung dieses Begriffs der Zauberei?
    Im Kontext der Auslegungsgeschichte des Begriffs der Zauberei (d.h. im Kontext der Geschichte der christlichen Sexualmoral, der Hexenverfolgung und der gegenwärtigen Abtreibungskampagne) läßt sich präzise bestimmen, was das Neue Testament die Sünde wider den heiligen Geist nennt.
    Dämonisch ist der Hexenwahn: diese Art der projektiven Zauberei-Unterstellung.
    Unsere Theologie heute ist die Gestalt gewordene Prophetie-Empfängnis-Verhütung. Und das kirchliche Lehramt ist (als Gottesfurcht-Vermeidungs-Institut) ein einziges Präservativ, ein Theologie-Verhüterli. Wirksamstes Instrument dieser „Empfängnisverhütung“ ist der verdinglichte (dogmatisch sich objektivierende) Wahrheitsbegriff.
    Mit dem Beginn der Hexenverfolgung verliert die Kirche, zusammen mit der prophetischen, ihre häresienbildende Kraft. Und die neue Orthodoxie: das sind (als Gestalten subjektloser, technisch verdinglichter Prophetie) die Naturwissenschaften, zu deren Vorgeschichte die Judenfeindschaft, der Kampf gegen die Häresien und die kirchliche Frauenfeindschaft als Ursprungsbedingungen dazugehören.
    Heinsohn und Götz Aly/Susanne Heim: Merkwürdig, daß sowohl die Hexenverfolgung als auch der Holocaust (die größten gesellschaftlichen Naturkatastrophen) fast zwanglos aus bevölkerungspolitischen Konzepten (aus dem Versuch, das Armutsproblem durch technologische bevölkerungspolitische Konzepte zu lösen) sich herleiten lassen.
    Christologie, die Vergöttlichung des Opfers, oder der schizogene Naturbegriff. Die double-bind-Strukturen reichen in die Trinitätslehre und den Naturbegriff zurück und enthüllen sich der Kritik als symbiotische Herrschafts- und Exkulpierungs-Instrumente.
    Natur, Pan und Panik, oder die Installierung des Schreckens.
    Der Raum und das Lachen: Hegels Philosophie wird vom Gelächter eingeholt (vgl. Derridas Hinweis auf Bataille). Das Gelächter als Reaktion auf Hegels Begriff der Aufhebung entspricht dem Lachen in Büchners „Lenz“ und dem Ursprung der Lehre „Gott ist tot“ in der „Fröhlichen Wissenschaft“ Nietzsches. Dieses Gelächter bringt das Hegelsche Absolute zu Fall. Aber das hat Hegel selbst gesehen; Heine hat es notiert. Und das Hegelsche Weltgericht ist nur ein anderer, emphatischer Ausdruck für die lakonische Feststellung Wittgensteins: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“
    In der Ausländerfeindschaft, im Fremdenhaß (im sogenannten Asylantenproblem), explodiert die kirchliche Tradition des Kampfes gegen die Heiden und gegen die Häresien. Die zentrale Funktion des Namens der Barbaren im Prozeß der philosophischen Begriffsbildung hat in der Kirche (für das Selbstverständnis des Glaubens) der Name der Heiden übernommen, der nach Bildung der National- und Volkskirchen dann leicht mit dem der Ausländer (den Nachfahren der Häretiker und der Andersgläubigen) verschmelzen konnte.
    Aus Angst vor der Wahrheit pflegen die Kirchen heute den autoritären Charakter, dieses Theologie-Verhütungs-Instrument. Zu seinen Konstituentien gehören die Xenophobie und das „No pity for the poor“.
    Das Gebot der Feindesliebe ist ein Riegel vor der Paranoia (und sprengt den Natur- und Weltbegriff). Zur Übernahme der Sünde der Welt: das verdinglichende, objektivierende Erkenntnisgesetz bedient sich des Weltbegriffs als Exkulpierungsmittel. Das Gebot der Feindesliebe, die Übernahme der Sünde der Welt und das Arglosigkeitsgebot sind drei Seiten ein und derselben Sache.
    Die Velikovsky-Heinsohnsche Venus-Theorie, das Naturkatastrophen-Konzept, das den altorientalischen (vorweltlichen) Sternen-und Opferdienst und seine Funktion im Prozeß der frühgeschichtlichen Staatenbildung begründen soll, ist ein entstellter Hinweis auf das in der Bibel mit den Begriffen Unzucht, Hurerei und Zauberei bezeichnete Problem. Und mir scheint, die Velikovsky-Heinsohnsche Theorie gewinnt einen Teil ihrer Plausibilität daraus, daß sie das Eingehen auf den patriarchalisch-frauenfeindlichen Anteil dieser Geschichte überflüssig macht (konsequenterweise muß Heinsohn genau diesen Aspekt dann auch aus der Geschichte der Hexenvervolgung wegerklären). Zumindest als Resonanzboden der Wirkung einer frühgeschichtlichen interstellaren Naturkatastrophe müßte dieser gesellschaftliche Aspekt der Naturkatastrophe im Kontext der Entstehung der Großreiche mit reflektiert werden. Die mit der Venustheorie verbundene Chronologie-Revision wird damit nicht nur nicht hinfällig, vielmehr wird so erst das Hintergrund-Problem sichtbar, das da mit drin steckt: Die projektive Ausgestaltung (Verzerrung) der altorientalischen Geschichte, die Verdreifachung von Staaten, Dynastien und Völkern spiegelt einen vergleichbaren Vorgang im gleichzeitigen Erkenntnisprozeß der Naturwissenschaften (im neunzehnten Jahrhundet). Auch hier wird gleichsam ein überflüssiger Reichtum an Fakten und Objekten geschaffen, vor dem wir heute ebenso staunend wie begriffs- und hilflos stehen. Mir scheint das historische Chronologie-Problem hängt mit dem erd- und naturgeschichtlichen durch die gleichen Erkenntnismechanismen, denen der Ursprung beider Probleme sich verdankt, zusammen. Könnte es nicht sein, daß der historischen Verdreifachung (die vor allem sprach-und schriftgeschichtlich aufzulösen wäre) eine Verdreifachung im naturgeschichtlichen Bereich nicht nur entspricht, sondern sogar zugrundeliegt: Auch hier wird in einen langen (quasiharmonischen) Evolutionszeitraum zurückprojiziert, was in anderen, (von außen gesehen:) katastrophenähnlichen Prozessen in einer ganz anderen chronologischen Folge durchsichtig zu machen wäre, wenn es gelingt, die Reflexion des Referenzsystems des naturwissenschaftlichen Objektbegriffs (des Inertialsystems) und seiner Beziehung zur Sprache in die Erkenntnis mit einzubringen.
    Ist das Chronologie-Problem ein Umkehr-Problem, ein Problem der Selbstbesinnung des Herrendenkens? (Zusammenhang mit den sieben unreinen Geistern?)
    An Heideggers Begriff des „Vorlaufens in den Tod“ ist zu ermessen, was am Ereignis des Kreuzestodes und seiner kirchlich-theologischen Rezeption aufzuarbeiten, welche Erinnerungsarbeit zu leisten wäre. Die Verwechslung des Kreuzestodes Jesu (der für seine Henker um Vergebung bittet) mit dem Tod des Sokrates (der sich mit seinen Richtern identifiziert, selber das Urteil vollstreckt) bezeichnet einen wichtigen Aspekt des Problems der Beziehung von Theologie und Philosophie (und der Opfertheologie als Brennpunkt dieses Problems).
    Die ironische gemeinte Bemerkung Heinsohns, „die Rauschmittel als Ziel der Hexenverfolgung zu behaupten, käme der These gleich, daß in Deutschland die Juden ausgerottet wurden, um die Spitzenleistungen in Physik und Mathematik zu eliminieren“ (S. 65), trifft gar nicht soweit daneben, wenn man nur das Wort „Spitzenleistungen“ durch den konkreteren Hinweis ergänzt, daß hier in der Tat mit Einstein, Weil und Minkowski die Naturwissenschaften der Grenze ihrer Selbstaufklärung in einer für den Einbruch der Barbarei gefährlichen Weise nahe gekommen waren. Dem hat dann die deutsche Sektion der Kopenhagener Schule mit Mühe und insoweit auch mit Erfolg entgegengearbeitet, als es seitdem ernsthafte theoretische Fortschritte in den Naturwissenschaften nicht mehr gegeben hat (der nächste Schritt nach der zu vermutenden Vollständigkeit des theoretischen Instrumentariums kann nur noch der der Selbstaufklärung sein).

  • 15.06.92

    Das Adornosche Konzept einer Säkularisation theologischer Gehalte ist zweideutig: Vergessen wird, daß der innere Motor des Säkularisationsprozesses selber bereits Produkt einer Säkularisation theologischer Gehalte ist, der christlichen Theologie-Geschichte sich verdankt. Mit der Folge, daß es heute generell (auch unter den Schülern Adornos) nur noch theologische Halbbildung gibt: nichts mehr, was sinnvoll auf seinen rationalen Gehalt sich zurückführen ließe. Das „theologische Erbe“, auf das Adorno sich bezog, war nicht mehr nur „klein und häßlich“, wie Benjamin schon notierte, sondern für die Nachkriegsgeneration schlicht inexistent. Übriggeblieben waren nur die „theologischen Mucken“ der Ware, und deren Säkularisation war ja wohl nicht gemeint.
    Das Schuldbekenntnis ändert ebensowenig die Tat wie das Glaubensbekenntnis die „Tatsachen“.
    Ist nicht bereits die Trinitätslehre das erste Resultat der falschen Säkularisation (Produkt der Brechung der Theologie im Medium des Weltbegriffs: der Philosophie und des Rechts) und deshalb nicht mehr säkularisierungsfähig? Und sind nicht diese Rechenkunststücke von ein Wesen und drei Personen, eine Person und zwei Naturen, Nebenfolgen dieser Brechung? Kommt man der Sache nicht näher, wenn man Begriffe wie Substanz, Person, Natur als im historischen Prozeß – in einer konkreten Situation und in einem genau bestimmbaren Kontext – entsprungene Begriffe begreift und diesen Ursprung in ihr Verständnis mit hereinnimmt. Genau diese Begriffe sind es, die als unreflektierte den unreflektierten Weltbegriff und mit ihm den geschichtlichen Schuldzusammenhang in die Theologie hereingebracht haben (und Ursache dafür sind, daß christliche Theologie heute zum Prototyp theologischer Halbbildung geworden ist).
    Die Trinitätslehre hat einmal dazu verholfen, den Weltbegriff zu stabilisieren, an den sie gebunden ist. Dagegen bedurfte es der Trinitätslehre nicht mehr, nachdem diese Aufgabe vom Inertialsystem übernommen wurden (d.h. nach Begründung der naturwissenschaftlichen Aufklärung). Und genau das Inertialsystem ist Produkt der Säkularisation der Trinitätslehre. In diesem Prozeß ist der moderne Naturbegriff entsprungen. Seitdem ist die Theologie leer, tot und stumm geworden wie der Raum. Die Trinitätslehre wäre wirklich obsolet, wäre sie nicht die versteinerte Erinnerung an eine bis heute unbegriffene Vergangenheit. Und genau daran hätte sich die Erinnerungsarbeit abzuarbeiten, die heute allein noch Theologie heißen darf.
    Die Selbstverfluchung (in der Geschichte von den drei Verleugnungen) ist ein Resulat jenes Prozesses, auf den sich das Gebot „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ bezieht: In dem Maße, in dem die Kirche als richtende Instanz sich begreift, richtet sie sich selber. „Wer dieses Brot unwürdig ißt und diesen Wein unwürdig trinkt, der ißt und trinkt sich das Gericht.“
    Person und Schuld: Als Person bin ich freigesprochen vom gesellschaftlichen Schuldzusammenhang und nur für mein eigenes Handeln verantwortlich. Rührt dann nicht Auschwitz an die Grundlagen des Personbegriffs?
    Die Verdrängung der „Schuldgefühle“ dort, wo ich nichts ändern, nicht eingreifen kann (eigentlich in der gesamten beruflichen und politischen Sphäre, ebenso im Verhältnis zur Vergangenheit und zur Natur), ist der Tod der Sensibilität, der Tod der Erfahrungsfähigkeit: Grund der kollektiven Amnesie. Heideggers „Vorlaufen in den Tod“ ist imgrunde eine Flucht vor der Zumutung der Schuldreflexion, die sich dann faschistisch als Heroismus verkleidet. Die pompöse Vorstellung, die wir mit dem Begriff der „Übernahme der Sünde der Welt“ verbinden, täuscht uns selbst insbesondere darüber hinweg, daß es sich hier um den ganz schlichten Grund der Erfahrungsfähigkeit handelt. Die benennende Kraft der Sprache ist nicht zurückzugewinnen ohne die Fähigkeit zur Reflexion von Schuld.
    Das „Staub bist du und zu Staub wirst du wieder werden“ erinnert an das projektive Moment im Materiebegriff, wobei an den Namen der Materie, an den Zusammenhang mit „mater“, zu erinnern ist. Liegt hier der Grund für den Zusammenhang zwischen Rousseaus Naturbegriff und dem Inzestmotiv in seinen Bekenntnissen? Und verweist das nicht zugleich auf die Konstellationen, aus denen die Hexenverfolgung entstanden ist?
    Das katholische Schriftverständnis scheint der Tendenz nicht mehr sich entziehen zu können, alles ins Banale und Erbauliche übersetzen zu müssen, um nicht an das erinnert zu werden, worauf es eigentlich ankäme.
    Wenn bei Augustinus das Glück der Seligen im Himmel den Anblick der Leiden der Verdammten mit einschließt, so ist das die genaue Umkehrung des Realgrundes des Christentums: der Sensibilisierung durch die Übernahme der Sünde der Welt (vos estis sal terrae). Hier wird ableitbar und kritisierbar, weshalb Augustinus die Erbschuld in die sinnliche Lust verlegen muß. Auch die verdinglichende Trennung von Leib und Seele, mit den merkwürdigen Ursprungskonzepten im Hinblick auf die Einzelseele, überhaupt der objektivierende (und instrumentalisierende) Erkenntnisbegriff gehört hierher. Diese Trennung ist mit dem Ursprung der modernen Naturwissenschaften obsolet geworden; sie ist (mit der Trennung von Welt und Natur) in ihren Ursprung zurückgekehrt: in die Herrschaft des Raumes über die Erkenntnis und die Urteilsform, den Inbegriff der Erbschuld und die Verkörperung des Baums der Erkenntnis
    Die kantische Unterscheidung von Schul- und Weltphilosophie und sein (bei Hegel sich entfaltendes) Votum für die Weltphilosophie ist die Grundlage und die Voraussetzung für die Konzeption der transzendentalen Ästhetik, insbesondere für das Konzept der subjektiven Form der äußeren Anschauung. Genau darin, in der subjektiven Form der äußeren Anschauung, manifestiert sich die unreflektierte (und fast unreflektierbare) Gewalt des Weltbegriffs über das Denken. Die Form der äußeren Anschauung ist gleichsam der Statthalter des Urteils der anderen im Einzelsubjekt. Und dieser Statthalter des Allgemeinen ist kommunikativ oder – wie Kant selber nachgewiesen hat – mit den Mitteln der Beweislogik nicht mehr zu erschüttern. Das einzige, das Kant festgehalten hat, was dann aber gründlich verdrängt wurde – nicht zuletzt mit Hilfe der scheinbaren Auflösung des Problems durch Hegel -, findet sich in den Antinomien der reinen Vernunft. Hier begründet er die Subjektivität der Formen der Anschauung mit dem Nachweis, daß die Fragen, ob der Raum endlich oder unendlich ist, oder ob die Zeit einen Anfang hat oder auf eine unendliche Vergangenheit zurückweist, mit den Mitteln der Beweislogik nicht entscheidbar sind. Dieser Nachweis der Subjektivität eröffnet den Raum zur Begründung der Freiheit (im Gegensatz zum Naturbegriff) und damit der praktischen Vernunft.
    Freiheit, die mehr ist als das liberum arbitrium, läßt sich nur im Kontext der Reflexion von Schuld begründen.
    Jede Apologetik enthält dadurch, daß sie sich der Logik des Diskurses, der Beweislogik (Kommunikation und Öffentlichkeit) bedient, etwas von der Identifikation mit dem Aggressor, nimmt von ihm etwas in sich hinein. Unter diesem Aspekt wäre die Geschichte der Theologie als Teil der Geschichte der drei Leugnungen zu begreifen.
    Die Theologen: Sind das nicht die falschen Freunde Hiobs?
    Der Begriff der Welt definiert das Eine als das Andere des Anderen, er schließt die Leugnung des Einen mit ein.

  • 01.06.92

    Das Verhältnis von Begriff und Objekt läßt sich nicht ohne Umkehr auf das Verhältnis von Seele und Leib beziehen. Diese Beziehung (von Begriff und Objekt zu Seele und Leib) entspricht dem von Begriff und Namen.
    Gen 67: „Wegwischen will ich vom Antlitz des Ackers den Menschen, den ich schuf, vom Menschen bis zum Tier, bis zum Kriechgerege und bis zum Vogel des Himmels, denn mich leidet, daß ich sie machte.“ (Buber-Übersetzung) Kann es nicht sein, daß hier die erste Stufe des Objektivationsprozesses benannt wird: daß die Sintflut den Acker erst neutralisiert hat, daß mit den Menschen und den Tieren auch „das Antlitz des Ackers“ weggewischt wird? Vgl. auch Gen 723 und 817. Und wie verhält sich das Opfer Noahs (820) zum Opfer Abels? Und was ist mit 92: „Eure Furcht und euer Schrecken sei auf allem Wildlebenden der Erde und allem Vogel des Himmels, allem was auf dem Acker sich regt und allen Fischen des Meeres, in eure Hand sind sie gegeben.“
    Gehören Ps 10430 und Gen 67 zusammen? Ist die Erneuerung des Antlitzes der Erde die eschatologische Antwort auf die Sintflut? Vgl. hierzu auch den noachidischen Ursprung (und Zusammenhang) des neuen Herrschaftsbegriffs: des Fleischessens und der hierarchischen Strukturen in der Gesellschaft.
    1 Kön 1411 (zu Jerobeam), 164 (zu Bascha) und 2124 (zu Ahab): Die Leichen in der Stadt werden von den Hunden gefessen, die auf dem freien Feld von den Vögeln des Himmels.
    Neue Jerusalemer Bibel, Anmerkung zu Gen 66: Da reute es den Herrn. Dieses merkwürdige Verlangen katholischer Theologen seit Augustinus, sich Gott so vorzustellen, daß ihn niemals etwas gereut (hier siegt die Philosophie über die Prophetie: das Buch Jonas gibt die Antwort der Schrift darauf). Wer Reue nur als Ausdruck der Schwäche ansieht, als Eingeständnis, etwas falsch gemacht zu haben, macht die Unbekehrbarkeit zu einer Eigenschaft Gottes und wird selber unbekehrbar. Vgl. hierzu auch das Schicksal der Maria Magdalena in der kirchlichen Tradition (wer büßt, muß es schlimm getrieben haben; so wird die Umkehr diskriminiert). Wer die Reue von Gott ausschließt, schließt die Umkehr von Gott aus (und damit die Idee der Erlösung selber). So wurde die Theologie autoritär und paranoid, ein aus verstockter Subjektivität sich herleitender Denkzwang zur Eigenschaft Gottes.
    In der Geschichte von den Talenten, die der Herr den Knechten übergeben hat: ist die Kirche nicht zu jenem Knecht geworden, der sein Talent (im Dogma) nur vergraben hat (anstatt damit zu arbeiten)?
    Ist nicht schon der augustinische Hinweis, daß man das Wort, daß alles Fleisch Gott schauen wird, nicht wörtlich auffassen dürfe, antisemitisch? (Genesis-Kommentar, Band 2, S. 142)
    S. 145: Was hat der Raum mit dem Ungehorsam (mit der Ursünde des Ungehorsams) zu tun? Entscheidet sich die Frage über den Zusammenhang realer und gesellschaftlicher Naturkatastrophen nicht vielleicht doch zusammen mit der Frage nach Subjektivität und Objektivität des Raumes?
    Ebd.: Auch Augustinus kennt schon die Erinnerungsarbeit.
    S. 164: Christus war (gegen Augustinus) nicht nur „im Fleisch“ leidensfähig (welche andere Bedeutung hat sonst die „Übernahme der Sünde der Welt“ und die Angst in Gethsemane), aber er war (wegen der „Übernahme der Sünde der Welt“) nicht pathologisch.
    Liegt es nicht in der Konsequenz der augustinischen Lehre, daß der „freie Wille“ eigentlich nur einmal tätig war, in der Ursünde Adams? Ist das nicht der Preis für eine monarchisch instrumentierte Theologie, die alles zugleich exkulpieren und absolut schuldig sprechen muß? Keim der Selbstverfluchung: die augustinische Gnadenlehre.
    Die augustinische Dämonisierung der Lust präludiert die Subjektivierung der Empfindungen im Kontext der modernen Naturwissenschaften. Sie hat dem Herrendenken die Bahn frei gemacht. Ist nicht in dieser Geschichte der Subjektivierung (und Dämonisierung) der Lust die Geschichte der Inquisition, der Scheiterhaufen, der Hexenverfolgung vorgezeichnet; und gehört nicht auch die grandiose objektive Ironie hier herein, die in der pornokratischen Phase der Papstgeschichte und der pornographischen Phase der Moralgeschichte (in den Kompendien der kasuistischen Moraltheologie des Barock) sich manifestiert?
    Die Tatsache, daß Scheler heute fast vergessen ist, daß er nur noch als merkwürdig veraltet wahrgenommen wird (während alle Welt wie Scheler spricht), hängt zusammen mit dem theologischen Kern des Unaufgearbeiteten in unserer Beziehung zur Vergangenheit. Sie hängt zusammen mit jener ebenso merkwürdigen wie ebenfalls unaufgearbeiteten Beziehung der Phänomenologie insgesamt zum Katholizismus, sowohl was die Husserl-Tradition betrifft, als auch, was die Aktualität Schelers in der vorfaschistischen und die Heideggers in der nachfaschistischen Ära betrifft.

  • 29.04.92

    Was bedeutet der Satz, daß Gott die Menschen liebt?
    Wie hängt der Wertbegriff mit der Bekenntnislogik zusammen? Die Unterscheidung von Wert und Gegenstand ist Ausdruck des Zusammenhangs von Gegenständlichkeit und Instrumentalisierung; so verdankt sich die Bekenntnislogik der Objektivierung und Instrumentalisierung des Wahrheitsbegriffs, er wird verfügbar. Und deshalb sind Bekenntnisse Bekenntnisse zu Werten. Die Werte werden in der Reklame (ähnlich wie die Wahrheit als Dogma in der Apologetik) „auf den Punkt gebracht“.
    Der Hegelsche Begriff der Aufhebung ist eine Parodie (und zugleich die Umkehrung) der Idee der Auferstehung. Die Aufhebung verhält sich zur Auferstehung wie der Begriff zum Namen.
    In welcher Beziehung steht die Taube zum Heiligen Geist, wo kommt sie vor (von der Arche Noahs bis zu den Evangelien)?
    Gibt es einen geschichtsphilosophischen Unterschied zwischen Silber- und Goldwährung? Beginnt die alte Geschichte mit der Silber-, die neue mit der Goldwährung?
    Die Geschichte der Beziehung von Gold und Geld ist die Kehrseite der Geschichte von Schulden und Geld. (Ist Gold die Einheit von Licht und Schwere?)
    Inflationen sind Ausdruck von Schuldenkrisen, die durch Sozialisierung der Schulden gelöst werden.
    Hängt der Ausdruck Schulden mit Schultern zusammen (die Schuld auf sich nehmen)?
    Läßt sich das Rätsel des biblischen Schöpfungsberichts auflösen, wenn die Geschichte der Geldwirtschaft durchsichtig wird? Und verweist nicht der zweite Schöpfungstag auf die Entstehung des Geldes (ist das Geld das Wasser – auch bei Thales)?
    Die Erschaffung der Welt findet auch im ersten Schöpfungsbericht ihre Stelle: in der Erschaffung der großen Seetiere. Ist die Trennung des Trockenen und des Flüssigen, die Trennung von Land und Meer, etwas, was nur auf die Wasser unterhalb der Feste sich bezieht? Betrifft sie nicht auch die Wasser oberhalb? Und ist der Meeresbegriff nicht ein Begriff, der auch die Welt der Götter (der Nationen) umfaßt?
    Privateigentum, Geldwirtschaft, Patriarchat gehören zusammen. Reflex und Indikator dieses Zusammenhangs ist der Begriff der Materie; dagegen steht die theologische Idee der Verklärung (Zusammenhang mit dem Satz „Richtet nicht …“ und mit der Kritik des moralischen Urteils: „Der Ankläger hat immer unrecht“). Hier ist es mit Händen zu greifen – und zwar anders, als es die traditionelle, herrschaftsgeschichtlich determinierte Interpretation gern möchte -, wie Materialismus und Empörung zusammenhängen: Empörung ist nicht Empörung gegen Herrschaft, sondern Herrschaft selber ist Empörung. Vor diesem Hintergrund gewinnen die kantischen Antinomien der reinen Vernunft und die „Vorstellung“ des unendlichen Raumes und das Problem der Sexualmoral eine ungeheure Bedeutung (Naturbegriff, Trinitätslehre und Inzest).
    Im Anfang erschuf Gott den Himmel und die Erde; und am sechsten Tag die Menschen (nach seinem Bilde, als Mann und Weib). Und der Kirche ist verheißen, daß, was sie auf Erden binden wird, auch im Himmel gebunden sein wird, und was sie auf Erden lösen wird, auch im Himmel gelöst sein wird.
    Judith war auch eine Hebräerin?
    Die Kirche hat am Ende des Mittelalters ihre häresienbildende Kraft verloren, weil sie sie in Gestalt der naturwissenschaftlichen Aufklärung in einer Form vor Augen hatte, gegen die sie hilflos war. Man kann gegen die Mathematik nicht vorgehen wie gegen Ketzer und Hexen: man kann sie nicht auf den Scheiterhaufen bringen (weil sie in der Tradition der Scheiterhaufen steht, aus deren Verinnerlichung hervorgegangen ist).
    Die Hegelsche Philosophie ist eine Philosophie, die sich im Urteil der anderen versteht und begreift. Deshalb ist der Weltbegriff zentral für die Hegelsche Philosophie.
    „Ninive war eine große Stadt vor Gott; man brauchte drei Tage, um sie zu durchqueren. Jona begann in die Stadt hineinzugehen; er ging einen Tag und rief: Noch vierzig Tage, und Ninive ist zerstört!“ (Jon 33f)
    Es kommt nicht nur die Philosophie in der Prophetie vor, sondern auch die Prophetie in der Philosophie, und zwar im Begriff der Barbaren (oder der Materie).
    Ein Zyniker ist ein Fundamentalist, der kein Terrorist werden möchte.
    Gibt es eine Beziehung zwischen Münze und Symbolum (Prägung, Avers und Revers); drückt sich in der Prägung der Bruch aus, und welche Bedeutung haben die eingeprägten Köpfe (Hinweis auf den gemeinsamen Ursprung des Königtums und des Geldes im Opfer)?
    Zur Konstruktion des israelischen Königtums gehört es, daß nicht der Priester, sondern der Prophet den König erwählt und salbt.
    Die Kritik des Bekenntnisbegriffs (und der Bekenntnislogik) wird in der Gestalt der Maria Magdalena verkörpert (Befreiung von den sieben unreinen Geistern).
    Gibt es eine Beziehung zwischen der Bindung Isaaks, dem Sieg Abrahams über die Könige von Sodom etc. und der Melchisedek-Geschichte. zwischen Moloch, Melek und Melchisedek? Und stellt sich nicht über Melchisedek eine Beziehung her zwischen dem Hebräer Abraham und dem biblischen Hebräerbrief? Bei Abraham und Isaak erscheint die Geschichte mit Abimelech, dem Philisterkönig, während die Ägypter-Geschichte auf Jakob (Israel) und Josef vorausweist? Wie verhält sich Abimelech zu Melchisedek?
    Barock als Geschichte der Privatisierung (und Vegrgesellschaftung) von Herrschaft, als Teil der Geschichte der Säkularisation (Absolutismus, Gegenreformation, Barocktheologie, Ursprung der Gnadenlehre, kasuistische – pornographische – Moraltheologie). Erst die Barocktheologie hat sich in dem Netz der Verdinglichung verfangen, aus dem die katholische Theologie sich seitdem nicht mehr hat befreien können. Der barocke Pomp, die barocke Kunst (die Kunst des Rahmens), ist die Ersatzbildung für den privatisierten und verdinglichten Wahrheitsbegriff.
    Putten: Diese Form der Verniedlichung der himmlischen Heerscharen, Vermischung mit den mythischen Allegorien (Amor und Eroten): Vorläufer des Kuschel-Behemoth.
    Im Prozeß der Vergesellschaftung von Herrschaft wird immer deutlicher und kenntlicher, was mit dem Begriff der Übernahme der Sünde der Welt allein gemeint sein kann.
    Das Bekenntnis als verinnerlichte Exkulpationsmagie.
    Ist der Heideggersche Titel „Vom Wesen des Grundes“ nicht der genaueste Ausdruck der Abschaffung des begründenden, argumentativen Denkens? Und entspricht dem nicht genau die Hypostasierung der Frage, die Konstruktion der objektlosen Angst und des Daseins als In-der-Welt-Seins? Ist das Wesen des Grundes nicht der Inbegriff dessen, was theologisch „Abgrund“ heißt. Die Heideggersche Fundamentalontologie ratifiziert den Einsturz der Hegelschen Logik, die Trunkenheit des Begriffs am Ende nüchtern, rational beschrieben hat.
    Heidegger hat den Ursprung der Angst unerkennbar gemacht, indem er die Angst zu einem objektlosen Affekt gemacht hat (oder machen mußte, weil seine Philosophie vom Objektparadigma sich nicht lösen konnte). Es gibt keine Angst ohne Beziehung zur Schuld; die Unfähigkeit zur Schuldreflexion macht die Angst objektlos. Diese Schuldbeziehung gilt auch für die Todesangst. Wenn das Christentum die Todesangst „überwindet“, dann nur im Kontext der Übernahme der Sünde der Welt. Heute jedoch nimmt das Christentum nur noch die Schuldangst hinweg, indem es die Todesangst verdrängt; wer wagt denn noch, an die Unsterblichkeit der Seele oder an die Auferstehung der Toten zu glauben: gemeinsamer Ursprung des pathologisch guten Gewissens und der Gemeinheitsautomatik. Es gibt Schlimmeres als den Tod. Umgekehrt: Der Adornosche Satz „Heute fühlen sich alle ungeliebt, weil niemand mehr zu lieben fähig ist“ ist die Kehrseite des biblischen Satzes, daß die Liebe stärker ist als der Tod.
    Der Objektivationsprozeß ist der Stauberzeugungs- und -verwertungsprozeß.
    Stichwort „Wüste“.
    Die Erschaffung der Welt findet auch im ersten Schöpfungsbericht ihre Stelle: in der Erschaffung der großen Seetiere. Ist die Trennung des Trockenen und des Flüssigen, die Trennung von Land und Meer, etwas, was nur auf die Wasser unterhalb der Feste sich bezieht? Betrifft sie nicht auch die Wasser oberhalb? Und ist der Meeresbegriff nicht ein Begriff, der auch die Welt der Götter (der Nationen) umfaßt?

  • 09.04.92

    Wasser: das flüssige, unbestimmbare, objektlose Element (oder das reine Objekt), ein Objekt aus reiner, dingloser Eigenschaft.
    Das Benennen gibt es nur zusammen mit dem Scheiden, wobei das eine Mal das Getrennte, das Geschiedene benannt wird: Gott schied das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht, während das andere Mal das Instrument der Scheidung benannt: Gott machte eine Feste zur Scheidung der Wasser oberhalb der Feste von dem Wasser unterhalb der Feste, und Gott nannte die Feste Himmel. Das Wasser ist demnach das Nicht-Benannte, vielleicht Unbenennbare, das Element, in dem das Ungleichnamige gleichnamig gemacht werden kann, nur unterschieden nach oben und unten.
    Das Wasser ist das reine Schwere, das Maß des Gewichtes.
    Naturgrund von Herrschaft: Kann es sein, daß es gesellschaftliche Prozesse (gesellschaftliche Gesteinsverschiebungen) gibt, die an den Grund der Natur rühren?
    Wo ist die Stelle: Wenn sie schweigen würden, würden die Steine schreien?
    Ist nicht die Israel-Theologie (Marquardt u.a.) selber in Gefahr, zu einem Teil des Schuldverschubsystems zu werden? Und zwar durch den Versuch, am Privileg des Opfers teilzuhaben? Denn genau das ist uns als Deutschen und als Christen (als Tätern) untersagt. Wird nicht die Israel-Theologie so zu einem Teil der gleichen Exkulpations-Magie, die in die Katastrophe geführt hat? Oder ist die Israel-Theologie ein unmöglicher Versuch, der Wiedergutmachungspolitik gleichsam theologischen Rang zu verleihen, der ihr nicht zusteht (ohne daß dadurch ihre Notwendigkeit berührt würde). Das reale Votum für Israel ist sehr viel pragmatischer zu begründen (durch unsere Verstrickung in den Schuldzusammenhang, aus dem diese Situation entstanden ist). Nach dem, was wir getan haben, haben wir keine andere Möglichkeit.
    Das pragmatische Votum für Israel ist das Eine, das Andere aber wäre das, was Franz Rosenzweig einmal mit seiner Übersetzung der Schriftstelle „Zeit ist’s …“ ausgedrückt hat. Die Existenz Israels und die Gefahr der „Zernichtung der Lehre“ hängen möglicherweise zusammen, aber das kann nicht Gegenstand theologischer Spekulation sein.
    Man kann den Vorgang, dessen Zeitgenossen wir heute sind, als einen der Entgründung der Erde beschreiben: Eines seiner auffälligen Produkte ist der Zerfall des argumentativen Denkens, der Kraft der Begründung. Das rührt ans Antlitz der Erde, die Gott „gegründet“ hat (als er den Himmel „aufspannte“). Von dieser „gründenden“ Kraft ist, wie es scheint, nur der Abgrund übriggeblieben, als der die Welt sich manifestiert. Der Zerfall des argumentativen Denkens ist selber begründet in der Gewalt des logischen Zerfalls des Weltbegriffs. Diese entgründende Gewalt des Weltbegriffs produziert die Bekenntnissucht, den Grund der Exkulpationsmagie. Nicht Rechtfertigung, sondern Gerechtmachung; und wenn das heute aussichtslos ist, so drückt sich in diesem Sachverhalt präzise der Grund dessen aus, was in der Schrift Gottesfurcht heißt.
    Rationalität selber gründet heute in einer Beziehung zur Schuld, die auf den Komfort der Rechtfertigung verzichtet. Hoffnung drückt sich nur noch in den beiden Petrus-Stellen aus: in dem „er weinte bitterlich“ nach der dritten Leugnung und in der Übertragung der Vollmacht zu binden und zu lösen.
    Maria Magdalena, die von den sieben unreinen Geistern Befreite, ist die einzige, die die Grenze überschritten hat.
    Wie hängt der Bekenntnisbegriff mit der Verfälschung des achten Gebots zusammen? Ist nicht das formalisierte Bekenntnis, die Confessio, die tiefste Verletzung des achten Gebots?
    Die Unmöglichkeit der Hexen, gegenüber der Inquisition ihre Unschuld zu beweisen, entspricht der Etablierung des Trägheitsbegriffs in den Naturwissenschaften.
    Theologie heute ist vergleichbar der Archäologie: Unter den Trümmern der Geschichte die Hoffnungen der Toten wiedererwecken.
    Es hilft kein Hinausreden auf die Natur mehr: Wir selbst sind für unsern Charakter und für unser Gesicht verantwortlich. Ob wir dieser Verantwortung gerecht werden können, ist eine andere Frage.
    Zum Naturbegriff: Er enthält ein Stück säkularisierte Christologie. Die Natur nimmt die „Sünde der Welt“ auf sich, sie ist das vergöttlichte Opfer, sie spricht uns frei von Schuld, nimmt uns die Verantwortung ab. Eben damit aber hängt es zusammen, daß der Naturbegriff der christologischen Logik unterliegt, den dogmatischen Christus ersetzt. Ähnlich ist auch der Weltbegriff Produkt der Säkularisation einer theologischen Kategorie (so erscheint er dann auch bei Hegel), nämlich der des Gerichts. Durch Anpassung an die Welt werden wir zu Richtern über andere, das ist ihr „zivilisatorischer“ Effekt: die verworfenste Gestalt der Säkularisation. Hier ist der Punkt, an dem sich aufs genaueste zeigen läßt, was es mit dem Wort des Täufers „Sehet das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt auf sich nimmt“ auf sich hat. Und es ist gerade jener exkulpationsmagische Teil der theologischen Tradition des Christentums (jener Teil, aus dem der Bewußtseinskomfort sich herleitet, den wir nicht mehr missen möchten, auch wenn die Welt darüber zugrunde geht), der in diese Verworfenheit hineinführt. Die Heideggersche Philosophie ist der genaueste Ausdruck dieser Verworfenheit.
    Jedes Urteil hat durch die Kopula Anteil an der „verandernden Kraft des Seins“ (Rosenzweig).
    Schelers Rangordnung der Werte ist gleichsam Produkt einer fleischfressenden Philosophie, einer Philosophie, die am Opfer festhält und es zugleich verdrängt. Daher rührte die Nähe Schelers zum Katholizismus. Auch bei Heidegger sind die katholischen Ursprünge unverkennbar. Nur daß bei ihm der Grund der Verworfenheit als bewußtlose Selbstverfluchung dann erscheint. Es ist die Selbstverfluchung, die von der dritten Leugnung nicht zu trennen ist. Und darin liegt die besondere Bedeutung der französischen Heidegger-Rezeption: es ist die des gallischen Hahns (vgl. hierzu das geradzu prophetische Wort Heines).
    Wertphilosophie und Fundamentalontologie sind die Indizes der beiden Weltkriege, der Phasen der Selbstzerstörung der Welt. Wir leben in dem Trümmerfeld, das sie hinterlassen haben.
    Man wird davor warnen müssen, den Antisemitismus als eine Gesinnungsfrage zu behandeln. Es ist eine Strukturfrage, provozierend ausgedrückt: eine Frage der Logik. Kriterium ist die Fähigkeit der Reflexion der „Schuld der Welt“.
    Sind nicht in der Tat die Farben die Widerlegung der Vorstellung des unendlichen Raumes (und die letzte Erinnerung an die Lehre von der Auferstehung der Toten)? Farben als Taten und Leiden des Lichts: Es gibt morgendliche und abendliche Farben (Licht über Finsternis, Finsternis über Licht: Gelb und Blau). Und es gibt die Mischung dieser Farben (Grün) und die Konträrfarbe dazu (Rot, die Farbe des Gerichts, der Linken; das Blut, das zum Himmel schreit).
    Man muß einmal bemerkt haben, welche Katastrophen es auslösen kann, wenn Kinder erfahren, daß hinter ihrem Rücken über sie gerdet worden ist.
    Kephas, Petrus: Was ist hebräisch, griechisch oder Latein? – Haben Kephas und Kaiphas etwas miteinander zu tun?

  • 27.02.92

    Die Definition des Personbegriffs durch Boethius spiegelt exakt dessen Beziehung zum Weltbegriff wider.
    Ist das Antlitz der Erde nur in Beziehung zum Himmel bestimmbar (verschwindet es mit dem Himmel; und ist die Astronomie der Beginn der Verweltlichung des Himmels: Ursprung des Weltbegriffs)?
    Wie unterscheidet sich der im Anfang erschaffene Himmel, von der Feste, vom Firmament, das dann Himmel genannt wird? Umgekehrt wird das am ersten Tag geschaffene Licht nach seiner Trennung von der Finsternis Tag genannt.
    Gegenüber der biblischen Schöpfungslehre sind alle anderen Kosmogonien stumme, naturwüchsige Entstehungsprozesse, frühe Vorboten des Urknalls.
    Intendierte die Hexenverfolgung bewußtlos die Vernichtung der Frauen, ähnlich wie der Antisemitismus die der Juden?
    Gibt nicht ein Teil des Feminismus dem Tertullian nachträglich auf eine zugleich ironische und fürchterliche Weise recht: Diese Welt ist (ähnlich dem tertullianischen Himmel) ein Ort, an dem eigentlich nur Männer leben können, und Frauen nur dann, wenn sie „wie Männer“ werden.
    Zu den sieben unreinen Geistern: Sind es in der einen Geschichte nicht eigentlich acht: nämlich der eine mit den sieben, mit denen er zurückkehrt. Maria Magdalena wurde hingegen nur von den sieben unreinen Geistern befreit (ist sie von dem ersten nie besessen gewesen? War dieser erste der bekennende und an die Sexualmoral gebundene Geist? Und war es nicht Jesus selber, der dieses Bekenntnis unterbunden hat?). Gibt es eine Beziehung der sieben unreinen Geister zu den sieben Gaben des Heiligen Geistes?
    Nach der Beweislogik liegt das entscheidende Schuldkriterium nicht in der Tat, sondern in ihrer Beweisbarkeit (in den „Tatsachen“): d.h. im Erwischtwerden. Jeder Trick, jede List, jede Gemeinheit ist erlaubt, solange sie nicht nachweisbar sind. Und die Beweisbarkeit ist z.T. eine Machtfrage. Heute hat jeder Staat einen Geheimbereich. Und die Beweisbarkeit wird u.a. von der Macht über die Akten bestimmt.
    Wozu braucht der Staat einen Geheimbereich? Und was bedeutet der Begriff des Verrats (und was heißt konspirativ)? Auch der Staat hat seine „Intimsphäre“; nicht zufällig heißt das Kabinett Kabinett.
    Was unterscheidet den Staatsschutz vom Verfassungsschutz?
    Die Petrus-Stellen und die Stellen mit den Dämonenaustreibungen (und Krankenheilungen).
    Es gibt Theorien, die auf eine zugleich aufschließende Weise falsch sind.
    Der Materialismus war insoweit eine demokratische Weltanschauung, als er die Vergesellschaftung von Herrschaft vorangetrieben hat. Aber eben damit hat er Herrschaft auch unkritisierbar gemacht; und seitdem wird Herrschaftskritik als Rangordnungskritik, nicht mehr als Strukturkritik verstanden. Eben damit ist Herrschaft zum Subjekt-Objekt von Gewalt geworden, zu der es keine Alternative mehr gibt.
    Das Angesicht und die Bischofsmaske (das maskenhafte Gesicht katholischer Bischöfe): Ist es nicht der episcopus (der „Aufseher“), der das Antlitz Gottes usurpiert?
    Das Angesicht und das „Gehirn“-Paradigma (Innen und Außen; Zwang, ein Zugrundeliegendes hinzuzudenken).
    Wo sind heute die Hildegard von Bingen, die Katharina von Siena oder die Brigitta von Schweden?
    Für und gegen die Möglichkeit von Naturphilosophie spricht Adornos Konzept vom Eingedenken der Natur im Subjekt.

  • 13.12.91

    Man muß den Satz Wittgensteins „Die Welt ist alles, was der Fall ist“, wenn man ihn verstehen will, umkehren: Alles, was der Fall ist, ist die Welt. Das „alles, was der Fall ist“ ist Subjekt und „die Welt“ Prädikat.
    Beim Turmbau zu Babel wurde der Name durchs Prädikat ersetzt. Begriffliches Denken ist prädikatives Denken; in der Mathematik wird nicht nur der Name, sondern auch das Urteilssubjekt durchs Prädikat ersetzt: Grundlage der Mathematik ist die Substitution der Einheit von Subjekt und Prädikat, die orthogonale Beziehung der Dimensionen im Raum, die dann auch die Materie und die Zeit in eine gleichsam orthogonale Beziehung zum Raum rückt. Diese Einheit von Subjekt und Prädikat, genauer ihr Schein, ist vermittelt durch die Substantivierung des Prädikats (des „Seins“), die selber der vollständigen Ausbildung der Konjugationen, insbesondere den Futurbildungen sich verdankt. Zusammenhang mit der Konstituierung der Welt, dem Objektivations- und Säkularisationsprozeß (geschichtsphilosophische Konnotationen einer historischen Grammatik)?
    (Ist es denkbar, daß es eine reale Beziehung der Toten zur toten Natur gibt: daß das Opfer zu den Konstituentien des Inertialsystems gehört – einschließlich der realen Opfer der Hexenverfolgung?)
    Hegels Geschichtsphilosophie ist eine Philosophie der Weltgeschichte, d.h. Hegel macht das Prädikat zur Totalität und als Totalität zum Subjekt der Geschichte. Aber was Hegel hier zum Subjekt der Geschichte macht, ist das entfremdete Prinzip der Subjektivität („der Geist, der draußen ist“ – Sohar, S. 179). Die Welt wird zum Subjekt der Geschichte als Inbegriff des anklagenden und richtenden Prinzips, der scheidenden und verdrängenden (verschiebenden und projektiven) Kraft.
    Was bedeutet der Satz (Mt 63): „Wenn du Almosen gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte Hand tut“: Es soll nicht in der Öffentlichkeit geschehen („laß es also nicht vor dir herposaunen“), sondern im Verborgenen („dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten“): Die linke Hand repräsentiert die Öffentlichkeit („alle Welt“)!
    „Alle Welt“: das sind die nicht widerlegbaren Urteile aller (Bekenntnis- und Beweislogik).
    Gibt es Berührungspunkte zwischen dem haggadischen Teil der Kabbala und dem Märchen (Zusammenhang der Motive: König, Prinz, Prinzessin, Hexe, Zauberer)?
    Zur Kritik der Fundamentalontologie: „Nur nicht mehr an das denken,/ was meine Seele so betrübt,/ doch auf den Sinn des Seins/ Gedanken und Gefühle lenken,/ auf das, was einst ich so geliebt.“ SS-Sturmbannführer Viktor Arajs, 1979 wegen gemeinschaftlichen Mordes an 13 000 Menschen zu lebenslänglicher Haft verurteilt, in einem im „Rundbrief für den Freundeskreis“ (Nr. 2/1986) veröffentlichten Gedicht (zitiert nach Ernst Klee: Persilschein und falsche Pässe, Frankfurt 1991, S. 117).
    Ist die kopernikanische Theorie ein Pendant des Hexenhammers?
    Den Himmel aufspannen: erinnert das nicht an den Spannungsbogen in der Musik (an Glenn Goulds Einspielung des Wohltemperierten Klaviers oder an Bredels Schubert) und an die Spannung im Roman?
    Das Gewaltmonopol des Staates zerstört die argumentative Kraft der Sprache.
    Gibt es einen sprachlichen Zusammenhang zwischen Mizrajim (Ägypten) und den Mizwot (den Geboten)?
    Sind in der Geschichte der raf Ulrike Meinhof und Holger Meins nicht doch von Gudrun Ensslin und Andreas Baader zu unterscheiden?
    Der Begriff des Nichts ist durch das Geld (das den Dingen von außen, durch ihre Beziehung zum Tausch, Realität verleiht) und durch die Vorstellung des Raumes vermittelt (durch die Vorstellung des „leeren Raumes“, in den die Dinge von außen, aus dem „Nichts“ hereinkommen). Aber dieses Nichts ist Statthalter der verdrängten Wahrheit.
    Der Sündenfall ist ein Vorgang in der Sprache („Die Welt ist alles, was der Fall ist“) und erst danach ein Vorgang in der Geschichte. Darin gründet die Bedeutung des Gebets.
    Der Atheismus ist eine notwendige Folge aus dem Schein der Unkritisierbarkeit der Bekenntnislogik. Atheismus unausweichliches Produkt des Herrendenkens; einzige Absicherung gegens Herrendenken ist die Theologie.
    Magie und Verzweiflung (Sprache und Sexualität): Verknüpfung von Magie und Religion nur unter dem Vorzeichen der Sexualmoral, nicht des Sprachdenkens (Katharer und Ursprung der Kabbala); Personalismus als Konkretismus im sexualmoralisch definierten Kontinuum. Golem Deckbild der Erlösung. Grenze der Magie: der Golem kann nicht sprechen (in der Schöpfungsgeschichte bara dreimal: Himmel und Erde, die großen Seeungeheuer, der Mensch). Golem und Alchemie (Goldmachen).
    Differenz zwischen Held und Messias (Jesus ein Held?).
    Sintflut und Grenze zwischen Vorwelt und Welt. „…, daß es das Ich ist, welches die Flut bringt“ (Sohar, S. 119). Zusammenhang mit der Änderung des Nahrungsgebots (Erlaubnis Fleisch zu essen), dem Noachidischen Bund, dem Regenbogen (Farben in der Schrift?).
    Die Barbarei beginnt, wenn die Bekenntnisse zu Zeichen der Komplizenschaft, wenn sie indifferent gegen die Welt und zugleich austauschbar werden (Hexenhammer und Bekenntnis: Hexe wird man durch den Teufel; zuerst Abschwören des Bekenntnisses, dann die Teufelsbuhlschaft; schwarze Messen; Zusammenhang mit der Vorgeschichte der Katharer? Affinität des Protestantismus? Sprachmagie und Teufelsbuhlschaft: hieros gamos und Sternendienst; Zusammenhang zwischen Hexen und dem Herrn der Tiere, dem wilden Heer).
    Wir leben in einer gemeinsamen Welt, aber wir sehen sie gemeinsam nur durch die Sprache.
    Hängt der exzessive Gebrauch von Prä- und Suffixen mit der Akkusativierung der Sprache, mit ihrer Instrumentalisierung und Verwandlung in eine Herrensprache zusammen?
    Die Umkehr ist nicht das Ziel, sondern der Anfang.
    Der Eid als Selbstverfluchung.
    Zu Elias als Bote des Messias sh. Maleachi.
    Nicht die Unterscheidung von Innen und Außen (Hellenen und Barbaren, Guten und Bösen; Basis der kontemplativen Beziehung zur Objektivität), sondern die von „Im Angesicht“ und „Hinter dem Rücken“ (Israeliten und Hebräer; Grundlage der praktisch-moralischen, der messianischen Beziehung zur Objektivität): die Hereinnahme der Beziehung aufs Andere ins Denken ist das Tor zur Theologie (der Satz gilt auch gegen die Verinnerlichung der gesellschaftlichen Kritik: Intersubjektivität, der Beweis durch Unwiderlegbarkeit, ist gegen Gemeinheit nicht gefeit).
    Die Mechanik ist deshalb die Kerndisziplin der gesamten Physik, weil sie die Beziehungen der Dinge auf die rein äußerliche Beziehung des Stoßes reduziert. Die hier gewonnenen Begriffe und Strukturen sind Ursprung und Maß der gesamten naturwissenschaftlichen Erkenntnis (Raum: von allen Seiten von außen). Hier ist auch die Vorstellung begründet, daß nur Nahwirkungen, Wirkungen durch Berührung, als Erklärung zugelassen, Fernwirkungen hingegen vom Grundsatz her ausgeschlossen sind. Daher hatte die Physik ihre Probleme sowohl mit der Gravitationstheorie (Descartes‘ Versuch, den Fall aus den Trägheitskräften der Zentrifugalbewegung herzuleiten) als auch mit der Optik und der Elektrodynamik (Ätherhypothese).
    Materie keine extensive, sondern intensive Größe, über die Begriffe der Dynamik mit dem Inertialsystem und seiner Metrik verbunden.
    Die toledot sind der Zentralbegriff einer Einheit von Geschichts- und Naturphilosophie (und was heißt „von Geschlecht zu Geschlecht“?).
    Wer der Gottesfurcht zu entkommen versucht, verletzt die Thora. Die Gottesfurcht ist der genaueste Begriff für die Beziehung zur hebräischen Schrift. Und die Gottesfurcht ist das Ende der Herrenfurcht: der Furcht vor der Welt, vor dem Urteil der Welt.
    Ist nicht die griechische Metaphysik nur eine vergeistigte Form des Sternendienstes, und die aristotelische noesis noeseos, das Denken des Denkens, ein Abbild des sinnlosen Kreisens der Planeten? Nicht zufällig hat die Aristoteles-Tradition den intellectus agens in der Mondsphäre lokalisiert. Und die Kugel als Modell der Vollkommenheit ist einsichtig nur im Rahmen des Innen-Außen-Gegensatzes.
    Gott hat auch die Welt erschaffen, aber erst am fünften Tag, als er die „großen Seeungeheuer“ schuf (erschaffen sind Himmel und Erde, die großen Seeungeheuer und die Menschen). Mir scheint, es ist kein Zufall, wenn die Geschichte der Philosophie mit Thales, mit dem Satz „Alles ist Wasser“, beginnt und mit einer Gestalt des Absoluten endet, in dem kein Glied nicht trunken ist.
    Im Licht der Sprache sehen lernen!
    „Ein anderer aber, einer seiner Jünger, sagte zu ihm: Herr, laß mich zuerst heimgehen und meinen Vater begraben. Jesus erwiderte: Laß die Toten ihre Toten begraben.“ (Mt 821f)

  • 11.11.91

    Gleiche Probleme des Raumes, des Geldes und des Bekenntnisses: Ambivalenz, gegensätzliche Bedeutungen, die sich nicht von einander trennen lassen: wie die zwei Seiten eines Blattes, von denen ich nicht eine zerreißen kann, ohne die andere mit zu zerreißen; beide durch Umkehr aufeinander bezogen (Leib und Seele, Physik und sinnliche Welt; Reichtum, Schuld und Herrschaft; Christentum die menschenfreundlichste Religion, aber keine andere, in deren Namen solche Untaten begangen wurden).
    Raum und Bekenntnis:
    – Antijudaismus (kein Bekenntnis ohne Feindbild): vorn und hinten nicht unterscheiden können, im Angesicht und hinter dem Rücken („Augapfel Gottes“ Sa 212);
    – Ketzerverfolgung (kein Bekenntnis ohne Häretiker): rechts und links nicht unterscheiden können (Barmherzigkeit und Gericht);
    – Hexenverfolgung (Frauen nicht bekenntnisfähig): oben und unten nicht unterscheiden können (Gottesfurcht ist nicht Herrenfurcht).
    Trinitätslehre, Christologie, Opfertheologie und Physik (Raum, Naturbegriff und Opfer der Sinnlichkeit).
    Zentrales Kriterium für die Ketzerverfolgung ist bis heute die Unbotmäßigkeit der Ketzer, nicht die Abweichung ihrer Lehre von der Orthodoxie.

  • 04.11.91

    „… widerrät, noch den Leviatan von Hi 40f dualistisch-moralisierend eindeutig dem Bösen zuzurechnen.“ (Ebach: Leviatan und Behemoth, S. 74) Bemerkungen:
    – Das „dualistisch-moralisierend“ steht in der Sündenfall-Tradition (Erkenntnis des Guten und Bösen: Zusammenhang von Instrumentalisierung und moralischem Urteil) und ist das Element, in dem sich die „Erbschuld“ fortpflanzt.
    – Schon die Grundelemente des Christentums:
    . Nachfolge-Gebot, Übernahme (nicht Hinwegnahme) der Schuld der Welt (Gott hat nicht die Welt, sondern Himmel und Erde erschaffen; Welt als Medium und Resultat des Säkularisationsprozesses, als Medium der Geschichtsphilosophie; Begriff der Welt, Beziehung zum Naturbegriff: Totalitätsbegriffe), Feindesliebe, Richtet nicht …, Seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben (Kontext: Kritik des Bekenntnisbegriffs, der Trinitätslehre – insbesondere der Christologie -und der Opfertheologie; Begreifen des Ursprungs des Antijudaismus, der Häresien und ihrer Geschichte, der Frauenfeindschaft und der Hexenverfolgung); widerraten der Zurechnung und eröffnen darüber hinaus ein theologisches Konzept, das erst noch zurückzugewinnen wäre (Theologie im Angesicht, nicht hinter dem Rücken Gottes), und in dem vielleicht dann auch der Leviatan seine Stelle finden wird.
    Mary Dalys Titel „Gott Vater, Sohn und Co“ enthält eine sehr tief begründete Kritik an der Trinitätslehre: am theologischen Gebrauch des Personbegriffs. Dieser Begriff ist in der Tat nur als Teil einer politischen Theologie zu begreifen, die – auf der Grundlage des Bekenntnisbegriffs – unaufhebbar patriarchalische Züge trägt. Zur Widerlegung mag der Hinweis dienen, daß die Vorstellung der Unsterblichkeit der Person schon an der Bindung dieses Begriffs an seinen politisch-ökonomischen Kontext (Person und Eigentum, Zurechenbarkeit der Schuld als Grundlage des Rechts, Institut der juristischen Person) und an seiner damit verknüpften Beziehung zum Namen scheitert (der Name, dessen Träger die Person ist, ist Schall und Rauch: das Rosenzweigsche „Ich, mit Vor- und Zunamen“ ist nicht der Inhaber eines Personalausweises).
    Es gibt keinen direkten Weg vom Bekenntnisbegriff (Theologie hinter dem Rücken Gottes) zum Inertialsystem (Subsumtion des Himmels unter die Erde): dazwischen liegt die unreine Vermischung von Strenge und Milde (richtendem Urteil und Barmherzigkeit: Fegefeuer und Ohrenbeichte), dazwischen liegt das Gravitationsgesetz und die Vergegenständlichung des Lichts. Heute nimmt eine in den Mythos zurückgefallene Aufklärung die Offenbarung nur noch als Mythos wahr.
    Der Staat begründet sein Existenzrecht durch die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Mord und gegen die Verletzung des Eigentums (Gewaltmonopol), die Kirche durch die Notwendigkeit des Kampfes gegen die Unmoral (Sexualmoral). Gibt es hier einen Zusammenhang mit Behemot und Leviatan?
    Den Bemerkungen Jürgen Ebachs zu Jon 411: „… mehr als 120.000 Menschen, die nicht rechts und links unterscheiden können, und viel Vieh“ (Kassandra und Jona, S. 116f) bleibt der Hinweis anzufügen, daß nach biblischer Metaphorik rechts und links auch mit der Unterscheidung von Milde und Strenge, Barmherzigkeit und Gericht (richtendem Urteil) zusammenhängt: Diese Menschen wissen – wie auch die Christen heute – nicht mehr, was es heißt, wenn der Auferstandene zur Rechten des Vaters (der Seite der Barmherzigkeit) sitzt. Beschreibt nicht die Verwechslung von Barmherzigkeit und richtendem Urteil mit gut und böse (dem Primat des Gerichts) genau das autoritäre Syndrom wie auch den Tatbestand des Sündenfalls, der Erbschuld?
    Auch ist mir bei dem Ausdruck „hebräische Metaphorik“ (S. 117) insoweit etwas unwohl, als ich glaube, im Begriff des Hebräischen (für jüdische Ohren die von Ägyptern und Philistern verwandte Fremdbezeichnung als Selbstbezeichnung) einen Ton mitzuhören, dessen Gebrauch uns – insbesondere nach Auschwitz – nicht mehr erlaubt sein sollte. Allein als Bezeichnung der uns fremden Sprache ist der Gebrauch erlaubt, aber dann mit dem Bewußtsein, daß Juden in dieser Sprache mehr als nur eine Sprache gegeben ist: der Inbegriff des Fremden, des Antlitzes, das sowohl das Antlitz Gottes als auch das des Feindes sein kann (welche Folgen ergeben sich hieraus für den Staat Israel und die dort gesprochene Sprache?). Das glaubte Paulus den Christen ersparen zu können; ebenso wie es keine Schrift des „Neuen Testamentes“ in hebräischer Sprache gibt, ist der christlichen Theologie die Idee des Angesichts Gottes fremd; an deren Stelle sind der Vaterbegriff und die Trinitätslehre getreten.
    Ist Jona wegen seiner Warnung an Ninive (für Ninive, „die große Stadt“, ähnlich Babel der Urfeind Israels) ein „Hebräer“ (vgl. nochmal die „Hebräer“-Stellen bei Loretz)? Werden die Juden nur von ihren Feinden Hebräer genannt (vgl. den Jerusalemer Kommentar – die „hebräische“ Sprache ist den Juden als Sprache, die sie ins Angesicht Gottes stellt, fremd – Abraham war ein Hebräer, und er war ein Fremder im Land; „im Angesicht“ ist – wie der durch schlichte Umkehrung konstruierbare Begriff der „Barbaren“, derer, die bloß stammeln, kein Griechisch sprechen – ein sprachlicher Sachverhalt, er gilt wie für Gott nur noch für den Feind)?
    Läßt sich nicht anhand des Begriffs des Hebräischen (des Hebräers und der hebräischen Sprache) die Idee der Übernahme der Schuld der Welt, die ebenfalls einen sprachlichen Sachverhalt bezeichnet, genauer bestimmen?
    Der Raum verwischt die Differenz zwischen vorn und hinten, rechts und links, oben und unten. Und Büchners Lenz wollte auf dem Kopf laufen.
    – Die erste Verwechslung ist die von Im Angesicht und Hinter dem Rücken,
    – die zweite die von Strenge und Milde, von richtendem Urteil und verteidigendem Denken,
    – die dritte die von Himmel und Erde.
    Alle drei Verwechslungen gehen zu Lasten des Humanen; es triumphiert das Hinter dem Rücken, das Gericht und die totalisierte Erde (das Universum): Es triumphiert die Welt (oder auch die Gemeinheit).
    Wer Sicherheit will, will eine Zukunft ohne Überraschungen (daher die große Bedeutung der Versicherungswirtschaft heute).
    – In der Physik wird diese Sicherheit durchs Inertialsystem begründet,
    – in der Gesellschaft durchs (kalkulierbare, das Eigentum und die Währung garantierende) Recht, in beiden Fällen durch Gesetze, unter die man alle möglichen Fälle subsumieren kann.
    – In der Theologie soll das Dogma (das Bekenntnis und seine Logik) das gleiche leisten. Mit den Juden sollte nicht nur das eigene Gewissen, sondern auch die Idee einer zukünftigen Welt, die anders ist, vernichtet werden.
    Begriffe wie Begegnung und Partnerschaft neutralisieren die kritische Potenz dessen, was Buber einmal die Ich-Du-Beziehung genannt hat. Zwei Bemerkungen dazu:
    – die Ich-Du-Beziehung ist (nach Levinas) asymmetrisch; Ich und Du sind nicht gleichwertig;
    – diese Asymmetrie gründet im Schuldverhältnis beider: das Ich konstituiert sich in der Übernahme der Schuld der Welt, in der Freisprechung des anderen, im Verzicht auf die falsche, durchs moralische Urteil: durchs Richten vermittelten Autonomie. Wenn Reaktionäre der Soziologie und Psychologie vorwerfen, daß sie zu Exkulpationszwecken genutzt werden, daß jeder sich darauf hinausreden könne, nicht er, sondern die Gesellschaft, die anderen seien schuld, so gründet das in der Umkehrung der Levinasschen Asymmetrie, zu der es keine Alternative mehr gibt; sie verwischen den Unterschied zwischen dem, was einer für sich selbst und was er für andere ist. Sie kennen kein anderes Sein als das Sein für andere.
    Gegen Marx und Freud ist festzuhalten: Die Theorie und ihre aufklärerische Potenz ist nicht zu bestreiten; unwahr ist die Vorstellung, sie ließe sich – als Instrument der Revolution oder als Therapie – unreflektiert in Praxis überführen.
    Der diabolos ist das Subjekt der Hegelschen List der Vernunft (der Mephisto Fausts). Er wirbelt die Richtungen durcheinander.
    Gemeinheit ist kein strafrechtlicher Tatbestand: Wer das Moment der Verzweiflung in den Taten der raf begreift und insoweit Verständnis dafür aufbringt, setzt sich dem Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung aus. Hier wird das Verständnis für eine vergangene Tat mit der Aufforderung zu einer zukünftigen Tat verwechselt. Das rührt an den Grund der Gemeinheit.
    Der Begriff „Straftäter“ paßt zum „Staatsanwalt“: Wo der Staat zum Prinzip der Anklage wird, wird die Tat zum Wesen des Täters und zum Subjekt der Strafe (in welchen Fällen definiert das deutsche Strafrecht Taten, und in welchen Täter? Iäter nur, wenn Tätermerkmale – z.B. die Gesinnung – eine Rolle spielen? In welchen Fällen spielen Tätermerkmale eine Rolle? Vgl. „Mörder ist, wer …“ – ? §§ 211 (2) StGB; ein Mord verletzt das Gewaltmonopol des Staates; das scheint vor allem den „Abscheu“ zu begründen, nicht der Tod des Opfers, dieser nur als instrumentalisiertes Mittel der Emotionalisierung).
    Adam, der den Acker (den Schrecken) bearbeiten soll, wird in Tiefschlaf versetzt; aus seiner Seite wird Eva genommen (aus der rechten Seite? – Sitzt Jesus wirklich schon zur Rechten des Vaters, oder bedarf es dazu noch unserer Hilfe: der Nachfolge?).
    Luthers Rechtfertigungslehre ist falsch, insoweit sie die Gottesfurcht leugnet (den Glauben von seiner Beziehung zu den Werken trennt). Damit hat er die Melancholie ins Christentum eingebracht, das saturnische Wesen. Folge ist die Ersetzung der Gottesfurcht durch die Herrenfurcht (und die Furcht vor der Welt; die Furcht des Herrn ist von der paranoiden Furcht vor der Welt nicht zu trennen: Ursprung der Idolatrie).

  • 02.11.91

    „Kritik der toten Natur“: Hier wurde ein zentrales Thema der heute möglichen Naturphilosophie mehrfach verfehlt.
    – Nicht „die tote Natur“, sondern ihr Begriff wäre der Kritik zu unterziehen (nicht das Proletariat, sondern das System, das es dazu macht).
    – Die „tote Natur“, oder die Natur im Zustand der vollendeten Naturbeherrschung, ist ein Deckbild der toten Gesellschaft; und die notwendige Kritik beider schließt die Kritik ihrer Genesis: die der Herrschaftsgeschichte mit ein. Es gibt keine „tote Natur“ außerhalb der Naturbeherrschung und keine Naturbeherrschung ohne Herrschaft in der Gesellschaft.
    – Wer die Erfahrungen der Opfer zum Sprechen bringen will, muß die stumme Erfahrungsschicht mit zum Sprechen bringen, die uns in der „äußeren Natur“ vor Augen steht. Ist die Natur stumm, weil sie tot ist, oder erscheint sie uns (zwangsläufig und ohne daß eine Alternative sich konstruieren oder benennen ließe) als tot, weil sie stumm ist?
    – Man kann keine Herrschaftskritik betreiben, ohne die Geschichte der Naturbeherrschung und deren Objekt mit einzubeziehen.
    – Begriffliche Schneisen schlagen: Gibt es eine Definition des Naturbegriffs? Die einfachste, auf die sich das Problem heute zu reduzieren scheint, ist die, die die Definition des Weltbegriffs mit einschließt: Der Begriff der Welt bezeichnet das Resultat des Säkularisationsprozesses, den Inbegriff der Herrschaftsgeschichte, dessen (in der hegelschen Philosophie sich begreifende) begriffliche Seite, der Naturbegriff im gleichen Prozeß die Objektseite (daher rühren die hegelschen Schwierigkeiten, die Natur als „Entäußerung der Idee“ zu fassen, die ihn dann zwingen zuzugeben, daß sie „den Begriff nicht halten kann“; die Natur kann ihn aufgrund der Logik ihres Begriffs nicht halten: das Objekt ist als apriorischer Gegenstand des Begriffs dazu verurteilt, den Begriff nicht halten zu können). Die Begriffe Welt und Natur sind außerhalb der Herrschaftsgeschichte ohne Bedeutung, sie bezeichnen in ihr die begriffliche (die Subjekt-) und die Objekt-Seite als getrennte Wesenheiten. Sie sind Totalitätsbegriffe, die den Herrschaftszusammenhang stabilisieren.
    – Liegt es nicht in der Konsequenz der Dialektik der Aufklärung, die Beziehung zwischen der Geschichte der Naturbeherrschung und den geschichtlichen Katastrophen endlich wahrzunehmen (die moderne naturwissenschaftliche Aufklärung beginnt mit der Hexenverfolgung und endet mit Auschwitz)?
    Das Urteil, die Ontologie (Natur und Welt) und der Turmbau zu Babel.
    Der Übergang vom uneigentlichen zum eigentlichen Dasein bedarf in der Tat nur der Entschlossenheit, in der Sache sind beide nicht zu unterscheiden. Und damit scheint es zusammenzuhängen, daß der Begriff des Asozialen heute die Extreme der Gesellschaft trifft, nämlich sowohl die, die ganz unten, wie die, die ganz oben sind. Seit Kopernikus und Newton sind die ganz oben von denen ganz unten nicht mehr zu unterscheiden.
    Heute traut sich niemand mehr, das Wort vom „beschränkten Untertanenverstand“ auszusprechen; dafür läuft die gesamte Politik sprachlich auf zwei Ebenen: es gibt den esoterischen Innenraum, in den niemand hineinblickt, der der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist, während der Bereich der Darstellung nach außen, der Öffentlichkeit, auf die von der Bekenntnislogik beherrschten Mechanismen der Massenkommunikation abgestellt ist.
    Es hätten eigentlich alle erschrecken müssen, als in einem sozialdemokratischen Parteiprogramm der Begriff „Vertrauensbildende Maßnahmen“ auftauchte (und das in der gleichen Phase, in der von den Notstandsgesetzen und dem Radikalenerlaß über den Nachrüstungsbeschluß bis zur Terrorismusbekämpfung der Graben zwischen realer Politik und Öffentlichkeit vertieft, ausgebaut und befestigt wurde).
    Es ist ein allgemein bekannter Grundsatz: Wer in der Politik mitmacht, macht sich die Finger schmutzig, und den Luxus, unschuldig zu bleiben, kann sich niemand mehr erlauben.
    Das Gebot „Du sollst nicht lügen“ ist nur dort sinnvoll, wo die Sprache noch fähig ist, die Wahrheit auszudrücken. (Die Menschen wollen glauben, daß die Politiker die Wahrheit sagen, lieber verdrängen sie die Realität).
    Die Physik schirmt die Natur ab gegen die Sprache.
    Hat die Abfolge der drei Leugnungen eine Beziehung zur Trinität: erinnert die Selbstverfluchung nicht an die Sünde wider den Heiligen Geist? Entscheidend ist, daß das Hinter dem Rücken steigerungsfähig ist (bis hin zur Selbstverfluchung).

  • 20.10.91

    Die Reversibilität der Richtungen im Raum (Raum als Form der Gleichzeitigkeit, nicht der Gegenwart; Form der Vergangenheit) verdankt sich der Trennung von Raum und Zeit und hat die Abspaltung der Materie zur Folge (Systemcharakter: Inertialsystem); und die drei Bestimmungen Raum, Zeit und Materie reflektieren sich Raum als drei Dimensionen: Korrektur nach dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit?
    Gibt es Völker, Nationen im modernen Sinne (die Konstitutierung der Welt durch Verankerung des Rechts im Subjekt, die Fähigkeit zum moralischen Urteil), vor der Verinnerlichung des Schicksals, der Einführung der Bekenntnislogik, der Etablierung des Inertialsystems (Geldwirtschaft, Astronomie, Monotheismus): vor dem Ursprung des Herrendenkens (Staat, Welt und Natur)?
    Gemeinheit: Hegels „List der Vernunft“ oder die Nutzung des Falls als Falle (von der Struktur des Raumes über das Heucheleisyndrom der Bekenntnislogik als Grundlage der Juden-, Ketzer-und Hexenverfolgung und des Inquisitionsverfahrens bis zum „Gemeinheit ist kein strafrechtlicher Tatbestand“).
    Wäre Gemeinheit ein strafrechtlicher Tatbestand, müßte die Lohnarbeit verboten werden.
    Im Kronzeugenverfahren enthüllt sich das Wesen des Staates: er will den Komplizen und den Verrat. Schon im Inquisitionsverfahren (das in der Beichte – gleichzeitig mit dem Zölibat und der Durchsetzung des Fegefeuers – sozialisiert wurde) wurde tätige Reue als Unterdrückung des Gewissens, als Komplizenschaft und als Verrat verstanden: blasphemischste Gewalt war die Grundlage der sakramentalen, exkulpierenden Kraft (Zusammenhang mit der Individualisierung der Schuld und dem Personbegriff, Grund der verwalteten Welt). Referenzsystem wurde eine Moral, die an die Stelle der politischen Kritik (die ihr Maß am prophetischen Votum für die Armen und die Fremden, an der Idee der Gerechtigkeit und des Friedens hat) die Sexualmoral (die Ängste des erschreckten Subjekts, Produkt der Verinnerlichung und Vergeistigung des Terrors) ins Zentrum rückte.

  • 25.09.91

    Das Gebot „Du sollst nicht lügen“ scheint in der Thora nicht vorzukommen. Im Dekalog heißt es: „Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen“ (Ex 2016, Deut 520). In Lev 1911 heißt es: „Ihr sollt nicht stehlen, nicht täuschen und einander nicht betrügen“; diese Stelle bezieht sich offenkundig auf den gleichen Sachverhalt wie z.B. Deut 2513: „Du sollst in deinem Beutel nicht zwei verschiedene Gewichte haben, ein größeres und ein kleineres“; beide beziehen sich auf die auch beim Tausch zu beachtende Anerkennung des Eigentums des anderen. Im Übrigen scheint der Begriff der Lüge in der Schrift nur auf Herren und Propheten (beide verführen das Volk) angewandt zu werden, er bezeichnet keinen Tatbestand der Privatmoral. – Vergleiche damit die geschichtsnotorische Umkehrung im Christentum: Hier darf der kleine Mann, hier dürfen Kinder nicht lügen, während die, die oben sind, den Begriff der Armut für sich usurpieren: Mit ihnen sollen die Unterworfenen Mitleid haben (weil sie es anders in ihrem Selbstmitleid nicht aushalten): Grund der Bekenntnislogik, Paradigma der Identifikation mit dem Aggressor, Ursprung des „Gottesbildes“ (was muß das für ein Gott sein, der der Anerkennung durchs Bekenntnis der Gläubigen bedarf, der durch Blasphemie gekränkt werden kann, der das Lügen verbietet).
    Zur Kritik des Wahrheitsbegriffs: Der Wahrheitsbegriff, der Kindern das Lügen verbietet (und womöglich gleichzeitig das Petzen erlaubt, es darüber hinaus als Kronzeugenregelung nahelegt), vergöttlicht den Vater (den Staat), macht ihn fürs Kind (für den Bürger) allmächtig und allwissend, verschüttet die Quellen der kindlichen Phantasie, beraubt das Kind (den Bürger) der letzten Verteidigungsmöglichkeit, macht es (ihn) ohnmächtig: leugnet den Heiligen Geist. Was das Christentum für den Privat-(und Staats-)gebrauch so anziehend gemacht hat, hat zugleich den Grund für das falsche Begreifen der Welt gelegt, den falschen Weltbegriff fast unangreifbar gemacht. Wenn es ein Gebot, das das Lügen verbietet, gibt, dann kann es nur für Väter gelten.
    Zur Säkularisation des Begriffs der Tiefe und zum Systembegriff (oder Dornen und Disteln und das Gesetz der Profangeschichte): Der Begriff der Tiefe bezeichnet gegenüber dem Flächenhaften, Plakativen, prima facie die dritte räumliche Dimension (die dann allerdings zusammenhängt mit dem ableitenden Verfahren, mit dem Ursprung des Begründungszwangs: mit der Weigerung, eine Sache so zu nehmen, wie sie sich gibt, mit der Tendenz zu Unterstellung und Verdacht, Angst vor Verrat, Paranoia). Im Film fügt nach einer klugen Bemerkung von Edgar Morin die Musik den flächenhaften, bewegten Bilder die Tiefe, die dritte Dimension hinzu. Die Perspektive in der Malerei (die Eröffnung der Tiefe des Bildes) ist ein Reflex der Entdeckung des Inertialsystems, des Ursprungs der naturwissenschaftlichen Aufklärung, des Beginns der dynamischen „Erklärung“ der Naturerscheinungen (die in der Entdeckung des Gravitationssystems ihre erste kosmologische Erfüllung findet), ebenso des frühen Kapitalismus, der „Tiefe“, und d.h. in diesem Falle (wie auch im Falle der naturwisenschaftlichen Aufklärung): Systemcharakter (tendentielle Unwiderlegbarkeit) gewinnt durch die Subsumtion der Arbeit unters Tauschprinzip, die der Begründung des Systemcharakters des Inertialsystem entspricht. Die gleiche Tiefe, das Durchdringen der Oberfläche, zeigt sich in den literarischen Ursprüngen der psychologischen Erkenntnis, der Entdeckung der Spannung, die sich aus der Unterscheidung der Motive des anderen von seinem manifesten Verhalten ergibt (Aufhebung der Täuschung durch Enttäuschung: durch Aufklärung, die die Spannung auflöst, indem sie den Verbrecher dingfest macht) mit der realen, praktischen Konsequenz der Entwicklung von Verfahren der rationalen Bearbeitung des Verdachts: Ursprung und Entfaltung der Ermittlungsverfahren in der Inquisition; Übernahme dieser Verfahren in der wissenschaftlichen Forschung). Ihren letzten Ausdruck hat die säkularisierte Tiefe und die ihr zugrundeliegende Unterscheidung von manifester Oberfläche und Tiefe in der kantischen Unterscheidung der Erscheinungen von den Dingen an sich gefunden.
    Die romanhaften Züge der Josephs-Geschichte – das möglicherweise erste Beispiel der geschickten Gestaltung psychologischer Spannung, das an der historischen Stelle, an die es der biblische Text rückt, völlig anachronistisch ist – zeigen sich vor allem in der sentimentalen Wiedersehens-Szene vor der Übersiedlung der Jakobsstämme nach Ägypten. An dieser Szene ließe sich erstmals die Frage studieren, warum die Menschen im Kino weinen. Und diese Szene steht in einem erhabenen Kontrast zur Isaak-Geschichte. Zur richtigen Bewertung und Einordnung dieser Szene scheint es notwendig zu sein, darauf hinzuweisen, daß die schlaue Geschichte des Bauernlegens, der Enteignung der Landbevölkerung durch Joseph vorausgeht und die Versklavung der Hebräer durch den Pharao folgt.

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