Inquisition

  • 12.10.90

    Der Bekenntniszwang unterstellt die Identität von Denken und Handeln. Geäußerte Anschauungen sind aber nur noch als Vorurteile direkt handlungsbestimmend. Ihr Stellenwert ist mehr durch Rechtfertigungszwänge als durch ihren objektiven Wahrheitsanspruch bestimmt. Die Konstruktion der Gesellschaft verlegt das Selbstwertgefühl immer mehr in irrationale Bereiche. Das Verhältnis zur Wahrheit ist vollständig verwirrt. Sprachregelungen ersetzen Informationen und verhindern sie. Die bekenntnisorientierte Ketzerjagd trifft deshalb fast grundsätzlich schon die Falschen: die letzten Wahrheitssucher. (Genauer: Warum gibt es kein „wahres Bekenntnis“ mehr?) Geschichtsphilosophische Änderungen der Struktur und des Stellenwerts von Bekenntnissen. Öffentliche Bekenntnisforderungen haben mit der Wahrheit nichts mehr, umso mehr dagegen mit Unterwerfungsgesten zu tun. Geschichte des Bekenntnisses von der Homousia bis zum Radikalenerlaß.) Bezeichnend, daß Argumente nicht mehr widerlegt zu werden brauchen, sondern einfach verschwiegen, unterdrückt werden. Probleme sind allemal dezisionistisch zu lösen; Argumente haben nur noch Alibifunktion.

    Das Bekenntnis ist notwendig in einer Welt, in der es fürs verdinglichte Bewußtsein einen anderen Halt oder Schutz außer dem, den die Gemeinschaft bietet: die Kirche, das Volk, der Staat, nicht mehr gibt. Das Bekenntnis ist Ausdruck der Kälte und der Hoffnungslosigkeit, zu deren Inbegriff die Welt geworden ist. Das Bekenntnis, daß Jesus Gottes Sohn und selber Gott ist, hatte vielleicht einmal Bedeutung, als es noch Ausdruck des substantiellen Glaubens und der realen, auf den Zustand der Welt bezogenen Hoffnung war, daß seine Lehre und sein Leben den Ausblick auf ein Leben in Gerechtigkeit eröffnen. Von seiner Realitätsbezogenheit getrennt ist dieser Glaube zu einem abstrakten Zeichen geworden, das nur noch ein ebenso abstraktes wie verhängnisvoll wirksames Gemeinschaftsgefühl vermittelt (Bindung durch scheinhafte Exkulpation; Regression auf eine magische Stufe unter den Bedingungen von Zivilisation, durch Erzeugung der Ängste, die sie aufzuheben vorgibt; Wiederholungszwang, der durch Selbstverstärkung, durch Eigenbeschleunigung in einen gleichsam chaotischen Wirbel, eine panikauslösende und -verstärkende Situation hineinführt; eine Situation, die nur scheinbar durch das Bewußtsein, von einer „höheren Macht“ getragen zu sein, zu ertragen ist).

  • 11.10.90

    Ein Situation beenden, in der die Menschen nur Zuschauer oder Opfer der Welt und ihrer eigenen Geschichte sind (die Opfer sind das Gericht über die Zuschauenden).

    Die Forderung, daß Denken, Handeln und Fühlen mit einander übereinstimmen müssen, daß glaubwürdig nur ist, wer selbst so handelt, wie er es als allgemeinverbindlich in Diskussionen und Gesprächen vertritt, ist nicht zu halten.

    Das Argument Max Schelers, daß auch der Wegweiser den Weg nicht geht, den er weist, greift sicher zu kurz und ist zynisch. Umgekehrt ist’s richtig: Die absolute Forderung ist zumindest im Bewußtsein zu halten. Wenn man sie nicht erfüllt und sogar in wesentlichen Punkten nicht erfüllen kann, so ist das selbstverständlich Grund des schlechten Gewissens, und das darf man nicht verdrängen; mit diesem schlechten Gewissen, mit dieser Schuld muß man leben; das Unvermögen, das Nicht-Können ist keine Entschuldigung: Das ist der Realgrund dessen, was in der Bibel Gottesfurcht heißt.

    Die andere Möglichkeit, die absolute Forderung zu ermäßigen, da man sie doch nicht erfüllen und mit dem daraus folgenden schlechten Gewissen nicht leben kann, führt mit Sicherheit in die Katastrophe. Sie ist keine. Wer das Bewußtsein von Schuld nicht erträgt, dem bleibt nur das des pathologisch gute Gewissen.

    Kosmologie, Angelologie und Eschatologie (Apokalyptik) sind Teile eines Ganzen, aus dem man kein Stück herausbrechen kann, ohne das Ganze zu zerstören; nach der kopernikanischen Wende wäre schon aus diesem Grunde eine Überarbeitung und Revision der christlichen Theologie notwendig gewesen. So tun, als ob man alles übrige beibehalten könnte, wenn die Elemente des eschatologisch-apokalyptischen Konstrukts nicht mehr zu halten sind, verrät nur, wie wenig ernst man die eigene Tradition, von der man zu leben vorgibt, nimmt. Die Kirchen verdanken ihr Überleben nur der von den Oberen geschickt genutzten Massenträgheit ihrer Anhänger, deren Bremsweg länger ist als die Bremskraft der Kritik, der Gewissensprüfung, der theologischen Selbstverständigung.

    Das Bekenntnis der andern fordert der, der den Bekenntnisinhalt selbst nicht glaubt, aber zur eigenen Absicherung (um es selbst glauben zu können) die Zustimmung möglichst aller fordert. Der Nichtzustimmende gilt als Ketzer, ihn trifft die volle Wut, die eigentlich dem eigenen Verrat an der Wahrheit, der Selbstvergewaltigung dessen gilt, der zur Absicherung des eigenen Unglaubens das Bekenntnis fordert.

    Der Rosenkranz als Bekenntnis-Gebet; nur in rein katholischen Gegenden (nur hier funktioniert der kollektive Zwang); Wiederholung notwendig; Meditation als kollektiver Kitt, politischer Rosenkranz; Rosenkranz und Ontologie (Om Om, Gebetsmühle: Hegels Logik!); Fundamentalontologie und die Rosenkranz-Geheimnisse; Rosenkranz als Medium des Tauschs (Gelübde, Wallfahrten, Wunder). Rückführung auf Dominikus (Ketzer-Abgrenzung, Inquisition, Hexenverfolgung, Marienverehrung), realer Ursprung im 14. Jhdt., Zusammenhang mit Monstranz und Fronleichnam (Ursprung der Demonstration).

  • 02.09.90

    Die Abschaffung der Todesstrafe rührt an die Grundlagen des traditionellen Christentums: Die Opfertheologie als Instrumentalisierung des Kreuzestodes, die notwendig war zur Begründung und Rechtfertigung des Staates (mit dem Erfolg, oder auch um den Preis, daß sie die Gläubigen von der Nachfolge-, Märtyrer- und Opferseite auf die „Glaubens-„, „Bekenner-“ oder Täterseite transportierte), war seit je verbunden mit der Rechtfertigung der Todesstrafe, die nicht zufällig besonders exzessiv in der Juden-, Ketzer- und Hexenverfolgung angewandt wurde. – Aber heute gibt es bereits schlimmere Strafen als die Todesstrafe, mit der Tendenz der Verlagerung der Strafe vom Ende (vom Urteil) an den Anfang des Rechtsverfahrens (in den Ermittlungsbereich): Anwendung von Folter, Isolationshaft, Einschränkung der Verteidigung. – Theologische Konsequenzen daraus? Kafkas Grunderfahrung des „Angeklagten“ verschärft sich zur Erfahrung, nicht mehr nur angeklagt, sondern schon vor jeder Ermittlung verurteilt zu sein (Präzisierung des Begriff des Vorurteils). Was die Nazis an den Juden erprobt haben, wird heute fast in aller Welt an den „Staatsfeinden“ mit der gleichen paranoiden Rationalität exekutiert.

  • 27.08.90

    Der Rechtfertigungszwang (Bekenntniszwang) verändert auch das Gerechtfertigte (den Inhalt des Bekenntnisses): den Glauben, den man verteidigt (bekennt). Das wird deutlich an den Äußerungen jenes Anhängers Lefebvres, der die Wiedereinführung der Inquisition forderte und im Zusammenhang damit auch die Todesstrafe rechtfertigte. Zum apologetische Grundzug der Orthodoxie heute gehört offensichtlich auch die Erfahrung, daß eine Verteidigung der Lehre ohne die Hilfe äußerster Rechtsmittel wie Inquisition und Todesstrafe nicht mehr möglich ist. Zugrunde liegt eine Ohnmachtserfahrunmg, die sich anders nicht mehr zu helfen weiß. – Aber ist diese Ohnmachtserfahrung nicht doch real begründet? Und sind nicht die Anpassungstendenzen der modernen Theologie weniger eine Aufarbeitung als vielmehr eine Flucht vor dieser Ohnmacht?

    Das „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ ist die schärfste Kritik am Bekenntnis-Christentum. Das christliche Bekenntnis bedurfte seit je des Pharisäers als Verdrängungshilfe und Projektionsfigur, um die damit verbundenen Schuldgefühle loszuwerden.

    Wie hängen die Begriffe Bekenntnis und Symbolum zusammen? War das Bekenntnis der Vollzug einer Identifikation mit dem Aggressor, und der Formel-Inhalt das Zeichen (Symbol) dieser Identifikation?

    Der theologisch-soziale Doppelsinn des Opfer-Begriffs ist ein Hinweis darauf, daß das eigentliche Opfer das soziale und nicht das kultische ist. Das kultische ist nur die zugleich verdrängte Deckerinnerung ans soziale Opfer. Das Prophetenwort „Barmherzigkeit will Ich, nicht Opfer“ drückt genau das aus.

    Sind die Christen (die Katholiken) Gottesfresser? – Durch die Instrumentalisierung des Kreuzestodes in der Opfertheologie steigern wir die Last anstatt sie mitzutragen (Umkehr des Nachfolgegebots). Die Projektion auf die Juden im christlichen Antisemitismus (in der christlichen Judenfeindschaft) ist die genaue Folge davon, ist die projektive Verarbeitung, die nicht zufällig in Auschwitz endet.

    Gläubige Theologie wäre Theologie im Antlitz Gottes, hieße Theologie so betreiben, als wäre ER anwesend. Gläubige Theologie wäre Theologie als Gebet, Theologie, die Gott als Adressaten hat und jeden Satz vor IHM verantworten muß.

    Die Theologie spricht über Gott hinter seinem Rücken, d.h. sie glaubt nicht an seine Anwesenheit und muß sich deshalb ihrer Wahrheit durch kollektive Zustimmung versichern. (Zusammenhang mit dem Bekenntnis-Begriff!)

    Rosenzweigs Satz: „Von der Welt wissen wir nichts, und dieses Nichtwissen ist Nichtwissen von der Welt“ ist so abzuändern, zu ergänzen und zu verschärfen: „Die Welt ist der Grund unseres Nichtwissens“; es sind die (weltlichen) Bedingungen unseres Wissens, die unser Nichtwissen von Gott und Mensch zur Folge haben. – Das jedoch ändert Struktur und Zusammenhang des Rosenzweigschen Systemkonzepts. – Wäre diese Änderung in einem dann allerdings sehr weitreichenden Sinne christlich zu begründen?

    Liegt das Problem in Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ in der Ambivalenz seines Weltbegriffs? Anstelle Gott/Mensch/Welt: Gott/Himmel und Mensch/Erde? Müßte nicht die Summa contra gentiles neu geschrieben werden?

    Adornos Philosophie – vor allem seine Hegel-Kritik – ist der Versuch, den brennenden Dornbusch von innen zu beschreiben (vgl. Franz von Baaders Vergleich der Hegelschen Philosophie mit einem Autodafe).

    Titel-Vorschlag: Verwaltete Theologie oder Bemerkungen zum Begriff der Konfession.

    Ist der Taumelkelch, von dem die Propheten gelegentlich reden, die Philosophie (an der nach Hegel „kein Glied nicht trunken ist“).

    Ist jedes Bekenntnis die Antwort auf eine Anklage (und insoweit Schuldbekenntnis, jedoch ohne wirkliches Schuldbekenntnis): das Zwangsbekenntnis unterstellt, daß jeder (selbst der noch ungetaufte Säugling) zunächst einmal ein Ketzer ist?

    Die autoritäre Forderung des Bekenntnisses ist der Mißbrauch des Bekenntnisses. Sie unterstellt, daß der, dem das Bekenntnis abgefordert wird, grundsätzlich schuldig ist und davon durch das Bekenntnis sich freisprechen kann (vgl. hierzu auch Kant!). Ihr Ziel ist die Identifikation mit dem Aggressor, die absolute Heuchelei.

    Zwei Dinge, die die Neubegründung der Theologie notwendig machen:

    – Ihr Verhältnis zu den modernen Naturwissenschaften (Ausgangspunkt: die spezielle Relativitätstheorie Einsteins), und

    – ihr Verhältnis zu Auschwitz: Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“. – Der Knecht Gottes ist Israel, aber wir können es nicht wieder instrumentalisieren wie beim Kreuzestod Jesu.

    Theologie war in ihrer ganzen christlichen Geschichte der Versuch, hinter dem Rücken des lieben Gottes über ihn zu reden. Die Folgen liegen heute offen zutage. Theologie ist heute die offene Wunde, und nur wer das realisiert, ist befugt, Theologie zu betreiben. So wie Einstein die offene Wunde der Physik ist, während die gesamte pseudometaphysische Mikrophysik und Quantentheorie einschließlich der pseudomystischen Konsequenzen, die einige glaubten, daraus ziehen zu können, nichts anderes ist als die Instrumentalisierung dieser Wunde (Salz für die Wunde). Insofern ist allerdings die Quantenphysik in der Tat die Erbin und Nachfolgerin der europäischen Theologie.

    Den Begriff der Umkehr auf die Dogmatik anwenden. Hilfe wäre das „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“, das parakletische Denken; Frage, ob die gesamte Dogmatik zu retten ist.

    Die Aufspaltung der Eschatologie, die Trennung des Himmels oben von der zukünftigen Welt, ist historisch erledigt; ihr ist die Grundlage entzogen seit Kopernikus, seit Newton, seit dem Fall Galilei.

    Bekennen darf man nur, wo man geliebt wird; das Zwangsbekenntnis ist in einem letztlich auch kosmologischen Sinne der Grund des Übels.

    Verteidigendes Denken: Heute sind wir schon soweit, daß die Verteidigung eingeschränkt, teilweise ganz ausgeschlossen wird (u.a. bereits durch das Rechtsdogma von der Verteidigung als einem „Organ der Rechtspflege“, d.h. der Staatsräson, die es auch erforderlich machen kann, einem Vorurteil Rechtskraft zu verschaffen).

    Adornos Idee des Nichtidentischen, die Grundlage der Negativen Dialektik, steht in der prophetischen Tradition des Eintretens für den Armen und den Fremden. Diese Tradition wird übrigens unmittelbar aufgenommen und zitiert in der Analyse des autoritären Charakters, unter dem Titel „no pity for the poor“.

    Das Phänomen der aggresiven Sanftheit (Drewermann) wäre doch etwas genauer zu beschreiben: Grund ist das verdrängte, nicht aufgearbeitete Selbstmitleid.

    Die letzte moralische Barriere ist die Sprache; wenn die zerbricht, brechen alle Schranken; wie es scheint, ist es kein Zufall, daß die, die sich deutsch fühlen, des Deutschen in der Regel nicht mächtig sind (vgl. das in KuS zitierte antisemitische Flugblatt aus der Zeit des Vormärz).

    Gibt es eine Geschichte der Aufführungsform, der musikalischen Bearbeitung und Darbietung des Deutschland-Liedes. Kann es sein, daß die Form, in der es heute öffentlich dargeboten wird, die von den Nazis zusammen mit dem unsäglichen „Horst-Wessel-Lied“ für die öffentliche Darbietung eingerichtet wurde? Daß es sich sozusagen um die vom Horst-Wessel-Lied infizierte und vergiftete Version handelt?

    Läßt sich das historische Bekenntnis-Problem auch in der Musikgeschichte nachweisen (Entsinnlichung, Vergeistigung der Musik unter christlichem Einfluß, vgl. Kurt Blaukopf oder Wiora)?

    Die Übertragung der Schlüsselgewalt an Petrus (Mt 16,19, worauf übrigens die „strenge Weisung“ folgt: „niemand zu sagen, daß er der Messias sei“) begründet keinen Rechtstitel, sondern eine bis heute nicht wahrgenommene Pflicht.

    Wurden Marcion und die Gnosis nur deshalb so wütend abgewehrt, weil sie den Christen das Bild ihres verdrängten Selbstverständnisses vorhielten?

    Zum Problem des Islam: Gibt es im Islam die Idee eines moralischen Subjekts, des Gewissens? Hat der Islam das (aristotelische) Erbe der objektiven Vernunft angetreten und zugleich seine Widersprüche rein herausgearbeitet? Ist der erfolgs-, nicht moral-orientierte Politik-Begriff des Islam systembedingt? Ist der Islam im genauesten Sinne die Weltreligion?

    Zur Dornen und Distel-Tradition: Sündenfall, brennender Dornbusch, Jotam-Fabel, Gleichnis vom Weizen unter Dornen (Unkraut), Dornenkrone.

    – Der brennende Dornbusch: die brennende Innenerfahrung der Profangeschichte (Auschwitz); die genaue Beschreibung der Grundlage der Gotteserfahrung;

    – Dornenkrone: dieser König der Juden ist der König eines Reichs, das unter der und gegen die profangeschichtliche Herrschaft der Welt heranwächst;

    – Dornen und Disteln als Inbegriff der Welt (des katastrophischen Aspekts der Geschichte).

    Das „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“ als der Anfang der utopischen Kraft des Heiligen Geistes, des parakletischen Denkens.

    Hat Kant das Geheimnis der Trinitätslehre durch seine Entdeckung der Form der äußeren Anschauung prinzipiell bereits gelöst? Und hat dazu Einstein die notwendige Ergänzung und Korrektur geliefert? Ist die spezielle Relativitätstheorie eine Teilaspekt der objektiven Bedeutung des brennenden Dornbuschs?

    Der vielleicht entscheidende Satz zu Auschwitz stammt von Thomas von Aquin: „Parvus error in principio magnus est in fine“ (De ente et essentia).

    Der Haß auf das Alte Testament ist begründet im (projektiven) Herrenneid. (Grundlage ist – gegen den Sinn des Textes – ein autoritärer Gottesbegriff: Gott als der Herr der Geschichte, der man selber sein möchte). Das AT verträgt sich nicht mit einem kolonialistischen Geschichtsverständnis (wie klug sind wir doch heute, und wie dumm waren die vergangenen Geschlechter).

    Die Geschichte der Auseinandersetzung der Orthodoxie mit den Häresien ist Teil der Geschichte der Auseinandersetzung mit der Naherwartung der Parusie. Die Orthodoxie stand seit je unter dem Zwang, überlebensfähig zu bleiben in der Welt; sie stand damit immer in der Gefahr der Verweltlichung, der Identifikation mit dem Aggressor. Das Unkraut dessen Vernichtung Jesus dem Jüngsten Gericht vorbehalten hat, sind die Dornen und Disteln aus der Geschichte der Sündenfalls (es sind diese Dornen, unter die nach dem Gleichnis die Weizenkörner gefallen sind, die dann ersticken).

  • 14.04.90

    Wie kann man noch 1977 (im Jahre Stammheim) ein dreibändiges Werk mit dem Titel „Die Strukturen des Bösen“ schreiben, ohne Auschwitz, den Faschismus, den Antisemitismus, die Hexenverfolgung, die Inquisition, ohne Hitler, Himmler, Eichmann zu erwähnen, ohne „Die Banalität des Bösen“ von Hannah Arendt zu kennen (Rosemary Radford Ruethers „Brudermord und Nächstenliebe“ oder auch Ralph Giordanos „Zweite Schuld“ sind später erschienen): Ist nicht diese Art, Fachtheologie zu treiben, d.h. sich dabei um Gott und die Welt nicht kümmern, ein wesentliches Moment der „Strukturen des Bösen“? – Welches Böse meint Eugen Drewermannn eigentlich (nur das innerliche, private, psychologische, oder auch – wenn schon nicht zentral – das öffentliche: Wissenschaft, Ökonomie, Politik, die Welt)? Besteht nicht die Gefahr, daß er – wie die christlich-apologetische Geschichtsschreibung zum Ende des Römischen Reiches – den politischen Untergang auf die moralischen Verfehlungen der Menschen in dieser Zeit zurückführt?

  • 31.12.88

    Wenn der öffentliche Ankläger in der BRD „Staatsanwalt“, d.h. Anwalt des Staates, ist, so ist der Staat das Prinzip der Anklage; darin gründet das mythische, schicksalhafte Wesen des Staates und des Rechts. Der Heilige Geist – als Paraklet – ist die staatszersetzende und -auflösende Gewalt, und die Beschneidung der Rechte der Angeklagten und der Verteidigung die Sünde wider den Heiligen Geist.

    Vgl. Ingo Müller „Furchtbare Juristen“, S. 15: „… eine Institution …, von der sich die Liberalen zunächst sogar eine unabhängigere Rechtsprechung erhofft hatten, weil mit ihr der absolutistische Inquisitionsprozeß abgelöst wurde: die 1849 nach französischem Vorbild eingeführte Staatsanwaltschaft. Sie erwies sich jedoch schon bald als ‚eine der schneidigsten Waffen der bürokratischen Reaktion‘ (H. Hefter: Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, 1950).“

  • 29.10.89

    „Umkehr“ ist ein Grundbegriff der (jüdisch-)christlichen Tradition. Ein Grundbegriff nicht nur mit moralisch-praktischer Bedeutung, sondern auch (ja, heute in wachsendem Maße) mit theoretisch-erkenntnistheoretischer Bedeutung. Umkehr ist – das hat Franz Rosenzweig als erster begriffen und dargestellt – der Grundbegriff einer erneuerten Theologie. Die christliche Theologie – vor allem in ihrer dogmatischen (ketzerfeindlichen, inquisitorischen) Tradition – war und ist für Herrschaftszwecke nur deshalb tauglich, weil sie mit der Umkehr ein für jede theologische Erkenntnis konstitutives (und jedes theologische „Wissen“, den theologischen Physikalismus und Objektivismus auflösendes) Moment im theologischen Erkenntnisprozeß unterschlägt, tabuisiert. So wurde Theologie selbst zu einer Verhinderung der Gotteserkenntnis, mehr noch: zu einer in letzter Instanz blasphemischen Institution.
    Heute wird es deutlich: Das Gravitationszentrum, dem eine Theologie zustrebt, die glaubt, von der Umkehr absehen, davon abstrahieren zu können, ist, wie jeder Fundamentalismus beweist, der Faschismus als instrumentalisierte Religion. Übrig bleibt, da Umkehr aus dem Religionsbegriff nicht herausgenommen werden kann, die Umkehr für andere (Produkt der Anwendung der Hegelschen Reflexionsbegriffe auf die Religion, ihrer Selbstentfremdung; Verwandlung von Religion in Geschwätz), d.h. Religion als Unterdrückungsmaschine (die Analyse dieser Unterdrückungsmaschine, gewissermaßen ihrer physikalisch-technischen Grundlagen und Elemente, wäre ein Teil der heute notwendigen theologischen Selbstverständigung).
    Wissen (Wissenschaft) ist Erkenntnis für andere, seine (ihre) Grundlage jene Kategorien und Begriffe, die Kant in der transzendentalen Logik und Hegel unter dem Titel Reflexionsbegriffe beschreibt. Die gesamte Geschichte der Erkenntnis steht unter dem Gesetz des Widerspruchs von Erkenntnis und Wissen, der nach Hegel den Erkenntnis“prozeß“ auslöst und vorantreibt; dieser Widerspruch (als Widerspruch zwischen An sich und Für uns) ist im Bereich der Reflexionsbegriffe notwendig und unvermeidbar. (Vgl. Walter Benjamins Hinweise zum Begriff des Wissens.)
    Das immanente Telos der Wissenschaft, ihr Gravitationszentrum, ist die Naturwissenschaft. Das hier produzierte Wissen ist nur noch Wissen für andere, dem Erkenntnis im ursprünglichen Sinne nicht mehr entspricht. Der Positivismus ist Konsequenz und Ausdruck dieses Sachverhalts. Begründet ist dieser Sachverhalt in der Funktion der von Kant erstmals ins Bewußtsein gehobenen (aber dann bis heute unaufgearbeiteten) Formen der Anschauung. (Interessant ist die auf Kant folgende Raumdiskussion, die offensichtlich die Irritation der Kantischen Transzendentalphilosophie verdrängen sollte; wobei jedoch die sogenannten nichteuklidischen Geometrien nur mit Verallgemeinerungen von Grundstrukturen, die nur innerhalb der euklidischen Geometrie sich definieren lassen, arbeiten, während die zentrale Irritation – die Dreidimensionalität des Raumes und ihr Zusammenhang mit der irreversiblen Zeit – unerörtert geblieben ist. Genau hier aber, im Kontext des mathematischen Korrelats der Formen der Anschauung, des Inertialsystems, liegt der Konstitutionsgrund für das Ordnungsprinzip und den besonderen Wissenschaftscharakter der Naturwissenschaften: das Wissen für andere und seine Identität mit dem Herrschaftswissen, den Zusammenhang von Objektivation und Instrumentalisierung sowie seine Zeitform: die Einheit der Vergangenheitsform, die dem Wissen den Charakter der Unveränderlichkeit verleiht, es im strengen Sinne aus dem gleichen Grunde überhaupt erst zum Wissen macht, aus dem eine Anwendung des Wissensbegriffs auf die Theologie als blasphemisch zu verwerfen ist: Gott läßt sich in keinem Sinne als vergangen denken, und theologisch ist alle Geschichte nur Vorgeschichte.)
    Das Anwachsen der Verwaltung und deren zunehmend kontraproduktive Tätigkeit hängt mit der Struktur der Verwaltung (hierarchische Organisation, Kompetenzverteilung, Zuständigkeitsregelung, Mitzeichnungsverfahren) zusammen. Hier entsteht und stabilisiert sich eine Mentalität, ein Weltbegriff, deren Endzweck die Selbstentlastung, die präjudizierende Selbstrechtfertigung, letztlich eine Art institutionalisierter Ideologie zu sein scheint. Ob die Entscheidung das Problem löst, ist zweitrangig, vor allem muß sie unangreifbar sein (so unangreifbar wie das methodisch abgesicherte Wissen der Wissenschaft). Hinzu kommt, daß die Probleme selbst, die durch Verwaltung gelöst werden sollen (z.B. im Agrarbereich), aus objektiven Gründen fast nur noch exkulpatorische Maßnahmen zulassen. Zusammenhang von Verwaltung und Wissenschaft? – Auswirkungen der zunehmenden Rationalisierung, Anwendung elektronischer Informations- und Kommunikationstechniken.
    Woher kommt es, daß EDV-Spezialisten so große Probleme mit der Sprache, mit der Fähigkeit, die eigenen Produkte verständlich zu erklären, haben (vgl. die Hard- und Software-Handbücher). Das Problem gleicht dem, das Physiker auch zu haben scheinen bei dem Versuch, ihr Objekt anderen verständlich zu machen.
    Das Recht und die Verwaltung, oder allgemeiner die Institutionen begründen das Inertialsystem, in dem gesellschaftliches Handeln sich definiert.

  • 01.09.89

    Antisemitismus, Ketzerverfolgung und Frauenfeindschaft: die Kehrseite der Trinitätslehre und der Inbegriff der Sünde wider den Heiligen Geist zugleich?

    – Antisemitismus: der Haß gegen die Vaterimago, gegen das Gewissen, oder die falsche Autonomie (der Schatten des Absoluten? – vgl. Lyotard: Heidegger und die Juden);

    – Ketzerverfolgung (Dogma, Bekenntnis, Inquisition; Jesus selbst ein Ketzer?: er erscheint nur als Objekt im Credo – „geboren, gekreuzigt, gestorben und begraben“): die kirchliche Usurpation des Gerichts, Entäußerung als Selbstentfremdung (Vernichtung des Inhalts), Religion als Blasphemie (Selbstzerstörung durchs richtende Urteil, Rezeption der Philosophie als „Empörung“, Rückfall in den Mythos aus Angst vor dem Mythos);

    – Frauenfeindschaft (Sexismus), Hexenverfolgung: Diskriminierung des Trostes, der Hilfe, der Empathie, des verteidigenden, Parakletischen Denkens (Rückfall in Magie aus Angst vor der Magie). – Besondere Affinität (Parallelität) der Geschichte des Dogmas zur Stabilisierung des Patriarchats und zur Diskriminierung der Frauen im Christentum?

    Trinitätslehre: an der Welt gespiegelte Theologie, solange gültig wie die Weltgeschichte (= Herrschaftsgeschichte), oder solange gültig wie die episkopale (= weltliche) Verfassung der Kirche? – Christus nur bis zum „Ende der Welt“ bei der Kirche (vgl. Rosenzweig, Briefe S. 73f). Trinitätslehre als notwendige Konsequenz der Subsumtion der Theologie unter die Vergangenheit, Vergangenheitsform der theologischen Wahrheit (Instrumentalisierung wie Naturwissenschaft; Christentum als Ausbildung einer Theologie des futurum perfectum).

    „Macht Euch die Erde untertan“: Es heißt nicht: macht Euch den Himmel untertan (das entscheidende Argument gegen das Dogma!) – Aber die unterworfene Erde ist zur Welt, zum Universum geworden und hat den Himmel zum Verschwinden gebracht (das Dogma als Reliquie des Himmels?).

    David-König (Messias)/Cäsar-Kaiser (Imperialismus): Ursprung der politischen Theologie. Seit wann ist Kyrios ein Gottesname?

    Disteln und Dornen/Dornbusch/Dornenkrone: vgl. den Dornbusch in der Jotam-Fabel (Königsfabel, Ri 9,8) und bei Deutero-Isaias: „Zypressen wachsen statt des Dornengestrüpps“ (Is 55,13).

    Ursprung der Schrift: Zusammenhang mit dem Ursprung der Städte (vgl. die Kainsgeschichte), der Geldwirtschaft, des Königtums? (Weltlich wird die Welt durch die Stadt als logisches und transzendentales Zentrum – als Inertialsystem.)

    Trier, Liebfrauenkirche: der Heilige Geist als Stuka (Ähnlichkeit mit der ästhetischen Form der unsäglichen Raketen-Madonna).

    „Mühselig“ (selig der Mühe: Entschuldung, Versöhnung durch Arbeit als zentrale Denkfigur der Herren-/Opfer-Theologie, vorauseilende Anpassung an Lohnarbeit und Kapitalismus? Arbeit und Erbschuld – vgl. armselig), „Misericordia“ (Barmherzigkeit, ein Herz für die Armen?):

  • 26.05.89

    Die „Entkonfessionalisierung“ der Kirche(n) schließt insbesondere den Verzicht auf (Formel-)Bekenntnisse mit ein; diese schaffen den blinden Fleck, der die Gotteserkenntnis verhindert; anders formuliert: sie schützen die Kirche(n) vor der Gotteserkenntnis, die ihren institutionellen Bestand gefährdet. Formelbekenntnisse sind das Produkt der Instrumentalisierung, sie sind somit Herrschaftsmittel und (im theologischen wie auch im politischen Gebrauch) blasphemisch und totalitär, und sie sind ein Alibi für das reale Bekenntnis, das notwendig wäre: Man kann davon ausgehen, daß immer, wenn ein Formelbekenntnis gefordert wird, das Bekenntnis einer realen Schuld projektiv verdrängt werden soll. – Gibt es Wichtigeres als die Entkonfessionalisierung der Kirche(n), und gibt es überhaupt noch ein anderes Mittel der Ökumene? – Die Entkonfessionalisierung wäre der Beginn der Abschaffung jeglicher Inquisition.

    Aus welchem Grunde ergab sich der Bekenntniszwang in den ersten christlichen Jahrhunderten? (Hypostasierung Jesu, Antisemitismus; Instrumentalisierung des Christentums zur Herrschaftsreligion)

  • 23.04.89

    Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Vorstellung des „schwarzen Lochs“ und der der Hohlraumstrahlung (Plancksche Strahlungsformel)?

    Nachmittags Spaziergang mit Gespräch über Gott, Paradies, Sündenfall; Erkennen was gut und böse ist, dagegen: „Richtet nicht …“; Fortschritt als unaufhaltsamer Sündenfall; Wissen. Empörung, Luzifer. Keine Errettung, die nicht auch in die Vergangenheit eingreift („ist angesichts der Leichenberge, auf denen wir stehen, anders eine Errettung denkbar“); Schlüsselgewalt Petri, der Kirche: Was Du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein: sie hat bis heute keinen Gebrauch davon gemacht; Voraussetzung wäre die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit (Antisemitismus, Konstantin, Bekehrung Europas und der Welt durch Gewalt, Ketzer- und Hexenverfolgung); Ohnmacht Gottes, leidender Gott.

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