Jaynes

  • 22.5.1995

    Die „Trennung … zwischen Geschäften einerseits … und jenem Umgang andererseits, der die Privatpersonen als Publikum verbindet“, von der Habermas (Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 248) spricht, ist der euphemistische Ausdruck eines ganz anderen Sachverhalts: Die Tretmühle der lohnabhängigen Arbeit schließt jene Autonomie aus, die die heute übrigens selber bereits ideologische Grundlage von „Geschäften“ ist. Und der „Umgang“, der diese „Privatpersonen als Publikum verbindet“, ist die vollendete Heteronomie: Er gehorcht den Imperativen von Reklame und Kulturindustrie, die auch die traditionellen Kontrollmechanismen der Nachbarschaften, der Stände, der „Volks“- und Religionsgemeinschaften in ihre Regie genommen haben. Ideologie ist nicht mehr nur das falsche Bewußtsein, das durch Aufklärung zu berichtigen wäre, sondern die Verfassung der Öffentlichkeit und der sie konstituierenden Institutionen selber, die die Wahrnehmung und das Denken der Menschen bestimmen.
    Das stumme Innere des gesellschaftlichen Lebensprozesses, an das heute keine Reflexion mehr heranzureichen scheint, bestimmt das Verhalten der Menschen ähnlich wie das stumme Innere der Gattung das Instinktverhalten der Tiere.
    Die Sünde der Welt: Ist nicht die Grenze zwischen mir und den Andern die Grenze zwischen Täter und Opfern? Und das ist die fatale Funktion des Weltbegriffs, unter dessen Herrschaft ich mich als Anderer für Andere erfahre, daß er das Selbstmitleid (das Bewußtsein, Opfer der Verhältnisse zu sein) erzeugt, das heute alle Erfahrung durchtränkt. Der Weltbegriff hat die Liebe von der Barmherzigkeit getrennt, die so zum Selbstmitleid, zur Sentimentalität, verkommen ist.
    Das Prinzip der Selbsterhaltung, das den Weltbegriff begründet, ist zugleich der Grund wie auch eine Rationalisierung des Selbstmitleids.
    Zum Problem der Öffentlichkeit: Öffentlich wird die Wahrheit in der Gestalt des Urteils. Urteile aber sind beweisbedürftig und beweispflichtig. So definiert die Grenze des Beweises die Grenze der Wahrheit, die damit unter Rechtfertigungszwang gestellt wird.
    Der Weltbegriff ist der Inbegriff des Herrendenkens, der Naturbegriff der Inbegriff aller seiner Objekte. Damit hängt das zusammen, was man die christologische Struktur des Naturbegriffs nennen könnte, der unter dem Zwang dieser logischen Konstellation
    – im Objektbegriff das Substrat von Herrschaft: das reine Opfer,
    – im Kausalitätsprinzip den Ursprung von allem: den Schein des Schöpferischen und
    – im Gesetz der Gegenständlichkeit die Totalität dessen, was dem gesellschaftlichen Schuldzusammenhang enthoben zu sein scheint: den Schein der Erlösung,
    bezeichnet.
    Ist nicht die kantische Bemerkung, daß die Begriffe Welt und Natur „gelegentlich ineinander laufen“ ein spätes Echo der homousia?
    Ist die „Feste des Himmels“ die Manifestation der gleichen Gewalt, die uns den Weg in die Vergangenheit versperrt? Und verweist dann nicht das Wort, daß am Ende der Himmel wie eine Buchrolle sich aufrollt, zusammen mit der Aufhebung der Logik der Schrift (mit der Erfüllung des Worts) auf die Befreiung des Vergangenen: die Auferstehung der Toten?
    In welcher Beziehung stehen Benvenistes „indoeuropäische Institutionen“ zur indoeuropäischen Sprachlogik (zu Ursprung und Geshichte der indoeuropäischen Grammatik), und in welcher Beziehung steht diese Sprachlogik zu Ursprung und Geschichte der Logik der Schrift (zu ihrer institutionellen Verankerung in der Gesellschaft)?
    Kann man die indogermanische Sprachlogik von der „hebräischen“ dadurch unterscheiden, daß, während jene der Logik der Schrift gehorcht, ihr in der Entwicklung der indoeuropäischen Sprachen fortschreitend sich angleicht, diese die Logik der Schrift zugleich in symbolischer Gegenständlichkeit (in den Symbolen der Schlange, des Kelches u.ä.) objektiviert: Der Name der „hebräischen“ Schrift ist hierin (in der Fremdheit gegen ihr eigenes Ursprungsgesetz) begründet. Rührt diese Konstellation nicht an den Grund der Logik der symbolischen Erkenntnis?
    In der Weltanschauung begreift sich die Bekenntnislogik als subjektive Form der Anschauung: als Instrument der Bildung synthetischer Urteile apriori. War nicht die Apologetik eine der Wurzeln der Reklame, die den Übergang von der logischen Konstruktion zur technisch-industriellen Massenproduktion synthetischer Urteile apriori bezeichnet.
    Schrift und Geschmack: Die Fähigkeit zur Reflexion der Schrift hängt zusammen mit der Fähigkeit zur Reflexion des Geschmacks.
    Zum Symbol des Kelchs: Wenn das Kelchsymbol auf die transzendentale Ästhetik: auf die subjektiven Formen der Anschauung sich bezieht, auf den ästhetischen Bedingungszusammenhang der Vergegenständlichung, so läßt sich das auf den einfachen Nenner: Subsumtion unter die Vergangenheit bringen. Stimmen damit nicht die Attribute des Kelchs: Taumelbecher, Kelch des göttlichen Zorns, des Grimms, und Unzuchtsbecher aufs genaueste zusammen? Der Kelch bezeichnet das Medium, in dem (im Sinne des Titels von Julian Jaynes) der „Ursprung des Bewußtseins“ zu suchen ist: der Ursprung des Bewußtseins, das auf eine vergegenständlichte Welt sich bezieht.

  • 18.06.93

    Kann es sein, daß, wenn auch die Gottesfurcht, die Umkehr und das Nachfolgegebot beim Paulus nicht vorkommen, sie aber dennoch die Grundlage seiner Theologie sind und diese anders nur mißverstanden werden kann? Aber ist dann dieses Mißverständnis nicht die Grundlage der kirchlichen, dogmatischen Bekenntnis-Theologie?
    Hat die augustinische Vorstellung, daß zum Glück der Seligen im Himmel der Anblick des Leidens der Verdammten dazugehört, etwas mit dem Hegelschen Satz, daß die bürgerliche Gesellschaft bei all ihrem Reichtum nicht reich genug ist, der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern, zu tun? Und weist das nicht darauf hin, daß die Rezeption der paulinischen Theologie von Anfang an durchs Tauschprinzip verhext war? Ist nicht das entsetzliche Mißverständnis der paulinischen Theologie noch eine Schicht tiefer anzusetzen, als Hans-Joachim Schoeps es tut, nämlich als die Verfälschung eines völlig unverständlich gewordenen symbolischen Konstrukts durch den Tauschprinzip-Realismus. Das wäre insbesondere anhand der Christologie und der Opfertheologie zu demonstrieren. Es käme vor allem darauf an, endlich die Kelch- und Blut-Symbolik genauer herauszupräparieren, sie aus der „Metzger-Theologie“ herauszulösen, und endlich von den kannibalischen Aspekten der Eucharistie-Lehre loszukommen.
    Zu dem Satz „Ein Fluch Gottes ist der Gepfählte“ gehört auch das Wort vom Zornesbecher und Taumelkelch. Beides hängt mit dem Problem der Scham (der Schande), dem „Hinter dem Rücken“ und der Übernahme der Sünden der Welt zusammen.
    Die wirklich gefährlichen Sätze, wonach Sühne nur durch das Blut geleistet werden kann, und daß Erlösung die Reinwaschung durch das Blut einschließt, daß Erlösung (nur?) auf die Vergebung der Sünden abziele (anstatt auf die Rettung der Welt), begründen die ungeheuerlichen Mißverständnisse, von denen die Kirche und ihre Lehre seitdem nicht mehr losgekommen ist.
    Durch den Tauschprinzip-Realismus ist das Erlösungskonzept, das etwas ganz anderes meinte: nicht die Erlösung von der „entsühnten“ Welt, sondern die Rettung der Menschen mit der Welt, in ein Herrschaftsinstrument umgewandelt worden.
    Der von Schoeps zitierte Satz aus der rabbinischen Tradition, wonach „die Tore der Umkehr … niemals geschlossen“ sein werden (S. 313), ist die jüdische Entsprechung zum dem christlichen „Die Pforten der Hölle werden sie nie überwältigen“.
    Die Mathematik erinnert an die Geschichte von Hase und Igel: Die Mathematik ist der Igel, der, wo der Hase auch hinrennt, rufen kann: Ick bün all do. Und der Hase rennt sich die Seele aus dem Leibe. Aber sollten wir nicht doch endlich die Partei des Hasen und nicht die des Igels ergreifen?
    Nach Wahlen gab es immer die „Elefanten-Runden“, welche Bezeichnung den Sachverhalt sehr genau traf: Sind nicht Elefanten dickfellig, empfindlich und nachtragend? Aber verstärkt sich heute nicht der zusätzliche Eindruck, daß Kohl immer mehr dazu neigt, sich mit Elefanten-Babys zu umgeben? Eine physiognomische Beurteilung des männlichen Teils des Kabinetts Kohl (die FDP-Minister eingeschlossen) wäre zweifellos vernichtend. Man weiß eigentlich nicht mehr, mit welchen Organen diese Politiker hören (genau so, wie es immer unerfindlicher wird, weshalb Bundestagsdebatten in den Medien übertragen werden).
    Der Fehler des Julian Jaynes („Ursprung des Bewußtseins“) liegt darin, daß er das Produkt des entfremdeten Bewußtseins, das Unbewußte, in den Ursprung des Bewußtseins hineinprojiziert, eine Rückkoppelung vornimmt, die so nicht zulässig ist.
    Ist nicht das apokalyptische Tier, sind nicht die verschiedenen Gestalten des apokalyptischen Tieres aus sprachlichen Sachverhalten zu rekonstruieren, und zwar genauer aus den Mechanismen der Vergesellschaftung und Instrumentalisierung der Sprache, mit der Mathematik im Kern? Ihr Platzhalter im Subjekt sind die kantischen subjektiven Formen der Anschauung. Die subjektiven Formen der Anschauung gewinnen diese Funktion erst durch die Trennung des Anschauens vom Licht, nach dem Herauspräparieren des Angeschautwerdens aus dem Anschauen, nach dem Herauspräparieren der Scham und der Schuld und deren gegenständliche Neutralisierung im Begriff der Materie: durch die Zerstörung des Angesichts; bezieht sich hierauf nicht das biblische Symbol des Blutes? Das Verbot des Blutvergießens und das des Genießens von Blut meint eigentlich das Verbot, sich jener Paranoia zu überantworten, aus der der Materiebegriff entspringt (Zusammenhang mit dem Naturbegriff und mit dem Gebrauch des Namens der Barbaren). Wer Blut genießt, trinkt vom Taumelbecher des göttlichen Zorns. Hier liegt die Lösung des Rätsels der Genesis der Mordlust. Was der neue Katechismus „bedauerliche Vorkommnisse“ nennt, sind die Folgen davon, daß die Kirche den Kelch getrunken hat.
    Der Tauschprinzip-Realismus ist transzendentallogisch in den subjektiven Formen der Anschauung begründet, verstärkt durch die These, daß diese der kritischen Reflexion sich entziehen. Er läuft auf die dann ebenfalls nicht mehr reflektierbare Konsequenz hinaus, daß Umkehr nicht möglich sei, und auf die Leugnung des Satzes, daß die Pforten der Hölle sie (die Kirche) nicht überwältigen werden. Unter dem Gesetz dieses Tauschprinzip-Realismus steht schon das augustinische „ad litteram“. Es steht schon unter dem Gesetz des Nominalismus, der Zerstörung der benennenden Kraft der Sprache.
    Wer vor der Gottesfurcht flieht, kann sich aus der Unschuldsfalle nicht mehr retten. Zu Paulus und zur dogmatischen Tradition der Christologie und Opfertheologie: Zu klären wären ihre Beziehungen zur Gottesfurcht, zur Umkehr und zum Nachfolge-Gebot.

  • 11.06.93

    „Wo Es ist, soll Ich werden.“ Das Unbewußte verhält sich zum Bewußtsein wie das Nicht-Ich zum Ich: Es ist Teil eines transzendentalen Systems; es gibt kein Unbewußtes ohne Bewußtsein, kein Es ohne Ich (kein Objekt ohne Begriff, keine Natur ohne Welt). Was beide trennt, hat einen Namen: das Urteil (biblisch: Baum der Erkenntnis). Freuds Aufforderung zieht seine Kraft aus dem, was einmal Umkehr hieß.
    Die Beweisführung Julian Jaynes‘ zieht ihre Kraft aus der Zweideutigkeit des Begriffs des Bewußtseins: Er setzt das Unbewußte, daß sie doch erst in der Beziehung zum Bewußtsein (in einer bestimmbaren geschichtlichen Periode) konstituiert, als vom Bewußtsein getrennte Natur, das dann zwangsläufig (wie der Rassismus der Nazis) in der Biologie anzusiedeln ist.
    „Wenn die Welt euch haßt“: Der Haß der Welt konstituiert die Natur; so leugnet der Weltbegriff die Schöpfung. Aber der Naturbegriff leugnet die Auferstehung: der Haß der Welt, in dem er sich konstituiert, trifft die Fähigkeit zu hören, auf die die Idee der Auferstehung sich bezieht, tödlich. Der evangelische Rat des Gehorsams, der diese Fähigkeit zu hören (das „Heute, wenn ihr meine Stimme hört“) meinte, ist erst durch die kirchlich-theologische Rezeption des Weltbegriffs (durch den kirchlichen Selbsthaß) zum bloßen Gehorsam, dem christlichen Pendant des Islam, verkommen. Deshalb ist die Idee der Auferstehung grundlos geworden. Aber hier wird erstmals deutlich, worauf sich der Satz von der „Sünde wider den Heiligen Geist“ bezieht: auf die Identifikation mit dem „Haß der Welt“.
    Ihr Natursein ist der Grund, weshalb die Schöpfung seufzt und in Wehen liegt.
    Der theologische Kompromiß der creatio mundi war keiner, sondern hat die Opferfalle (den Naturbegriff) eröffnet, aus der die Theologie sich bis heute nicht hat befreien können. Aber: die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen!
    Schelers Wertphilosophie wird aufs genaueste durch die Umkehrung eines Sprichwortes getroffen: Viele Breie verderben den Koch.
    Wer ist in einem Karussel vorn und wer ist hinten?
    Stand das Schwert, mit dem Alexander den gordischen Knoten durchschlagen hat, in der Tradition des kreisenden Flammenschwerts? Mit der Durchschlagung des Knotens wurde das Retten gegenstandslos.
    Die Kirche, die zu den Urhebern der Verweltlichung der Welt gehört, ist die Kirche der dreifachen Leugnung.
    „Verflucht beim Herrn sei der Mann, der es unternimmt, Jericho wieder aufzubauen. Seinen Erstgeborenen soll es ihn kosten. wenn er sie neu gründet, und seinen Jüngsten, wenn er ihre Tore wieder aufrichtet.“ (Jos 626) „In seinen Tagen baute Hiel aus Bet-el Jericho wieder auf. Um den Preis seines Erstgeborenen Abiram legte er die Fundamente, und um den Preis seines jüngsten Sohnes Segub setzte er die Tore ein, wie es der Herr durch Josua, den Sohn Nuns, vorausgesagt hatte.“ (1 Kön 1634) -Jericho ist die Palmenstadt?
    Zur Abtreibungsdiskussion vgl. Mt 2415ff: Wenn ihr den Greuel am heiligen Ort stehen seht, der durch den Propheten Daniel (927, 1131, 1211, H.H.) vorhergesagt worden ist – der Leser begreife -, dann sollen die Bewohner von Judäa in die Berge fliehen; … Weh aber den Frauen, die in jenen Tagen schwanger sind oder ein Kind stillen. Betet darum, daß ihr nicht im Winter oder an einem Sabbat fliehen müßt. Denn es wird eine so große Not kommen, wie es noch nie eine gegeben hat, seit die Welt besteht, und wie es auch keine mehr geben wird. Und wenn jene Zeit nicht verkürzt würde, dann würde kein Mensch gerettet werden; doch um der Auserwählten willen wird jene Zeit verkürzt werden.
    Urknall-Theorie: Die Physiker projizieren ihre eigene Dummheit in die Dinge. Bei den globalen Theorien werden alle Differenzierungen, ohne die Detailforschung nicht mehr denkbar ist, vergessen; übrig bleiben der leere Raum und die Frage, wie die Materie da hinein gekommen ist. Im Hinterkopf haben sie die „christliche“ Vorstellung der creatio mundi ex nihilo, und zu diesem „nihil absolutum“, wie Kant es genannt hat, fällt ihnen nur der leere Raum, in dem „nichts drin“ ist, ein. Aber physikalische Anfänge gibt es nur innerhalb des Systems, in dem alle physikalischen Begriffe, Erscheinungen und Gesetze überhaupt erst sich konstituieren, und das absolute Anfänge per definitionem ausschließt: im Inertialsystem, während ein realer kosmischer Anfang auch den des Raumes und der Zeit mit enthalten müßte.

  • 02.06.93

    Merkwürdig, daß zur Erklärung der Zivilisationsschwelle konkretistische Ansätze (Velikovsky/Heinsohn: Venus-Katastrophe, Julian Jaynes: Bikamerale Psyche) gelegentlich weiterhelfen können.

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