Judentum

  • 02.08.91

    Was das Christentum vom Judentum unterscheidet, ist die Antwort auf eine im wörtlichen Sinne welthistorische Zeitenwende: die Antwort auf den Beginn und die Folgen des durch Philosophie und Politik konstituierten Säkularisationsprozesses. Auf den hier begründeten und entsprungen Weltbegriff bezieht sich das Neue am Christentum, das hier erst möglich (und notwendig) war: die Übernahme der Schuld der „Welt“ durch Jesus und das darauf sich beziehende Nachfolge-Gebot. Nur so war die jüdische Tradition nach dem Einbruch des Hellenismus und des Römischen Imperiums zu retten. Die Welt, die hier entspringt, ist tatsächlich aus dem Nichts erschaffen, aber nicht durch Gott, sondern durch den Demiurgen, den Staat. Gott hat nicht die Welt, sondern „Himmel und Erde“ erschaffen; die Welt hingegen ist Erbe und Inbegriff dessen, was bei den Propheten Götzendienst hieß: Produkt von Subjektivität, Folge der verdrängten Zukunft, Himmel und Erde ohne Himmel.
    Symbolisiert das „Gesetz“ bei Paulus (insbesondere in der Erbsünden- und Erlösungslehre des Römerbriefes) die „Welt“ – und nicht nur das „Gesetz der Juden“ (Ursprung des kirchlichen Antijudaismus, Projektion); ist der Ursprung des Gesetzes (der Zaun der Tora) schon ein Reflex auf die Verweltlichung der Welt, Korrelat des Gesetzes der Profangeschichte (Objektivation und Verdinglichung, Herrschaft des Tauschprinzips, entfremdetes Bekenntnis, Inertialsystem, Herrschafts-, Schuld- und Verblendungszusammenhang, „Dornen und Disteln“)?

  • 25.04.91

    „Auf der anderen Seite steht überhaupt ein Verzicht auf theologische Theoriebildung über das Judentum und das christlich-jüdische Verhältnis; man strebt eine rein praktische Beziehung an …: ein offenes gegenseitiges Lernverhältnis … Bekenntnis ist immer Negation eines anderen, während Lernen mich immer in meine Schranken verweist.“ (Friedrich-Wilhelm Marquardt: Verwegenheiten, S. 276) Nicht nur „Verzicht auf theologische Theoriebildung über das Judentum“, sondern allgemein: Korrektur des theologischen Theoriebegriffs, soweit er Theorie „Über“, d.h. hinter dem Rücken seines Objekts sein will: soweit er am szientifischen Objektivationsprozeß sich orientiert. Nicht nur am Beispiel Judentum, sondern am gesamten Inhalt der Theologie muß sich ein Lernen bewähren, das den Komfort des begrifflichen Erkennens, auch wenn auf ihn ohne Gefahr der Regression nicht verzichtet werden darf, als Sünde wider den Heiligen Geist begreift: durch den erreichten Stand des historischen Objektivationsprozesses hindurch (und nach vorbehaltloser Rezeption der nominalistischen Philosophiekritik, allerdings ohne die kurzschlüssige Konsequenz, der Name sei nur flatus vocis, „Schall und Rauch“) einen Erkenntnisbegriff wiedergewinnt, der sein Maß an der benennenden Kraft der Sprache hat. Eine solche Erkenntnis setzt insbesondere die Kritik des Bekenntnisbegriffs: die Entkonfessionalisierung der Theologie voraus. Der Bekenntnisbegriff (und das durch ihn bestimmte Dogma) ist in der Tat hellenistisches Erbe, Erbe der Philosophie und Produkt der Anpassung theologischer Erkenntnis an die Erfordernisse und Strukturen institutioneller (kirchli-cher und politischer) Herrschaft. Der instrumentalisierte Bekenntnisbegriff (dessen Verhältnis zum neutestamentlichen noch zu klären wäre) verletzt durch seinen Objektbezug sowohl das biblische Bilderverbot als auch das Gebot der Feindesliebe. Dieser Objektbezug aber ist die Grundlage jeder „theologischen Theoriebildung über …“ (die den instrumentalisierten Bekenntnisbegriff voraussetzt) In diesem Zusammenhang hat der Bekenntnisbegriff die gleiche Funktion wie die subjektiven Formen der Anschauung in der kantischen Erkenntniskritik: er definiert das Medium, das Referenzsystem, in dem die synthetischen Urteile apriori theologischer Theorie allein möglich sind, allerdings mit der (historisch verhängnisvollen und systemlogisch seit je mit dem kirchlichen Antijudaismus verbundenen) Folge der Unerkennbarkeit der Dinge an sich.
    Daß die christliche Assimiliationsfähigkeit, nachdem sie an der „heidnischen Antike“ sich bewährt hat, an der „jüdischen Widerstands- und Selbstbehauptungsfähigkeit“ gescheitert sei (ebd. S. 276), dieser Satz übersieht, daß gerade die zweite an der ersten gescheitert ist. Walter Benjamin hat als Kriterium der theologischen Erkenntnis und des Offenbarungsbegriffs die Kritik des Mythos, des Schicksals, begriffen. Der Ursprung der Philosophie aber läßt sich als Verinnerlichung des Schicksals, als Aneignung der objektivierenden Gewalt des Schicksals durchs Subjekt (das so zum Subjekt wird) begreifen (der Dämon des Sokrates). Die objektivierende Gewalt des Schicksal hat sich im Begriff niedergeschlagen, dessen Objektbeziehung mythischen Ursprungs ist und den Mythos perpetuiert. (Bei Heidegger, der den Geburtsfehler der Philosophie zu ihrem einzigen Inhalt gemacht hat, drückt sich das im Begriff der objektlosen Angst aus: das „Dasein“ ist als verinnerlichtes Subjekt-Objekt des Schicksals selber sowohl Ursprung als auch Objekt der mythischen Angst, nachdem es die projektive Ableitung der Angst durch den historischen Objektivationsprozeß an die Wissenschaft abgegeben hat.) Die Kritik des Objektbegriffs (des historischen Objektivationsprozesses) ist heute zur notwendigen Kritik des historisch-gesellschaftlichen Herrschafts-, Schuld- und Verblendungszusammenhangs geworden, ohne die es einen angemessenen Theologiebegriff nicht mehr gibt: Wir müssen endlich aufhören, Theologie hinter dem Rücken Gottes zu treiben, wie wir begreifen müssen, daß der Objektivationsprozeß (dessen theologischer Zentralbegriff der des Bekenntnisses war) zwar unvermeidlich war, aber nur durch kritische Selbstreflektion seine Beziehung zur Wahrheit wiederzugewinnen vermag. Im Begriff des Bekenntnisses hat der Mythos im Zentrum der Theologie überlebt.
    Ist die Israel-Theologie Marquardts nicht doch der verzweifelte Versuch, über Judentum und Israel den Realitätsbezug wiederzugewinnen, den die Theologie durch ihre Instrumentalisierung verloren hat, anstatt – und dabei ist die jüdische Tradition in der Tat eine unersetzliche Hilfe – durch Erinnerungsarbeit den Schuldzusammenhang aufzulösen, der in der Geschichte des Bekenntnisses die Wahrheit des Christentums zur Unkenntlichkeit entstellt hat.
    Wenn Petrus ein Typos der Kirche ist (wie Karl Thieme immer gelesen hat), könnte es dann nicht sein, daß Mt 1618 wahr ist, nur die Kirche(n) bis heute halt nur gebunden, aber noch nicht gelöst hat (haben), und vor allem: daß diese Lösung mit der des Bekenntniszwangs zusammenfällt.
    „Barths Zeit stand ganz real im Zeichen des „Vergehens“ Israels“ (Marquardt: Verwegenheiten, S. 284): Das sind nun wirkliche sprachliche Verwegenheiten, wenn nicht Entgleisungen. Ich würde sagen: Barths Zeit stand ganz real im Zeichen der Vorgeschichte des Holocaust, des größten Verbrechens der Menschheitsgeschichte. Der obige Satz, wenn er denn im übrigen so stehen bleiben sollte, müßte enden: „… im Zeichen des antisemitischen/antijüdischen Vorurteils über das „Vergehen“ Israels“.
    Oder: „Christliche Theologie nach Auschwitz und seither kann nur ethisch sein, wenn sie bemüht ist, mit den wirklichen und allen möglichen Opfern, Ganzopfern, den zum Holocaust Bestimmten, sich zu einen; nur dann, wenn sie Gottes Erbarmen und Gottes Gericht nicht weiter nur im Blick auf sie zu erkennen sich bemüht, sondern in einer neuen Anstrengung auch von ihnen her.“ (S. 285, Hervorhebungen z.T. von mir, H.H.) Wenn ich den Satz richtig verstehe, kann er doch eigentlich nur bedeuten, daß Theologen immer noch für sich in Anspruch nehmen, „Gottes Gericht … im Hinblick auf sie (die Juden) zu erkennen sich (zu) bemühen“, jetzt, nach Auschwitz, nur eingeschränkt durch die zusätzliche Anstrengung, Gottes Gericht „auch von ihnen (den Juden) her“ zu erkennen, als ob nicht das eine (Gottes Gericht über andere zu erkennen) genau die Hybris wäre, die zu Auschwitz geführt hat, und nur das andere (sich selbst in der Erwartung des Gerichtes Gottes zu erkennen) das einzig Zulässige, der einzig mögliche Weg zur Erfüllung des Nachfolgegebots, unter dem auch Theologen stehen. Dann aber kann christliche Theologie nach Auschwitz nur bestehen, wenn sie – anstatt „mit den wirklichen und allen möglichen Opfern … sich zu einen“ – endlich zu begreifen versucht, daß sie im Anblick von Auschwitz (und in dieser Gefahr steht auch die Opfertheologie im Anblick des Kreuzes) auf der Täterseite sich befindet (Mt 2540+45). Der Versuch, mit den Opfern sich zu einen, steht in der Tradition christlicher Einigungs- und Innerlichkeitsmystik (Ziel aber ist weder die Einigung mit Gott, noch die mit den Opfern, sondern die Einung und Heiligung des Gottesnamens: darin ist die jüdische Tradition mit der zweiten Bitte des Herrengebets einig); zulässig und gefordert ist nur der von uns zu leistende Teil an der Versöhnung: Reue und Umkehr; dazu gehört die Kraft zur Identifikation mit den Opfern, die Kraft, sich in die Erfahrung dessen, was wir ihm angetan haben (oder antun), „hineinzuversetzen“, das aber heißt: die reale und konkrete Schulderfahrung nicht zu verdrängen; aber das ist etwas anderes als die (Flucht in die) Einung. Die Versöhnung selbst kann ohne Verletzung der Gottesfurcht nicht antizipiert werden.

  • 17.03.91

    Liegt der Unterschied zwischen Judentum und Islam an der gleichen Stelle, an der auch der Unterschied zwischen Namen- und Begriffslehre begründet und zu suchen ist, und ist die „Islamisierung“ des Christentums nicht schon vor der Entstehung des Islam eingetreten, vom Islam dann nur auf „reinere“ Weise rezipiert und danach ans Christentum wieder zurückgegeben worden? Drückt sich diese Beziehung auch im Gottesbegriff aus: Allah wird immer nur in der dritten Person bestimmt, bleibt immer gegenständlich; er spricht nicht selbst, sondern spricht durch den Heiligen Geist, der ein Engel ist. Bezeichnend auch die adjektivische Struktur der Namen Gottes, die hier zu Eigenschaften werden und aus diesem Grunde im Islam immer mit dem Zusatz All- gebildet sind: der Allbarmherzige, der Allverzeihende, der Allmächtige, der Allwissende etc (insgesamt 99 Gottesnamen).
    Islam ist die Ergebenheit in den Willen Gottes, und der Wille Gottes ist das, was geschieht. Ein letztes Echo davon ist Hegels „die Vernunft ist wirklich, das Wirkliche ist das Vernünftige“ (Rechtsphilosophie).
    Die Opfertheologie als Ursprung des Idealismus: Vgl. hierzu die Bemerkung in der DdA.
    Das islamische Opfer ist eigentlich nur die Erinnerung an das Opfer Abrahams, die Abgeltung des Menschenopfers. Damit hängt es möglicherweise zusammen, daß nach dem Koran Jesus nicht selbst am Kreuz gestorben ist.
    Das Bilderverbot ist das Verbot, Gott und die Welt hinter ihrem Rücken zu begreifen.
    Für mich war die massive, konzentrierte und brutale Wut auf die Taten der raf schlimmer als die raf und ihre Taten. Und hierin ist etwas, was ich nicht vergessen kann.
    Der Zwang, die Probleme nur noch auszusitzen, der in den noch unabsehbaren Folgen der deutschen Einigung möglicherweise noch einmal verhängnisvoll sich auswirken wird, rührt her von dem unaufgearbeiteten „deutschen Herbst“.
    Peter de Rosas „Gottes erste Diener“ bleibt selbst in den Folgekategorien dessen, was er kritisiert, befangen. Die Darstellung der Dinge im 7. bis 9. Jahrhundert urteilt nach den gleichen moralischen Kriterien, an denen die Kirche selber leidet, aus denen auch der Zustand der Dinge in jener Zeit sich ableiten läßt. Auch hier gilt: der Ankläger hat immer Unrecht.
    Der real existierende Sozialismus ist daran gescheitert, daß er den „dialektischen und historischen Materialismus“ gleichsam glaubte als naturwissenschaftlich-technische Lehre nutzen zu können, daraus politisch anwendbare Gesetze ableiten zu können. Aufgrund dieser Voraussetzung war er gezwungen, seine eigene Basis nochmals zu verraten. Sein Fehler war zu glauben, es gebe einen Standpunkt außerhalb, und dieser Standpunkt außerhalb (hinter dem Rücken der Gesellschaft) sei durch die „Ideologie“, die er dann auch noch so nannte, definiert. So hat er sich dann durch sein Macht- und Politikverständnis unter Rechtfertigungszwänge gesetzt, die zwangsläufig dazu führten, daß er die eigene Basis verraten hat und verraten mußte.
    Die Naturwissenschaften produzieren heute so viele dem Weltzustand angemessene, ihn aufschlüsselnde Bilder, daß es eher der Erklärung bedarf, wieso niemand darauf anspricht, als wenn heute jemand sie wahrnimmt. Zu diesen Bildern gehört
    – das „schwarze Loch“, dessen Gravitationskräfte so groß sind, daß es alles in sich aufsaugt, aber nichts mehr, auch keine Strahlung, nach außen herausläßt, und
    – die sogenannten Teilchenbeschleuniger: dieses Bild des unablässig gegen eine Wand Anrennens und darin soviel Energie, Intelligenz und materielle Ressourcen hineinzustecken, ohne daß dabei die Lösung der Fragen, mit denen Aufwand begründet wird, im Ernst weitergebracht wird (Heideggers Begriff der Frage gewinnt hier gegenständliche Realität).
    Das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit (und seine Bedeutung für die Mikrophysik und für die Erkenntnisbasis der Naturwissenschaften insgesamt, das Inertialsystem) läßt sich erst lösen, wenn es gelingt, die Struktur des Raumes in seiner Beziehung zur naturwissenschaftlichen Begriffsbildung aufzuschlüsseln.
    Diese unendliche Last der Faschismus-Erfahrung, dieses unendliche Gravitationsfeld, das alles in sich aufsaugt und nicht mehr nach außen strahlt.
    Parakletisches Denken und das Antlitz der Erde: Emitte spiritum tuum et renovabis faciem terrae.
    Vgl. Gen 11: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ und Gen. 24b: „Zur Zeit, als Gott, der Herr, Erde und Himmel machte, …“ Was bedeutet die unterschiedliche Reihenfolge (Himmel und Erde bzw. Erde und Himmel) im Kontext von „schuf“ und „machte“ sowie von Jahwe und Elohim?

  • 19.02.91

    „Doch die Frauen haben einen Vorzug: Sie haben kein Gesicht zu verlieren.“ (Erica Fischer in der taz vom 19.02.91)
    Der Satz hängt mit den anderen zusammen: „Frauen sind nicht bekenntnisfähig (Forderung biologischer Unschuld: Jungfrau).“ „Männer dürfen nicht weinen (müssen sich zu ihrer Tat bekennen: Confessor).“ Das Gesicht, daß die Männer glauben, nicht verlieren zu dürfen, ist ein öffentliches Gesicht: die Maske der Person, die sie auf der Weltbühne der Politik, des Geschäfts, der Durchsetzung des Rechts als Existenzgrundlage benötigen (als Grund der Fähigkeit, mit der Schuld zu leben). Hintergrund ist das unterschiedliche Verhältnis zur Schuld (Biologisierung und Vergeistigung: Ursprung des Idealismus und des Rassismus) und die Unfähigkeit, diesen Konflikt aufzuarbeiten. Männer machen die „Drecksarbeit“, kämpfen insbesondere gegen den „inneren Schweinehund“ (im eigenen Innern und draußen), während die Frauen den Schein der „heilen Welt“ des Privaten, die die Männer durch ihre Arbeit draußen begründen und nach außen absichern, nach innen durchsetzen und nach draußen repräsentieren (Zusammenhang mit dem Eigentumsbegriff, mit der Geschichte des Tauschprinzips.)
    Das Bekenntnis steht in der Geschichte des Falls und transportiert ihn weiter, ist die Grundlage für die falsche Säkularisierung der Theologie (die Geschichte der Gottesleugnung).
    Wer sich zu etwas bekennt, gibt sich als etwas zu erkennen (Mord, Mörder).
    Seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben: ein Gebot wider die Personalisierung der Schuld, gegen das Geschwätz (Gerede), gegen das Herrendenken.
    Gibt es einen sprachlichen Zusammenhang zwischen Welt, Gewalt, Verwaltung? Begründen Gewalt und Verwaltung die Welt (Funktion der Engelhierarchien)? Säkularisation kommt dagegen von saeculum: von Zeitalter, Weltalter, Epoche (per saecula saeculorum: durch die Zeitalter der Zeitalter, nicht „von Ewigkeit zu Ewigkeit“: Verewigung des Zeitalters?). Klingt im saeculum auch der astrologische Weltbegriff (Planeten als Herrscher der Zeitalter) an, oder nur der politische Begriff (assyrische. chaldäische, römische Aera, apokalyptischer Epochenbegriff)? – „per J.Chr., filium tuum, qui tecum regnat et imperat per s.s.“
    An der Hegelschen Philosophie läßt sich demonstrieren, daß der Antisemitismus mit der Leugnung des Vaters zusamenhängt.
    Das „messianische Licht“ in dem Stück „Zum Ende“ ist der genaue Ausdruck dessen, was man bei Adorno Gottesfurcht wird nennen dürfen.
    Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus legt den Schluß nahe, daß der Übergang von der Theorie zur Praxis nur unter theologischen Prämissen sich bestimmen läßt. Erst in theologischem Kontext wird die Theorie praktisch.
    In einem Punkt hat die christliche Sexualmoral recht: Es gibt eine Schamgrenze, die nicht überschritten werden darf. Ihr Fehler liegt jedoch darin, daß sie sich Scham nur als sexuelle Scham vorstellen kann: Im Übrigen ist die Theologie in der Tat unverschämt und schamlos. Sie hat bis heute nicht begriffen, daß die Schamgrenze (auch die sexuelle) durch die Idee der Gottesfurcht definiert und bestimmt wird.
    Das „et ne nos inducas in tentationem“ gilt auch im Hinblick auf die Empörung. Mehr noch: Es gibt keine Versuchung, die diesen Namen mehr verdient (Gemeinheit wird belohnt durch die Moralität dessen, der sich aus der Schuldzone durchs moralische Urteil herauszustehlen sucht; vor allem: er bemerkt es nicht.) Empörung ersetzt die Kraft des Arguments durch die personalisierende Projektion, durch Wut, die zugleich dem Wütenden den Schein der moralischen Überlegenheit verleiht. Empörung verhindert eben damit das, was aus dem Teufelskreis herausführen könnte: die Kraft der Besinnung, der Differenzierung, der Identifikation und der Unterscheidung. Man muß den alten theologischen Sinn von Empörung, nämlich Hybris, in diesem Begriff mithören: Mit dem Herrendenken wurde auch diese Hybris sozialisiert.
    Der Säkularisationsprozeß hat nicht erst zu Beginn der Neuzeit, sondern – mitten in der Theologie – schon in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung, in der Phase der Kirchenbildung, der Ausbildung des Dogmas: der Anpassung an die Welt, begonnen. Die ersten Gestalten der säkularisierten Religion waren der Confessor und die Virgo.
    Gesinnung als moralisches Alibi: Die reine Gesinnung will sich nicht selbst mit der Schuld beflecken, von der sie doch zugleich selbst lebt.
    Die Idee des Ewigen schließt die Vergangenheit von sich aus; aber ist nicht die Idee des Ewigen selbst eine vergangene Idee?
    Muß man zum Verständnis der Figur der Magd darauf achten, daß es sich um die Magd des Hohepriesters (nach Joh. um die Pförtnerin) handelt, daß die Leugnung im Hof des Hohepriesters sich ereignet? Und was hat es mit dem Vorhof und dem Tor auf sich? Ist die Kirche (Petrus) immer im Hof oder im Vorhof des Judentums geblieben (bis zum Hahnenschrei)? (Zusammenhang mit dem frühkirchlichen Antijudaismus?)
    Bei Johannes ist der „Jünger, den Jesus lieb hatte“, der Petrus den Zugang zum Hof des Hohepriesters verschaffte.
    Die johanneische Pförtnerin: Ist sie nicht eine Verwandte des Kafkaschen Türhüters (Vor dem Gesetz).
    Theologie im Angesicht Gottes: Als Jesus sich umsah und ihn anblickte, da ging er hin und weinte bitterlich.
    Bei der dritten Leugnung verflucht Petrus sich selbst.
    Die dreifache Leugnung:
    1. die Rezeption der griechischen Philosophie,
    2. die Rezeption der islamisch weiterverarbeiteten Philosophie,
    3. die europäischen Aufklärung. Hier helfen die Mittel, die den Kirchenvätern und den scholastischen Kirchenlehrern noch zur Verfügung standen, nicht mehr.
    (Die Angst davor, als Sympathisant erkennt zu werden, gab es damals schon: sie ist die Urangst des Christentums.)
    Die drei Leugnungen beschreiben exakt den Prozeß der Selbstentfremdung (der auch über die zuschauenden Anderen abläuft und in der Selbstverfluchung endet).
    Hat die Pförtnerin etwas mit der Schlüsselgewalt Petri zu tun? Zur Pförtnerin gehört auch, daß
    – Petrus Einlaß durch Johannes bekommen hat,
    – die ganze Geschichte sich im Hof, im Vorhof und am Tor abspielt. (Wer sind eigentlich die Galiläer? – Jakob Böhme würden jetzt vielleicht die Gallier, die Galizier, die Fürstin Gallitzin und vielleicht auch noch die Galle einfallen.)
    Die Geschichte der Kirche ist eine Geschichte der Bekehrungen. Aber diese Geschichte der Bekehrungen findet ihre Grenze an den modernen europäischen Aufklärung: Hier trifft sie auf ihr eigenes Produkt, auf eine Projektion ihres eigenen unbekehrten Inneren. Die Kirche hat Bekehrung immer als Überwindung des alten Heidentums, das damit abgetan und erledigt schien, verstanden, während die wirkliche Bekehrung nur durch Umkehr möglich ist: durch Aufarbeitung der Vergangenheit, durch Erinnerungsarbeit. Die Geschichte der Bekehrungen hätte eine Geschichte des Lernens sein können und müssen; sie war eine Geschichte der fortschreitenden Verdummung.
    Bezeichnend, daß Hegel den Islam nicht kennt (ihn nur kursorisch unter dem Titel Mohammedanismus abhandelt).
    Erinnerungsarbeit und das, was Horkheimer und Adorno exakte Phantasie nannten, gehören zusammen.
    Das Inertialsystem ist das vergegenständlichte Abfallprodukt des Denkens des Denkens.
    Aus der katholischen Tradition heraus ist der Hegelsche Begriff der „List der Vernunft“ (gibt es diesen Begriff auch in der Hegelschen Logik?) nicht akzeptabel, eigentlich unverständlich. Da ist offensichtlich eine spezifisch katholische Blockade. Das Gleiche gilt für den Begriff des Scheins bei Hegel. Diese Blockade hat bei Heidegger dazu geführt, daß er den Reflexionsbegriff nicht einmal wahrnehmen, wirklich zur Kenntnis nehmen konnte und dadurch in die Schlinge hineingeraten ist, die er dann in seiner Fundamentalontologie zugezogen hat.
    Der Fundamentalismus (in allen Buchreligionen) ist das Produkt der unaufgearbeiteten Gegenwart. Judentum und Islam scheinen ihm schutzlos preisgegeben zu sein. Das Christentum hat den Säkularisierungsprozeß nicht nur eröffnet und weitergetrieben, es ist die einzige Religion, die auch das Mittel dagegen hätte (wenn es nur endlich davon Gebrauch machen würde).
    Die Allegorie ist die Umformung des Mythos in Philophie, in Begriffe. Die Typologie ist die Umformung des Mythos in Prophetie, in die benennende Kraft der Theologie.
    Grund und Prinzip der Sprachverwirrung: das Ungleichnamige gleichnamig machen. Dieses Prinzip ist in Hegels Begriff des Begriffs (und in dem Konstrukt einer List der Vernunft) als Teil der philosophischen Vernunft begriffen worden.
    Die apriorische Objektbeziehung, die durch die subjektiven Formen der Anschauung in die transzendentale Logik hereingekommen ist, ist dauerhafte und irreversible Verletzung des Bilderverbots, Ursprung des Taumelkelchs des Begriffs (an dem kein Glied nicht trunken ist).
    Die Äquivalenzbeziehungen, die anhand der Analyse der Stoßprozesse herausgearbeitet worden sind, sind die Grundlage und der begriffliche Kern der gesamten Physik.
    Gilt das Gewaltmonopol des Staates auch fürs Inertialsystem (das von außen Angreifen als der Erkenntnisgrund der gesamten Physik)? Lassen sich die Hegelsche Logik und die Hegelsche Geschichtsphilosophie als als die begriffliche und historische Selbstentfaltung der Gewalt begreifen?
    Die physikalischen Erhaltungssätze sind eigentlich keine physikalischen Sätze, sondern erkenntnistheoretische Randbedingungen der physikalischen Erkenntnis. Sie definieren und stabilisieren die metrische Struktur des Referenzsystems, auf das sich alle physikalischen Begriffe beziehen; sie sind ein systematischer Teil des Inertialsystems.
    Die Physik ist das Skelett der Natur, und die Chemie beschreibt den Verwesungsprozeß des abgestorbenen Fleisches.
    Hat der Plural in Gen. 126,27 „Lasset uns dem Menschen machen nach unserem Bilde …“ etwas mit dem Plural haschamajim zu tun (vgl. auch das „qui es in caelis“)? Und ist der „Hofstaat“, auf den Jürgen Ebach den Plural bezieht, ein Vorläufer und früher Verwandter der „Mächte“ beim Paulus?
    Die Theologie ist zu Tode erkrankt an der Unfähigkeit, zwischen rettender und zerstörender Gewalt zu unterscheiden; oder auch an der Unfähigkeit, zwischen transzendent und transzendental zu unterscheiden. Bei Kant bezeichnet das An sich die Transzendenz, die transzendentale Ästhetik und Logik hingegen den Inbegriff der Subjektivität, den Ursprung des Idealismus. Die transzendentale Logik macht den Idealismus als Inbegriff dessen, was einmal Empörung hieß, als Hybris, erkennbar.
    Die kantische Erkenntniskritik gilt sowohl für die vom Tauschprinzip beherrschte Gesellschaft als auch für die vom Trägheitsgesetz beherrschte Natur.

  • 01.02.91

    Das Existentielle ist die wütende Spitze der Betroffenheit, Verdrängung der Reflexion, zivilisiertes Schamanentum.
    Erst wenn die Theologie selbst sich aus ihren double-bind-Fallen befreit, wird ihre Neubegründung möglich sein.
    Philosophie als Internalisierung des Schicksals und Instrumentalisierung des Absoluten: das hat der Islam versucht, in Religion zurückzuübersetzen. Der Gott des Islam ist der Schicksalsgott: Versuch, den verinnerlichten Schicksalsbegriff wieder ins Objektive zu wenden, aber das in einer Phase, in der es eigentlich nicht mehr möglich war. Der Islam ist eine kosmologische Religion; er hat die naturwissenschaftliche Aufklärung, die die alte Kosmologie (und deren gesellschaftliches Äquivalent) auf den Kopf stellt, nicht mitvollzogen. Das Christentum hat dann – nach der Rezeption der islamischen Aufklärung – am islamischen Theologie- und Gesellschaftsbegriff festgehalten; es hat die naturwissenschaftliche Aufklärung und die gleichzeitigen gesellschaftlichen Veränderungen nur hilflos und ohnmächtig aus sich entlassen müssen, ohne sie durch Reflexion aufarbeiten zu können: diese Entwicklung lag im blinden Fleck des nachkonstantinischen und nachislamischen Christentums.
    In der griechischen Philosophie macht sich das Subjekt selbst zum imaginären Herrn des Schicksals; es verfällt aber eben damit der Gewalt der Reflexionsbegriffe.
    Gottvertrauen kann allein das Vertrauen in die göttlichen Verheißungen sein, aber ist das heute noch möglich?
    Der Satz, daß Gott niemanden über seine Kraft vesucht, wird heute, da die Geschichte der Versuchung in einen Engpaß treibt und erstmals die ganze Menschheit umgreift, auf die Probe gestellt.
    Die Verarbeitung des Kreuzestodes in der Opfertheologie und deren Realisierung in der Volksfrömmigkeit hat (durch die subjektiv gewendete Leidensmystik, durch den Kult des Selbstmitleids) mehr zur Verdrängung des Ereignisses als zu seiner wirklichen Erinnerung beigetragen. Sie hat uns auf die Täterseite transportiert.
    Allein in dem Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ wurde der Mechanismus durchbrochen, der uns hinsichtlich des Kreuzestodes Jesu auf die Täterseite stellt.
    Ist Hephaistos das Objekt des homerischen Gelächters?
    Die spezielle Relativitätstheorie hat das Inertialsystem erstmals der Reflexion zugänglich gemacht, es als Grundlage der Reflexionsbegriffe und ihrer Wirksamkeit, insbesondere der Macht der Derealisierung, erwiesen (vgl. den Zusammenhang mit dem Objektbegriff); in diesem Zusammenhang ist die Quantenmechanik, die das kritische Moment des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit neutralisiert, es erneut instrumentalisiert, tatsächlich ein ferner Verwandter, ein später Nachkömmling der Hegelschen Dialektik.
    Die Zensur bei der Berichterstattung über den Golfkrieg ist aus militärischer Sicht schon deshalb notwendig, weil dieser Krieg nicht mehr zu führen wäre, wenn wahrheitsgemäß mit der heute möglichen Aktualität über ihn berichtet würde.
    Die ganze Adornosche Philosophie ist eine Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums.
    Der Islam ist die Anpassung der jüdischen Religion an die Bedingungen des Heidentums, unter Fortfall der Opfertheologie. Allah ist der Gott des Erbarmens, er verzichtet jedoch auf die Forderung der Umkehr, an dessen Stelle der Islam, die Unterwerfung tritt.

  • 13.01.91

    Zentrale Stellung des Weltbegriffs: Judentum vorweltliche, Islam Welt-Religion, Christentum weltkritische Religion. Die Geschichte der Häresien hängt mit der Geschichte des Weltbegriffs zusammen; der Ursprung der Häresien ist ableitbar aus dem Geburtsfehler des Selbstverständnisses der Orthodoxie, die seit je die Schöpfung mit der Welt verwechselte; hieraus zogen die Häresien seit der Gnosis logisch die richtigen, aber sachlich falschen Konsequenzen. Die Orthodoxie hat seit je die Symptome (die Häresien) unterdrückt anstatt sie (dem Gebot der Nachfolge und der Feindesliebe gehorchend) zum Anlaß zu nehmen, die Schuld der Welt auf sich zu nehmen und die Ursachen der Häresien im eigenen Innern zu suchen. Der projektive Anteil im Kampf gegen die Häresien und in der Geschichte der Ketzerfolgung ist immer verdrängt worden, er lag im blinden Fleck der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit. Die Warnung: „parvus error in principio magnus est in fine“ fiel ins Leere. Mit der Reformation (und Gegenreformation) war die Kraft der Häresienbildung deshalb erschöpft, weil angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung und der korrespondierenden Geschichte der naturwissenschaftlichen Aufklärung der Wechsel einzulösen war, den die Kirchen im (konstantinischen) Pakt mit der weltlichen Herrschaft (und die Theologie mit der dogmengeschichtlichen Rezeption des philosophischen Weltbegriffs) unterschrieben hatten. Das theologische Herrendenken war selber Ursprung des weltlichen, gegen das die bis dahin verwandten Mittel (der Inquisition, des Banns und der physischen Verfolgung) dann sich als ohnmächtig erwiesen und nichts mehr ausrichteten.
    Birgt der Golfkonflikt nicht ein weit größeres Risiko als z.Z absehbar:
    – Religionskrieg, der durch die mögliche Anwendung der militärischen Mittel (ABC-Waffen) die Brutalität und die Folgen des letzten „Weltanschauungskrieges“ übertrifft (das Erbe Reagans: Harmaggedon-Phantasien; Auswirkungen auf Israel, Gefahr des arabisch-islamischen Nationalismus)?
    – Weiteres Unrecht im Schatten dieses Konflikts (Litauen – Komplizenschaft der Weltmächte: hat es vielleicht sogar Vor-Absprachen zwischen UdSSR und USA gegeben – Preis für freie Hand im Irak)?
    – Wirtschaftliche Folgen: Läßt sich die Dominanz der westlichen Industrienationen halten? Sind weitere Grundstoff-Boykotts und Liefereinschränkungen der sogenannten Dritten Welt mit entsprechenden Folgen auf den „Wohlstand“ im Westen auszuschließen (mit absehbaren politischen Folgen im Innern der westlichen Staaten wie auch im zerfallenden Ostblock aufgrund der schwindenden wirtschaftlichen Möglichkeiten)?
    – Weitere politische Folgen: nach dem Zerfall des Ostblocks jetzt Zerfall der moralischen und politischen Hegemonie der USA? Neue politische Rolle der EG (mit dem nach der „Einigung“ gewachsenen und infolge der nationalistischen Welle nicht mehr kontrollierbaren Einfluß der BRD)?
    – Vorbereitet u.a. durch den Bau der Startbahn West in Frankfurt?

  • 12.01.91

    Das Bekenntnis war im Ursprung (in den Paulus-Briefen z.B.) Bekenntnis des Namens. Hintergrund und Kontext war das zweite Gebot des Dekalogs; es hing zweifellos mit dem Gebot der Heiligung des (Gottes-)Namens zusammen, die u.U. mit dem Martyrium zusammenfiel, jedenfalls die Passions-, die Leidenserfahrung und deren Beziehung zur Erlösung grundsätzlich mit einschloß. Das Bekenntnis war nicht nur ein abstrakter geistiger Akt, sondern Ausgangspunkt und Quelle praktischer, lernender, gleichsam experimentierender Erfahrung: einer Erfahrung, die auch die Intention der magischen Umsetzung, des Wunders, nicht ausschloß. Das Tabu über die Magie und das Wunder, über den dann als blasphemisch diskriminierten Gebrauch des göttlichen Namens, war, nachdem die Kirche den „magischen“ durch den technischen Gebrauch (durch die Instrumentalisierung der Theologie: Trinitätslehre, Vergöttlichung Jesu, Sakramentenlehre und Opfertheologie), das Wunder durch die verwaltete Gnade ersetzt hatte, dann Teil der antijudaistischen Projektion: In diesem Zusammenhang sind die antijudaistischen Vorurteile über Zauberei, Ritualmord und Hostienfrevel ableitbar und verständlich. Geduldet (und im Hinblick auf das Anerkennungsverfahren gefordert) wurde das Wunder nur noch im Sonderbereich der Heiligenbiographie und Heiligenlegende. Aber auch hier geriet es schließlich in spezielle Konkurrenz zur Technik: als bloße Abweichung von den Naturgesetzen. Gemeinsamer Bezugspunkt war das Verhältnis zur Selbsterhaltung, zu den subjektiven Zwecken in einer (im Wahrnehmungs- und Erfahrungsfeld des Selbstmitleids, auch durch die Schuld der Theologie) verdinglichten und instrumentalisierten Welt. Verwischt (und wegen der politischen Implikationen verdrängt) wurde die Beziehung des Wunders zur Prophetie, zur Erlösung, zur zukünftigen Welt. Hier wurde die enttäuschte Parusieerwartung endgültig storniert; nur durch Selbstmord hat die Theologie den Tod des Wunders überlebt.
    Die Entkonfessionalisierung des Christentums führt an das Problem überhaupt erst heran, dessen Lösung vielleicht auch die des Judentums als vorweltliche und die des Islam als Welt-Religion mit sich bringt: Theologie im Angesicht Gottes statt hinter seinem Rücken zu betreiben.
    Bedeutung der Feindesliebe: in der Feindschaft die Projektion dessen, was in einem selber steckt und nur verdrängt wurde, zu begreifen: Notwendigkeit der Erinnerungsarbeit, die zugleich die einzig begründbare Vorarbeit dafür ist, was in den Religionen als seliges Leben vorgestellt erstrebt wurde. Einer Erinnerungsarbeit allerdings, die im Kontext der eigenen Biographie die Schuld der Welt (ihren konkreten historischen Stand) mit aufarbeitet. Hier gilt, daß das Vergangene (Auschwitz, die Inquisition, die Hexenverfolgung) nicht nur vergangen ist, daß das Unaufgearbeitete der Vergangenheit in uns fortlebt und uns zu Wiederholungen des „Verdrängten“ zwingt (der Begriff der Verdrängung trifft den Sachverhalt nicht ganz: dazu gehört auch das im Kontext von Verdrängungen nicht Wahrgenommene: das was vor dem eigenen blinden Fleck liegt). Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß: dieser Satz führt in die direkte Abhängigkeit vom Nichtgewußten, macht mich unfrei.

  • 11.08.90

    Die Konstituierung des bürgerlichen Subjekts (Paradigma: Ödipuskomplex; Trinitätslehre antiödipal?) hat eine Gestalt des Bewußtseins zur Voraussetzung, in der die Trennung von den Eltern und vom Familien-/Stammeskollektiv noch nicht vollzogen ist (die Ablösung ist monarchisch, durch die Institution des Königtums, das in Europa in der Regel mit der Einführung des Christentums verbunden war, vermittelt – der Messias, der „Gesalbte“, ist der König oder symbolisiert ihn; Versuch im Vorfaschismus, diese mythische „Geborgenheit“ durch „Gemeinschaft“ wieder heraufzubeschwören). Diese Vorgeschichte ist bloß verdrängt, nicht aufgearbeitet.

    Ist zum Verständnis der messianischen Tradition des Judentums nicht auch der prophetische Vorbehalt gegen das Königtum mit zu berücksichtigen? Ist die Messiasidee nur positiv? (Vergleichbar: Ist der christliche Vatergott nicht eine Einschränkung des Jahwe?)

    Leo d.Gr.: Denunziation als „Werk der Treue“ – Zusammenhang von Bekenntnis und Denunziation! (KuS, S. 99)

    Ambrosius/Augustinus: Antisemitismus („Antijudaismus“) als Instrument der Anpassung (Augustinus zählt den Anblick der Qualen in der Hölle zu den Freuden des Himmels!).

  • 24.06.90

    Die Probleme der drei Offenbarungsreligionen (Juden, Christen, Islam)? – Auschwitz, Staat Israel, politischer Fundamentalismus? (Hat das Christentum im Judentum die eigene Vergangenheit, der Islam die eigene Zukunft vor Augen? Antizipation der Erlösung / Rückfall hinter die Offenbarung? – Islam ist über Stammesreligion nicht hinausgekommen; mißlungener Versuch, ohne Zwischenstufe der Urbanisierung ein Imperium zu begründen; islamisches Recht, Grenze der arabischen Mathematik und Ökonomie?). Gegenüber der mittelalterlichen Theologie galt der Islam als „Heidentum“, als Vorwelt, als (äußerer) Repräsentant des Vergangenen (- und das Judentum als innerer?).

  • 05.11.89

    Der Antisemitismus hatte für die, die ihn für ihre Zwecke nutzten, zwei „Vorteile“:

    – Durch die Ernennung des „Judentums“ zum (biologisch, rassisch begründeten) absolut Bösen, war auch die Tradition, für die das Judentum einstand, diskriminiert, tabuisiert: Das Gewissen als individualisierende Instanz, als Grundlage des Selbstbewußtseins, als Realgrund der Verführung zum Selberdenken, war außer Kraft gesetzt (der Jude draußen wurde als Repräsentant des eigenen Gewissens erschlagen, das eigene Gewissen zum „inneren Schweinehund“ ernannt).

    – Umgekehrt war der „Arier“ der Bessere, Gesunde, von der Natur (der „Vorsehung“) zur Herrschaft Berufene; was auch immer er tat, es war dadurch entschuldigt, daß es sein Bessersein im Sinne einer (rassischen) Naturqualität nicht berührte. Dieses Begründungsschema liegt immer noch dem „pathologisch guten Gewissen“ derer zugrunde, die sich an nichts erinnern (durch selbstkompromittierende Komplizenschaft das Erinnern verlernt haben).

    Erschreckend der Trend in allen Parteien, Wähler durch Orientierung nach Rechts zu gewinnen (CDU -> Republikaner, SPD -> CDU, Grüne -> SPD); das Ergebnis ist vorprogrammiert: die jeweils rechten Parteien werden aufgewertet, die Wähler ihnen zugetrieben. Es mangelt an „linkem“ Selbstbewußtsein; politische Moral „lockt keinen Hund hinterm Ofen hervor“; aber wer die Wähler als Hunde einschätzt, darf sich nicht wundern, wenn sie die wirklich hündischen Parteien wählen. Hoffentlich gewinnen der Nationalismus und die Vaterländerei nicht hierdurch eine Schubkraft, die dann durch Moral nicht mehr gebremst werden kann.

  • 09.08.89

    Die Welt (Korrelat des Realitätsprinzips) ist durch die besondere Beziehung von Allgemeinem und Besonderem, die sie repräsentiert, bezogen auf das Selbsterhaltungsprinzip (objektiv: das Tauschprinzip); dieses ist der Kristallisationskern, an den die Begriffe und Anschauungen, die die Welt konstituieren, anschließen. Zugleich damit wird jedoch alles, was nicht in das System paßt, was durchs Sieb fällt, ausgeschlossen, insbesondere Güte, Mitleid, Empathie. Die Welt repräsentiert eine Gestalt der Realitätswahrnehmung und -erkenntnis, genauer: ein Begriffssystem, das die Wahrnehmung im vorhinein strukturiert und bestimmt, das insbesondere Anklage und Gericht kurzschließt und jede Verteidigung als „Rechtfertigung“ ideologisiert. Die Welt ist der Inbegriff aller Objekte des Herrendenkens. Insoweit ist die Welt die Sünde wider den Heiligen Geist, und der Vulgärbegriff der Ideologie der Kern der zugrunde liegenden Abwehrreaktion.

    Die Welt als ein System des Zerfalls von Sprache durch Logik ist Grund und Medium der Subjektivität, gesellschaftlich des Nationalismus (als kollektive Gestalt von Subjektivität). Es ist kein Zufall, daß Deutschgesinnte in der Regel Probleme mit der deutschen Sprache haben.

    v. Rad: Wie kann man noch 1957(!) eine „Theologie des Alten Testamentes“ schreiben, ohne auch nur mit einem Wort Auschwitz und den Holocaust (die Shoah) zu erwähnen? – Kann man den „sinnlich-übersinnlichen“ Gehalt, der nicht nur unmittelbar auf die Liebe, sondern ebenso auf ihre Derivate zu beziehen ist (Beispiel: Dornen, Dornbusch, Dornenkrone), so einfach als „vagen Symbolismus“ abtun (und dagegen auf dem historischen Realgehalt bestehen, dem dann jedoch nur noch eine Theologie abzugewinnen ist, die nicht mehr harmlos ist). Kann man eine „Theologie des Alten Testamentes“ schreiben, ohne die jüdische Tradition (die Kabbala) zu kennen? Hier kann man mit Händen greifen, welchen verhängnisvollen Einfluß eine unaufgeklärte naturwissenschaftliche Aufklärung auf die historische Aufklärung hat. (Zusammenhang der großen protestantischen Tradition der Bibelkritik mit der Rechtfertigungslehre?)

    Das Christentum ist keine Siegesreligion: Es sollte skeptisch machen, daß die Dogmengeschichte auch eine Geschichte der jeweils Siegenden ist, mit der Zusammenfassung der Siege im Triumphalismus Roms. Sicher waren die Unterlegenen nicht jedesmal die Besseren; aber ist die Vorstellung so abwegig, daß mit der Abtrennung der Häresien jedesmal auch ein Teil der (zu früh und deshalb unreif hervorgetretenen) Wahrheit abgetrennt, ausgeschieden und verdrängt wurde? Eine unter diesem Aspekt geschriebene Geschichte der Häresien wäre zweifellos einer der wichtigsten Beiträge zur Selbstverständigung der Theologie (vgl. z.B. Elaine Pagels Darstellung der Gnosis oder auch Thomas‘ und Mussners Beiträge zu einer christlichen Theologie des Judentums, die freilich zu revidieren wären anhand Radford Ruethers „Brudermord und Nächstenliebe“ und der weitergehenden Konsequenzen daraus).

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