Jünger

  • 22.1.96

    Ist nicht die Scham der Kinder für das Verhalten ihrer Eltern das Modell der Konstellation, aus der die 68er Bewegung hervorgegangen ist?
    In der Theorie des kommunikativen Handelns, die an dieser Konstellation teilhat, wird Wissenschaft in einer Weise selbstreferentiell, die jeden Zugang von außen zu versperren scheint. Nur wer in den Zirkel hineingesprungen ist, versteht ihn, findet vielleicht einen Schlüssel, der die Realität zu erschließen vermag. Bezeichnend eine Stelle bei Habermas, an der er den Begriff der Willkür als einen Fachterminus aus dem Bereich der idealistischen Systeme denunziert.
    Musterschüler: Nach der Verdrängung der Vergangenheit mit Hilfe der Kollektivscham ist die Neigung verbreitet, sich in die hineinzuversetzen, vor denen man sich schämt, und deren Urteil durch Unterschiebung anderer Objekte (durch Schuldverschiebung) von sich selbst abzulenken. Aber steckt in dieser Neigung nicht immer schon ein Stück Rachetrieb, enthielt sie nicht immer schon den Trieb zum Verrat? Das Gefühl, daß man mit der Verurteilung der Nazis (z.B. mit der Verurteilung von Heidegger, Carl Schmitt und Ernst Jünger) insgeheim sich selbst verurteilte, was dann die Urteile nur rigoroser machte, war auf diesem Wege nicht wegzubringen, es ließ sich nur verdrängen.
    Hegels Warnung, den Gegner nicht dort zu widerlegen, wo er nicht ist, wurde in den Wind geschlagen.
    Die Kollektivscham hat die Schuld nicht aufgehoben, sondern nur verhärtet, unreflektierbar gemacht.
    Setzt nicht Günther Anders‘ Begriff einer „prometheischen Scham“ ein anderes Schamproblem schon voraus, die doppelte Bewegung, in der die Scham vor anderen durch die Scham für andere (vor einem Dritten) schon in sich enthält: Ist nicht die propmetheische Scham diese Scham vor einem Dritten, die fast nicht mehr zu durchschauen ist?
    Ist nicht das begriffliche Denken (die Konstituierung des Begriffs) ein Produkt dieser Bewegung der Scham: Die Instrumentalisierung der Schamumkehr, in deren Ursprungsgeschichte der Objektbegriff (und der Naturbegriff) sich bildet?
    Fremdenfeindschaft gründet in der Abwehr der Selbsterkenntnis, die des Fremden bedarf, weil nur über die Realität des Fremden die Reflexion der Scham möglich ist.
    Hat nicht die Beschneidung weniger hygienische Gründe, als vielmehr Gründe, die mit dem Problem der Scham (der Konstituierung des Objektbegriffs) zusammenhängen? Die Beschneidung ist eine Beschneidung des Ich (Zusammenhang mit dem Namen der Hebräer, seiner inversen Beziehung zu dem der Barbaren).
    Als Freud den Frauen den Kastrationskomplex andichtete, hatte er da nicht den in der Beschneidung gründenden eigenen Kastrationskomplex auf die Frauen verschoben?
    Stand der Kreuzestod in der Tradition der Geschichte der Beschneidung, und mußte er deshalb mit Hilfe der Opfertheologie verdrängt werden? Hängt die Beschneidung selber nicht schon mit der Geschichte des (Tier-)Opfers (das durch Barmherzigkeit aufgehoben werden sollte) zusammen, mit der Ablösung der Erstgeburt, der menschlichen Erstgeburt wie auch der des Esels durch das Lamm? – Trug nicht der Esel bei der Opferung Isaaks die Opfermaterialien?
    Wie/die: Die Feminisierung des Verfahrens der Objektivierung und Instrumentalisierung ist der deutlichste Hinweis auf die Bedeutung des apokalyptischen Unzuchtsbechers.
    Die Welt ist alles, was der Fall ist: Das heißt, sie ist alles, was unter Begriffe fällt. Heißt das nicht, daß in der Gravitation ein konstitutives Moment des Begriffs sich widerspiegelt? Mit der Entdeckung des Gravitationsgesetzes ist das Objekt zum Begriff und der Begriff selbstreferentiell geworden.
    Kopernikus hat die Planetenbewegung vorstellbar gemacht, er hat die Planetenwelt in den einen Raum der Anschauung transformiert, Newton hat mit dem Gravitationsgesetz die „dynamische Begründung“ dazu geliefert.
    Aufschlußreich wäre eine physikalische Geschichte des Objektbegriffs, dessen „Identität“ allein aus seiner Beziehung zum Subjekt, nicht jedoch aus der Abfolge der Bestimmungen, die er im naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozeß durchläuft, sich ableiten läßt. Seit der kopernikanischen Wende enthält jede „Lösung“ schon die Problemkonstellation in sich, die den Erkenntnisprozeß weitergetrieben hat. Und keines der Probleme, die im Prozeß der naturwissenschaftlichen Objektivierung hervorgetreten sind, ist wirklich gelöst worden. Eine Kulmination des Objektproblems war zweifellos das damals so genannte „Ätherproblem“, der vergebliche Versuch, das Objekt der Maxwellschen Gleichungen im Anschauungsraum sich „vorzustellen“. Die genaueste Fassung dieses Problems (nicht schon seine Lösung) war zweifellos die spezielle Relativitätstheorie Einsteins (das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, das das Problem von der Objektvorstellung in die Struktur des Systems verschoben hat), während die durchs Plancksche Strahlungsgesetz eröffnete Welt der Mikrophysik, die moderne Atomphysik (und ihre ideologische Abschirmung durch die Interpretation der Kopenhagener Schule), die Unlösbarkeit des Problems als seine Lösung propagiert. Beschreiben nicht das Plancksche Strahlungsgesetz und das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit auf den gleichen Sachverhalt, wobei ihre Differenz in der unterschiedlichen Stellung zum Inertialsystem, in der Beziehung von Objekt und System, gründet? Das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit berichtigt das Inertialsystem derart, daß es als gegenständliches Objekt vom System sich abspaltet und verselbständigt: als von Strahlung durchsetzter Hohlraum durch ein mathematisches Gesetz sich bestimmen läßt.

  • 31.3.1995

    Schaffen nicht die Law- and Order-Leute die Voraussetzungen dafür, daß alle Widerstände gegen den Ausbruch jugoslawischer Verhältnisse abgebaut werden?
    Welche logischen Widerstände mußten abgebaut werden, um das heliozentrische System zu installieren?
    Das Christentum ist bis heute eine Bekehrungsreligion (die Voraussetzungen dafür hat Paulus geschaffen), aber keine Religion der Umkehr.
    Die Mathematik (und der Begriff des Wissens), Bekenntnislogik (und Naturbegriff), der Staat (und Weltbegriff): In welcher Beziehung stehen diese drei Dinge zu einander? Ist nicht die Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive und Judikative) ein Bild der Form des Raumes, seiner Dreidimensionalität, Grund der Unterscheidung von Gesetz, Begriff und Erscheinung in den mathematischen Naturwissenschaften?
    Der Staat hat den Nominalismus begründet, indem er die Stummheit des Helden (Prototyp des platonischen und gnostischen Demiurgen) in die Objektivität hineingetrieben hat.
    Der theologische Ursprung des Rassismus liegt in der Vater-Sohn-Beziehung und in dem „gezeugt, nicht geschaffen“.
    Modell des Relativitätsprinzips war die Äquivalenz und Reversibilität von Geldbewegung und Warenbewegung, begründet im Kreislauf des Geldes nach Subsumtion der Arbeit unters Tauschprinzip (zusammen mit der Eröffnung des unendlichen Raumes und der Konstituierung der Gravitationszentren im Banken- und Kreditwesen). Erst mit der Möglichkeit der wechselseitigen Substitution (der wechselseitigen Vertretung) und der Reversibilität beider konstituiert sich das Tauschprinzip und das Trägheitsgesetz zugleich.
    Ist nicht die Abtreibungsdebatte ein nachgerade apokalyptisches Beispiel des Schuldverschubsystems?
    Bekenntnislogik: An ihren Feinden kannst du sie erkennen (jedes Bekenntnis hat eine Leiche im Keller).
    Exkulpationslogik: Sich über jemanden empören, mit dem man um keinen Preis identifiziert werden möchte (weil man in ihm nicht erkannt werden möchte).
    Apologetik, sakramentale Gnadenverwaltung und Konfessionalismus: die Erbsünden der Theologie. Gegen die Apologetik steht das verteidigende Denken, gegen die sakramentale Gnadenverwaltung das Wort: „Barmherzigkeit, nicht Opfer“, und gegen den Konfessionalismus die Kritik der Bekenntnislogik und das Bekenntnis des Namens.
    Die verhängnisvolle Rolle insbesondere der schelerschen Wertphilosophie lag darin, daß sie die Selbstreflexion der Objektivität abgeschnitten und durch die Mechanismen der Empörung ersetzt hat. Die Empörung liefert der Unmoral den Komfort des moralischen Bewußtseins, auf den keiner mehr verzichten möchte. Hier liegt die Wurzel eines jeden Fundamentalismus.
    Wodurch unterscheidet sich die Entomologie Ernst Jüngers von den Insektenforschungen Reinhold Schneiders (Winter in Wien)?
    Zwei Hinweise auf den Zusammenhang von Sprache und Theologie:
    – Ist nicht die Schlange in der Geschichte vom Sündenfall ein Symbol für die sprachlogische und sprachhistorische Funktion des Neutrum (im Ursprung der indoeuropäischen Sprachen); und
    – hat nicht der Satz Wittgensteins: „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ etwas mit dem Sündenfall zu tun?
    Heute fühlen sich alle ungeliebt, weil keiner zu lieben mehr fähig ist: Dieser Satz trifft die Rechtfertigungszwänge, denen alle nach Auschwitz unterliegen, im Kern.

  • 20.1.1995

    Werden die Rekonstruktionen von Gott Mensch Welt im ersten Teil des Stern der Erlösung durchsichtig, wenn man sie auf den Raum, das Geld und das Bekenntnis bezieht? Es gibt nicht die Welt, sondern die Welt ist ein plurale tantum. Und es gibt auch nicht „die beste aller Welten“, sondern hier gilt: Was dem eenen sin Uhl, ist dem annern sin Nachtigall. Der Singular Welt (das Universum) ist Produkt einer Dezision. Und der Dezisionismus, den Christian Graf Krockow an Heidegger, Schmitt und Jünger wahrgenommen hat, hängt damit zusammen. Dieser Dezisionismus ist ebensowenig durch den Hinweis auf den Satz des Widerspruchs aufzulösen wie der Schmittsche Souveränitätsbegriff durch den Hinweis auf seine Folgen: die Begründung der Diktatur. Im Kern des Weltbegriffs steckt die Hegelsche List der Vernunft, ein Stück Betrug. Die Entfaltung dieses Betrugs zur Totalität: das wäre der Greuel am heiligen Ort. Ist nicht die Existenz unterschiedlicher Tiergattungen (nach Hegel Hinweis darauf, daß „die Natur den Begriff nicht halten kann“) der Beweis dafür, daß es die eine Welt nicht gibt? Was Rosenzweig im Stern der Erlösung so gelassen beschreibt, ist in Wahrheit ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Zu Illigs Fälschungstheorie: Ist die Phase, die dieses Bild der Vergangenheit produziert hat, sie zur Selbstlegitimation erfunden hat, nicht die gleiche Phase, die in die Kirchengeschichte als die pornokratische Phase eingegangen ist, und hängt nicht beides mit einander zusammen, ähnlich wie die pornographische Phase der kirchlichen Moraltheologie mit dem Ursprung des politischen Absolutismus (und mit dem Barock) zusammenhängt? Liegt nicht der Fehler Illigs – wie überhaupt der Heinsohn-Gruppe – darin, daß sie glauben, post festum feststellen zu können, es hätte auch anders laufen können? Sie unterschätzen die Gewalt der Schuldängste und der Rechtfertigungszwänge, denen auch der historische Erkenntnisprozeß unterworfen ist. Liefern Heinsohn und Illig nicht Reflexionsmaterial zum Problem des kontrafaktischen Urteils? Kommt Karl der Große eigentlich bei Thomas von Aquin vor? Theologie im Angesicht Gottes, das heißt: Aus dem Bann der Logik der Schrift heraustreten.

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