Kapitalismus

  • 29.6.96

    Karl Thieme zufolge war das Konzil von Trient das Konzil der Privatisierung des Glaubens (Gott und die Geschichte, Herder Freiburg 1948, S. 160ff, vgl. hierzu insbesondere S. 175, 191), mit folgender bemerkenswerten Konsequenz: „Anders als die Frage nach dem Verhältnis von geistlicher und weltlicher Obrigkeit, die seit dem Ende des ‚Mittelalters‘ suspendiert ist …, ist … der große Kampf zwischen Episkopalismus und Papalismus zugunsten des letzteren entschieden worden, … zur restlosen freiwilligen Unterwerfung … dann 1870 …“ (S. 196). So der „universalhistorisch orientierte Laien-Theologe“ (S. 195), als den er sich selbst bezeichnet.
    Der Himmel ist Sein Thron, die Erde der Schemel Seiner Füße: Gott, nicht dem Staat, gehört das Land. Deshalb ist das Territorialprinzip (cujus regio ejus religio) der Keim des Totalitarismus (vgl. das Burckhardt-Zitat bei Thieme, S. 155).
    Karl Thieme verweist auf die Differenz zwischen Phil 210 und Kol 120, auf das „nicht zufällige Fehlen der ‚Unterirdischen’“ an der letzteren Stelle (S. 137): Die „unter der Erde“ beugen auch ihr Knie, haben aber keinen Anteil an der Versöhnung. Die Unterirdischen, das sind die im hades, in der scheol, im Totenreich: Reicht dieses Totenreich nicht in unsere Erfahrungswelt hinein: mit der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, mit dem Trägheitsprinzip, mit dem durch die subjektiven Formen der Anschauung definierten Reich der Erscheinungen?
    Ist der Schlüssel Petri nicht sowohl der Schlüssel zum Abgrund (zu den „Pforten der Hölle“) wie auch der zum Himmel, und das kopernikanische System der Totenkopf des kosmos?
    Das Ich denke begleitet nicht nur alle meine Vorstellungen, es ist das Formgesetz ihrer Erscheinung. Im Begriff der Erscheinung steckt als sein Apriori der Adressat mit drin: Was erscheint, muß jemandem erscheinen. Deshalb gehört zur transzendentalen Logik die transzendentale Ästhetik, die diesen Adressaten repräsentiert. Ist nicht das „Fest der Erscheinung des Herrn“ der Namenstag jeglicher Phänomenologie von Lambert über Hegel bis Husserl?
    Alle meine Vorstellungen: Das ist der Inhalt des Unzuchtsbechers.
    Aufgrund welcher Logik erscheinen Firmenbeziehungen im Bilde der Mutter-Tochter-Beziehung? Ist die juristische Peron weiblich?
    War das der Hintergrund der „Venus-Katastrophe“, die eine gesellschaftliche Naturkatastrophe war: War die Tempelwirtschaft die mythische Vorform der kapitalistischen Wirtschaftsorganisation, der Ischtar/Astarte-Kult die Ursprungsgestalt der juristischen Person, die weiblich war? Zu dieser Logik, die mit der Praxis der Schuldknechtschaft sich entfaltet hat, würde der hieros gamos wie auch das Bild vom Kinder-fressenden Moloch passen.

  • 27.6.96

    Die Gnadenlehre ist das theologische Pendant der Mechanik, ihr Orientierungspunkt, das individuelle Seelenheil, das Korrelat des Trägheitsprinzips; abgeschnitten – und zwar durch die innere Logik des Weltbegriffs selber – wird die Beziehung des Seelenheils zur Praxis, zum Zustand der Welt im Ganzen. Die Frage, ob und wie die Idee des seligen Lebens denkbar ist, wenn sie von der Reflexion auf den Zustand der Welt getrennt wird, wird verdrängt. Die Frage ist nicht: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott, sondern: Wie erhalte ich die Gnade, befreit zu werden zum befreienden Handeln. Es gibt keine Hoffnung für mich ohne Hoffnung für die Hoffnungslosen. Darauf ist der letzte Satz des Jakobus-Briefs und das Wort von der Freude im Himmel über die Bekehrung des einen Sünders zu beziehen. Der „Weg des Irrtums“ ist der Weltbegriff; auf ihn (und auf die Geschichte vom gordischen Knoten?) bezieht sich das Wort vom Binden und Lösen. Wird das Ganze nicht durch Maria Magdalena, die von den sieben unreinen Geistern befreit wurde, in einen apokalyptischen Zusammenhang gerückt? Hat nicht das Wort vom Binden und Lösen, in dem Erde und Himmel zitiert werden, etwas mit dem Satz: Der Himmel ist Sein Thron, die Erde der Schemel Seiner Füße, zu tun? Adorno hat mit dem Programm der „vollständigen Säkularisation aller theologischen Gehalte“ nicht Benjamins Konzept, sondern sein eigenes beschrieben. Walter Benjamin hat sein Konzept in seinem „theologisch-politischen Fragment“ beschrieben: „Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an der Idee des Glücks. Die Beziehung dieser Ordnung auf das Messianische ist eines der wesentlichen Lehrstücke der Geschichtsphilosophie. Und zwar ist von ihr aus eine mystische Geschichtsauffassung bedingt, deren Problem in einem Bilde sich darlegen läßt. Wenn eine Pfeilrichtung das Ziel, in welchem die Dynamik des Profanen wirkt, bezeichnet, eine andere die Richtung der messianischen Intensität, so strebt freilich das Glückssuchen der freien Menschheit von jener messianischen Richtung fort, aber wie eine Kraft durch ihren Weg eine andere auf entgegengesetzt gerichtetem Wege zu befördern vermag, so auch die profane Ordnung des Profanen das Kommen des messianischen Reiches.“ (Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, es 103, 1965, S. 95f) Kritik des Weltbegriffs heißt für die Kirchen u.a. Entkonfessionalisierung (eine Bekennende Kirche wäre eine entkonfessionalisierte Kirche: Der Faschismus, der Antisemitismus, der Sexismus, nicht zuletzt auch die ihnen zugrundeliegende verwüstende Gewalt der Ökonomie, der Kapitalismus, diese Dinge sind Verkörperungen eines status confessionis, an den das Formelbekenntnis nicht mehr heranreicht; Dialektik der Beziehung von Orthodoxie und Häresie?)

  • 18.6.96

    Das vierte Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren, hat die Fähigkeit zur Reflexion des Urteils, die Kritik der Magie des Urteils, zum Ziel. Es geht darum, das Urteil aus seiner magischen Bindung ans Jüngste Gericht herauszulösen, die Frage offenzuhalten, ob das Jüngste Gericht ein urteilendes sein wird.
    Enthalten nicht die ersten drei Schöpfungstage eine vollständige Urteilstheorie: Am ersten Tag werden Licht und Finsternis geschieden, und die Geschiedenen werden benannt; am zweiten Tag wird die Feste geschaffen, die die oberen von den unteren Wassern trennt, und diesmal werden nicht die Getrennten, sondern das Trennende wird benannt; am dritten Tag sollen die unteren Wasser an einem Ort (nach der Kabbala: am Ort Eins) sich sammeln: das Meer, und das Trockene soll hervortreten: das Land.
    Was hat das Trockene mit der Feste zu tun? Und gehört nicht zum dritten Tag der prophetische Satz, daß am Ende der Geist die Erde erfüllen wird wie die Wasser den Meeresboden bedecken, und daß das Meer am Ende nicht mehr sein wird?
    Hat nicht der Bilderstreit (vgl. Horst Fuhrmann) eine Lösung gefunden, die die Katastrophe überhaupt erst herbeigeführt hat: die Unterscheidung des Bildes von dem durch das Bild Bezeichneten? Hier ist implizit die Sprache zum Bild entmächtigt worden.
    Die einzige Krone, die im Neuen Testament vorkommt, ist die Dornenkrone (bei Mt 2729, Mk 1517, Joh 192.5).
    Hängt es nicht mit der Logik der Verurteilung, die bis ins Zentrum der christlichen Theologie hinein sich nachweisen läßt, zusammen, daß seit je die Hölle deutlicher und verständlicher ausgemalt wurde als der Himmel?
    Horst Fuhrmann ist ein drastisches Beispiel für eine Geschichtswissenschaft, die sich selbst zum Instrument des Vergessens geworden ist. Seine Urteile sind in erster Linie Urteile ad personam, d.h. Geschwätz. So kann er auf die Himmlersche Verehrung irgend eines Heinrich „wertfrei“ hinweisen, während er den Aries einen „Sonntagshistoriker“ nennt und ein Gerücht, das es über ihn mal gegeben hat, kolportiert, ohne es für nötig zu halten, seinen Wahrheitsgehalt zu prüfen. Oder er berichtet über die Fälschungen im Mittelalter, ironisiert zugleich die Bemerkung von Hallers, daß man nicht auf Vorrat fälscht, um diese Bemerkung mit genau dem Hinweis zu bestreiten, den sie gerade problematisiert. H.F. ist nur noch „herrschende Meinung“; deshalb braucht er nicht mehr zu argumentieren. Die Heinsohn-/Illig-Gruppe, auf die mehrere seiner Themen verweisen (neben dem Fälschungsproblem z.B. auch der Fall Kammeier), wird nur verschwiegen, an keiner Stelle benannt.
    Auf dem Bauche sollst du kriechen und Staub sollst du fressen: Ist das Fernsehen nicht inzwischen Zoohaltung und -fütterung des Drachen geworden?
    Ist nicht der Fernsehmoderator eine institutionelle Verkörperung des „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können? Nur daß im Fernsehen beides, das Ich denke und meine Vorstellungen vergesellschaftet und durch den Abgrund des Bildschirms von mir geschieden sind. Die Grundlüge des Fernsehens ist das Wort, mit dem alle Moderatoren auf die nächste Ausgabe der Sendung verweisen: „Wir sehen uns wieder am …“ Hier erscheint dieses pseudotherapeutische „Wir“, das zur Krankenhaussprache gehört und hier wie dort die Adressaten entmündigt und hospitalisiert.
    Hat nicht die Ersetzung des Gottesnamens durch die Personalpronomina in der Buber-Rosenzweigschen Bibelübersetzung etwas mit Ulli Wickert zu tun?
    Kommt das „Verurteilen“ in Hegels Philosophie vor (im Hegel-Register erscheint es nicht)? Wann und in welchem Zusammenhang ist es entstanden? Gehört es in seinem Ursprung zur Sprache des Staatsanwalts (ist es zusammen mit diesem Titel entstanden – der Kluge enthält weder den Staatsanwalt noch das Verurteilen)?
    Steht der Grund in Hegels Philosophie (überhaupt in der Philosophie) an der Stelle, an der in der biblischen Tradition die Barmherzigkeit steht (der Mutterschoß oder der „Grund“, aus dem die Prophetie kommt)? In der Philosophie geht (trotz Heidegger), was aus dem Grunde kommt, auch wieder zu Grunde. Der „Mutterschoß“, aus dem die Philosophie (der Begriff) hervorgeht, ist das Schicksal, die mythische Schicksalsidee.
    Kritik zielt auf Begriffe, nicht auf Objekte; darin liegt ihre reinigende Kraft.
    Mit dem Inertialsystem setzt sich das Subjekt ans Ende der Zeitreihe (tauft es die Welt, die so zur Welt wird, mit der Taufe der Vergangenheit, antizipiert es das Ende der Welt), aber tut das nicht in der geldwirtschaftlich determinierten Realität der „Reiche“, das kapitalistische Wirtschaftssubjekt? Ist nicht das Bewußtsein des Entronnenseins eine der Verführungen des Geldes: die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit? Diese Vorstellung ist der Grund des Hegelschen Weltgerichts, gegen das Jakobus das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht setzt.
    Was hat das Weltgericht mit der Sexualität zu tun?

  • 16.6.96

    Zeugen der Kreuzigung waren die Frauen, Zeugen der Auferstehung waren nach Maria Magdalena die Apostel. Ist nicht darin das Schicksal der Kirche vorbezeichnet gewesen? War nicht das Dogma (und mit ihm die Confessio: das Bekenntnis und die Konfession) der Fluchtpunkt des männlichen Verhaltens in den Anfängen?
    Die Idee des Jüngsten Gerichtes widerspricht der Vorstellung, daß der Tod alle gleichmacht.
    Instrumentalisierung: Wird der Katholizismus heute nicht zu einer Gemeinschaft der verbiesterten Frommen, die es nur noch als Erscheinung, als „Vorbilder“ für andere sind?
    Zur Frage der Sündenvergebung:
    – die Taufe des Johannes,
    – vergeben wird dem, der anderen vergibt,
    – Verstockung: „daß sie sich nicht bekehren und keine Vergebung finden“ (Mk 412),
    – die Heilung des Gelähmten,
    – „ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt“,
    – die Sünde wider den Heiligen Geist,
    – wenn ihr betet, so vergebt dem, der etwas gegen euch hat,
    – „in seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden gepredigt allen Nationen, anfangend von Jerusalem“,
    – wem ihr die Sünden vergebt (behaltet), dem sind sie vergeben (behalten). (Die einzige Stelle im Johannes-Evangelium, 2023)
    Das Inertialsystem als Generalamnestie: Ist das nicht die Quelle der Inspiration Drewermanns?
    Der Kapitalismus hat die Schuld von der Sünde getrennt; er „läßt den Armen schuldig werden“. Hier gründet die Logik, für die das Schuldigwerden mit dem Erwischtwerden zusammenfällt. Steckt diese Logik nicht schon in Hegels Begriff des Handelns, der allein auf dessen objektive Manifestation abstellt; die Gesinnung, die „bloße“ Absicht und das „abstrakte“ Sollen werden unerheblich.
    Verhält sich nicht der Sabbat zur dies dominca wie die Erfüllung des Worts zur Erfüllung der Schrift? Der Sabbat ist der Tag, an dem Jesus im Grab gelegen hat; und es war Joseph von Arimathäa, der ihn am Vorabend des Sabbat vom Kreuz abgenommen und in sein Grab gelegt hat, in das gleiche Grab, das am „Ostermorgen“, am Tag nach dem Sabbat, leer war.
    Die Augenlust ist die Urteilslust, der Zwang, das Gesehene einzuordnen.
    Gründet das Rosenzweigsche Wort vom „hintertückischen, verandernden Wissen des Denkens“ nicht in dem kantischen Satz vom „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“, auf das Einheitsprinzip der transzendentalen Logik, den Grund des kantischen Begriffs der Erscheinungen? Das „meine Vorstellungen begleitende Denken“ macht sie zu „meinen Vorstellungen“, begründet eine Art Eigentumsordnung der Vorstellungen (zusammen mit dem rechtlich faßbaren Begriff des Plagiats). Ist nicht die Eigentumsordnung, deren Urheber und Garant der Staat ist, das Organisationsprinzip der transzendentalen Logik? Gründet nicht der Nationalismus (und mit ihm die Xenophobie, in letzter Konsequenz der Antisemitismus) in der Organisation der instrumentalisierten Vernunft, deren gegenständliches Korrelat die in Natur und Welt aufgeteilte Objektivität ist?
    Die Lichtgeschwindigkeit ist die Asche der Teleologie.
    Augenschein als Ideologie: Das Auge „scheint“ nicht, sondern wird vom Schein des Lichts getroffen.
    Ist nicht die Fallbeschleunigung die Pforte der Hölle (der Grund des Zeitkontinuums)?
    Mit dem Himmel hat der katholische Mythos auch die Hölle verräumlicht, die ihr innewohnende Beziehung zum Herrendenken, zur Vergangenheit, zum Tod, durch Ideologisierung unkenntlich gemacht.

  • 23.5.96

    Theologie im Angesicht Gottes ist die Lösung des Problems der Verbindung von Theologie und Gebet: der Versuch, die Welt so zu begreifen, wie sie im Licht Seines Angesichts erscheint. Das Licht in dem Satz „Ihr seid das Licht der Welt“ hat seine Quelle im Leuchten Seines Angesichts. Die Kritik des Anthropomorphismus ist der Weg der falschen Befreiung vom Mythos (der „Weg des Irrtums“). Hilfsmittel dieser falschen Befreiung (und Quellpunkte des Irrtums) sind die Totalitätsbegriffe (Wissen, Welt und Natur), mit denen das Subjekt gegen die Gotteserkenntnis sich abschirmt. Erinnerungsarbeit geht davon aus, daß die vorwissenschaftlichen „Weltbilder“, der Mythos wie auch die Astrologie, keine Lösungen sind, wohl aber Erinnerungen an ein Problem, das wir verdrängt haben, und dessen Verdrängung unser Bewußtsein verhext. Wenn heute keiner mehr an die Auferstehung glaubt, dann hängt das mit Auschwitz zusammen. Sehen Verwaltungen ihre Klientel nicht als ein Stück anorganischer Materie, als ein lästiges Anhängsel der Gesetze und Verordnungen, die die „Lebenswelt“ der Verwaltungen definieren? Der real existierende Sozialismus ist nicht zuletzt daran gescheitert, daß er glaubte, Gerechtigkeit mit Hilfe der Verwaltung durchsetzen zu können (diesem Aberglauben sind alle verfallen, die glauben, daß die Dinge besser werden, wenn nur die „richtigen Leute“ an die Macht kommen: an die Macht, das heißt über das Instrument der Verwaltung verfügen zu können, während in Wahrheit die alte Scheiße mit den Verwaltungen sich reproduziert). Zur Aufklärung und Sensibilisierung, denen die Startbahn-Katastrophe gemeinsam mit allen mit Polizeigewalt durchgesetzten Großprojekten den Boden unter den Füßen weggezogen hat, gibt es keine Alternative. Der Verwaltungsblick ist begrenzt durch die verwaltungsinternen „subjektiven Formen der Anschauung“: die Logik der selbstgesetzten Regelungen und Zwänge des Verwaltungshandelns. Der Sozialhilfeempfänger ist dann nur ein Anwendungsfall der Sozialgesetze. (Die Wittgensteinsche „Welt“ gleicht der Welt der Verwaltung: sie „ist alles, was der Fall ist“.) Hängt nicht das Problem der Beziehung von Kapitalismus und Faschismus mit dem der Funktion der Verwaltung im Kapitalismus zusammen? Horkheimers Wort, daß, wer vom Faschismus redet, vom Kapitalismus nicht schweigen darf, wird heute wahr, wenn man es umdreht: Wer vom Kapitalismus redet, darf vom Faschismus nicht schweigen. Der Faschismus (das Tier aus dem Meere) war eine naturwüchsige und zugleich hybride Form des Verwaltungsdenkens (von hierarchisch organisierter Verantwortungslosigkeit, blindem Gehorsam, Intrige, Zynismus, Empfindlichkeit und Gemeinheit). Er hat die Voraussetzungen geschaffen für eine Welt, in der die von ökonomischen Zwängen determinierte Verwaltung am Ende die Politik abschafft und ersetzt und die Staaten zu Kolonien der alles beherrschenden Ökonomie (des Tieres vom Lande) werden. Ist nicht das Bild der sieben unreinen Geister das biblische Symbol der Verwaltung (und war nicht die Astrologie, die ihr Zentrum im „chaldäischen“ Babylon hatte, eine idolatrische Vorform des Verwaltungsdenkens)? Sind nicht die imperialen Strukturen der Verwaltung über kirchliche Institutionen tradiert worden, insbesondere über das Amt des episkopus (des „Aufsehers“)? Die Verwaltung ist das politische Pendant der subjektiven Formen der Anschauung (der Abstraktion vom Blick des andern): Die kirchliche Verwaltungsorganisation war der gesellschaftliche Grund der Theologie hinter dem Rücken Gottes. Mit der Polizei wurde die vorher nur nach außen gewandte Gewalt des Militärs (die Gewalt der Eroberung und Beherrschung fremder Völker, der Unterwerfung anderer Staaten) nach innen gekehrt. Sind nicht Polizei, Steuerpflicht und Finanzwesen gemeinsamen Ursprungs, und sind sie nicht im kirchlichen Bereich ausgebildet worden (vgl. insbesondere die religions- und herrschaftsgeschichtliche Bedeutung der Inquisition)? Die Kolonisierung des Staates durch die Globalisierung der Ökonomie verändert auch die innere Struktur der privaten Welt: Sie ist das Modell (und das Pendant) der „Kolonisierung der Lebenswelt“, des privaten Bereichs, zu deren Ursprungsgeschichte die Geschichte der Privatisierung der Sexualmoral gehört. Die Medienwelt heute ist die institutionalisierte Leugnung des Namens, eine Einrichtung zur Fütterung des Drachens: Die Einübung des Auf-dem-Bauche-Kriechens und des Staubfressens. Erscheint der Name der Kirche, der ekklesia, nur in der Apokalypse im Plural (in den sieben „ekklesiai“ in Asien)? Zur Verhärtung des Herzens Pharaos: – Bei welchen Plagen treten die Zauberer und Wahrsager Ägyptens auf, wann werden sie in die Plagen mit hereingezogen, wann verschwinden sie? – Wann weist Moses den Pharao darauf hin, daß am dritten Tag in der Wüste das „Scheusal Ägyptens“ geopfert werden soll, und wann ist es wirklich geopfert worden? – Bei welchen Verstockungen ist Gott (JHWH) der Urheber, bei welchen der Pharao, und bei welchen Plagen „bleibt“ das Herz des Pharao verstockt (wie lauten die entsprechenden Übersetzungen von Buber oder Zunz)? Die Prophetie hat einen Aktualitätskern. Im Ernst (zumal im Anblick der fortschreitenden Vergesellschaftung von Herrschaft) gibt es eigentlich nur zwei Haltungen zur Prophetie: Entweder man ist selber Prophet, oder man ist Objekt der Prophetie. Die Historisierung der Prophetie, ihre Neutralisierung durch Objektivierung ist eigentlich unerlaubt, aber ist sie nicht gleichwohl unvermeidbar und notwendig? Und das ist das Modell der Gegenwart, des Aktualitätskerns heute, Grund des Adorno-Worts: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Das Leben, in das wir heute verstrickt sind, ist eigentlich unerlaubt; und die Tatsache, daß es dazu keine Alternative gibt, rechtfertigt es nicht. Notwendig ist seine Reflexion, auch wenn sich keine „praktischen Konsequenzen“ daraus ableiten lassen: Liegt hier nicht der Wahrheitskern dessen, was einmal Gottesfurcht hieß?

  • 17.5.96

    Die Beziehung von Richten und Gerichtet-Werden drückt in der Logik der Reversibilität aller Richtungen im Raum sich aus, sie drückt in einem Bewußtsein sich aus, das „Rechts und Links nicht unterscheiden“ kann.
    Dadurch unterscheidet sich die Sprache von der mathematischen Form des Raumes (von der subjektiven Form der äußeren Anschauung), daß in ihr vorn und hinten, rechts und links und oben und unten sehr deutlich unterschieden sind: Das Im Angesicht und hinter dem Rücken sind zwei verschiedene Sprachen, ebenso das richtende und das verteidigende Wort; und der, der „über“ jemanden redet, redet anders als der, der zuhört oder mit jemandem spricht. Der Begriff ist generell „über“ der Sache, das Objekt ist unten und stumm. In die Sprache selbst dringt der Raum über die Prä- und Suffixe ein, wobei die Präfixe ein System räumlicher (und zeitlicher) Beziehungen zu den Dingen, die Suffixe die Wirkungen des Raumes (und der Zeit) in den Dingen dokumentieren. Eine besondere sprachgeschichtliche Bedeutung und sprachlogische Funktion scheint hier den Sprachen zuzukommen, in denen auch der bestimmte Artikel in die Deklination mit hereingenommen wird. Erkennen läßt sich dieser Prozeß (dessen Radikalität erst in den modernen Sprachen sich manifestiert) an der Transformation des Nomen in das Substantiv, die die Transformation der erkennenden Sprache (die in der Sache sich bewegt, sie zur Sprache bringt, indem sie die Kraft des Namens in den Dingen weckt) in die nur noch mitteilende Sprache (die die Kraft des Namens leugnet und nur von außen auf die Sache sich bezieht) besiegelt.
    Die Beantwortung der Frage, ob und wie im Strafrecht synthetische Urteile apriori möglich sind, hängt davon ab, ob ein apriorisches Objekt sich konstruieren läßt: eine Gestalt des Angeklagten, die nur noch Objekt des Verfahrens und ebenso so stumm wie das Objekt ist: ein Angeklagter, der nicht mehr als Angeklagter, sondern als Feind fungiert. Dem kommt die strafrechtliche Definition des Mörders nahe (Mord ist das einzige Delikt im traditionellen Strafrecht, das ein Täterdelikt, kein Tatdelikt ist). Reale Bedeutung gewinnt die Konstruktion des Feindes allerdings erst im Staatsschutzverfahren, in dem dann auch Richter und Staatsanwalt nicht mehr sich unterscheiden lassen, in dem die Verteidiger zu Unterstützern des Feindes und die Besucher zu Sympathisanten werden. Das Staatsschutzverfahren ist kein Problem des Rechts, sondern eines der Logik.
    Kritik der Naturwissenschaften: Zu den synthetischen Urteilen apriori des Kapitalismus gehört die Subsumtion der Arbeit unter die anorganische Materie (Kostenfaktor).
    Das Dogma, die Orthodoxie, ist ein System synthetischer Urteile apriori der Bekenntnislogik: Die Opfertheologie steht an der Stelle, an der in der Transzendentalphilosophie Kants die subjektiven Formen der Anschauung stehen.
    Apokalyptisches Tier: Ausbildung (einschl. Studium) produziert heute dressierte Hunde.

  • 6.5.96

    Der Name des Menschensohns erscheint zuerst bei Ezechiel und bei Daniel, er reflektiert bei beiden die Situation im babylonischen Exil. Bei Ezechiel steht er offensichtlich im Zusammenhang mit der Individualisierung der Schuld. Ist dieser (theologische) Begriff des Menschensohns nicht immer mit dem (juristischen) der Person verwechselt worden? Die Individualisierung der Schuld bei Ezechiel bedeutet keine Entlastung (z.B. von der Schuld der Väter), sondern eher einer Verschärfung: Der ezechielische Begriff der Verantwortung schließt auch die für die Sünde des Andern mit ein (vgl. das „dixi et salvavi animam meam“): ein Vorgriff auf Joh 129?
    Der Name des Menschensohn unterscheidet sich vom Begriff der Person wie die Verantwortung von der Zurechenbarkeit: durch den Weltbegriff (und seine exkulpierende Funktion), durch das juristische Prinzip der Nachweisbarkeit (durch die Grenzen der Beweislogik; anders als der Menschensohn gilt die Person als schuldig nicht durch die Tat, sondern nur durch deren Nachweisbarkeit: durchs Erwischtwerden), nicht zuletzt durch ihr Verhältnis zur Gemeinheit: Während der Menschensohn seine moralische Integrität aus der Solidarität mit der Menschheit gewinnt, gewinnt die Person ihre Integrität aus einem strategischen Handlungsbegriff, der darauf abzielt, unter Ausnutzung der Grenzen der Beweisbarkeit die Vorwerfbarkeit von Handlungen auszuschließen. Personalistische Ethiken sind Urteilsethiken, keine Ethiken des richtigen Handelns; deshalb waren alle Wertethiken personalistisch.
    Zu den zehn ägyptischen Plagen: Die Geschichte des Objektivationsprozesses ist die Geschichte der Verstockung, die Entstehungsgeschichte des steinernen Herzens.
    Es ist irritierend, bei Miskotte all die Namen wiederzufinden, die mich in meiner theologischen Phase so verwirrt haben. Was mich ärgert ist, daß er das modische Geschwätz seiner „religiösen“ Kollegen (das Geschwätz, das verschweigt, was wirklich geschehen ist, und eigentlich nur noch als Objekt prophetischer Kritik Beachtung verdiente) ernst nimmt.
    Ist nicht jede Kosmologie, von den Mythen bis zum Urknall, Teil eines durch Verschiebung ins Ästhetische ichfremd und angstfrei gemachten apokalyptischen Gesellschaftsbegriffs? Insbesondere der modernen kosmologischen Konstrukte, die aus hastig zusammengebastelten naturwissenschaftlichen Versatzstücken bestehen, gewinnen ihre Überzeugungskraft nicht aus ihrer naturwissenschaftlichen Konsistenz, sondern aus den gesellschaftlichen Modellen, deren Deckbild sie sind. Hatten nicht schon das Entropiegesetz und die Marxsche Kapitalismus-Kritik eine gemeinsame Basis (deren Nicht-Reflexion dann so verhängnisvolle welthistorische Folgen hatte)?
    Die Privatisierung staatlicher Dienste schränkt die demokratische Kontrolle, die Kontrolle durch Vernunft, ein und ersetzt sie durch die Kontrolle durch die blinden Marktkräfte. Den Müll, den dieses System produziert, soll Verbrechensbekämpfung dann entsorgen. Was bedeutet es, wenn Ökonomie und Justiz auf diese Weise kurzgeschlossen werden; werden so nicht die Voraussetzungen für eine positivistische Rechtspraxis geschaffen, die die Urteilsfindung dann auf ein Verfahren der Konstruktion synthetischer Urteile apriori zusammenschnurren läßt und das Recht – ähnlich wie zugleich auch die Politik – immer mehr dem Verwaltungsverfahren angleicht? Die Kraft des reflektierten Urteils verschwindet im Recht wie in der Politik. Ist dies nicht der Zustand, auf den sich die biblische Geschichte von den zehn ägyptischen Plagen und den Verstockungen des Pharao bezieht?
    Im Exodus ist der Müll, den das Sklavenhaus Mizrajim produziert hat, im Namen Gottes zum befreienden Bewußtsein seiner selbst gekommen.
    Ist nicht jede Gefangenschaft (auch die strafrechtliche) eine Art der Kriegsgefangenschaft, und die „Strafe“ ein nach innen gewendeter Krieg? Deshalb läßt sich das Recht, Krieg zu führen, ohne die Existenz der Todesstrafe nicht begründen.
    Das Gewaltmonopol des Staates ist ein Erbe der Kriege, durch die es einmal begründet worden ist: es ist ein Kriegsrecht. Die Naturwissenschaften wenden dieses Kriegsrecht gegen die Natur; deshalb ist die Reflexion der Naturwissenschaften für den Staat, der die Erinnerung an seinen Ursprung nicht hochkommen lassen darf, so gefährlich.
    Hat das Tier vom Lande (der falsche Prophet) etwas mit der Beziehung von Adam und adama zu tun, und ist der Name des Menschen, auf den die Zahl des Tieres sich bezieht, der Name Adams? Was hat der ben adam mit dem bar enosch zu tun: Ist der ezechielische Menschensohn der ben adam und der danielische der bar enosch?
    17 = 10 + 7; 23 = 30 – 7; und 36?
    Im Englischen gibt es zwei Namen des Himmels, der eine bezieht sich auf den Himmel der Vögel, der andere auf den der Engel. Kann es sein, daß diese Unterscheidung mit der englischen Version des Infinitivs von Sein, mit dem to be, zusammenhängt?
    Ist nicht die Verstockung ein anderer Name für das pathologisch gute Gewissen (ein Sinnesimplikat der Ontologie), das ohnehin seit langem mit der Sündenvergebung und dem christlichen Verständnis der Erlösung verwechselt wird? Verstockung: das ist die Frucht der Opfertheologie und der „Entsühnung der Welt“.
    Das historische Christentum hat ohne es zu wissen die Sünde der Welt auf sich genommen; es käme darauf an, daß es endlich das Bewußtsein davon erlangt, daß es endlich erwacht.

  • 15.4.96

    Als Urteilsmoral hat die christliche Sexualmoral die Gottesfurcht durch das schlechte Gewissen ersetzt, das die Menschen beherrschbar macht.
    Die Bekenntnislogik ist die Logik der Objektivierung und Instrumentalisierung der Wahrheit. Deshalb gibt es kein Bekenntnis ohne Opfertheologie. Und der Götzendienst war bereits eine experimentelle Vorform der Bekenntnislogik.
    Die Lohnarbeit war der Beginn eines Prozesses, der darauf abzielt, am Ende auch die Zirkulation in die Produktion mit einzubeziehen, (durch Marktanalyse und Reklame beherrschbar zu machen). Die Globalisierung des „freien Marktes“ hat die Logik des Kapitals (ähnlich wie die Staatsschutzjustiz die Logik des Rechts) zur transzendentalen Logik (zu einem Instrument der Konstruktion von synthetischen Urteilen apriori) gemacht.
    Ist nicht das Wort über den Handel und an die Reichen (Latifundienbesitzer) bei Jakobus an Griechenland und an Rom adressiert?
    Die Blinden und die Lahmen: Läßt sich diese Konstellation nicht an der Beziehung zum Faschismus demonstrieren? Werden nicht die, die den Faschismus durch Verurteilung (aus der Sicht der Nachgeborenen) bannen wollen, blind, und die, die ihn von innen (aus der Sicht seiner Opfer) begreifen wollen, lahm?
    Die Menschen leben nicht (wie die Tiere) in der Natur, sondern in der Welt. Die Welten der Tiere, sind allesamt Teil der Natur (die Natur ist der Inbegriff aller Objekte von Urteilen: das Tier ist ein lebendiges Objekt eines Urteils).
    Zum Symbol des Kreuzes: In der Mathematik sind wir die Opfer einer Logik, die uns beherrscht; die Beweislogik ist die Logik dieser Herrschaft, einer Logik, deren Ursprung wir nicht kennen, und an deren Ursprung wir nicht heranreichen.
    Wenn der Staat die Organisationsform einer Gesellschaft von Privateigentümern ist, dann, so scheint mit, verweist das auch auf den Ursprung der Mathematik (des „Bogens in den Wolken“?).
    Ist der Bogen in den Wolken das hebräische Gegenstück zum griechischen Gnomon?
    War nicht die Darstellung der Praxis der Getreide-Spekulation und ihrer Folgen bei Frank Norris (in dem Roman, der Bert Brecht zum Marxisten gemacht hat), noch harmlos gegenüber der Funktion und Bedeutung, die die Spekulation (als reine Geldspekulation) heute gewinnt? Die Hypothese wäre zu prüfen, ob nicht das Geld-Spekulationsgeschäft, das nicht nur (wenn auch vor allem) Banken betreiben, mit der Explosion der Armut, die ganzen Bevölkerungen die Existenzgrundlage entzieht, zusammenhängt, und das nicht nur symbolisch, sondern real.

  • 3.4.96

    Das Fernsehen ist die ironische Erfüllung der Idee der seligen Anschauung Gottes.
    Eine Theologie im Angesicht Gottes läßt sich nur noch aus dem imperativischen Charakter der Attribute Gottes begründen. Wenn die Theologie aufhört, sich als Theologie hinter dem Rücken Gottes zu begreifen, wird das Geschwätz aufhören: die Intrige, das Reden über andere hinter ihrem Rücken.
    Das aber wäre auch das Ende einer Theologie, die die Schrift nur noch projektiv, mit Hilfe der Logik des Schuldverschubsystems, verarbeitet. Das projektive Moment, die Logik des Schuldverschubsystems, steckt als ein konstitutives Moment im Begriff der Realität heute, die nur noch unter Zu-Hilfe-Nahme der Theologie (als Reflexion und Kritik des Schuldverschubsystems) noch zu durchdringen ist.
    Widerlegung des Begriffs der „objektlosen Angst“: Die Fähigkeit, die Angst zu reflektieren, hängt zusammen mit der Fähigkeit, die Schuld zu reflektieren. Rosenzweigs Anfang mit der Todesfurcht steht in logischem Zusammenhang mit dem Satz, daß nur, wer die Last auf sich nimmt, sich von ihr befreit.
    Zu den Dingen, die der raf vorzuwerfen sind, gehört nicht zuletzt, daß sie sich bewußtlos zum Agenten des Staatsterrorismus, den sie zu bekämpfen glaubte, hat machen lassen (die Herrschenden kennen keine Solidarität und keine Trauer: der Tod Schleyers hat nur eine attraktive Stelle freigemacht).
    Die Vorstellung einer Natur, die die Menschheit überleben wird, ist ein Spiegelbild des Kapitalismus.
    Als Schelling die Weltalter schrieb, hatte – so darf vermutet werden – das Verb „ahnden“ sicher schon die gleiche strafrechtliche Bedeutung, die es auch heute noch hat. Daß „die Zukunft geahndet“ wird, wie es im ersten Satz der Weltalter heißt, ist aber nicht nur die Folge einer Verwechslung des Ahndens mit dem Ahnen, sondern gehorcht einer bewußtlosen Logik, die ihren Grund in der Fichteschen Identifizierung der Philosophie mit der Wissenschaft hat. Die geahndete Zukunft ist die durch Subsumtion unter die Vergangenheit, unter den Begriff und die Logik des Wissens, verurteilte Zukunft, eine Zukunft, die die Zeche zu zahlen haben wird.
    Ist nicht das Horkheimer-Wort: Wer vom Faschismus redet, darf vom Kapitalismus nicht schweigen, heute (nach Auschwitz) zu radikalisieren: Wer die Auferstehung leugnet, sollte von der Utopie schweigen?
    Die subjektiven Formen der Anschauung sind das Instrument der Herrschaft über den Himmel (der dadurch vermittelten Vergesellschaftung von Herrschaft: die antike Astronomie hat dazu beigetragen, Herrschaft zu begründen, die kopernikanische Wende, der himmlische Reflex des Ursprungs des Kapitalismus, hat sie vergesellschaftet).
    Wenn Name und Begriff durch ihre Beziehung zur Schuld sich unterscheiden, worauf beziehen sich dann das „Bekenntnis des Namens“ und die „Heiligung des Gottesnamens“?
    Ist die Samson-Geschichte im Buch der Richter nicht auch eine prophylaktische Ironisierung der Jesus-Geschichte (vgl. z.B. die „Verkündigung“ der Geburt an die Mutter, die Rolle des Vaters und den „Opfertod“ am Ende)? Wird nicht das Moment der Ironie im Buch der Richter überhaupt erst erkennbar im Kontext der Reflexion und Kritik von Herrschaft, mit der Heraustreten aus dem autoritären Bann (der u.a. unser Bibel-Verständnis ans nationalistische Apriori, das aber heißt: an den Historismus, bindet und den Blick auf das, was im Ernst Offenbarung heißen darf, verstellt)?
    Zu den letzten Kapitel des Buchs der Richter vergleiche die anderen biblischen Stellen zu Pinchas, Sohn des Eleazar, und zu Jabesch-Gilead.
    Beerscheba: Was haben der Schwur und die („heilige“) Zahl sieben mit einander zu tun? Vgl. hierzu Lillian R. Klein, S. 186 (shaba: to swear; to seven oneself, or bind oneself by seven things, Brown-Driver-Briggs-Gesenius: Hebrew/Aramaic Lexicon, 1979, p. 989).
    Die Justiz fördert den Rachetrieb und verhindert die Schuldreflexion. Deshalb bedarf das Recht des Schwurs.

  • 31.3.96

    Ist nicht jeder Indikativ ein versteckter Imperativ (jeder Indikativ erhebt Anspruch auf die „normative Kraft des Faktischen“; darin gründet der Anspruch der Ontologie)? Und käme es nicht darauf an, diesen Anspruch reflexionsfähig zu machen, anstatt ihm blind zu folgen? Das imperativische Zentrum des Indikativs ist die Idee des Absoluten: Produkt der Selbstreflexion des Subjekts im Unendlichen, der Schatten, den das Subjekt auf Gott wirft.
    Das Proletariat in der Marxschen Theorie ist nicht austauschbar und nicht beliebig ersetzbar, insbesondere nicht durch irgendwelche Avantgarden. Stattdessen wäre endlich der Paradigmenwechsel zu reflektieren und zu begreifen, der einhergeht mit der Globalisierung des Kapitalismus, mit der universalen Realisierung des „freien Marktes“ und in deren Folge mit der inneren Differenzierung im Begriff und in der Realität des Proletariats: Der ökonomischen Proletarisierung ganzer Weltregionen entspricht die politische Proletarisierung der Metropolen.
    Der Markt gründet im Fernhandel, in den Außenbeziehungen der handeltreibenden Staaten und Völker; seine Wurzeln liegen im Raub, in der Eroberung und im Opferwesen. Der Markt hat diese Beziehungen im Hegelschen Sinne in „Naturbeziehungen“ transformiert. Es wäre nachzuweisen, daß in dieser Konstellation der Naturbegriff überhaupt erst entspringt (daß die zweite Natur das Modell der ersten war, in deren Bild sie sich bewußtlos wiedererkannte). Natur war seit je potentielles Eigentum (herrenloses Gut, das, was einfach nur da ist), und die vorsokratische Philosophie, die unter dem Standardtitel peri physeos sich entfaltet hat, war ein Produkt der Vergesellschaftung der Logik des Handels, die dem Expansionstrieb des Staates den Weg freigemacht hat. So war Philosophie von Anbeginn (auch als Naturphilosophie, die durch Entzauberung der Natur die Widerstände und Hemmungen abgebaut hat, die der Aneignung und Beherrschung der Natur und der Begründung des Gewaltmonopols des Staates im Wege standen) politische Philosophie.

  • 30.3.96

    Entsühnung der Geschichte: Das wäre der Ruf, der die Toten auferweckt. Der Historismus verschließt die Pforten der Hölle.
    Ist nicht das Wort von der „Bewahrung der Schöpfung“ nur eine Modernisierung eines Slogans, der vor vierzig Jahren theologische Mode war, des Worts von der „Heiligung der Welt“?
    Zum Jakobus-Brief: Welcher Jakobus war der Verfasser:
    – der Zebedäussohn (Bruder des Johannes, einer der drei, die bei der Erweckung der Tochter des Jairus, auf dem Berge Tabor und in Getsemane dabei waren, Mk 537, 92, 1433, nach Mk 129 waren die Zebedäussöhne auch mit im Haus des Simon und Andreas, bei der Heilung der Schwiegermutter des Simon Petrus),
    – der andere Apostel Jakobus (Sohn des Alphäus; identisch mit dem „kleinen Jakobus“, Mk 318, 1540?),
    – der Herrenbruder, Leiter der Jerusalemer Gemeinde, einer der „drei Säulen“ (Gal 29),
    – der Vater/Bruder des Judas (Lk 616, Apg 113, Jud 11); identisch mit einem der beiden vorgenannten?
    Frage: Hat der „Synagogenvorsteher“ Jairus etwas mit dem Clan des Jair (und mit dem gleichnamigen Richter – vgl. 4 Mos 3241 und Ri 103ff -, oder auch mit dem Vater des Mardochai, Est 25) zu tun?
    Anfrage an Dorothee Sölle (zu ihrem Beitrag im letzten Heft der „Jungen Kirche“): Zum Problem der göttlichen Gewalt, Benjamins „Kritik der Gewalt“ und Derridas „Gesetzeskraft“ (fällt der Holocaust unter Benjamins Begriff der göttlichen Gewalt?). Dazu das Problem Kapitalismus/Religionskritik (Hinkelammert „Götze Markt“, Benjamins Bemerkung zum Kapitalismus als Opferkult ohne Entsühnung, nur verschuldend, darin dem Begriff des Rechts in Benjamins Kritik der Gewalt vergleichbar). Ist die Freisetzung der Kräfte des „freien Marktes“ die Freisetzung der Kräfte der Verwüstung: der Selbstzerstörung der Politik („Greuel am heiligen Ort“)?

  • 22.3.96

    Genealogie: Die Bekenntnislogik ist die Tochter des Tauschprinzips und die Mutter des Trägheitsgesetzes. Sie ist das Bindeglied zwischen der Geldwirtschaft und den mathematischen Naturwissenschaften.
    Die Bekenntnislogik (vom Götzendienst über das trinitarischen Dogma bis zum Faschismus) ist das Laboratorium des Weltbegriffs.
    Das Inertialsystem ist die instrumentalisierte Schicksalsidee (die instrumentalisierte Logik des Mythos). Die Schicksalsidee (und der Mythos) aber war der Preis für die Bildung des Neutrum und den Ursprung der indoeuropäischen Sprachen.
    Der Islam, der das Schicksal monotheisiert hat, hat den Ausweg aus dem Mythos vesperrt.
    Jeshajahu Leibowitz: Die Geschichte ist die Geschichte des Wahnsinns, des Verbrechens und des Unglücks. Und sie ist zugleich die Geschichte des Kampfes dagegen. Verweist nicht der Wahnsinn auf die Bekenntnislogik, das Verbrechen auf die Geldwirtschaft und das Unglück auf den Ursprung des Naturbegriffs? Wer die Geschichte auf Wahnsinn und Verbrechen reduziert, ist paranoid. Nur die Erinnerung ans Unglück bewahrt vor der Paranoia, vor der auch die Kapitalismus-Kritik nicht gefeit ist. Dem Faschismus ist es vorbehalten geblieben, auch das Unglück noch in die eigenen Regie zu nehmen, die Naturkatastrophe zu inszenieren.
    Was die Reflexion von Auschwitz und den „christlich-jüdischen Dialog“ so unendlich belastet und fast unmöglich macht, ist das Erbe einer Logik, die zuerst in der Christologie sich manifestiert hat: die Logik der Vergöttlichung des Opfers, die ein Teil der Urteilslogik ist. Der Faschismus aber war eine Explosion der Gemeinheit; und diese Explosion ist nicht beendet, sie geht weiter. Damit hängt es zusammen, wenn der Schrecken und der Bann des Faschismus nicht durch Verurteilung aufzulösen ist, sondern allein durch Reflexion der Logik der Gemeinheit, die innerhalb der Urteilslogik nicht zu leisten ist, weil sie die Reflexion der Urteilslogik (die Kritik der in der Urteilslogik begründeten Totalitätsbegriffe, der Begriffe des Wissens, der Natur und der Welt) voraussetzt.
    Ist nicht der Begriff der Bekenntnislogik ein Versuch, dem Problem der Gemeinheit auf die Spur zu kommen? Die Bekenntnislogik, die in der Schuldumkehr gründet, verdankt sich der Weiterbildung und Entfaltung des projektiven Moments im philosophischen Erkenntnisbegriff. Das Glaubensbekenntnis ist ein umgekehrtes Schuldbekenntnis: Bekannt (und damit zugleich festgeschrieben und fixiert) wird die Schuld des Objekts, die „Schuld der Welt“, die der Erlöser im Opfertod am Kreuz „hinweggenommen“ und gesühnt haben soll. Der christliche Erlösungsbegriff, die Idee der „Entsühnung der Welt“, war die konsequenteste Entfaltung der Bekenntnislogik; ihr wirkliches Ergebnis aber war die Freistellung des Weltbegriffs, die Legitimierung von Herrschaft, die Diskriminierung der Kritik. Die die Bekenntnislogik konstituierende Opfertheologie ist im Faschismus nochmals explodiert: Das war die Explosion der Gemeinheit. Ist die Bekenntnislogik der „Greuel am heiligen Ort“? Und ist das in die Bekenntnislogik verstrickte Christentum nicht die Bestätigung des Satzes, daß vor Gott tausend Jahre wie ein Tag sind: der Tag des Schreckens (mit der Bekenntnislogik als Mittel der moralischen Anästhesie), der Tag JHWHs (die Zeitdilatation der Bekenntnislogik: das Binden, zu dem das Lösen noch aussteht)? Nicht zufällig wollten die Nazis ein „Tausendjähriges Reich“ errichten. Hier findet das Bild vom Dogma als der Schockgefrierung einer Tradition, die nur so zweitausend Jahre Christentum überleben konnte, seine Begründung.
    Die Theologie im Angesicht Gottes ist eine anarchische Theologie.
    Gibt es nicht eine merkwürdige Beziehung der Schlange zum Kelch (des Neutrums zu den subjektiven Formen der Anschauung, zum Raum)? Und gibt es nicht eine symbolische Verknüpfung beider (etwa in der Gnosis)?
    Die Linguistik läßt sich als Versuch begreifen, auch die Sprache noch zu neutralisieren. Sie macht die Sprache selber zu Schlange, die auf dem Bauche kriecht und Staub frißt: Indem sie die Sprache (im Kontext des Begriffs der Kommunikation) auf ihre Mitteilungsfunktion reduziert und fixiert, verdrängt und zerstört sie ihre erkennende Kraft, läßt sie sie (wie die BILD-Zeitung in ihren Texten, die mit den Mitteln der Linguistik nicht mehr sich würden kritisieren lassen) zusammenschnurren zu „propositionalen Sätzen“. Die Sprache, die zum Gegenstand der Linguistik geworden ist, verhält sich nur äußerlich zur Sache, sie bewegt sich nicht mehr in der Sache, beide werden dinglich getrennt. Eine Sprache aber, die in die Sache nicht mehr eingreift, der die Welt zur Dingwelt wird, an der die Sprache abprallt, bewegt nur noch die Vorstellungen ihrer Adressaten: sie wird zu einem Instrument der Manipulation.

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie