Kausalität

  • 06.09.93

    Was wird es dem Menschen nützen, wenn er die ganze Welt gewinnt, sein Leben aber einbüßt. (Mt 1626) Ist das nicht ein zentraler Einwand gegen die Theologie? – Man versuche einmal, den Begriff Theologie ins Hebräische zu übersetzen.
    Bei dem Versuch einer Übersetzung ins Deutsche kommt etwas so Entsetzliches heraus wie „Rede von Gott“. Wer genauer in den Begriff der Rede hineinhört, dem müßte das Wort im Halse stecken bleiben: Wissen wir von Gott nur noch vom Hörensagen, war nicht irgendwann einmal die Rede von Gott?
    Atheismus heute: Ist nicht Gott zu einem apriorischen Begriff geworden, zu dem es keinen Gegenstand mehr gibt?
    Zur Geschichte vom Sündenfall: War das Feigenblatt der Mythos, und ist der Rock aus Fellen die Schrift?
    Ist nicht der Baum der Erkenntnis heute endgültig zum fruchtlosen Feigenbaum geworden?
    Die Philosophie hat das Schuldverschubsystem zu einem Instrument der Erkenntnis gemacht. Seine Verankerungspunkte in der Objektivität sind die Begriffe Natur, Materie und Barbaren. Über die Theologie, die Trinitätslehre, die Christologie und die Opfertheologie, wurde das Schuldverschubsystem zugespitzt zum Objektbegriff (dem Korrelat der kantischen subjektiven Formen der Anschauung).
    Der mathematische Raum (die Neutralisierung der Richtungsunterschiede) ist das Instrument der Desorientierung im wörtlichsten Sinne: Unter der Herrschaft des Kausalitätsprinzips (unter den Bedingungen der Instrumentalisierung) ist jegliche teleologische Sicht der Dinge obsolet geworden: Die Welt ist endgültig freigesetzt für subjektive Zwecke, fürs Privateigentum. Außer in der Gestalt der Erinnerung gibt es keine objektiven Ziele mehr: Es gibt keine Hoffnung, außer für die Toten. Objektive Vernunft gibt es nur noch im Kontext der Lehre von der Auferstehung. Ist nicht das Wort von den Pforten der Hölle darauf zu beziehen, daß die Natur nicht siegen wird?
    Die Welt ist der Inbegriff dessen, was seit je gesiegt hat: der Vergangenheit. Grund zur Hoffnung liegt allein noch in der Differenz von Welt und Natur, darin, daß der Bruch im System sich immanent nicht schließen läßt. An diese Hoffnung erinnert das Wort von dem über den Wassern brütenden Geist.
    Das Wasser ist Gegenstand der Festkörperphysik, im Gegensatz zum Gas (zur Luft) ist es nicht durch Komprimierung, sondern nur von außen zu erwärmen. Welcher Druck bringt ein Gas zum Glühen, und welcher Druck entsteht, wenn Wasser verdampft? Wie hängen Erde, Wasser, Luft und Feuer (die sogenannten Aggregatzustände) mit der Struktur des Inertialsystems, mit dem Verhältnis der drei Dimensionen im Raum und ihrer Beziehung zur Zeit, zusammen?
    Glücklich ist, wer seiner selbst ohne Schrecken inne wird. (Walter Benjamin: Einbahnstraße) Ist dieser Schrecken nicht das objektive Korrelat des Weltbegriffs?
    Im zweiten Makkabäerbuch kommt (mit dem Begriff Barbaren, 219) auch der Name der Hebräer vor (731, 1113, 1537), in welchem Kontext und mit welcher Bedeutung (vgl. auch den Begriff einer creatio ex nihilo, 728, und die Lehre von der Auferstehung, 1243f)? Handelt es sich hier um eine Zwischenstufe zum Hebräerbrief?
    Ist nicht die Beziehung der Erinnerungsarbeit zur Vergangenheit auch eine des Lichts: Wenn die Objektdecke der Vergangenheit (die mit dem Fortschritt wachsende Herrschaft der Vergangenheit Über die Zukunft: die Logik des Weltbegriffs) durchstoßen wird, antwortet die Vergangenheit, gewinnt sie eine die Gegenwart erleuchtende Aktualität. Liegt hier nicht der Ansatz für eine (prophetische) Neubestimmung des Sechstagewerks, mit den Ausgangspunkten
    – der Finsternis über dem Abgrund und
    – des über den Wassern der Vergangenheit brütenden Geistes?
    Spruch zu einem Graffiti in Walldorf: One day a master race, called graffity artists, made crime to art. – Was ist mit der „master race“ gemeint? (Hoffentlich nicht die alte „Herrenrasse“? Aber würde nicht das „making crime to art“ dazu passen?) An der Stelle des neuen Graffiti stand übrigens vor kurzem noch der xenophobe Spruch: „Völkerfreundschaft ja, Vielvölkerstaat nein“.

  • 10.08.93

    Vielleicht lohnt es sich doch, den verbleibenden Irritationen bei Erich Zenger noch einmal genauer nachzugehen (teilweise erinnern sie mich an FW Marquardt).
    Ist der reiche Mann in dem Gleichnis vom armen Lazarus, den Lazarus auf Moses und die Propheten verweist, nicht die Kirche? Und wer sind Martha und Maria (wer ist insbesondere Maria, die „den besseren Teil erwählte“)?
    Hat Thales mit dem Satz, mit dem die Philosophie beginnt: Alles ist Wasser, nicht das Feuer verdrängt?
    Urknall und Schwarzes Loch: Sind nicht die Naturwissenschaften selber das Schwarze Loch, das die ganze Schöpfung in sich hereinsaugt und keine Strahlung mehr herausläßt, und wird der Urknall nicht am Ende sein (wie alle Erscheinungen, die mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit zusammenhängen, Zeitumkehr-Erscheinungen sind: Die Kausalität ist eine verdinglichte Finalität)? Steckt darin nicht der Ansatz zur Lösung des Rätsels der Beziehung von Gravitation und Licht (das Rätsel Newtons und Einsteins)? Paradigma Newton: Seine Optik war eine zwangsläufige Konsequenz aus seiner Gravitationstheorie.
    Die Seitenansicht der Dinge, die über Kopernikus und Newton sich durchgesetzt hat, hat die sinnliche Welt von innen zerstört (das Bewußtsein desensibiliert).
    Der Begriff der Umkehr basiert auf einer Raummetaphorik; dazu gehört
    – im Angesicht und hinter dem Rücken,
    – rechts und links (Gericht und Gnade), und
    – oben und unten (die Herrschaftsmetaphorik).
    Aber diese Metaphorik hat ihre Eindeutigkeit verloren, seitdem jede Richtung im Raum mit jeder anderen austauschbar geworden ist. Der Raum selbst hat die in ihm gründende Metaphorik vernichtet. Nur über die Kritik des Weltbegriffs (über die Rekonstruktion der Metaphorik, die keine bloße Metaphorik ist, gegen die sie vernichtende mathematische Raumvorstellung): durch die Kritik des durch die intentio recta definierten Erkenntnisbegriffs hindurch, der dann in die mathematische Konstruktion der Raumvorstellung sich verstrickt, läßt sich der Begriff der Wahrheit rekonstruieren. Deshalb gehören heute die Logik der Umkehr, die Logik des Namens und die Logik des Angesichts zusammen. Zusammengefaßt sind diese drei Elemente in dem Wort Johannes des Täufers über Jesus in Joh 129.
    Durch den Gehorsam haben die Christen das Hören verlernt, durch die Enthaltsamkeit die Keuschheit und durch das Selbstmitleid die Armut.
    Hängt das hebräische Wort für Schiff: anijah, mit dem Ich (ergänzt durch das theophore Element) zusammen, oder ist es die feminine Fassung des Wortes für Ich (Hebr. Grammatik, S. 80.87)?

  • 06.07.93

    Gründet nicht jede Verführung in der Täuschung über den Zweck oder das Ziel einer Handlung, und betrifft der Hegelsche Begriff der List nicht präzise einen Zustand, der durch eine eingebaute Verführungsautomatik (durch die „List der Vernunft“) sich definieren läßt (Systemgrund des Inertialsystems und des Kapitalismus: das Trägheitsprinzip und die Lohnarbeit)? – Vergegenständlichung der Verführung in den Naturwissenschaften (Begriff des Schuldzusammenhangs). Gründet nicht die Kritik der Teleologie und die Etablierung des Kausalprinzips (Trennung von Freiheit und Natur, die durch das liberum arbitrium und die Ausbildung der Raumvorstellung unkenntlich gemacht worden ist) in diesem Sachverhalt, und sind nicht alle Herrschaftsstrukturen Verführungsstrukturen (mit der Grundlage jeglicher Verführung in der Verwirrung)? In der Instrumentalisierung vollendet sich die Verführung (biblischer Begriff des Staubs: die staubfressende Schlange), wird sie zugleich unaufhebbar und undurchschaubar.
    Kant, der die Autonomie und den Grundsatz, daß man Menschen niemals nur als Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck ansehen müsse, ins Zentrum seiner Philosophie gestellt hatte, hätte den hegelschen Begriff einer „List der Vernunft“, der die Menschheit zum Material der Weltgeschichte macht, niemals akzeptiert. Aber schließt nicht der kantische Begriff der Autonomie, so gesehen, die Gottesfurcht und die emphatische Idee der Auferstehung der Toten, die Idee einer Sprengung des Naturbegriffs, mit ein?
    Ist der Hinweis Jesu, daß dem Opfer die Versöhnung mit dem Bruder vorauszugehen habe, nicht eine Hilfe und ein Schutz gegen die Vorstellung des Sühneopfers, gegen das projektive Element in der traditionellen Opfervorstellung?
    Zur Kritik der Wirtschaftswissenschaften: Die Beschränkung der Wirtschaftswissenschaften auf den instrumentalen Aspekt, deren Modell die Naturwissenschaften sind, reduziert die Realität auf den Blickwinkel des Eigeninteresses, verdrängt die Kehrseite der Medaille: die Verachtung der Armen und den Fremdenhaß.
    Die Theologie wird erst dann vom Bann befreit, wenn sie die Aktualität der (christologisch verdrängten) Prophetie zurückgewinnt.
    Der Schrecken Isaaks und der Schrecken um und um (Jer): Unterscheiden sich nicht Philosophie und Prophetie dadurch, daß die Philosophie versucht hat, aus der Objektseite dieses Schreckens (des „Schicksals“) herauszutreten und sich zu seinem Subjekt hat machen wollen (Ursprung des Weltbegriffs), während die Prophetie auf der Objektseite verharrt, dem Schrecken (der Gottesfurcht) standzuhalten trachtet.
    Bezeichnet das Symbolon nicht die Bruchstelle, an der sich der Weltzustand auf die Erlösung (die Erde auf den „Himmel“) bezieht, und läßt sich diese Bruchstelle heute nicht erstmals näher bestimmen als Todesgrenze (Grenze der Gegenwart zur Vergangenheit)? Ist diese Todesgrenze nicht (ähnlich wie im Stern der Erlösung das Nichts) als dreifache Grenze zu bestimmen:
    – Der Raum oder das Inertialsystem,
    – das Geld und der Klassenkampf als logische Kategorie sowie
    – der Begriff, das Bekenntnis oder die hegelsche Logik,
    als Verblendungs-, Schuld- und Herrschaftszusammenhang.
    Der Kelch von Gethsemane: ist das nicht die Übernahme der Schuld der Welt? Und ist das nicht der gleiche Kelch, zu dem Jesus die Jünger zunächst fragt, ob sie ihn werden trinken können, dann aber sofort bestätigend anfügt, daß sie ihn trinken werden.
    Theodor Haecker: Tag- und Nachtbücher:
    – Die Revolution, die das Christentum gebracht hat, ist die des Wie. (S. 17) Dazu: Gottes Offenbarung ist eine Revolution der Mittel, die der Mensch anwenden soll, um zum Heil zu kommen. (S. 21)
    – Bemerkenswerter Hinweis auf die – heute fast irreversibel um sich greifende – falsche Sprachwendung „Sich irren“. Man kann „sich täuschen“ (oder sich schämen und sich verirren) und man kann irren, aber man kann nicht „sich irren“. (S. 25) Wer sagt: ich habe mich geirrt, wählt den schuldneutralen, exkulpierenden Ausdruck (Grund für Heideggers Satz „Wer groß denkt, muß groß irren“?). Das „Sich täuschen“ macht die mangelnde Einsicht zur einer selbst zu verantwortenden Tat (und ist die Grundlage der kantischen „selbstverschuldeten Unmündigkeit“, zu der es im Deutschen keine Alternative gibt). Das Sich Irren hingegen ist Ausdruck einer Ich-Fremdheit, die das Ich selber (als transzendentales Subjekt) als Moment im allgemeinen Schuldzusammenhang erkennt. Wo Gewalt in Wissenschaft und Politik aus immanenten logischen Gründen die Logik zerstört, ist das transzendentale Subjekt nicht mehr zu halten: da kann „ich mich irren“ (weil es ein Ich, das sich täuschen könnte, nicht mehr gibt, sondern nur noch vergesellschaftete, subjektlose Subjekte)! Nirgend ist die unaufgearbeitete Vergangenheit deutlicher zu erkennen als in solchen sprachlichen Konstrukten. -Aber kann die Wendung „Ich habe mich geirrt“ nicht auch bedeuten, daß heute vom Irrtum das aktive, schuldhafte Moment, das Moment der Zurechenbarkeit, nicht mehr wegzuwischen ist? Es gibt für den Irrtum wie für alle anderen -tümer (Christen-, Heiden-, Juden-, Volks-, Reichtum) keine Entschuldigung mehr. Das alles sind Irrtümer, die zum Bereich der kantischen „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ gehören und nicht mehr exkulpationsfähig sind. Die Möglichkeit, Schuld durch Naturalisierung abzuwälzen, hat ihre Grenze erreicht. Die Unschuldsfalle ist zugeschnappt (das Substantiv ist der Greuel am heiligen Ort).
    – Nach Theodor Haecker ist Deutschland das Land, in dem Lächerlichkeit nicht tötet, sondern nur stur macht. (S. 32) Deutlicher kann man die Wirkungslosigkeit des Kabaretts in D. nicht bezeichnen. Aber wo liegt der Grund dieses Phänomens?
    – Die rechte Unterscheidung zwischen echter Schuld und Nichtschuld ist eine große und unumgängliche Aufgabe der Zukunft. Das Ausgeben von Naturnotwendigkeiten für Schuld kann soviel Unheil anrichten wie das umgekehrte Ausgeben und kann zu Leugnung von Schuld überhaupt führen. Man muß einräumen, daß wir in einer großen Unwissenheit und Unsicherheit leben. (S. 33, Hervorhebung H.H.)
    – Propaganda: Die Dinge dieser Welt können trotz einer ungeheuren Belastung mit Lügen erstaunlich lange Zeit weiterlaufen, ohne zusammenzubrechen, ja sie scheinen gestärkt zu werden. Das ist unheimlich und eine große Versuchung für den Geist, an der entscheidenden Bedeutung der Wahrheit für das Geschehen in der Welt zu zweifeln. Aber es ist doch nur eine Versuchung: im Innersten des Geistes ist eine Gewißheit, daß die Lüge einen Menschen und also auch ein Volk vernichtet. (S. 43)
    – Was einem am kältesten ans Herz greift, ist der geistige Zustand und das Gebaren der deutschen Richter. Sie verurteilen einen Menschen, der einem Polen ein Glas Bier bezahlt hat, zu Gefängnis. Das ist furchtbar. (ebd.)
    – Die deutsche Herrgott-Religion (S. 47 u.ö.).
    – Der Zustand dieser Welt ist ohne das Böse, und zwar dessen Macht, gar nicht zu verstehen. (S. 53)
    – Die Religion des deutschen Herrgotts ist die Religion des steinernen Herzens. (S. 55)
    – Die Deutschen werden nicht durch Menschenkraft besiegt werden, Sie sind das stärkste und furchtbarste Volk der Erde. Sie werden von Gott selber besiegt werden, ach, wahrscheinlich ohne es zu merken. (S. 73)
    – Der „Terror“ ist eine Erfindung abgefallener Geister. (S. 103)
    – So würde ich im Augenblick ganz gerne wissen, wann eigentlich zum erstenmal die „Geschichte“ als richtende Gottheit angerufen wurde. … Ehe es soweit kommen konnte, mußte etwas passiert sein. Was war das? (S. 137)

  • 01.01.93

    Ist nicht das „Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ auch ein Echo auf das Ende des Buches Jonas?
    Das Bekenntnis zur Göttlichkeit Jesu ist ein Moment der institutionellen Selbsterhaltung der Kirche.
    Die Zerstörung der Sprache durch die Staatsmetaphysik: Die Herrschaftssprache Kohls. Kohl ersetzt die benennende Kraft der Sprache durch seine Ernennungsbefugnis: Er ernennt das deutsche Volk zum ausländerfreundlichsten Volk.
    Erinnert das Wunder von Kana nicht an die Noe-Geschichte, an den Zusammenhang von Sintflut und Entdeckung des Weinbaus, bis hin zur Geschichte mit Ham, dem Aufdecken der Blöße (und dem neuen Nahrungsgebot) und der Begründung der Knechtschaft? Während der Sündenfall die Scham begründet, ist die Knechtschaft begründet in der Aufdeckung der Blöße. Die Erlösung hängt zusammen mit der Hinnahme und Auflösung der Schande (Penner, Knast und Huren): mit der Übernahme der Sünden der Welt. Die Weltgeschichte ist die Geschichte der Kausalität und Wechselwirkung von Scham und Schande.
    In den Metropolen sind Basisgemeinden nur als Knast-, Penner-und Hurengemeinden denkbar: Hängt das nicht zusammen mit den drei evangelischen Räten?

  • 15.12.92

    Nur zusammen mit den theoretischen Folgen der Lehre von der „Hinwegnahme der Sünden der Welt“ sind die entsetzlichen praktischen Folgen des Wortes von der „Erfüllung der Prophetie“ zu verstehen: Nur so war es möglich, die „Unheils“-Prophetie allein auf die Juden anzuwenden, sich selbst aber davon freizusprechen: Voraussetzung war die Vorstellung, daß durch den Opfertod Jesu die Welt bereits entsühnt war, die Christen die Sorge um die Welt den dazu berufenen Herren überlassen konnten (gegen den Inhalt der „Abschiedsreden“ Jesu im Johannes-Evangelium, und gegen die darin enthaltene Lehre vom Parakleten, vom Heiligen Geist: die Lehre von der Entsühnung der Welt durch den Opfertod Jesu hat die Politik gegen Kritik immunisiert). Mit diesem Weltbegriff war der Antisemitismus untrennbar verbunden.
    Ist nicht die Geschichte der drei Leugnungen Petri eine prophetische Antizipation der Entwicklung der Beziehungen des Christentums zur Geschichte des Staates als Organisation einer Gesellschaft von Privateigentümern (deren Auswirkungen bis in den Naturbegriff hereinreichen). Die Erfindung des Rechts war ja nicht nur ein Mittel zur Humanisierung des Staates, sondern zugleich eine Sanktionierung des Rachedenkens, verknüpft mit der des Selbsterhaltungsprinzips. Es hat nie ein Recht ohne Strafe gegeben.
    Die Kirche verfängt sich in ihrer eigenen Schlinge, wenn sie heute von außen als Ursache der Greuel, die in ihrem Namen verübt worden sind, begriffen wird. Da hilft keine Apologetik mehr, die im Gegenteil die Sache nur verschlimmert. Sie hat nur die Rechtfertigung der Greuel geliefert, deren Ursache politisch-ökonomische Ursachen waren. Auch das war eine Form der Übernahme der Sünden der Welt, aber die falsche: Der Preis war ein Idealismus, der den bloßen Meinungen Kausalität zusprach in einer Welt, die von anderen Mächten beherrscht wird, deren Erkenntnis aber – auch mit Hilfe der Kirche – tabuisiert und diskriminiert wurde. Der kirchliche Bekenntnisbegriff, seine Logik und seine, aus seiner Hilflosigkeit stammende praktische Explosivkraft, schlägt heute auf die Kirche zurück, wenn sie von ihren Kritikern als schuldig erklärt wird insbesondere am Antisemitismus und an der Frauenfeindschaft.
    Rosenzweigs Hinweis, daß das Wort von der Mittlerschaft des Sohnes (daß niemand zum Vater komme, außer durch den Sohn) nur für die Heiden, nicht aber für die Juden gelte („Wir sind schon beim Vater“), wäre dahin zu ergänzen, daß jenes „durch“ nicht instrumental, sondern nur im Sinne der Nachfolge verstanden werden darf. Die Juden sind schon beim Vater, aber wir, die Christen, haben die Welt, die über unseren Köpfen und hinter unserem Rücken sich etabliert und entfaltet, aufzuarbeiten. Diese Aufarbeitung hat das offizielle Christentum versucht zu umgehen durch die Vorstellung, daß diese Welt von Gott aus dem Nichts erschaffen und durch den Opfertod Jesu entsühnt wurde. Beide Vorstellungen enthalten – mit Kant zu reden – ein Rattennest von Widersprüchen. Nur (gegen die Gnosis) der Schöpfer der Welt ist auch nicht der jüdische Gott, sondern der Staat (der sterbliche Gott).
    Sakral sind die Herrschaftsinstitutionen und ihr naturaler Reflex, nicht die religiösen. Die Säkularisation ist der notwendige Prozeß der Entmischung von Politik und Religion, aber sie ist noch nicht am Ende (welche politische Bedeutung haben die sieben Sakramente?).
    Hat nicht der Entzauberungsprozeß Halt gemacht vorm Subjekt selber, und liegt hier nicht der Grund für das, was man heute den religiösen Ego-Trip nennen muß?
    Die multikulturelle Gesellschaft: Ist das nicht der Versuch einer anderen Platzverteilung in einem Zug, der auf den Abgrund zurast?
    Ist nicht die Politik (unter dem Einfluß der Bekenntnislogik) zu einem Inbegriff der Sprechblasen geworden, mit denen die bloße Verwaltung, das bloße Reagieren, sich nach außen präsentiert, allerdings mit jener besonderen Sprechblasen-Technik, die endlich zu analysieren wäre, und deren Beherrschung, wie es scheint, insbesondere Kohl seine Karriere verdankt (nicht mehr nur ein Schurz, sondern eine ganze Physiognomie aus Feigenblättern)?
    Was bedeuten die Namen des Himmels und der Erde?
    Das Bekenntnis ist ein Ausdruck der Ohnmacht (der Hilflosigkeit) und der Furcht vor Verfolgung (der Furcht, für sein Denken haftbar gemacht zu werden); deshalb gibt es kein Bekenntnis ohne Feindbild. Das Feindbild (das Stück Projektion in ihm) ist der Kitt, der sowohl das Dogma als auch die Gemeinschaft der Gläubigen zusammenhält. Das Bekenntnis ist Subjekt-Objekt (Opfer-Täter) der Instrumentalisierung: Grundlage der Dynamik der verfolgenden Unschuld, die im Faschismus ihr immanentes Ziel hat und in der Mordlust der Faschisten kulminiert.
    Das peri physeos der ersten Philosophen war das Instrument der Verarbeitung der Erfahrung im Interesse der Verinnerlichung des Schicksals und der Etablierung des Weltbegriffs. Die Philosophie unterscheidet sich von den vorausgegangenen Gestalten der Verarbeitung der Erfahrung durch das Argument, die Begründung, den Beweis (die Prosa).
    „Man ist jetzt allgemein der Meinung, daß die Anfänge der von den Vorsokratikern betriebenen Spekulation mit der kormogonischen Tradition orientalischen Zuschnitts zusammenhängen.“ (Die Anfänge der abendländischen Philosophie, dtv 1991, S. 11) Gemeinsam ist beiden (der Philosophie und den mythischen Kormogonien), daß sie die Ursprünge zu ermitteln suchen.
    Die Homogenität der Zeit wird durch eine imaginäre Zeitumkehr hergestellt, durch die Vorstellung, daß ein Vorgang auch rückwärts ablaufen könne und dann den gleichen Gesetzen gehorchen müßte. Deshalb ist die Homogenität der Zeit an die Reversibilität aller Richtungen im Raum gebunden. Und deshalb werden mit dem Kausalitätprinzip alle teleologischen Elemente unterbunden und verdrängt.
    Die orphischen Mysterien sind Produkt der Privatisierung des Sakralen, oder auch der Sakralisierung des Privaten. (Anfänge, S. 14)
    Nach Kritias sollen die Götter „verhindern, daß die Menschen heimlich die kriminellen Handlungen verüben, die die Gesetze verbieten“. (S. 21)

  • 12.11.92

    Wie hängt die Kausalitätsbeziehung von Sünde und Schuld mit dem Eigentumsbegriff zusammen (Sein als potentielles Eigentum)?
    Es gibt keine benennende Kraft des Begriffs. Zwischen Name und Begriff ist streng zu scheiden; insoweit ist die nominalistische Kritik am Realismus irreversibel. Damit hängt es zusammen, wenn es gegen jede Wahrheit eine dialektische Volte gibt, und ebenfalls, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand ist (aus Gründen der Beweislogik).
    Die drei Freiheitsgrade des Raumes hängen auf eine höchst vertrackte Weise mit der Geschichte der Freiheit zusammen. Unter dem Titel des liberum arbitrium ist im Grunde immer schon das Inertialsystem diskutiert worden. Genauer: das Thema liberum arbitrium war der Beginn einer logischen Verstrickung, die im Inertialsystem und in der freien Marktwirtschaft endete – und heute (in der Marktideologie) fast unlösbar geworden ist. Die Geschichte von Buridans Esel war ein Exempel, an dem auch die Gleichwertigkeit aller Richtungen im Raum, seine Isotropie, demonstriert worden ist; sie war ein Vorläufer des Relativitätsprinzips. Sie war ein Orthogonalitäts-Exempel, und damit ein Hinweis auf den unendlich aufklärungsbedürftigen Zusammenhang von Orthodoxie und Orthogonalität.
    Zum Begriff der unreinen Geister: Es gab einmal den Titel „Genie und Wahnsinn“. Der Bedeutungswandel, den der Begriff Wahnsinn dann durchgemacht hat, und die Bedeutung, die er insbesondere in den letzten Jahren angenommen hat, ist ein geschichtsphilosophischer Index, an dem sich der Stellenwert der Psychose ablesen läßt, insbesondere, wie nahe er dem, was man geneigt ist, normal zu nennen, bereits gekommen ist.
    Die Welt ist längst zu jenem Schuldverschubsystem geworden, in dem das Spielchen „Wer ist unschuldig“ längst an den Dingen nichts mehr ändert, es sei denn, daß es nur noch zur Erhaltung des Schuldverschubsystems beiträgt und zu den Gründen gehört, aus denen das ganze Medien- und Informationswesen den Gesetzen der Unterhaltung sich anpaßt: zum Drachenfutter wird, dessen Wert sich am Sensatiosngehalt mißt. Auch hier hat es nach dem Ende des Faschismus einen Modernisierungsschub gegeben, dessen Schrittmacher die BILD-Zeitung war. Dem kann – so scheint es -heute keine Institution des Medienwesens sich mehr entziehen. Hier greift auch der Begriff Kulturindustrie bereits zu kurz, weil er inzwischen ins Affirmative gewendet werden konnte.
    Ist nicht die Abtreibungsdebatte die letzte Station in der Geschichte der christlichen Sexualmoral, die seit ihrem Beginn ein Mittel der Anpassung an die Welt und der Unterbindung von Herrschaftskritik war und von Anfang an projektive Züge trug. Die Sexualmoral ist ein Vexierbild, dessen Entschlüsselung genau ins Zentrum der politischen Aufklärung stößt. Es gibt in der Tat ein absolutes Abtreibungsverbot, aber das bezieht sich auf eine Abtreibung, die an ganz anderer Stelle stattfindet, nämlich genau an der Stelle, die in der Geschichte der drei Leugnungen Petri mit der Selbstverfluchung bezeichnet wird. Die Trennung von Begriff und Objekt ist ein Reflex der Trennung des Privaten vom Politischen; das Objekt ist der idiotes. Aber in dieser Trennung ist das Problem der Sexualmoral begründet: Was im prophetischen Ursprung allein in der politschen Anwendung Sinn ergibt, wird mit der christlichen Rezeption des Weltbegriffs, mit dem Ursprung des Objektivationsprozesses, entpolitisiert, privatisiert, idiotisiert. In der Lösung des Problems der Sexualmoral steckt die Lösung des Problems des Namens, seiner erkennenden Kraft.
    Bezeichnet nicht der Schluß in der Logik, den Hegel als den zu sich selbst gekommenen Begriff erkennt, den Knoten, den zu lösen der Kirche aufgegeben ist. Im Schluß vollendet sich die Verinnerlichung des Schicksals, die philosophische Kritik des Mythos, die Kausalitätsbeziehung von Sünde und Schuld. Der Schluß ist die instrumentalisierte Versöhnung, die Vergegenständlichung des Gerichts, Grund der Vergesellschaftung (Verinnerlichung und Vergegenständlichung) des Opfers im Objekt.
    Die apokalyptische Dimension des vierten Gebots wird begriffen, wenn es auf die Schuld der Väter und Sünden der Mutter in der Konstituierung des Objektbegriffs bezogen wird.

  • 06.11.92

    Für Sodom und gegen die Engel Jahwes: Sind es nicht die gleichen (nur jetzt zwei anstatt vorher drei) „Männer“, die von Abraham mit großer Gastfreundschaft aufgenommen wurden, den Bund mit ihm schlossen und ihm den Erben und die zahlreiche Nachkommenschaft ankündigten?
    Jericho und Sodom haben mit dem Stammbaum Jesu zu tun, und zwar beide über Frauen, über Rahab und Ruth (die als Moabiterin an die Lot-Geschichte erinnert). Aus Gibea stammt der erste König Israels, Saul; sein Namens-Nachfahre, Saulus/ Paulus, war ein Benjaminiter.
    Sind der neue Himmel und die neue Erde die alten nach ihrer Befreiung von der Welt?
    Die Fremdenfeindschaft, die Xenophobie, ist der Preis für die Zivilisation, und jede Fremdenfeindschaft ist im Kern antisemitisch (inverse Identität von Hebräern und Barbaren).
    Der systematische Quellpunkt des Stern der Erlösung hat etwas mit dem systematischen Kern der Kritik der reinen Vernunft zu tun: er entspringt dem Problem der Ableitung der Dreidimensionalität des Raumes, das bei Kant im Zusammenhang mit der Benennung der drei Strukturelemente der Zeit: Dauer, Folge und Zugleichsein, anklingt. Das transzendentallogische Kausalitätsprinzip, die Verknüpfung von Ursache und Wirkung, erinnert nicht zufällig an das theologische Verhältnis von Sünde und Schuld.
    Der christlogische Naturbegriff, die Vergöttlichung des Opfers, ist das zentrale Element der Nachfolgevermeidungsstrategie, die er durch die Nutzung des Privilegs der Opfer, durch die theologische Honorierung des Selbstmitleids (Grund der christlichen Seelenvorstellung), fast unaufhebbar in das Bewußtsein der Zivilisierten eingesenkt hat. Diese Beziehung zum Opfer macht den durch den Weltbegriff abgesicherten Objektbegriff, Grund des verdinglichten Bewußtseins, fast unangreifbar.
    Daß das neutestamentliche Lösen sich auf einen Knoten bezieht, der nicht nur geknüpft, sondern zusätzlich auch noch durchschlagen wurde (Alexander und der gordische Knoten), macht die Sache so ungeheuer schwierig. Das Schwert, mit dem dieser Knoten durchschlagen wurde, war das Schwert des Urteils, des Begriffs, abgeschirmt durch die zugleich entspringende Gewalt des Weltbegriffs, begründet in dem bis heute unaufgeklärten Konnex von Kosmologie und Herrschaft (Alexander war Aristoteles-Schüler); und was hier durchschlagen wird, ist die benennende Kraft der Sprache, die Gewalt des Namens: ihre Neutralisierung durch die Trennung von Begriff und Objekt. Erst der durchschlagene Knoten hat das Herrendenken von seinen vorweltlichen („asiatischen“) Verstrickungen befreit, um den Preis der Verinnerlichung des Schicksals, Erbe der griechischen Philosophie seitdem. Hegels Philosophie ist die gewaltige Rekonstruktion dieses Knotens, allerdings nicht seine Lösung. Denkmal der Durchschlagung des Knotens ist neben dem Geld die Geometrie (seit der griechischen „Entdeckung“ des Winkels), in der Moderne erweitert durch das systembegründende Inertialsystem und die Infinitesimalrechnung, und durch das Prinzip der Lohnarbeit (die Inertialisierung des Tauschkontinuums: gesellschaftlicher Grund des naturwissenschaftlichen Materiebegriffs).
    Indem Kant alle Erkenntnis an die subjektiven Formen der Anschauung, insbesondere an die der äußeren Anschauung, bindet, verhindert er selber die Erkenntnis der Dinge an sich, zugleich aber benennt er damit auch das Hindernis, das der Erkenntnis der Dinge an sich seitdem im Wege steht. Von diesem „Hindernis“ macht das moderne Bewußtsein einen ebenso unverschämten wie selbstmörderischen Gebrauch (Zusammenhang mit der Funktion des Weltbegriffs).
    Bezieht sich das Orakel über den gordischen Knoten auf die Herrschaft über Asien? Was bedeutet dann hier der Name Asien (ist er gleichbedeutend mit dem Namen Orient)? Was immer Kaiser Wilhelm, Max Horkheimer und Erich Nolte sonst unterscheiden mag, eines war ihnen gemeinsam: die Angst vor der „asiatischen Gefahr“. Wie hängt das zusammen mit den asiatischen Gestalten des Mythos und der Offenbarung bei Rosenzweig: mit Indien, China und dem Islam? Und wie hängt das auf der anderen Seite zusammen mit der ungelösten Frage der „indogermanischen Sprachen“ (deren innergrammatische Herrschaftsstruktur Indien und Europa in eine gemeinsame Beziehung gegen die „altorientalische“ Geschichte und Kultur rückt)?

  • 22.10.92

    Die thomistische Unterscheidung von Natur und Übernatur ist durch den Weltbegriff vermittelt, ein Versuch, im Begriff der Übernatur den Bann des Weltbegriffs zu brechen (vgl. Metz, S. 84). Reicht der Begriff der Übernatur noch, nachdem der Naturbegriff das christliche Erbe als restlos säkularisiertes ganz in sich aufgenommen hat?
    Das „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ enthält die Aufforderung zur Erinnerungsarbeit. Erschreckend bei Metz die Verwerfung der Erinnerungsarbeit (gegen Heidegger und Hegel), die aber zusammenpaßt mit dem Akzeptieren (der „Annahme“) der Welt.
    Metz, S. 90: Die „Metaphysik“, das Jenseits der Physik, ist die Welt.
    Jean Amerys Frage „Wie natürlich ist der Tod“ sagt mehr über den Begriff der Natur als über den Tod. Natur ist das Diesseits der Todesgrenze, die durch die Welt definiert, „gezogen“ wird. Und das ist das Entsetzliche am Selbstmord: die Kapitulation vor der Welt.
    Die drei Momente der Zeit, aus denen Kant die Dreidimensionalität des Raumes abzuleiten versucht hat: Dauer, Folge und Zugleichsein, sind ein innerzeitlicher Reflex des Inertialsystems: der Systembeziehung von Materie (Dauer), Zeit (Folge) und Raum (Zugleichsein), die dann in den apriorischen Kategorien Substanz, Kausalität und Wechselwirkung sich niederschlagen.
    Der Weltkonformismus der christlichen Theologie (die Lehre von der bereits geschehenen Erlösung der Welt durch den Kreuzestod Jesu) ist Ausdruck objektiver Verzweiflung.
    Gottessohnschaft als double-bind: Imgrunde glaubt niemand mehr daran, denn wenn sie daran glaubten, wäre das Bekenntnis dazu nicht mehr notwendig, das zu dem Glauben nichts hinzufügt. Das Bekenntnis ist nur notwendig, um durch kollektive Absicherung den eigenen Unglauben zu verdrängen (Modell der Todesgrenze in der Religion).
    Überzeugen ist unfruchtbar, Überreden ist Mord. Beide stehen unter dem Zwangsgesetz des Exkulpationstriebs, in dem die Erbschuld sich fortpflanzt. Dieser Exkulpationstrieb ist begründet in der Weigerung, die Sünden der Welt zu übernehmen, in der Nachfolge-Verweigerung. So tief reicht der Satz aus den Soziologischen Exkursen: Ideologie ist Rechtfertigung.
    Hängen die Ideen von der Unbefleckten Empfängnis und von der Virginitas mit dem Satz aus dem Psalm (10914) von der Schuld der Väter und der Sünde der Mutter zusammen? Und ist das nicht der Hintergrund für die geschlechtsspezifische Aufteilung der Heiligen nach der Märtyrerzeit in Confessores und Virgines? Sind die Adam und Eva-Geschichten nicht Varianten dieses Psalmenworts, bis hin zum Fluch nach dem Sündenfall? Und wie verhält sich dieses Psalmenwort zum vierten Gebot? Und ist vor diesem Hintergrund das Täuferwort nicht doch genau zu übersetzen: mit „Sünden der Welt“ (in denen die Schuld der Väter gründet)?
    Kapitalismus als Opfer ohne Lehre: Die Sünde der Welt: ist das nicht die Erinnerung an die Sünde der Mutter (Ps 10914), an das Matriarchat?
    Zu Schuld und Sünde (zu Ps 10914):
    – Ps 517: Siehe, in Schuld bin ich geboren und in Sünde hat mich meine Mutter empfangen.
    – 5111: Verbirg dein Angesicht vor meinen Sünden und tilge alle meine Schuld.
    – Jes 1218: Wehe denen, die Schuld herbeiziehen mit Seilen des Nichts, und die Sünde wie mit Wagenseilen. (Verhältnis von Welt und Natur?)
    – 279: … die Hinwegnahme seiner Sünde.
    – 5311: Und ihre Sünden wird er sich selbst aufladen.
    – Die Schuld ist groß, die Sünden sind zahlreich (Jer 3015).
    – Hos 48: Die Sünde meines Volkes essen sie, nach ihrer Schuld verlangen sie.
    – 99: Er wird an ihre Schuld denken, wird ihre Sünde heimsuchen.
    Erst das Recht und der Begriff bringen Sünde und Schuld in jene systembegründende und verdinglichende Kausalbeziehung, aus der sie ebenso zu lösen sind wie aus der Bekenntnislogik, dem Inertialsystem und der Lohnarbeit, wenn man Theologie im Angesicht Gottes treiben will (vgl. das Verhältnis von Schuld und Sünde in Ps 10914). Hier ist der Grund bezeichnet, weshalb der Sündenfall mit der Erkenntnis des Guten und Bösen beginnt, und weshalb seitdem moralische Urteile (und mit ihnen das Geschwätz, hierarchische Herrschafts- und Erkenntnisstrukturen und Kriege) zur Geschichte des Sündenfalls gehören. Deshalb gründen Recht, Philosophie und Mythos wechselseitig ineinander. Und deshalb läßt sich mit Moral keine Politik machen (aber auch nicht ohne sie).
    Sünde und Schuld verhalten sich wie Tat und Urteil, Prädikat und Begriff. So ziehen sie den Objektbegriff und die transzendentalen Formen der Anschauung zwangsläufig nach sich.
    Die Hebräer sind die, die als Fremde im Lande leben; deshalb sind sie Sklaven, Söldner und Kleinviehnomaden.
    Der kirchliche Erlösungsbegriff glaubt sich von der Erinnerungsarbeit dispensieren zu können; damit perpetuiert er jedoch den Bann des Welt- und des Bekenntnisbegriffs, das Formgesetz des Dogmas.
    Gegen Metz: Nicht „schöpferisch-kritisch“, sondern kritisch, befreiend und erhellend. Das „Neue“ ist nicht Produkt einer „schöpferischen“ Tat; es konstituiert sich vielmehr in einer Konstellation von Ursprung und Ziel. Es schließt die Erinnerungsarbeit, und als Tat das Lösen (die „eingreifende Erkenntnis“) mit ein. (Im 5. Kapitel, S. 107, aber auch schon vorher, wird „schöpferisch kritisch“ durch „kritisch befreiend“ ersetzt.)
    Heidegger und Hegel: Den Geburtsfehler der Philosophie, den Hegel versucht hat abzuarbeiten, hat Heidegger zu ihrem einzigen Inhalt gemacht.
    Zu den sieben unreinen Geistern: Was jetzt in Erlangen passiert (die organische Erhaltung des Lebens einer „hirntoten“ schwangeren Frau, um das Leben des Embryos zu retten), ist das reale Beispiel für unreine Begründungen, für gleichsam prophylaktische, nach außen gewendete Rechtfertigungstheorien, um dahinter ganz andere Interessen durchsetzen zu können (sowohl kirchliche: die Erprobung von Argumenten, die auch in der Abtreibungsdiskussion nützlich sein könnten, als auch reale Karriereinteressen der Ärzte, die so in die Lage versetzt werden, Menschenexperimente nach außen abzuschirmen). Es gehört in die Geschichte der Feigenblätter, die die Blöße bedecken sollen. Aber wie verhält sich das Aufdecken der Blöße zur Übernahme der Sünde der Welt?
    Weitere Beispiele unreiner Begründungen:
    – die immer wieder beschworene „marode sozialistische Kommandowirtschaft“, hinter der sich alle Fehler, die man selbst im Einigungsprozeß begangen hat, so schön verbergen lassen;
    – die „Selbstmorde“ in Stammheim, ein Beispiel doppelseitiger unreiner Begründungen: ob es nun Morde oder Selbstmorde waren, von einer Seite war es in jedem Falle ein Fall unreiner Begründungen;
    – schließlich das Verhältnis von Kritik und Rechtfertigung des Kapitalismus: beide sind Beispiele unreiner Begründungen.

  • 19.05.92

    Die aristotelische Metaphysik ist von der aristotelischen Körperphysik nicht zu trennen, zu der u.a. auch die Lehre vom natürlichen Ort gehört, die dann durch die noesis noeseos, durch das Denken des Denkens, das (über das teleologische Element darin) eins ist mit dem ersten Beweger, direkt in die Metaphysik einmündet. Mit der Kritik und Auflösung der Zweckursachen, mit der Subjektivierung der Teleologie und d.h. mit der Etablierung des Inertialsystems verliert die aristotelische Metaphysik ihre Basis. Das ist vermittelt durch die Theologie, durch die Einführung des Schöpfungsbegriffs in die aristotelische Metaphysik (in die er nicht hineinpaßt). Durch die Idee einer creatio ex nihilo gewinnt zwar der aristotelische Gott Schöpferkraft, gewinnt er seine besondere Art von Allmacht, die ihn dann allerdings (durch die genau hier logisch erzwungene nominalistische Revolution) gleichsam von innen aushöhlt, als Hypostase des Staates erkennbar macht. Nicht Gott, sondern der Staat ist „Schöpfer“ der Welt; und die creation ex nihilo ist ein Deckbegriff der unbegriffenen ökonomischen Funktion des Staates.
    Quellpunkte des Systems sind:
    – die Geldwirtschaft,
    – dann der (aus der Verbindung der philosophischen Gotteslehre mit der theologischen Schöpfungsidee entspringende) theologische Bekenntnisbegriff,
    – und am Ende das Inertialsystem (mit dem daraus entspringenden christologischen Naturbegriff).
    Die Etablierung des Inertialsystems ist von ähnlicher geschichtsphilosophischer Relevanz und Bedeutung wie der kirchliche Dogmatisierungsprozeß, mit dem sie genetisch, strukturell und logisch zusammenhängt.
    Die fürs Inertialsystem konstitutive (systembildende) Beziehung zur Vergangenheit hat ihr Modell und ihr Vorbild in der Beziehung zur Vergangenheit, die bereits den Prozeß der Dogmenbildung bestimmt. Die „Überwindung“ der Vergangenheit (der vergangenen Gestalten der Religion oder der Erkenntnis) ist in beiden Fällen erkauft mit der unkenntnlich gemachten Wiederkehr des Verdrängten.
    Das newtonsche Gravitationsgesetz und seine Optik gehören zum Inertialsystem als Stabilisatoren (als Wächter des Orthogonalitätsprinzips) dazu.
    „Oh Haupt voll Blut und Wunden …“: das tiefste Symbol des Inertialsystems (eigentlich insgesamt die Passionsgeschichte: mit dem „Warum schlägst du mich?“, der Königsparodie und der Dornenkrone, aber auch unter Einschluß des Unschulds-Händewaschens des Pilatus).
    Der Satz Adornos „Ideologie ist Rechtfertigung“ ist im strengen Sinne christologisch, bringt die „Sünde der Welt“ auf den heutigen Erkenntnisstand.
    „Wenn die Welt euch haßt …“ Das heißt doch auch: der Haß, den ihr verspüren werdet, wird so subjektlos sein wie die Welt; das ist der Hintergrund und die Grundlage für das Wort am Kreuz: „… denn sie wissen nicht, was sie tun“. Und dieses Wort scheint heute zum Wesen und zu Signatur der Welt insgesamt zu werden: Wer weiß noch, was er tut? Vgl. hierzu auch das Ende des Buches Jona. Heute verstricken sich alle in Schuld, die es immer noch nicht wissen und sich wohl dabei fühlen. Nochmal: „Wenn die Welt euch haßt …“ Aber wenn der Geist kommt, wird er das Antlitz der Erde erneuern, das hinter diesem Haß der Welt nicht mehr zu erkennen ist.
    Drei Bemerkungen zur Kritik der Naturwissenschaft:
    – Das Inertialsystem ist das Referenzsystem aller naturwissenschaftlichen Erscheinungen, Begriffe und Gesetze;
    – es konstituiert sich durchs Relativitätsprinzip, durch das Gedankenexperiment, das die Orthogonalität aller Strukturen im Inertialsystem (bis hin zur „Trennung“ von Raum, Zeit und Materie); dazu gehören die Formulierung des Gravitationsgesetzes (die Identität von träger und schwerer Masse) und der Grundlagen der Optik (Feststellung der endlichen Lichtgeschwindigkeit);
    – mit der Etablierung des Inertialsystems ist die Herrschaftslogik mitgesetzt, als Logik des Zusammenhangs von Objektivation und Instrumentalisierung.
    Rosenzweigs Bemerkung zu Schopenhauer und Nietzsche, daß sie als erste die Welt nach ihrem Wert für sie (für Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche) beurteilen, bezeichnet den Punkt, an dem erstmals die Sünde der Welt in die Philosphie hereinragt.
    Der Konsensbegriff und die Kommunikationstheorie übersehen, daß die Logik – nach dem Hegelschen Nachweis – ohne ein dezisionistisches Moment nicht zu halten ist; eben deshalb bedarf die Hegelsche Rechtsphilosophie eines Souveräns und seiner Legitimierung durch Geburt. Es gibt in der Tat keine Wahrheit ohne die Idee der Versöhnung.
    Bis heute hat die Kirche ihre Hähne immer rechtzeitig geschlachtet.
    Ohne Metaphorik verliert die Sprache ihre benennende Kraft; aber die Metaphorik lebt von der Logik der Umkehr. Sie verhält sich zur Identitätslogik wie die Begründung zur Kausalität. Ohne Metaphorik verliert die Sprache mit der benennenden auch die begründende Kraft („Traum der Menschheit, sich von einem Punkt des Raumes zu einem anderen Punkt des Raumes zu bewegen“).
    Weltbegriff: historisch, logisch und theologisch.

  • 08.11.91

    Ja sagen zu etwas heißt sich zu etwas bekennen. Das reflexive Sich im „sich (zu etwas) bekennen“ kann Ausdruck der Befreiung sein (es endlich aussprechen können, die Last der Verdrängung loszuwerden), ist aber heute immer mehr Ausdruck der Unterwerfung unters Kollektiv, der Identifikation mit dem Aggressor (das Sich geborgen Fühlen in der Gemeinschaft mit der Lust, ohne Skrupel hassen, sich der Wut überlassen zu dürfen: Genesis der „Mordlust“). Modell dessen ist der Raum, die „subjektive Form der Anschauung“ Kants: die Ablenkung der Wut auf die außermenschliche Natur.
    Die Logik der Welt ist herzzerreißend und entsensibilierend: mörderisch. So hat sie vielleicht tatsächlich mit dem Kreuz zu tun.
    Nicht der Begriff des Gestells, sondern der des sich selbst verurteilenden Gerichts bezeichnet die Signatur des technischen Zeitalters.
    Der Raum ist der letzte Niederschlag der Erkenntnis des Guten und Bösen (er entzieht der Unterscheidung zwischen links und rechts, zwischen Barmherzigkeit und Gericht, den Boden). Das kopernikanische Weltbild ist in der Tat ein Bild: eine mathematische Vereinfachung, aber um den Preis der Zerstörung der Sprache und der Theologie (Verletzung des Bilderverbots). Mußte die Sprache durch diesen Tod hindurch?
    Verhältnis von Begründung und „Aufspannen“ (Erde und Himmel) zum Raum: entspricht dem Verhältnis von Orthogonalität und „unendlicher Ausdehnung“ des Raumes (Trennung von Raum, Zeit und Materie und Konstituierung der spannungslosen trägen Masse, die dann ohne Vermittlung identisch ist mit der schweren Masse, dem Bezugspunkt des Gravitationsgesetzes), wird so zugleich neutralisiert, nach innen verlagert und erinnerungslos erhalten. Im neutralisierten Raum (und in der formalisierten Logik) entfällt mit der Logik der Begründung die Kraft, der Atomisierung der „Empfindungen“ (und der Erkenntnis) zu widerstehen. Begründung wird durch Gesetz und Kausalität, Entsprechungen werden durch Wechselwirkungen ersetzt. – Bedeutung der Orientierungsmetaphern: vorn und hinten (im Angesicht und hinter dem Rücken), rechts und links (Gnade und Strenge), oben und unten (Großmut und Niedertracht, Erlösung und Verdammnis, Segen und Fluch).
    Spr 316: „Langes Leben birgt sie (die Weisheit) in ihrer Rechten, in ihrer Linken Reichtum und Ehre.“
    Den Tod kennen wir nur als den Tod der anderen (und vermeiden heute den Schluß, daß auch wir sterblich sind; wir ziehen uns zurück auf den Punkt, schon dem Totenreich anzugehören, und das ist unsterblich). Ebenso kennen wir die gesamte Physik nur als ein Weltsystem, in das als Subjekt der andere mit eingeht (Intersubjektivität, konstituiert durch den Tod des Individuums, das ja ohnehin nur der andere ist, dessen dann nicht mehr gedacht zu werden braucht: so konstituiert sich die „reine Objektivität“ der Physik). In der gleichen Konstellation entspringt der Begriff des Bekenntnisses, und wenn nach der logischen Struktur dieses Konstrukts Frauen nicht bekenntnisfähig sind, so ist das nicht nur als Mangel anzusehen (vgl. Gen 315 i.V.m. Gen 314u.19).
    Wenn Kant die Welt gegen die Schule vertritt, so übersieht er, daß der Weltbegriff auch ein Schulbegriff ist (vgl. die Schöpfungslehre bei Augustinus und Thomas).
    Die sieben Gemeinden, die sieben Siegel, die sieben Engel mit den Posaunen und die sieben Engel mit den Schalen (sieben Plagen).
    Es ist entsetzlich, wie der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus zur Exkulpierung des Westens mißbraucht wird. Hier setzt sich das hegelsche Weltgericht in einer Weise durch, die nachträglich die „List der Vernunft“ als dezisionistisch enthüllt. Gleichgültig, ob man als letzte Instanz die Geschichte, das Ausland oder die Welt bemüht, in jedem Falle wird das Gewissen namen- und gegenstandslos gemacht. Auf dieser Grundlage blüht
    – in der Verwaltung ein Ressortdenken, bei dem es nicht mehr darauf ankommt, das Richtige zu tun, sondern, was man auch tut, es so zu tun, daß man später nicht haftbar gemacht werden kann,
    – während auf der Ebene der Justiz, wie im Kontext der rechtlichen Aufarbeitung der Vergangenheit und im gesamten Verfahren der rechtlichen Bearbeitung des sogenannten Terrorismus leicht zu erkennen ist, die Idee der Gerechtigkeit selber angegriffen wird, in Zynismus sich auflöst.
    Die Kantische subjektive Form der Anschauung ist Produkt der Identifikation mit dem Aggressor. In ihr setzt sich die Welt gegen das Subjekt durch. Schiffsbruch mit Zuschauer: steht das nicht in der Tradition dieser subjektiven Form der Anschauung, die diese kontemplative Distanz erst ermöglicht. Das transzendentale Subjekt ist das Subjekt als Zuschauer der Welt. Und was der Zuschauer in dieser Welt sieht, steht unter dem (heute von der Kulturindistrie manipulierten und ausgebeuteten) Gesetz des Apriori, ist Produkt der Synthesis.
    Das Schema Jisrael klärt das Verhältnis der hebräischen Sprache zu den Israeliten.
    Nur Abraham, Isaak und Ijob starben „alt und lebenssatt“:
    – Abraham: „starb in hohem Alter, betagt und lebenssatt, und wurde mit seinen Vorfahren vereint“ (Gen 258);
    „… starb in gutem Greisentum, alt und satt, und wurde zu seinen Volksleuten eingeholt“ (Buber)
    – Isaak: „starb und wurde mit seinen Vorfahren vereint, betagt und satt an Jahren“ (Gen 3529);
    „Er starb und wurde zu seinen Volksleuten eingeholt, alt, an Tagen satt“ (Buber)
    – Jakob: „Dann verschied er und wurde mit seinen Vorfahren vereint“ (Gen 4933);
    „… verschied un wurde zu seinen Volksleuten eingeholt“ (Buber)
    – Ijob: „Dann starb Ijob, hochbetagt und satt an Lebenstagen“ (Ij 4217).
    „Ijob starb, alt, an Tagen satt“ (Buber)

  • 31.10.91

    Rätsel Paulus: Allein bei ihm „kosmologische“ oder „naturphilosophische“ Spekulationen: „Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tage seufzt und in Geburtswehen liegt“ (vgl. Röm 818ff), sowie: „Der Gott Jesu Christi, unseres Herrn, der Vater der Herrlichkeit … hat (seine Kraft und Stärke) an Christus erwiesen, den er von den Toten auferweckt und im Himmel auf den Platz zu seiner Rechten erhoben hat, hoch über alle Fürsten und Gewalten, Mächte und Herrschaften und über jeden Namen, der nicht nur in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen genannt wird.“ (Eph 117ff) „So sollen jetzt die Fürsten und Gewalten des himmlischen Bereichs durch die Kirche Kenntnis erhalten von der vielfältigen Weisheit Gottes, nach seinem ewigen Plan, den er durch Christus Jesus unseren Herrn, ausgeführt hat.“ (ebd 310) „Denn wir haben nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen die Fürsten und Gewalten, gegen die Beherrscher dieser finsteren Welt, gegen die bösen Geister des himmlischen Bereichs.“ (ebd. 612) – Ist die paulinische Theologie „kabod“-Theologie, Herrlichkeits-Theologie? Und hat sie die damit gemeinsamen Probleme? Ist das „über jeden Namen“, mit dem er den „Platz zu seiner Rechten“ bezeichnet, nicht wie die kabod-Theologie insgesamt zu ergänzen durch die schem-, die Namens-Theologie (hängt der Unterschied zwischen beiden mit dem zwischen den Gottesnamen zusammen, d.h. ist der Unterschied einer in der Namens-Theologie)? Steht die paulinische Theologie unter dem Gesetz der Objektivation (deshalb Paulus der erste, der die Theologie Jesu durch eine Theologie über Jesus ersetzt, deshalb Bekenntnis-Theologie, deshalb frauenfeindlich)? Paulus war nur in den dritten Himmel entrückt (Kor 212), während Maria Magdalena von den sieben unreinen Geistern befreit wurde (Mk 169, vgl. Mt 1243ff, Lk 1124ff).
    Gegen den christlichen (paulinischen: von der Bekenntnislogik nicht ablösbaren) Missionsbegriff: Es kann und darf nicht mehr unsere Aufgabe sein, „Überzeugungsarbeit“ zu leisten; denn die führt genau in jene Mechanismen herein, aus denen die Idee der Wahrheit herausführen soll. Die Bekenntnislogik steckt den anderen nur deshalb ins Ghetto hinein, weil sie selber freiwillig sich hineinbegeben hat: die Kirche ist das Urghetto.
    Sind solche Dinge wie die Göttlichkeit Jesu, die Opfertheologie, der spätere Naturbegriff und der Ursprung der Kunst Konsequenzen der kabod-Theologie, die eigentlich eine Theologie des „unglücklichen Bewußtseins“ ist, das den Ursprung seines Unglücks und seiner Verzweiflung in den Inbegriff der Herrlichkeit umlügt? Der Begriff des Schönen entspringt genau an diesem Punkt.
    Ist kabod die Rückseite Gottes, die Moses schauen durfte?
    Ist der Name Paulus vom römischen Bürger Saulus nach seiner Bekehrung gewählt worden, um damit auszudrücken, daß er der „Geringste“ sei, gleichsam der Vertreter, der Repräsentant der Armen und der Fremden; mit der dann nicht ungefährlichen Wendung, wonach die Kirche den Armutstitel für sich in Anspruch genommen, ihn den realen Armen entwendet und damit zum Symbol gemacht hat, an das die Mechanismen des Selbstmitleids, der Bekenntnislogik gleichsam zwanglos sich anschließen konnten? Dazu würde die im Katholizismus dann zur Orthodoxie erhobene kabod-Theologie und die Verwerfung der schem-, der Namenstheologie passen. Und die Geschichte der Kirche wäre dann die bewußtlose Abarbeitung der kabod-Theologie (die die naturwissenschaftliche Aufklärung mit einschließt): im Nachhinein gesehen, die Geschichte der drei Verleugnungen.
    Das Ich ist ein Produkt der sieben unreinen Geister.
    Wäre das „Schwerter zu Pflugscharen“ nicht zuerst auf die Kerubim mit dem kreisenden Flammenschwert zu beziehen?
    Die Grund-Beziehung und die Zweck-Beziehung sind nicht voll identisch. Wird die Grund-Beziehung durch die Zweck-Beziehung ersetzt, so erfüllt das genau den Tatbestand der Instrumentalisierung. Der Satz „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren“ wird unwahr, wenn man ihn umkehrt: Um mein Leben zu retten, will ich es verlieren. Das Verfahren der Umkehr, der Verwandlung von Grund-Beziehungen in Zweck-Beziehungen ist auf der Subjekt-Seite die List, objektiv die Gemeinheit. Gegen das Prinzip der Umkehrbarkeit steht das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit.
    Die Schuldknechtschaft und die Reversibilität von Grund- in Zweck-Beziehungen. Durch die Verräumlichung der Natur werden alle Dinge dem Kausalitätsprinzip unterworfen, der Zweckbegriff subjektiviert, die Natur für subjektive Zwecke verfügbar gemacht. Grund ist die Reversibilität aller Prozesse im Raum, diese Reversibilität wiederum ist der Grund der Gemeinheitsautomatik und die Vernichtung des parakletischen Denkens. Sie ist die Sünde wider den Heiligen Geist, die weder in dieser noch in der zukünftigen Welt vergeben werden kann.
    Das proton pseudos des Inertialsystem ist die Vorstellung, die Prozesse in ihm seien (wie die Richtungen im Raum) umkehrbar. Diese Vorstellung ist durchs Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit widerlegt. Sie ist ebenso falsch wie die Vorstellung, das Im Angesicht und das Hinter dem Rücken seien nicht unterscheidbar. Diese Vorstellung ist der ontologische Grund der Gemeinheit (und den wollte sich die Kopenhagener Schule nicht aus der Hand schlagen lassen).
    Die Lokomotive, die dem Abgrund zurast, ist führerlos, es gibt in ihr nur noch Passagiere, Heizer und Schaffner; die Mitfahrenden werden abgelenkt durch das Angebot, dem eigenen Untergang zuschauen zu dürfen. Sind wir nicht durch das Schauspiel so fasziniert, daß wir nicht mehr in der Lage sind, den Punkt überhaupt noch ins Auge fassen zu können, von dem aus das Ganze vielleicht doch noch zum Halt, wenn schon nicht zum Wenden zu bringen wäre?

  • 03.09.91

    Das Bekenntnis (und der dazugehörige Personbegriff) sind an die Ausbildung des formalen Rechts (an die staatliche Organisation der Gesellschaft) gebunden, das jene Objektivität (Welt als Distanz zur Welt; die Dinge als potentielles Eigentum von Personen) begründet, in der dann die Dogmenentwicklung, insbesondere die Entfaltung ihrer lateinischen Version, überhaupt erst möglich war. (Zusammenhang mit der Aufgabe des „Rechtsstaats“, alle in den Anklagezustand zu versetzen, aus dem man sich nur durchs Bekenntnis lösen kann; deshalb gibt es Staatsanwälte, und deshalb gilt das erste Bekenntnis dem Rechtsstaat, dem alle Bekenntnisgemeinschaften nachgebildet sind.) In diesem Zusammenhang gewinnt der Bekenntnisbegriff (zusammen mit seiner technisch-instrumentellen Qualität, seiner Handhabbarkeit für Herrschaftszwecke) den gleichen changierenden Bedeutungshorizont wie die Begriffe Person, Sache, Schuld. Das ist die Folge davon, daß er die Funktion und Bedeutung einer Anschauungsform im Sinne der kantischen Erkenntniskritik, der Transzendentalphilosophie, annimmt (wobei das Bekenntnis den reinen Anschauungsformen, die Person dem transzendentalen Subjekt, die Sache dem Objekt, die Schuld dem Kausalitätsbegriff entspricht: hier wird die Beziehung des synthetischen Urteils apriori zum Schuldurteil, zum richtenden Denken, hergestellt; Verdrängung der verteidigenden Instanz). Jedes Bekenntnis ist in der Tat ein (Schuld-)Geständnis. Und der Konfessionalismus begründet nicht eine Gemeinschaft von Erlösten (die „Freiheit der Kinder Gottes“), sondern einen fast ausweglosen Schuldzusammenhang.
    Person und Subjekt: Während sich das Subjekt in Beziehung zum Objekt definiert, drückt der Personbegriff die Beziehung zu anderen Personen und zum Eigentum aus. Das christliche Dogma hat den Begriff des Erlösten durch den Personbegriff ersetzt (und säkularisiert: auf den Kopf gestellt). – Vgl. auch die konstitutive Bedeutung des Eigentumsbegriffs für die Distanz zum Objekt („durch die Distanz vermittelt, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt“: Der Eigentumsbegriff schließt das Eigentum über den Beherrschten mit ein: über die Geschichte des Sklaventums; diese Geschichte hat sich in der des Geldes – und in der des Raumes, des Inbegriffs der Distanz zum Objekt – vergegenständlicht).
    Die Idolatrie dehnt das Eigentumsverhältnis auf die Religion aus.
    Bekenntnis und Recht: Auch das Bekenntnis (das dieses Eigentumsverhältnis endgültig stabiliert) ist kein Schutz gegen Gemeinheit, im Gegenteil: es ist heute zu einem zentralen Teil der Gemeinheitsautomatik geworden (dessen Genese und Wirkungsweise sich nirgend eindringlicher als an der Kirchengeschichte studieren läßt). Der Ursprung dieser Gemeinheitsautomatik liegt in der Geschichte der Sklaverei als der Urgeschichte des Eigentums (und der „Welt“, die insgesamt als potentielles Eigentum definiert ist, während der Naturbegriff an dem daraus abgeleiteten Objektbegriff sich orientiert).
    Bekenntnis und Jungfräulichkeit: Instrumentalisierung des Widerstands gegen die Instrumentalisierung.
    Wie heißt und was bedeutet der hebräische Ausdruck für die „Dornen und Disteln“: kann es sein, daß in den Dornen eine Beziehung zur Orthogonalität, zur Struktur des Raumes mit anklingt? (Sind Dornen die Hörner von Pflanzen? – Vgl. „Horn“ in der Schrift: Dan 77, Off 2215 und die Jotam-Fabel.)
    Gibt es einen Zusammenhang zwischen Rache, Recht und Orthogonalität, Orthodoxie? Kann es eine Orthodoxie ohne Opfer geben?
    „Der Opfertisch werde für sie zur Falle, das Opfermahl zum Fangnetz.“ (Ps. 6923) Gilt das Gleichnis vom Unkraut und vom Weizen auch für die Opfertheologie?

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie