Kepler

  • 3.1.1997

    Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht. Dieser Satz eröffnet den Weg zur Kritik der Naturwissenschaften, die nur durch die Reflexion des Andern, dessen Statthalter im Subjekt die subjektiven Formen der Anschauung sind: durch Barmherzigkeit, verteidigendes Denken, selber reflexionsfähig werden. Die subjektiven Formen der Anschauung werden reflexionsfähig, wenn man sie als Produkt der Formalisierung der Feindbildlogik begreift. Das biblische Symbol der subjektiven Formen der Anschauung ist der Kelch; dieses Symbol bezeichnet aufs genaueste die Beziehung der subjektiven Formen der Anschauung zur Sprache, die Verwirrung und Zerstörung der erkennenden Kraft des Namens durch die richtende Gewalt.
    Es gibt keine Klarheit ohne Fronten: Aber das ist kein Argument für Fronten, sondern die Widerlegung der Klarheit und der entscheidende Einwand gegen die Aufklärung, der Grund ihrer Reflexionsbedürftigkeit.
    Wo es Fronten gibt, da gibt es auch Bekenntnisse.
    Das Objekt ist der Schatten, den der Begriff auf die Dinge wirft. Aber ebenso ist der Begriff der Schatten des Objekts.
    Kommt die Hegel’sche Interpretation der Kepler’schen Planetenformel nicht einer Bedeutung der Planeten nahe, die sie der Theologie wieder nahebringt: Sie konstituieren den Raum.
    Hängt die Geschichte von den drei Magiern, die „seinen Stern im Orient (im Osten, im Aufgang?) gesehen“ hatten, bei Matthäus mit seinem Begriff des Himmelreichs zusammen? Und hat das Himmelreich etwas mit den Himmelsheeren (den Sabaoth), und haben die etwas mit einer Front zu tun? Ist die Feste des Himmels, die die unteren von den oberen Wassern scheidet, eine Front, und der Bogen in den Wolken eine Waffe?
    Die Opfertheologie als Einstiegsdroge in die Feindbildlogik, als Verführung zur Komplizenschaft? Sind die drei Leugnungen Petri drei Stufen der Entfaltung der Feindbildlogik und der Adaptation, des Sich-gemein-Machens mit dieser Logik?

  • 22.6.1995

    Zur Geschichte des Bilderverbots: Die Entwicklung von der Judenkarikatur und von der Denunziation zur Sympathisantenhetze entspricht der vom Rundfunk zum Fernsehen. Das fotografierte Bild ist aus seinem eigenen logischen Grunde das Fahndungsbild; das gilt auch für die mediale Präsentation des Gesichts im Fernsehen. Deshalb ist das Angesicht zu unterscheiden vom „Ausdrucksgeschehen der Gesichter anderer Menschen“ (Zitat Brumlik?, vgl. die Rezension Brumliks in der FR von heute). Es geht nicht um „Wege aus dem Bilderverbot“, sondern darum, daß im Angesicht das Bilderverbot sich erfüllt (auch die Logik der Schrift, die in der genetischen Beziehung der Schrift zum Bild gründet, fällt unters Bilderverbot). Das Angesicht und der „Anthropomorphismus“ der Schrift verweisen auf den Sprachgrund der Schrift. Zur Logik der Schrift (und zu den Konstituentien des Weltbegriffs) gehören der Tempel und das Opfer; die Logik der prophetischen Vision hingegen, die im „Leuchten des Angesichts“ sich vollendet, gründet in einem sprachlichen, nicht in einem visuellen Sachverhalt (Ulrich Sonnemann hat einmal gegen die optische, aufs Anschauen verweisende Tradition der philosophischen Tradition auf die Notwendigkeit, mit den Ohren zu denken, hingewiesen): Sie sprengt den Weltbegriff.
    Bemerkung zum Bilderverbot: Das Fahndungs- und das Paßfoto, die mehr miteinander zu tun haben, als uns lieb sein dürfte, leugnen nicht nur das Angesicht, sie machen es unkenntlich.
    Die Autonomie des Subjekts ist allein noch durch die Idee der Barmherzigkeit zu retten, durch die Kraft, die „Autorität der Leidenden“, den Imperativ, der vom realen Leiden ausgeht, nicht mehr verdrängen zu müssen.
    Der Autismus ist die Krankheit des Objekts, das aus dem Bann des Begriffs keinen Ausweg mehr findet.
    Kritik der Unendlichkeit, oder die drei Grenzen des Weltbegriffs: Das Angesicht, der Name und das Feuer.
    Hat die Autorität der Leidenden nicht etwas mit den Attributen Gottes, die Levinas zufolge im Imperativ, nicht im Indikativ stehen, zu tun?
    Die Beziehung von Kant und Hegel läßt sich an ihrem Verhältnis zur Astronomie demonstrieren: Während Kant die kopernikanische Wendung, die Säkularisation des Planetensystems nicht nur akzeptiert hat, sondern zum Kern seines Konzepts gemacht hat, zugleich aber an der Erhabenheit des Sternenhimmels festgehalten hat, hat Hegel diese Erhabenheit des Sternenhimmels neutralisiert und verdrängt, ist jedoch durch seine Kepler-Rezeption in die Nähe des astrologischen Mythos geraten.
    Kann es sein, daß die drei Leugnungen Petri als spiegelbildliche Reflexionen der drei Versuchungen Jesu sich begreifen lassen?

  • 15.10.92

    Rehabilitierung der Sexualmoral als politische Moral, oder Zerstörung der Sexualmoral durch Sexualmoral: Adornos „erstes Gebot der Sexualmoral: der Ankläger hat immer unrecht“ verweist auf einen Zusammenhang von Sexualmoral und Herrschaftskritik oder auf das elliptische Wesen der Sexualmoral (vgl. Keplers Planetentheorie). Der Verzicht auf Herrschaftskritik und die Zurückdrängung der Sexualmoral ins Private, Ursache des Voyeurismus und des Geschwätzes (die heute in BILD triumphieren), lassen sich nicht trennen; und der Verzicht aufs sexualmoralische Urteil bedeutet nicht den Verzicht auf Sexualmoral. Was heute allein noch Keuschheit heißen darf (und an der Geschichte der Scham sich zu orientieren hätte), wäre nur zu fassen, wenn es gelingt, Politik im Spiegel sexualmoralischer Kategorien zu begreifen: Der Ödipuskomplex (die Ermordung des Vaters und die inzestuöse Bindung an die Mutter) beschreibt nicht nur einen psychologischen, sondern sogar primär einen geschichtlich-politischen Sachverhalt. Ähnlich die biblischen Geschichten
    – von der Aufdeckung der Blöße Noachs durch Ham,
    – von Sodom und Gomorrha und von den Töchtern Lots, die ihren Vater trunken machen, um durch Verkehr mit ihm die Nachkommenschaft sicher zu stellen,
    – von den Frauen im Stammbaum Jesu: von Levi und seiner Schwiegertochter Tamar (der Levi die Leviratsehe mit seinem jüngsten Sohn vorenthielt), von der Hure Rahab in Jericho (die namensgleich ist mit einem Seeungeheuer), von der Moabiterin Rut und Boas, von David und Betseba (der Frau des Hetiters Urias und der Mutter Salomos),
    – von Daniel und Susanne (und der Überführung der Greise, die sich für ihre eigene Abweisung durch eine falsche Anschuldigung rächen wollten),
    – aber auch die einschlägigen Prophetengeschichten,
    die – wie andere nicht genannte – eigentlich allesamt nur verständlich sind, wenn sie nicht nur als Beispiele biblischer Privatmoral, sondern zugleich als Ausdruck geschichtlich-politischer Sachverhalte verstanden werden. Hier ist einer der Schlüsselpunkte, an denen gezeigt werden kann, wie das Christentum durch die Privatisierung der Sexualmoral sich selbst das Verständnis der Schrift verstellt hat. Dieses Verhältnis von Politik und Sexualität aber würde mißverstanden, wenn man es nur „symbolisch“ verstehen würde: Es bleibt ein sexualmoralischer Grund der Beziehung, der mit dem Verhältnis von Im Angesicht und Hinter dem Rücken zusammenzuhängen scheint (vgl. den Zusammenhang des Rousseauschen Naturbegriffs mit seiner Inzest-Mythologie). Der moderne, im Kern ökonomisch und naturwissenschaftlich zugleich bestimmte Weltbegriff neutralisiert diesen Zusammenhang nur scheinbar, er selbst ist durch ihn (patriarchalisch, sexistisch) überdeterminiert. Läßt sich das Bindeglied zwischen Politik und Sexualität (Welt und Natur?) genauer bestimmen?

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