kontrafaktische Urteile

  • 9.5.1994

    Es ist das Anschauen, das das Angesicht verdrängt und es durch Vorstellungen ersetzt. Das Anschauen als die reine Abstraktion vom Blick des andern, vom Gesehenwerden (der Ursache der Scham), ist zugleich die vollständige Identifikation mit dem Blick der anderen; darin gründen die Formen der Anschauung, die das Anschauen endgültig taktlos und voyeuristisch machen: zum Anblick der Blöße, die die Selbstverdammung zur Knechtschaft nach sich zieht. Die Idee einer „Anschauung Gottes“ ist die Kurzform der Theologie hinter dem Rücken Gottes, Grund der Idee des Absoluten, der Logik des autistischen Gottes. Die Neutralisierung und Verdrängung der Asymmetrie zwischen mir und den andern (die Subsumtion des Ich unter das Alle) geht nur über die Identifikation mit dem Anderssein (den Ursprung des Weltbegriffs) und die Leugnung des Selbst. Die Selbstverleugnung ist keine theologische Kategorie. Die Funktion und Bedeutung des Begriffs des Falls („die Welt ist alles, was der Fall ist“) läßt sich an dem ärztlichen „Wir“, das dem Patienten die Ehre des Subjektseins verweigert, das Ich des Patienten auslöscht („wie geht es uns denn heute“), ablesen. Emanationen der subjektiven Formen der Anschauung sind das Geld und die Bekenntnislogik. Die Bekenntnislogik (die Logik der „Weltanschauungen“) ist gleichsam die Innenseite der transzendentalen Logik: der entfaltete logische Sinn der Formen der Anschauung (die Logik des Herrschafts-, Schuld- und Verblendungszusammenhangs, als welche die Form des Raumes wie auch die Zeit am Ende sich enthüllt). Ist das Verhältnis des Geldes zu den Waren das Modell der Beziehung des Dings zu seinen Eigenschaften: das Geld das wahre hypokeimenon, oder auch die Wasser, die den Meeresboden bedecken? Die Idee der Seligkeit wird durch die Unsterblichkeitslehre nur abgelenkt und verwirrt, nicht erfüllt. Ist der grasfressende Behemoth (der Erstling der göttlichen Schöpfung) ein Monster (Hiob nachlesen)? Haben nicht die Kirchen den Teufel mit dem Satan ausgetrieben (war das die Verführung, der sie erlegen sind)? Und haben die Kirchen etwas mit dem Widersacher im Buch Hiob zu tun? Haben die sieben Köpfe des Drachen und des Tieres in der Apokalypse etwas mit den Planeten (mit der Astrologie) zu tun? Aber was bedeuten dann die zehn Hörner (und die sieben/ zehn Diademe des Drachen/ des Tieres)? Ist das archaische Lächeln (und das Lächeln der Seligen in Bamberg) ein Lächeln im Angesicht der Katastrophe; hat es nicht etwas mit dem Lächeln der Auguren zu tun? Und ist die Isaak-Geschichte die Ursprungsgeschichte dieses Lächelns? Die meisten Faschismus-Theorien tragen die Züge der Abwehr; deshalb erreichen sie ihren Gegenstand nicht. Gibt es überhaupt eine Chance, die Erfahrung, aus der der Faschismus erstanden ist, an sich herankommen zu lassen? Aber gründet darin nicht die Gefahr einer Transformation des Faschismus, der mit Sicherheit nicht in der gleichen Gestalt wiederkommen wird, in der er einmal da gewesen ist. Kontrafaktische Urteile haben eine Ähnlichkeit mit der Frage, ob es Leben auf anderen Planeten gibt. Sie lenken ab von den realen Problemen dieser Geschichte (dieses Planeten). Sie sind ein Element ideologischer Geschichtsschreibung; eine ihrer Brutstätten war der Marxismus, eine andere die nationalistische Geschichtsschreibung. Liegen nicht Auschwitz, aber auch die „Auschwitzlüge“ und die Friedhofschändungen von heute in der Konsequenz kontrafaktischer Urteile, sind sie nicht zu verstehen als der Versuch, die Geschichte zu korrigieren, ein einmal Versäumtes nachträglich doch noch in die Tat umzusetzen? Gehört nicht zum Schuldverschubsystem (dem Relativitätsprinzip wissenschaftlicher Erkenntnis) die Exkulpations- und Verteufelungslogik? Theologie im Angesicht Gottes ist der Versuch, in die Theologie die Idee der Auferstehung und das Bewußtsein des Jüngsten Gerichts mit hereinzunehmen. Die, die da sagen, daß die Deutschen nicht ewig im Büßerhemd herumlaufen können, wissen nicht, wovon sie reden: Was sie das Büßerhemd nennen, ist das weiße Kleid der Umkehr. Was sind das eigentlich für Christen, die das Wort Buße nur noch mit einem pejorativen Klang hören und aussprechen können (wie bei der „Büßerin“ Maria Magdalena, von der man sich nur noch hat vorstellen können, sie müsse es aber schlimm getrieben haben)? Ist der Menschensohn (der bar enasch) der Sohn des Enosch, in dessen Lebenszeit man anfing, den Namen des Herrn anzurufen? Mit der Sprengung des All hat Rosenzweig die Form des Raumes gesprengt, die drei „Freiheitsgrade“ des Raumes aus ihrer orthogonalen Verklammerung (aus ihrer Beziehung zum All, zum totalisierenden Weltbegriff) gelöst und als Freiheitsgrade in einen neuen Zusammenhang gerückt, in dem sie als Umkehr, als Name und am Ende als Angesicht sich enthüllen? Problem des Schreibens: Das Ganze ist durchsichtig und klar, aber immer, wenn ich es niederschreiben will, wird es chaotisch und undurchsichtig. Kann es sein, daß das Schreiben die Sache der gleichen Logik unterwirft, deren Destruktion die Voraussetzung dafür ist, daß sie klar und durchsichtig wird? Dann wäre der Knoten gelöst, wenn es gelänge, die Logik des Schreibens mit in die Reflexion und Kritik einzubeziehen (dem Bücherschreiben ein Ende zu machen)? Wie hängt die Logik der Schrift mit der Logik der Welt zusammen? Ist die Logik der Schrift die Logik der Veranderung (das Äquivalent des Inertialsystems in der Sprache): der Objektbindung? Ist die Schrift die das finstere Geheimnis abschirmende Außenseite des Dings? (Liegt hier der Grund der Pseudepigraphie im apokalyptischen Schrifttum, in der mittelalterlichen Philosophie und Mystik und der geschichtswirksamen Fälschungen im Mittelalter, sowie nicht zuletzt die Lösung der Rätsel der Chronologie – der „Sumerer“ und Karls des Großen, aber auch der chronologischen Beziehungen zwischen der Abraham-, Moses-/Exodus-/Landnahme- und der Königsgeschichte Israels, der Zuordnung zu der Geschichte Chaldäas, Kanaans, Ägyptens, der Philister, Assurs und Babylons?)

  • 27.4.1994

    Sünde als Voraussetzung der Erkenntnis: Diese Erkenntnis wird durchs moralische Urteil (durch die Exkulpations-Logik des Schuldverschubsystems) zum Geschwätz neutralisiert.
    Die grammatischen Begriffe sind insgesamt geronnene Handlungen, Verbalabstrakta; deshalb die Suffixe -ativ/-itiv (nominare: Nominativ, accusare: Akkusativ).
    Woher stammt der Genetiv/Genitiv (oder der Infinitiv)? Hat er etwas mit dem generare (erzeugen) zu tun, und ist der Genitiv Repräsentant des Zeugungs- und Adoptionsverhältnisses in der Sprache (Ableitung von Herrschaft und Besitz aus der Hurerei)? Im Griechischen wird das bar (Sohn des) durch den Genitiv wiedergegeben. Und hat nicht in der Tat jedes Herrschafts- und Besitzverhältnis eine sehr tief reichende libidinöse Komponente? Liegt hier der Ursprung der biblischen Schwurpraxis (mit der Berührung der Lenden des Vaters, des Herrn), oder auch die Lösung des Problems der Beziehung des Schwurs zur Zahl Sieben (Beerscheba): Zusammenhang des Schwurs mit den Siegeln?
    Im Hebräischen ist der Genitiv ein Nominalobjekt, der Akkusativ ein Verbalobjekt. Ist die Entfaltung des Deklinationssystems in den indogermanischen Sprachen eine Konsequenz der Neutrumsbildung und durch diese mit dem veränderten System der Konjugationen (der veränderten Beziehung der Verben zur Zeit) verbunden? Und verweist die Ursprungsgeschichte dieses Deklinationssystems auf die Geschichte Israels mit Kanaan (ist die Sprache wie das Land Kanaan Privateigentum und Gegenstand des Wertgesetzes, oder ist sie Gottes Eigentum)?
    Ist der Baal die Urgestalt des Absoluten?
    Die grammatischen Begriffe sind hypostasierte Adjektive, ihre Hypostasierung eine Folge der Trennung von Ding und Sache.
    Die grammatischen Begriffe der indogermanischen Sprache sind Funktionsbegriffe, die der hebräischen Sprache, soweit sie nicht aus analoger Anwendung der indogermanischen Grammatik sich herleiten, haben die materiellen sprachlichen Bildungselemente als Grundlage (daher der Name der „hebräischen“ Schrift und Sprache?).
    Bezeichnet das „Filius meus es tu, hodie genui te“ den Ursprung des Genitiv?
    Definition der Ellipse: Geometrischer Ort aller Punkte, bei denen die Summe der Abstände zu den beiden Brennpunkten sich gleichbleibt. In der Konstruktion der Ellipse wird gleichsam der Radius des Kreis in seine zwei Richtungskomponenten (in das Sehen und Gesehenwerden) aufgespalten: Schlüssel zum Verständnis der elliptischen Planetenbahnen?
    Zu den griechischen Sternensagen: Sind vielleicht die griechischen Mythen insgesamt Sternensagen (und historische Sagen zugleich)? Und haben wir nicht durch das Tabu über die Astrologie (über das Problem ihrer logischen Konstitution) den Schlüssel zu den Mythen verloren? Ist die Astrologie der Turm, der bis an den Himmel reicht (Turmbau zu Babel, Ursprung des Mythos und der Herrensprache)? Und sind Spuren davon nicht noch in den divinatorischen Traditionen (die der Römische Imperialismus dann als Gefahr wahrgenommen und verboten hat) enthalten (Haruspizien, Auguren: Leberschau und Vogelflug)?
    Wäre es nach Erfindung des Fernsehens nicht an der Zeit, zu Platons Höhlengleichnis endlich die Konstruktion der Höhle zu entschlüsseln? Ist die platonische Höhle ein Bild der Hölle, von der es in der Bibel heißt, daß ihre Pforten sie (die Kirche) nicht überwältigen werden?
    Ist nicht der technische Fortschritt eingebunden in ein System von Entsprechungen; sind nicht die Gestalten der Naturbeherrschung ebenso Formen der Herrschaft in der Gesellschaft und Gestalten der Selbstverblendung in der Theologie im Kontext des Herrendenkens?
    In Küng und Drewermanns Ägyptophilie ist die Sehnsucht nach den Fleischtöpfen Ägyptens aufgebrochen, der Wunsch nach Wiederherstellung des Sklavenhauses.
    Kontrafaktische Urteile gehorchen der Logik des Stammtischs; sie leben von der fatalen Gnade der späten Geburt (dem Privileg des Besserwissens). Sie sind die ohnmächtigen Erben der Magie, die, wenn sie ihrer Ohnmacht bewußt wird (und den Drang zu handeln in sich verspürt), faschistisch wird.
    Wenn Kohl das Urteil der Geschichte reklamiert, dann gründet das in seinem Glauben an die Kraft der kontrafaktischen Urteile.
    Die historische Bibelkritik wird zwangsläufig antisemitisch, wenn sie das Problem der prophetischen Geschichtsschreibung, der Beziehung von Prophetie und Geschichte, oder auch das Problem der Grenzen der objektivierenden Erkenntnis in der Geschichte, verdrängt (vgl. Nietzsche, Rosenzweig, Benjamin).
    Wenn sich Biblische Texte des „Alten“ wie des „Neuen“ Testaments) dem historisch-kritischen Blick in verschiedene Quellen auflösen, so gründet das in dem gleichen Gesetz, nach dem im Stern der Erlösung das All nach seiner Konfrontation mit der Todesfurcht in seine Elemente auflöst. Die Quellentheorie ist das Opfer der gleichen Logik, die Franz Rosenzweig durch Reflexion zu durchdringen und zu begreifen versucht hat. Die Rosenzweigsche Reflexion der Todesfurcht ist die Antwort auf ihre philosophische Instrumentalisierung, deren direkte Produkte die Opfertheologie, das Dogma und die Bekenntnislogik sind: Seit ihrem Ursprung hat sich die Theologie geweigert, den Kelch zu trinken, auf den die Getsemane-Geschichte sie so deutlich verweist. So ist sie zur Theologie hinter dem Rücken des lieben Gottes geworden.
    Am Brotbrechen haben ihn die Jünger in Emmaus erkannt, aber den Kelch wird er erst im zukünftigen Gottesreich mit ihnen trinken.

  • 22.4.1994

    Im Griechischen zieht das Verb
    – „freuen“ den Dativ nach sich: der Gegenstand der Freude ist zugleich ihr Adressat; und
    – „überlegen sein“ den Genitiv: die Überlegenheit ist eine dem Besitzverhältnis vergleichbare Abhängigkeit.
    Vgl. Langenscheidts Kurzgrammatik Altgriechisch, S. 91, 94.
    Die -tümer sind Namen, die durchs Urteil des Weltgerichts in Isolationshaft genommen worden, zu Substantiven gemacht worden sind. Modell: das „Deutschtum im Ausland“, vgl. aber auch den Reichtum, das Volkstum, das Christentum, Judentum oder Heidentum. Sind nicht die -tümer insgesamt Ungetümer (monströs wie die apokalyptischen Tiere)?
    Reichtum und Armut: Ist die Umkehrung -tum/-mut reiner Zufall; haben -tum und Mut etwas mit einander zu tun?
    Heldenmut und Heldentum (oder über die Signatur des Nationalismus am Ende): Der moderne Held (auch der Held im Kunstwerk) definiert sich – wie die Bekenntnislogik, die zu seinen Voraussetzungen gehört, gegen einen Feind (der für ihn den Tod repräsentiert), der antike (zivilisationsbegründende) Held, der Heros, begründet mit dem Recht einen Weltzustand, in dem es überhaupt erst Feinde gibt (und am Ende alle Fremden, die einmal als Gäste galten, zu Feinden geworden sein werden).
    Die exkulpierende Kraft des Absoluten, oder: wie hängt der Kaufrausch mit der Ohrenbeichte (und das Absolute mit dem Geld) zusammen? Verwechselt die Theologie seit den Anfängen der Scholastik nicht die Sündenvergebung mit der Abstraktion, hat sie nicht das Opfer zu einem Moment im Abstraktionsprozeß gemacht (Zusammenhang von Theologie, Säkularisation und Inertialsystem)? Entspringt hier der Begriff des Absoluten: der Greuel der Verwüstung? (Ist das Absolute die christliche Version des Ahnenkults, als Abschaffung der Erinnerung?) Das Absolute entlastet von der Last der Vergangenheit, indem es sie verdrängt, sie dadurch aber zum Absoluten macht (vgl. Newtons Begriff des absoluten Raums und seine verborgene Beziehung zu Hegels Logik).
    Zum Weltbegriff: Theologie muß heute durch die Wüste der Abstraktion, die Kritik des Absoluten, hindurch.
    Das Ökumene-Konzept durch ein Entkonfessionalisierungs-Konzept ersetzen: die Kirche aus dem Bann der Bekenntnislogik (oder aus dem Bann des Absoluten) befreien. Das aber heißt: Theologie im Angesicht Gottes und nicht hinter seinem Rücken.
    Im Anfang erschuf Gott den Himmel und die Erde: Wenn die Erde der Inbegriff des Benannten ist, ist dann der Himmel der Inbegriff der benennenden Kraft, die im Namen Gottes gründet (und das Herrendenken – der „Begriff“ – der Turm, der bis an den Himmel reicht)? Bezieht sich darauf das Bild, wonach der Himmel am Ende wie eine Buchrolle sich aufrollen wird? Die Benennung der Tiere durch Adam gehört in diesen Zusammenhang, aber auch das Wort: Der Himmel ist Sein Thron, die Erde der Schemel Seiner Füße. Am Ende, wenn es die Nacht und das Meer, den Tod und die Vergangenheit nicht mehr geben wird, wird Gott die Sonne sein. Und wenn der Sohn Ihm alles unterworfen hat, wird Gott alles in allem sein.
    Im Hebräischen ist der Genitiv durch den Bezug zum Nomen, der Akkusativ durch den Bezug zum Verb bestimmt. Die Deklination ergibt sich (ohne Suffixflexion) aus der Stellung im Satz, während sie im (früheren?) Kanaanäischen durch Suffixe sprachlich sich anzeigt. Gibt es einen Zusammenhang dieser Differenz mit der Differenz im Besitzrecht (im Bodenrecht); ist das Eindringen der Deklination in die Nomina ein Symptom der Subsumtion der Erde unters Wertgesetz: der Beginn der flektierenden Sprachen überhaupt, die dann in der Substantivierung der Nomen (der Verlegung der Deklination in den bestimmten Artikel) endet? Sind die flektierenden Sprachen ein Reflex der sich ausbreitenden Geldwirtschaft und deshalb Herrensprachen? Hier ist die Welt zu allem, was der Fall ist, geworden; Der Bann unter dem die Welt steht, ist der Bann des Absoluten.
    Sind die die „hebräischen Sklaven“ betreffenden Regelungen (Dt und Jer) nicht auch Sprachregelungen, und gilt das vielleicht für die die Armen und die Fremden geltenden Gebote insgesamt?
    Hat die Gnade etwas mit der benennenden Kraft der Sprache zu tun (und mit ihr die Barmherzigkeit und die Gebärmutter: die messianischen Wehen)?
    Verhält sich der Infinitiv Sein zum Possessivpronomen 3.Sg.m. wie das Glaubensbekenntnis zum Schuldbekenntnis (und werden Begriffe nicht überhaupt erst dort interessant, wo der Bruch sich zeigt, anstatt wie bei der Trennung der Begriffe Natur und Welt bloß verdrängt zu werden)?
    Kontrafaktische Urteile: Der Historiker ist wie der Richter der Beweislogik unterworfen: Seine Urteile (die „Urteile der Geschichte“) müssen nicht wahr, sondern nur hieb- und stichfest sein. Der Fechtboden, auf dem sich das prüfen läßt, ist der Boden der kontrafaktischen Urteile (und auch hier gilt, was auf jedem Fechtboden eingeübt worden ist: Gemeinheit ist kein strafrechtlicher Tatbestand). Die Konsequenzen, die aus der Kritik des Historismus sich ergeben, sind bei Nietzsche und Rosenzweig nachzulesen. Liegt die Auflösung des Problems der kontrafaktischen Urteile in der Theologie?

  • 21.02.94

    Kontrafaktische Urteile sind seit je Mittel der nationalistischen Geschichtsschreibung gewesen. Daher die Neigung zur Paranoia, deren Opfer dann die Linken, die Juden, die Verräter (von Judas bis zur Dolchstoßlegende) waren.
    Nach Hegel (vgl. Enz., Anm. zu ? 143) gehören kontrafaktische Urteile zum Scharfsinn des leeren Verstandes.
    Unterm Bann des Inertialsystems gibt es zum Nationalismus keine Alternative.
    Offene Wunde Vergangenheit, das kreisende Flammenschwert oder die Trennung des Planetensystems vom Tierkreis (die Benennung der Tiere und der Schrecken der Tiere).
    Der Tempel war nicht das Haus Gottes, sondern das Haus seines Namens. Gott selber: Der Himmel ist sein Thron und die Erde der Schemel seiner Füße. Hat Kopernikus Gott entthront?
    Das Wort vom Binden und Lösen: Bezieht es sich nicht auf den Staat und den Begründungszusammenhang von Staat und Astronomie (und Bekenntnistheologie)? Und sind die „ehernen Gesetze“ der Astronomie nicht die Kehrseite der Wasser oberhalb des Firmaments (der Wasser, aus denen die Philosophie mit Thales aufgetaucht ist, und die seitdem als Staat die Erde wie den Meeresboden bedecken)? Gehört dazu nicht das Wort: Ich bin gekommen, Feuer vom Himmel zu bringen, und ich wollte, es brennte schon (Grund und Gegenstand einer Theorie des Feuers)?
    Wer sind die Noah, Daniel und Hiob bei Ezechiel (wann sind die Bücher Daniel und Hiob entstanden)?

  • 10.06.91

    Wertsetzung und Sinngebung setzen voraus, daß die Sache an sich wert- und sinnlos ist. Insoweit sind auch die positiven Werte Ausdruck von Verzweiflung.
    Die Häresie wurde als Verrat empfunden, weil sie das Geheimnis der Orthodoxie ausplauderte. Durch die Mobilisierung der apologetischen Kräfte ist die Orthodoxie dann immer tiefer in die Verstrickung hineingeraten (Zusammenhang von Orthodoxie, Vergegenständlichung, Apologetik/Theodizee und Opfertheologie; Grund und Kontext der Häresienbildung).
    Im Faschismus erfüllt sich die Geschichte der Häresien, aber so, daß gegen ihn Apologie nicht mehr greift, nicht mehr möglich ist, sondern nur noch das Bekenntnis, die Erfüllung des Nachfolgegebots: die Übernahme der Schuld der Welt, an deren Grund der Faschismus (durch den bedenkenlosen Gebrauch der Gemeinheitsautomatik) rührt.
    Geschichte und Opfer: Die Nachgeborenen glauben, Herr der Vergangenheit zu sein, über die sie als Wissende und Urteilende (wenn sie das Erbe der Vergangenheit antreten, ohne die darin kapitalisierte Schuld zu reflektieren) sich erheben; sie können aber über die Vergangenheit nur deshalb sich erheben (und die Früchte der geopferten Vergangenheit ohne das Bewußtsein von Schuld genießen), weil sie mit der Vergegenständlichung des Vergangenen zugleich sich von der vergangenen Schuld glauben exkulpieren zu können, ihr damit aber gerade rettungslos verfallen. – Der Antisemitismus wollte mit den Juden die Vergangenheit, für die sie einstehen, loswerden. Und nicht zufällig ist jeder Historismus chauvinistisch: der Staat repräsentiert diese Herrschaft über die Vergangenheit; deshalb muß er seine Bürger, von denen er die Verdrängungsleistung fordert, generell unter Anklage setzen und braucht einen Staatsanwalt. Wehe denen, die sich erinnern.
    Kontrafaktische Urteile in der Geschichte haben genau diese Exkulpationsfunktion. Als Urteilender distanziert man sich von der vergangenen Schuld, anstatt sie aufzuarbeiten. Kontrafaktische Urteile sind insoweit falsch, wie sie der gleichen Faktizitätslogik gehorchen wie die Tatsachenurteile. Auch der kontrafaktisch Urteilende steht als der moralisch Überlegene auf diesem Riesenleichenberg. Oder auf der Vergangenheitskolonie, der Vergangenheits-Dritte-Welt, dem Vergangenheits-Proletariat (das durch den Tod enteignet ist und dessen Arbeitsfrüchte wir genießen: dem ganzen Heer der toten Erniedrigten, Ausgebeuteten und Vergessenen).
    Die Vergegenständlichung vollzieht am Objekt die Taufe der Vergangenheit. Genau das leistet die kantische Vorstellung der Zeit als subjektive Form der Anschauung.
    Confessor und virgo: Der Mann nimmt die Schuld auf sich und kann sich davon nur befreien durchs Bekenntnis, er kann heilig werden nur als Bekenner; die Frau ist davon dispensiert, sie wird nur schuldig, wenn sie ihre Unschuld verliert: ist die Unschuld bei der Frau eine biologische, keine moralische Qualität?
    Im Anfang war das Wort, aber was ist der Anfang anderes als der erste Ursprung der Vergangenheit? Genau in diesem Punkt entspringt die Sprache. So hat die Sprache eine ursprüngliche Beziehung zu den Toten – als Ausdruck der Trauer über das Vergehen. Darauf bezieht sich die Lehre von der Auferstehung von den Toten.
    Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Aber woher kam die Urflut, die dann übrigens noch geschieden wird in die Wasser diesseits und jenseits des Firmaments?
    Theologisch begründete Herrschaftskritik kann sich nicht einschränken auf den gesellschaftlichen Aspekt von Herrschaft, sie muß auch den naturalen Aspekt mit einbeziehen. Die gesellschaftliche Herrschaft enthält über ihr Verhältnis zur Naturbeherrschung auch ein naturales Moment, das im Rahmen einer theologischen Herrschaftskritik offengelegt werden muß (das ist der letzte Sinn einer Naturphilosophie). Es gibt einen Naturgrund von Herrschaft, den wir besetzt halten, der aber mit den Strukturen der gesellschaftlichen Herrschaft über die Natur nicht identisch ist, sondern zugleich davon getrennt untersucht und dargestellt werden muß.

  • 10.03.90

    Das Problem der kontrafaktischen Urteile hängt engstens mit der Frage, ob man aus der Geschichte was lernen kann, zusammen. Aber auch mit der Frage: Aus welchem Grunde befassen wir uns mit der Geschichte (wegen der Herkunft, des Ursprungs und des Ziels)? Die Lösung des Problems ist die parakletische oder auch die prophetische Erkenntnis.

  • 09.01.90

    Das Problem der kontrafaktischen Urteile stellt sich in der Geschichte ebenso wie in der individuellen Biographie: Kontrafaktische Urteile drücken im Verhältnis zur eigenen Vergangenheit zwar eine Kritik der Gegenwart aus, lenken aber zugleich ab vom Prinzip Verantwortung, von der an sich notwendigen Erforschung der Änderungsmöglichkeiten hic et nunc; sie bleiben in die Haltung des Zuschauers gebannt, dessen Unschuld sie erhalten sollen durch Verschiebung der Schuld in die Vergangenheit, die jedoch eben dadurch unaufhebbar wird; sie sind Funktionen der eingebildeten Ohnmacht, des Selbstmitleids (Heideggers „Seinsvergessenheit“ ist ein kontrafaktisches Urteil, dem er sich nur zum Schein selbst unterwirft; die „Seinsfrage“ ist das endgültige Verdammungsurteil). Kontrafaktische Urteile werden bösartig und gemein, wenn sie (im allgemeinen im Interesse der Selbstrechtfertigung, der Entlastung von Schuldgefühlen: im Kontext des pathologisch guten Gewissens) auf andere bezogen, auf die Vergangenheit anderer angewandt werden.

    Der Begriff des dreidimensionalen Raums ist eine Funktion der Verräumlichung der Zeit (der Subsumtion der Zeit unter die Vergangenheitsform). Rätsel der Lichtgeschwindigkeit. Ist der Blick zum „Sternenhimmel“ ein Blick in die Vergangenheit? Ist alles Gesehene ein Vergangenes, nicht mehr Erreichbares? Ist die Physik insgesamt ein kontrafaktisches Urteil (Zusammenhang mit Projektion und Paranoia?), und dessen kritische Auflösung die heute notwendige Gestalt einer parakletischen Naturphilosophie?

    Was bedeutet es, wenn (auch christliche) Politiker Ereignisse und Taten dem „Urteil der Geschichte“ anstatt dem göttlichen Urteil unterstellen? – Der faschistische Schicksalsglaube ist noch lebendig.

    Spenglers Begriff der Sorge (Madonna als Muttersorge; der Staat die Sorge des Mannes, UdA, S. 178): Hat Heidegger Spengler gekannt?

    Weltanschauung als Droge.

    Wie begründet Heidegger seine Behauptung über die besondere Affinität der deutschen (wie früher der griechischen) Sprache zur Philosophie, und welche Schlüsse lassen sich aus dieser Begründung ziehen (Vgl. Ulrich Sonnemanns Hinweis hierzu)?

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