Lambert

  • 29.6.96

    Karl Thieme zufolge war das Konzil von Trient das Konzil der Privatisierung des Glaubens (Gott und die Geschichte, Herder Freiburg 1948, S. 160ff, vgl. hierzu insbesondere S. 175, 191), mit folgender bemerkenswerten Konsequenz: „Anders als die Frage nach dem Verhältnis von geistlicher und weltlicher Obrigkeit, die seit dem Ende des ‚Mittelalters‘ suspendiert ist …, ist … der große Kampf zwischen Episkopalismus und Papalismus zugunsten des letzteren entschieden worden, … zur restlosen freiwilligen Unterwerfung … dann 1870 …“ (S. 196). So der „universalhistorisch orientierte Laien-Theologe“ (S. 195), als den er sich selbst bezeichnet.
    Der Himmel ist Sein Thron, die Erde der Schemel Seiner Füße: Gott, nicht dem Staat, gehört das Land. Deshalb ist das Territorialprinzip (cujus regio ejus religio) der Keim des Totalitarismus (vgl. das Burckhardt-Zitat bei Thieme, S. 155).
    Karl Thieme verweist auf die Differenz zwischen Phil 210 und Kol 120, auf das „nicht zufällige Fehlen der ‚Unterirdischen’“ an der letzteren Stelle (S. 137): Die „unter der Erde“ beugen auch ihr Knie, haben aber keinen Anteil an der Versöhnung. Die Unterirdischen, das sind die im hades, in der scheol, im Totenreich: Reicht dieses Totenreich nicht in unsere Erfahrungswelt hinein: mit der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, mit dem Trägheitsprinzip, mit dem durch die subjektiven Formen der Anschauung definierten Reich der Erscheinungen?
    Ist der Schlüssel Petri nicht sowohl der Schlüssel zum Abgrund (zu den „Pforten der Hölle“) wie auch der zum Himmel, und das kopernikanische System der Totenkopf des kosmos?
    Das Ich denke begleitet nicht nur alle meine Vorstellungen, es ist das Formgesetz ihrer Erscheinung. Im Begriff der Erscheinung steckt als sein Apriori der Adressat mit drin: Was erscheint, muß jemandem erscheinen. Deshalb gehört zur transzendentalen Logik die transzendentale Ästhetik, die diesen Adressaten repräsentiert. Ist nicht das „Fest der Erscheinung des Herrn“ der Namenstag jeglicher Phänomenologie von Lambert über Hegel bis Husserl?
    Alle meine Vorstellungen: Das ist der Inhalt des Unzuchtsbechers.
    Aufgrund welcher Logik erscheinen Firmenbeziehungen im Bilde der Mutter-Tochter-Beziehung? Ist die juristische Peron weiblich?
    War das der Hintergrund der „Venus-Katastrophe“, die eine gesellschaftliche Naturkatastrophe war: War die Tempelwirtschaft die mythische Vorform der kapitalistischen Wirtschaftsorganisation, der Ischtar/Astarte-Kult die Ursprungsgestalt der juristischen Person, die weiblich war? Zu dieser Logik, die mit der Praxis der Schuldknechtschaft sich entfaltet hat, würde der hieros gamos wie auch das Bild vom Kinder-fressenden Moloch passen.

  • 29.10.95

    Theologie: domestizierte Paranoia? Nicht Gott, sondern Sein NAME ist Gegenstand der Theologie. Der Gott, „über“ den zu reden wäre, ist ein paranoisches Produkt. Theologie im Angesicht Gottes ist die Theologie der Arglosigkeit.
    Ist nicht das Dogma – mit seinem Kern, der Opfertheologie – ein paranoides System, und zwar das konsequenteste, logisch durchgebildetste?
    Wenn Jugendliche heute in der Oper lachen, verweist das nicht auf den Zerfall der bürgerlichen Privatsphäre, die in der Oper an ihren herrschaftsgeschichtlichen Ursprung im Barock (an ihren Ursprung in der Geschichte der Privatisierung der Herrschaft) erinnert wird?
    Beispiele sind kein Beweis: Die Frage ist nicht, ob es Fortschritt in der Geschichte gibt, sondern was das ist, was wir Fortschritt nennen.
    Wenn Ulrich Duchrow unter Berufung auf Ton Veerkamp sagt, daß der Überbau nicht nur wirtschaftlich determiniert sei, neutralisiert er den Widerspruch zu einem sowohl als auch. Es gab nicht den Dornbusch und daneben das Feuer, sondern im brennenden Dornbusch hat Gott sich offenbart.
    Das Inertialsystem ist der Systemgrund der Ästhetisierung der Erscheinungen. Eine Kritik der Phänomenologie, des Begriffs und der Sache (von Lambert über Hegel bis Husserl), müßte insbesondere dieses Moment der Ästhetisierung im Begriff der Erscheinungen ins Bewußtsein heben. In diesen Zusammenhang gehört die Bedeutung des Präfixes er- im Begriff der Erscheinung sowie seine Beziehung zum Sein: Beide erinnern an die Logik der dritten Person (des Andern), die den Grund benennt, aus dem der Weltbegriff und der Begriff der Erscheinungen hervorgehen.
    Zur Kritik der Trinitätslehre: Die Erscheinung wird erzeugt, wie auch der theologische Ursprung auf die Christologie (auf die „Erscheinung des Herrn“), zurückweist. Wie der Sohn ist auch die Erscheinung „gezeugt, nicht geschaffen“: Deshalb ist der Begriff der Schöpfung auf die Natur nicht anwendbar (und deshalb gibt es so etwas wie eine „christologische Struktur“ des Naturbegriffs).
    Die Bewegung des Lichts im Raum wird mit den Begriffen Fortpflanzung und Ausbreitung beschrieben, und diese Begriffe bezeichnen nicht das Gleiche: Verhält sich nicht die Ausbreitung zur Fortpflanzung wie die Fläche zur Norm? Und ist es nicht diese Beziehung der beiden Begriffe, die dem Korpuskel-Welle-Dualismus zugrundeliegt, in ihm sich reflektiert?
    Mit der Austreibung der Händler und Geldwechsler aus dem Tempel hat Jesus den Auftrag an Josue zu Ende geführt: er hat den Bann über Kanaan vollstreckt.
    Der wachsende Anteil der Gremien, die Regierungsaufgaben übernehmen, aber nicht demokratisch gewählt und keiner demokratischen Kontrolle unterworfen sind: Verfassungsgericht und Zentralbanken im Innern, transnationale Gremien wie IWF, Weltbank, Europäischen Union draußen (vgl. Duchrow, Alternativen, S. 106). Zusammenhang mit dem Konstituierungsprozeß, in dem die Marktgesetze nach innen und außen sich durchsetzen („schlanker Staat“, Privatisierung öffentlicher Betriebe, Entpolitisierung der Politik und Ausbreitung der – nur noch „Sachgesetzen“ gehorchenden – Verwaltung).

  • 4.5.1995

    Schuldverschubsystem (Buße und Umkehr): Der Staat ist die Buße für die Sünde der Bekehrung (durch die das Volk aus der Gemeinschaft des Stammes (gens, phylä) sich löst und als Volk (populus, laos) sich konstituiert). Er erweist sich als Organisationsform des Schicksals (mit dem Volk als „Schicksalsgemeinschaft“, als passivem Objekt des Staats), aus dessen Bann nur die Umkehr herausführt.
    Vom Tempel zum Fernsehen: Erst im Staat gibt es ein Publikum, das Kollektiv der Zuschauer, den Begriff der Öffentlichkeit. Die subjektiven Formen der Anschauung (in denen die Geschichte der Verinnerlichung des Opfers und der Legitimation des staatlichen Gewaltmonopols sich vollendet) repräsentieren den Staat im Subjekt (ohne den Bann, den die Geschichte der Vergangenheit auferlegt, und ohne objektivierende Naturerkenntnis, das aber heißt: ohne die Einordnung der Dinge in Raum und Zeit, gibt es keinen Staat).
    Beachte die Bedeutungsverschiebung: Im Lateinischen schloß das Wort populus auch die Bedeutungen noch mit ein, die wir heute nur noch mit dem Begriff des Publikums verbinden (Zuschauer und Öffentlichkeit), während publicus, -a, -um adjektivische Bedeutung hatte und die Zugehörigkeit einer Sache zum populus (zum Volk, zur Öffentlichkeit) bezeichnete (was sind die griechischen Entsprechungen hierzu?). Seit wann bezeichnet das Wort Publikum (publik, Publizität) die Zuschauer in öffentlichen Veranstaltungen (nicht bei Ereignissen: Zuschauer sind nicht Zeugen), und seit wann gibt es „die Leute“?
    Öffentlich ist, was vor den Augen aller sich ereignet. Während öffentliche Ereignisse die Zeugenschaft begründen, gibt es bei öffentlichen Veranstaltungen nur Publikum (Zuschauer eines inszenierten Schauspiels, eines Films, einer Sportveranstaltung, deren „Wirkung“ die Ohmacht und Passivität des Kollektivs einsamer Zuschauer voraussetzt; dem „reinen Zuschauer“ ist jeglicher Eingriff in das Geschehen, das vor ihren Augen sich abspielt, verwehrt; selbst die moralische Würde der Zeugenschaft ist liquidiert, hat sich verflüchtigt).
    Das ist möglicherweise der entscheidende Effekt jeglicher Ästhetisierung (vom naturwissenschaftlichen Objektbegriff über das Schauspiel bis zum Sport und zur Medialisierung der Politik), daß sie die moralische Gemeinschaft mit dem Objekt aufhebt. Ontologien gibt es erst, seit (über die Entfaltung der Raumvorstellung und unter der Herrschaft des Tauschprinzips) die Ästhetik (der „Schein“) in den Kern des Realen eingedrungen ist. In dieser Konstellation gründet der kantische Begriff der Erscheinung, der allen Phänomenologien seit Lambert und Hegel zugrunde liegt.

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