Lenin

  • 9.12.95

    Politische Naturgesetze und das Gewaltmonopol des Staates: Auch eine Mauer aus Paragraphen ist undurchdringlich. Die bundesdeutsche Asylgesetzgebung unterscheidet sich von der von der DDR errichteten Mauer nur durch die Richtung der Abschreckung: Die eine sollte keinen heraus-, die andere niemanden hereinlassen. In beiden Fällen erweist sich die gesetzlich installierte Gewalt als das politische Korrelat des physikalischen Trägheitswiderstandes.
    Ebenso wie es am Ende des Zweiten Weltkrieges keinen Friedensschluß mehr gegeben hat, gibt es seitdem keine erklärten Kriege mehr. Konflikte „brechen aus“ wie ein Vulkan. Kriege sind zu Naturereignissen geworden. Ist das nicht der entscheidende Hinweis, daß die politische Ökonomie insgesamt in Natur regrediert, daß sie ebenso unbeherrschbar geworden ist wie diese? Der Neoliberalismus, der für die uneingeschränkte Wirksamkeit der Marktmechanismen und -kräfte (für die Naturalisierung der Gesellschaft) sich einsetzt, ist die Ideologie dieses Zustandes, das Alibi für den Verzicht auf eine von bloßer Verwaltung sich unterscheidende Politik. Regieren ohne die Idee einer moralisch verantwortbaren Souveränität kann nur noch heißen: Aussitzen. Wenn die Grenzen der moralischen Legitimität des Handelns aufgehoben sind, begründen Macht, Gewalt und Erfolg sich gegenseitig, gibt es zu dem, was ohnehin sich durchsetzt, keine Alternative mehr.
    Keiner Generation hat sich die Gewißheit, daß die Vergangenheit sich nicht ändern läßt, so tief eingeprägt wie der Generation nach Auschwitz. Aus dem gleichen Grunde ist diese Generation ausweglos auf Rechtfertigungszwänge fixiert. Alles Handeln wird, wenn der Blick auf eine Änderung der Dinge, auf die Fähigkeit und die Kraft, in den Gang der Dinge einzugreifen, versperrt ist, allein noch unter dem Gesichtspunkt der Schuld, und d.h. im Bann des Rechtfertigungszwangs wahrgenommen.
    Ist nicht das Bilderverbot eigentlich das Verbot, von der Schwerkraft (vom Schuldzusammenhang) zu abstrahieren? Fällt nicht die kopernikanische Wende (und mit ihr die modernen Naturwissenschaften und der deutsche Idealismus) unters Bilderverbot? Und ist nicht die Ästhetik insgesamt, die in der modernen Welt zusammen mit der Geldwirtschaft, den Anfängen der Naturwissenschaft und dem Ursprung des konfessionellen Christentums entspringen, ein Produkt der Abstraktion von der Schwere (vgl. die Frage Rosenzweigs, ob Künstler selig werden können)?
    Zusammen mit einem Recht ohne Feindbild und ohne Kronzeugenregelung wünsche ich mir Solidarität ohne Komplizenschaft.
    Wer über Fehler nicht mehr nachdenken will, blockiert die eigene Lernfähigkeit. Man sollte die Kritik der raf nicht allein der Bundesanwaltschaft überlassen (und nicht jeden Kritiker für einen Sympathisanten der Bundesanwaltschaft halten).
    Darüber, ob die raf die Politik in der BRD nach rechts gerückt hat, wird man diskutieren können (und müssen). Ohne Zweifel war das nur möglich, weil das Potential dafür schon (oder immer noch) vorhanden war. Aber hätte nicht die raf diese Situation mit reflektieren müssen: Kann man wirklich die ganze linke Diskussion vor 68, von der nach 68 nicht viel übrig geblieben ist, durchstreichen und vergessen? Zwischen Lenin und der raf gibt es immerhin Namen wie Rosa Luxemburg, Georg Lukacs, Karl Korsch, Rudolf Hilferding, auch Ernst Bloch, Walter Benjamin, Horkheimer und Adorno: Wer diese Tradition glaubt links liegen lassen zu können, darf sich nicht wundern, wenn er nicht nur der Rechten Tür und Tor öffnet, sondern sich selbst am Ende rechts wiederfindet.
    Lehrstück der Dialektik: Hat nicht die raf dem Staat, der auf dem Sprung nach rechts war, Hilfestellung geleistet, ihm dazu das Rüstzeug, das er brauchte, geliefert?
    Gegen Habermas: Die Dialektik der Aufklärung ist nicht das „schwärzeste Buch“, sondern eine der genauesten Analysen einer der finstersten Perioden der europäischen Geschichte. Anstatt diese Analyse bloß abzuwehren, käme es viel mehr darauf an, sie auf den gegenwärtigen Stand zu bringen. Die Historisierung dieses Buches war eines der wirksamsten Mittel seiner Neutralisierung. Seine, weiß Gott, weiterbestehende Aktualität wäre zu retten.

  • 12.04.93

    Apologetik ist ein Teil des richtenden und das Gegenteil des verteidigenden (parakletischen) Denkens. Heute erstickt die Kirche an ihrer Apologetik.
    Wenn die geschlechtliche Vereinigung das Sterben in die Gattung hinein (die „Begattung“) bedeutet, ist dann nicht das Bekenntnis Unzucht?
    Die Schuld am Schuldverschubsystem und die Sünde am Herrendenken demonstrieren heißt, beide aus der kausalen Verknüpfung herauslösen und insbesondere die Sünde aus ihrem Ursprung: der Trennung, der Abstraktion, dem Urteil, begreifen.
    Zwei Ziele der Theologie:
    – den Satz „Was du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein“ und
    – das Wort von der Weisheit und dem Verstand im Kontext des Rätsels von der Zahl des Tieres (666)
    endlich begreifen. Den Rebus, das Bilderrätsel, der Apokalypse lösen.
    Der real existierende Sozialismus ist der Verführung der Logik des Schuldverschubsystems, der Unschuldsfalle, zum Opfer gefallen.
    Wer die Sündenvergebung von der Übernahme der Sünden der Welt (das Bekenntnis von der Nachfolge) trennt, verhält sich blasphemisch: er usurpiert das Gericht, dem er damit verfällt.
    Die Kirche hat die Wahrheit zum Dogma neutralisiert. Heute treffen sich die Positivisten auf eine nachgerade selbstzerstörerischen Weise: der naturwissenschaftliche, der Rechtspositivismus und der katholische Positismus.
    Der Objektivierungsprozeß hat die Welt restlos instrumentalisiert. Hat dieser Prozeß jetzt nicht eine unüberschreitbare Grenze erreicht? Was passiert jenseits dieser Grenze?
    Kant hat das aristotelische Materie-Form-Problem soweit radikalisiert, daß er auch die Materie als ein Formproblem begreift. Auch die Materie ist noch polarisiert worden: in die Objektvorstellung, die ins Apriori der transzendentalen Logik mit hereingenommen wird (als Grundlage der synthetischen Urteile apriori), und das Gegebene der Empfindungen. Die Empfindungen verhalten sich zur transzendentalen Logik wie die Rohstoffe zu ihrer industriellen Verarbeitung (oder wie die Dritte zur Ersten Welt, zur Metropole). Lenin hatte schon bemerkt, daß auch das Proletariat zum Agenten des Imperialismus geworden ist, aber er hat die Konsequenzen daraus nicht mehr begriffen.
    Die Kirche, deren Stifter einmal gesagt hat, „wer von euch ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein“, ist selber zu einer Horde von Steinewerfern geworden.

  • 19.08.91

    Das Geld ist insgesamt nur der Ausdruck einer Schuld- und Herrschaftsbeziehung; es gibt keinen Reichtum ohne Armut, die ihm zugrundeliegt und über die er sich reproduziert und erhält, und ohne die Herrschaft über die Arbeit der Armen. Die Theorie vom Ursprung des Geldes in der Schuldknechtschaft ist plausibel und begründet; sie drückt mehr vom Wesen des Geldes aus als das Tauschprinzip (dem die scheinhafte Vorstellung sich verdankt, eine gerechte Gesellschaft ließe sich durch bloße Umverteilung des Reichtums errichten).
    Daß im Zeitalter des Antichrist die Söhne gegen die Väter sich wenden, hängt mit der Änderung der materiellen Lebensbedingungen zusammen: deren Konstruktion hat zur Folge, daß das Realitätsprinzip selber: die Selbsterhaltung und die Wahrnehmung der eigenen Interessen die Lebensgrundlagen der nachfolgenden Generationen zerstört. Der Generationenkonflikt hat seine sehr präzise bestimmbaren materiellen Ursachen.
    Seht, ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe: Aber heute sind auch die Wölfe domestiziert; und wer ist der Herr, der sie domestiziert?
    Die kirchliche Verurteilung der Abtreibung (die letzte Gestalt des kirchlichen instrumentellen Gebrauchs des moralischen Urteils) übersieht, daß wir in einer Gesellschaft leben, in der es fast schon ein Verbrechen ist, überhaupt noch Kinder in die Welt zu setzen.
    Die Kirche scheint heute (aus Verzweiflung) ihre Aufgabe nicht mehr im Hüten der Schafe, sondern in der Domestikation der Wölfe zu sehen (etwas ähnliches scheint Heideggers Begriff vom Hirten des Seins zu bedeuten). Aber so wird sie selber hündisch (Mt 76, 1526; Phl 32; Off 2215).
    Adornos Bemerkung „Heute ist schon jeder Katholik so schlau wie früher nur ein Kardinal“ trifft den Sachverhalt von der verkehrten Seite: Nicht daß sie so schlau sind, ist ihnen anzukreiden, sondern daß sie die Arglosigkeit verdrängen, verleugnen, diskriminieren: daß sie das Nachfolge-Gebot nicht mehr kennen. Oder anders ausgedrückt: Heute hat die Leugnung auch den einfachen Gläubigen schon ergriffen (Beginn der Selbstverfluchung). Die Kirche selbst erzwingt erstmals diese Leugnung, weil sie die Schuld alleine nicht mehr erträgt. Das ist die Stunde der Laien-Theologie.
    Das Objekt des „et ne nos inducas in tentationem“ ist die Privatisierung der Religion, die verkennt, daß die Privatsphäre nur noch ein Anhängsel der Maschinerie ist, die aufgrund der Privatisierung der Religion nicht mehr wahrgenommen werden kann: hinter dem Vorhang verschwindet; und daß diese Privatsphäre mit dem durch die Gewalt der Maschinerie unwiderstehlich fortschreitenden Objektivationsprozeß selber verändert wird.
    Lenins gelegentlicher Hinweis auf die Bedeutung von Elektrizität und Sozialismus verweist genau auf den kritischen Punkt: Die Elektrizität ist das Instrument, mit dem die Ausbeutung ins Unsichtbare verschoben wird; sie erweist sich so als das technische Korrelat des Kolonialismus. (Läuft die Entdeckung und technische Nutzung der Elektrizität parallel mit der Einführung der Girokonten?)
    Die biblische „Hurerei“ verweist auf den (politisch-gesellschaftlichen) Zusammenhang von Empörungs- und Unterwerfungslust (von Hoffart und Niedertracht). Die befreite Lust ist etwas anderes.
    Wer sind die Vögel des Himmels: gehören auch die Tauben dazu? oder sind es nur die Raubvögel? Wie steht es mit den Singvögeln?
    Der Fehler der Gnosis liegt darin, daß sie das konstitutive Moment der Subjektivität im Demiurgen leugnet, den in der Subjektivität gründenden Schuldzusammenhang auf den Demiurgen (und im Subjekt auf den Leib und die Sexualität) verschiebt, damit die Gnosis zu einer Exkulpationstheorie macht (Demiurg als Sündenbock: Entsühnung durch Gnosis). Die Gegenposition zur Lehre vom Demiurgen ist in der Tat die christliche Lehre von der Übernahme der Schuld der Welt, das Nachfolge-Gebot. Die Gnosis ist der Inbegriff der Leugnung der Nachfolge, nur daß die Lösung, die die christliche Tradition dann im Dogmatisierungsprozeß glaubte gefunden zu haben, eine Kompromißbildung war, die auf andere Weise dann am Ende zu einem fürchterlichen Instrument der Exkulpierung, der Gnosis, geworden ist.
    Es gibt eine erpresserische Ohnmacht, genauer: eine selbstinduzierte erpresserische Ohnmacht. Eine Ohnmacht, die der Liebe des anderen nicht glaubt, weil sie sich ungeliebt fühlt; die aber glaubt, diese fehlende Liebe durch den demonstrativen Ohnmachtsgestus erzwingen zu können.

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie