Levinas

  • 23.7.96

    Ist nicht das Gleichnis vom Unkraut im Weizen auch eine prophylaktische Warnung von der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung? Zwei biblische Themen sind z.Zt. zentral: – Das eine geht aus vom letzten Satz des Jakobus-Briefes; es bezieht mit ein das Wort von dem einen Sünder, dessen Bekehrung mehr Freude im Himmel hervorruft als 99 Gerechte; und es bezieht mit ein Maria Magdalena, die von den sieben unreinen Geistern befreit wurde (sowie die andere Geschichte von den sieben unreinen Geistern). – Zum anderen gehören der Kelch-Begriff, der Schlaf der Apostel in Getsemane sowie das „Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, als Grundlage aber die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos. Was den Stern der Erlösung von der gesamten christlichen Theologie damals (und heute noch) unterscheidet, ist die Vergegenwärtigung der Offenbarung, ihre Errettung vorm Vergangensein, die durchgeführte Kritik der ihr Objekt zum Objekt (oder Gott zum stummen und blinden Autisten) vergegenständlichenden Theologie, während Martin Buber dem eigenen dialogischen Prinzip zum Trotz hilflos am Prinzip der Vergegenständlichung festhält, deshalb nur eine angepaßtere Version des Erbaulichen liefert.
    Innen- und Außen-Kommunikation, oder Gericht und Barmherzigkeit: Jeder Autor hat seine Zensoren im Kopf, die seine ersten Adressaten sind, vor denen er bestehen möchte. Dazu mögen u.a. sein „Partner“, seine Eltern, seine Lehrer, seine Freunde, insbesondere auch seine Kinder gehören. Wenn er schreibt, sind sie anwesend, hören zu, machen Einwände; wenn etwas gelungen ist, scheinen sie sich sogar zu freuen. Aber sind nicht auch, und zwar auf eine sehr viel beunruhigendere Weise, die andern anwesend, die er nicht kennt, deren Einwände wie auch deren Zustimmung er nicht kennt, die er gleichwohl antizipieren muß: das namenlose Kollektiv seiner Leser, seine wirklichen Adressaten, für die er schreibt? Ist nicht der Abgrund, der ihn von diesem Adressaten trennt, und den er durch sein Schreiben überbrücken möchte, der Abgrund der Sprache, des Namens? Hat Levinas‘ Satz, daß die Attribute Gottes nicht im Indikativ, sondern im Imperativ stehen, den er mit dem Hinweis auf die Barmherzigkeit begründete, etwas mit diesem Abgrund zu tun? Gehört nicht Adornos Wort vom „Licht der Erlösung“ in den gleichen Zusammenhang? Hat nicht das real existierende Christentum mit der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele den Impuls der Gotteserkenntnis, der in allen steckt, durchs Selbsterhaltungsprinzip verwirrt und vergiftet? Hat es nicht zugleich den Blick auf die Welt versperrt und verdunkelt?
    Es gibt keine Kollektivschuld (so wie es kein kollektives Objekt des moralischen Urteils gibt), wohl aber eine kollektive Schuldverdrängung: die Verweigerung der Erinnerung durch das Instrument der Verurteilung. Die Schuldverdrängung führt in das, was Ralph Giordano die „zweite Schuld“ genannt hat, die dann allerdings in der Tat zur Kollektivschuld wird. Gleicht die Beziehung der zweiten zur ersten Schuld nicht der der zweiten zur ersten Natur? Wird nicht die erste Natur (als „Erscheinung“) erst im Lichte der zweiten sichtbar? Hat nicht das Christentum im dogmatischen Prozeß den Verurteilungsmechanismus ausgebildet und eingeübt (im „Kampf gegen die Häresien“), zusammen mit der Ausbildung und Einübung der Bekenntnislogik? Wer einen Schuldigen verurteilt, bekennt sich zu den „Werten“, die der Schuldige verletzt hat: Er entzieht sich damit dem Urteil, ändert aber nichts. War es nicht dieser Verurteilungsmechanismus, mit dem die Philosophie aus dem Bann des Mythos sich befreit hat, aber um den Preis der Logik des Begriffs? Die Erfindung der Philosophie war begleitet von der Erfindung der Barbaren. Das Christentum hat diese Erfindung differenziert, ebntfaltet und verfeinert, und zwar in dem Prozeß, auf den Geschichte der drei Leugnungen verweist: durch die weiteren Erfindungen der Juden, der Heiden und der Wilden. Schuldverdrängung und Schuldverschiebung funktionieren nur als kollektive Mechanismen; sind diese Mechanismen nicht der Kern der Bekenntnislogik und der Massenbildung zugleich? Autonome, spontane Solidarität wäre Solidarität ohne Komplizenschaft (ohne das Wechselspiel der kollektiven Absicherung). Bezeichnet nicht die Opfertheologie genau dieses Moment der Komplizenschaft in der Bekenntnislogik (die Bindung, den gesellschaftlichen Kitt der Religion)? Im Anfang wurden die Tiere in Horden, nicht durch Einzelne erlegt, die dann zur Versöhnung des Opfers bedurften. Der erste einzelne Jäger („Held der Jagd“, so Buber) war Nimrod? Gründet nicht der Totemismus im Raub der jungen Tiere, die – über die symbiotische Beziehung zu diesen Tieren – den Anfang der Domestikation bildete? War die christliche Opfertheologie das Instrument der Domestikation des Messianismus? Es war in Antiochien, wo die Christen erstmals sich Christen nannten. Die Sekten nutzen die Apokalypse als Angsterzeugungs-Instrument, um die Schafe in die eigenen Hürden zu treiben. Aber ist nicht umgekehrt die Apokalypse, als Mittel der Angstbearbeitung, auch eine Erkenntnishilfe? Es gibt drei subjektive Formen der Anschauung, den Raum, das Geld und die Bekenntnislogik, die sich durch wachsende Distanz von der Natur unterscheiden. Der Raum ist noch ein „Naturprodukt“, während das Geld auf den Selbsterhaltungs- und Eigentumstrieb der Menschen verweist, die Bekenntnislogik hingegen aufs Schuldverschubsystem und seine objektkonstituierende Kraft. „Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren“: Ist der Plural („ihnen“, „sie“) nicht wesentlich? Ist das Augen-Aufgehen und die Erkenntnis der Nacktheit nicht ein kollektiver Akt (und sind die „subjektiven Formen der Anschauung“ nicht das Produkt dieses kollektiven Akts)? Steckt nicht in jedem gegenständlichen Sehen das Bewußtsein und der Anspruch eines gemeinsamen Tuns (das dann im Fernsehen sich erfüllt)? Und bedarf es nicht einer zusätzlichen Reflexion, um zu bemerken, daß es keine Garantie gibt, daß das, was ich sehe, von den anderen genau so gesehen wird, wie ich es sehe?

  • 1.4.96

    Die Geldmenge, Grundlage des Reichtums des Staates, läßt sich durch Beschleunigung ihrer Umlaufgeschwindigkeit erhöhen (Bank als Beschleuniger, „Durchlauf-Erhitzer“).
    Vermögen ist grundsätzlich immobil, es sei denn, man läßt das Geld „arbeiten“ (Bank als Energie-Erzeuger: Dampfmaschine, Stausee, Elektrizitätswerk, Atomkraftwerk).
    Das Richter-Buch von Lillian R. Klein erinnert an eine fundamentalistische Fundamentalismus-Kritik. Auf welche Ursprungs-Situation verweist das Buch der Richter; erinnert es nicht gelegentlich an eine Makkabäer-Kritik?
    Nur wer keine Ironie versteht, kann das Buch der Richter als „archaisch“ mißverstehen. Wer keine Ironie versteht, versteht die Prophetie nicht, zu der das Buch im jüdischen Kanon zählt.
    Der Name der Hebräer kommt im Buch der Richter nicht vor, er kommt vor beim Abraham, in der Exodus-Geschichte (gegenüber Ägypten) und in den Philister-Kriegen, in der Ursprungsgeschichte des israelischen Königtums.
    In welcher Beziehung steht der Begriff des Überzeitlichen zu dem des Ewigen. Es genügt nicht der Hinweis auf den Unterschied, die Nichtidentität, zu reflektieren wäre die logische Beziehung beider Begriffe, die an das Paradigma der Beziehung von Im Angesicht und Hinter dem Rücken erinnert.
    Das Paradigma von Indikativ und Imperativ gilt auch für den Satz, Gott sei der „Herr der Geschichte“, der nicht nur empirisch sich widerlegen läßt, sondern nur als Imperativ im Levinasschen Sinne Sinn macht: als Begründung und Rechtfertigung des eigenen Herrschaftstriebs. Der Satz ist seit je als Imperativ verstanden worden, zugleich aber – und das war eine der Bedingungen seiner Geltung – mußte er der Reflexion entzogen werden.
    „Innerhalb der vier Wände“: Nur die vier Seitenwände gelten als Wände eines Hauses, nicht das Dach (die Decke), der Boden. Genau dadurch unterscheidet sich der Würfel vom Haus (auch die Pyramide vom Tempel?), daß hier alle Seiten äquivalent sind.
    Waren die Pyramiden, die Gräber der Pharaonen, ein Instrument zur Ausbildung der Raumanschauung?
    Zum Begriff des Bekenntnisses: Name und Begriff (oder auch das Hören und Sehen, das Wort und die Schrift) unterscheiden sich durch ihre Beziehung zur Schuld. Die Neutralität des Begriffs ist seine Neutralität gegen Schuld (der Schein seiner exkulpatorischen Kraft: der Begriff – und als dessen Inbegriff die Welt – bezeichnet den Bereich, den Gott nicht sieht).

  • 21.3.96

    Schließen sich das „geisteswissenschaftliche“, objektivierende, vergleichende Lesen und das interlineare Lesen (z.B. die Lektüre von Adornos „Philosphie der Neuen Musik“ als „Philosophie der modernen Naturwissenschaften“) nicht aus: die „Philosophie der Neuen Musik“ geht über Schönberg und Strawinsky und nicht über Einstein und die Kopenhagener Schule? Aber ist das interlineare Lesen nicht das eigentliche lernende Lesen?
    In der Natur gibt es keinen Kreis und keine Kugel; das aber heißt: die Orthogonalität ist eine Unterstellung, ein Instrument der projektiven Erkenntnis.
    Die Vorstellung der unendlichen Ausdehnung des Raumes ist eine durch die Logik der Orthogonalität erzeugte Zwangsvorstellung.
    Hängt nicht Joachim Ritters Bemerkung (in seinem Essay über die Subjektivität), daß das Subjekt im Kontext der Vergegenständlichung der Natur (und d.h. zusammen mit dem Ursprung des Naturbegriffs) sich konstituiert, mit dem Glauben an die magische Kraft des Urteils zusammen? Und wird die Rittersche Bemerkung nicht durch den Satz widerlegt, daß die Verurteilung des Faschismus den Bann nicht sprengt, sondern ihn verstärkt? Ritter hat übersehen, daß die Gegenständlichkeit der Natur im herrschaftsgeschichtlichen Prozeß, im Kontext der Klassenscheidung, sich konstituiert. Gegenständlich wird die Natur im Prozeß der gesellschaftlichen Naturbeherrschung, die auch die Herrschaft in der Gesellschaft (die Scheidung von oben und unten) unter sich begreift und mit einschließt. Erkenntnistheoretisches Pendant der Klassenscheidung sind die subjektiven Formen der Anschauung, ist insbesondere die Form des Raumes, die die Abstraktionsleistung gleichsam automatisch vollbringt, zugleich die Abstraktion selber verdrängt, ihr Produkt, das „Objekt“, als ein Stück Natur anschaut.
    Die objektivierte Natur erzeugt nur den Schein der Freiheit. Die Freiheit selbst gründet in der Fähigkeit, den zugrunde liegenden Objektivationsprozeß als einen Herrschaftsprozeß zu reflektieren.
    Der Rittersche Freiheitsbegriff gehört zu einer Geschichte, in der es Freiheit nur für die gibt, die oben sind.
    Das göttliche Gebot ist nur eine Richtschnur des Handelns, kein Maßstab für das Urteil über das Handeln der andern. Vor diesem Urteil steht die Frage: „Hättest du anders gehandelt, wenn du in seiner Lage gewesen wärest?“ Hierzu gehört der Satz vom Ochs und Esel, die man nicht gemeinsam vor den Pflug spannen soll, Grund des Levinasschen Konzepts der Asymmetrie. Nur wer die Last auf sich nimmt, befreit sich von ihr, nicht wer sie andern als Joch auferlegt. Genau das unterscheidet das Gebot vom Gesetz. Die Universalisierung, die aus dem an mich gerichteten Gebot ein Gesetz für alle macht, leugnet das Gebot. Das ist der utopische Grund von Jer 3134.
    Das Bekenntnis „Du bist der Sohn Gottes“ ist das Bekenntnis Petri und zugleich der Dämonen. Kann, wer heute dieses Bekenntnis fordert, die Frage beantworten: Was hat er davon, wenn ich bekenne, daß er der Sohn Gottes ist? Die Unbeantwortbarkeit dieser Frage macht das Bekenntnis zum Opfer der Vernunft. Die Bekenntnislogik ist das Produkt der Verinnerlichung des Opfers, die der Dialektik der Aufklärung zufolge die Geschichte der Zivilisation begleitet. Und diese Verinnerlichung des Opfers ist der Preis für den historischen Objektivationsprozeß: für den Prozeß, in dem Vergegenständlichung und Instrumentalisierung zusammenfallen, und in dem die instrumentelle Vernunft sich gebildet hat.
    Religion als Blasphemie, das ist die Religion unterm Bann der instrumentellen Vernunft; das ist die Religion, an die man selbst nicht mehr glaubt, die man braucht als Religion für andere: für die Kindererziehung, aber auch um die Gesellschaft in Schach zu halten; diese Religion ist Ausdruck der Angst, daß die Dämme brechen, das Chaos ausbricht, alles überflutet wird (Männerphantasien). – Bezeichnet nicht der Thalessche Satz „Alles ist Wasser“ den Ursprung der Männerphantasien und den Anteil der Männerphantasien am Ursprung und an der Geschichte der Philosophie, die nicht zufällig die Herrschaftsgeschichte aufs genaueste widerspiegelt?
    Ist Andreas ein beschnittener Alexander (und gibt es den Namen Andreas auch außerhalb der Evangelien), und verkörpert der Name des Philippus die Erinnerung an den Vater des Alexander (der seinen Vater ermordet hat)?

  • 27.2.96

    Der „zwanglose Zwang des Arguments“ ist nicht identisch mit der Einsicht. Die Zweideutigkeit des Begriffs des „zwanglosen Zwangs des Arguments“ rührt daher, daß er als petitio principii die Zustimmung des Andern in Begriffen wie Intersubjektivität oder Konsens schon voraussetzt.
    Liegt nicht das Problem der Beweislogik, das der kantischen Antinomie der reinen Vernunft (und seiner Analyse der „apagogischen Urteile“) zu entnehmen ist, in der Levinasschen Asymmetrie? Die Leugnung dieser Asymmetrie macht die Beherrschten stumm und die Herrschenden zu apriorischen Siegern.
    Wer die Einsicht, weil sie der demokratischen Kontrolle sich nicht fügt, als privilegierte Form der Erkenntnis diskriminiert, fördert die Gemeinheit, macht das Herrendenken alternativlos.
    Modell der transzendentalen Logik waren der christliche Antijuduaismus und sein Erbe, der politische Antisemitismus. Die Juden waren das erste – aufs transzendentallogisch umgeformte prophetische Urteil bezogene – apriorische Objekt. Nur durch die apriorische Beziehung auf die Juden, die mit dem Konstrukt einer „Erfüllung der Prophetie“ in Jesus systemlogisch zusammenhängt, ließ die Prophetie sich neutralisieren, war das Christentum apriori gegen die prophetische Kritik gefeit (vgl. auch die merkwürdige Konvergenz dieser Systemlogik mit der sprachlogischen Differenz zwischen der hebräischen und den indoeuropäischen Sprachen!). Der Antisemitismus war seit je ein Mittel, das Gebot und seine prophetische, herrschaftskritische Entfaltung zu neutralisieren. Der Preis waren das Dogma und die Bekenntnislogik (zusammen mit der Historisierung der prophetischen Bücher).
    Seit wann wird in christlichen Übersetzungen der Schrift Völker mit Heiden übersetzt? Hiermit hat sich das Christentum endgültig aus der Zone der prophetischen Kritik herausgeschlichen (und zugleich den Antisemitismus stabilisiert).
    Begründet nicht der Antijudaismus die Theologie hinter dem Rücken Gottes, der Antisemitismus aber darüber hinaus sowohl die Naturwissenschaften als auch den Historismus, den Objektivierungsprozeß insgesamt? In dieser Konstellation erweist sich die Trinitätslehre als eine Vorstufe der subjektiven Formen der Anschauung, mit der sie systemlogisch über das Konstrukt der Rechtfertigungslehre (die Wurzel des Pharisäismus in der christlichen Theologie) zusammenhängt.
    Die transzendentale Logik ist eine projektive Rechtfertigungslogik, darin gründet ihre apriorische Konstruktion.
    Ist nicht das Dogma ein riesiges kontrafaktisches Urteil (und wie dieses der Schatten oder der Preis der Objektivierung)?
    Lassen die Zahlen 666 (18×37) oder 616 (8x7x11) sich auf Paulus/Saulus beziehen?

  • 20.1.96

    Die Formalisierung der Logik ist der Versuch, auch die Logik noch zum Gegenstand der transzendentalen Logik zu machen und logische Zusammenhänge durch (subjektunabhängige) Kausalzusammenhänge zu ersetzen (bezieht sich hierauf die habermassche Kritik der „Bewußtseinsphilosophie“?). So wird die transzendentale Logik zu einer Naturkraft, die als gegeben hinzunehmen ist, wobei die Kausalität abgespalten und aus einem erkenntnisbegründenden logischen in einen objektiven empirischen Sachverhalt transformiert wird (so auch Habermas, Bd. 2, S. 2??). Dem entspricht die Gegenprojektion (S. 234), die mythisches Denken reproduziert, indem sie die mythische Naturmetaphorik durch eine technologische (informationstheoretische) Metaphorik ersetzt, informationstheoretische Kategorien zur Darstellung stammesgesellschaftlicher Strukturen verwendet. Anstatt gesellschaftliche Verhältnisse in Naturkategorien zu begreifen, werden technologische Kategorien, die im Zusammenhang der Instrumentalisierung von Naturverhältnissen gewonnen worden sind, zur Erklärung gesellschaftlicher Verhältnisse herangezogen.
    Merkwürdige Umkehrung: Habermas‘ „Kritik der funktionalistischen Vernunft“ macht funktionalistische (technologische) Kategorien zum Modell von Rationalität. Die Kategorien, durch die hindurch man die Dinge sieht, werden selbst nicht mehr gesehen, sie werden in den blinden Fleck gerückt.
    Das Beweisproblem ist mit der Mathematik (und mit dem Weltbegriff) entstanden, es hat sich entfaltet im Ursprung und in der Ausgestaltung des Rechts (Zeugenregelung).
    Unterm Primat des Seitenblicks (des Blicks „von außen“) wird das Angesicht zum Objekt, das nur noch gesehen wird, selber aber nicht mehr sieht. Die Hereinnahme des Seitenblicks (des Blicks des andern, des Zeugen) in das eigene Sehen begründet die subjektiven Formen der Anschauung, das Instrument der Selbstbegründung der intentio recta. Die subjektiven Formen der Anschauen und die intentio recta sind ein Produkt der Vergesellschaftung des Sehens.
    Die subjektiven Formen der Anschauung, die mit der Entfaltung der Mathematik sich entfaltet haben, sind die Grundlage des mathematischen Beweises, des redundanten, sich selbst begründenden Beweises. Das Grundproblem der Mathematik und der subjektiven Formen der Anschauung ist die Orthogonalität, die Form der Beziehungen der Dimensionen im Raum, die als getrennte Dimensionen durch ihre orthogonalen Beziehungen hindurch sich konstituieren. Ist die Orthogonalität das Instrument der Veranderung, Produkt der Hereinnahme des objektivierenden Seitenblicks?
    Der Abstraktionsprozeß, in dem die subjektiven Formen der Anschauung sich herausgebildet haben, wurzelt in der Bekenntnislogik; sie sind das Produkt der Neutralisierung der Bekenntnislogik, der Objektivierung der Verdrängung (Feigenblatt, Umkehrung des Schuldbekenntnisses, Verdrängung der Schuld, Konstituierung des Weltbegriffs). Im Kern der subjektiven Formen der Anschauung steckt die Opfertheologie (Joh 129; die „Entsühnung der Welt“, Teil der Neutralisierung der Reflexion von Herrschaft, gehört zu den Bedingungen der Selbstbegründung des Weltbegriffs).
    Habermas hat in den Abgrund geschaut und ist zurückgeschreckt; die Entwicklung seiner Philosophie beschreibt eine Bahn, die als Fluchtbahn vor diesem Abgrund sich bestimmen läßt. Wobei er vergißt, daß es genau diese Flucht vor dem Abgrund ist, die in den Abgrund hineinführt.
    Der ungeheuerliche Gedanke Levinas‘, daß das Problem der unendlichen Ausdehnung des Raumes sich im Angesicht des andern löst, ist vorgebildet in der Gesamtkonstruktion des Stern der Erlösung, die nichts anderes ist als die Entfaltung und Durchführung dieses Gedankens.
    Kopernikus hat das Wasser und das Feuer im Namen des Himmels, realsymbolischer Inbegriff der Fragepronomina Was und Wer, durch die Beantwortung der Frage nach dem Wie ersetzt. Das heliozentrische System ist der Inbegriff (die erscheinende Totalität) des kontrafaktischen Urteils (der Antwort auf das Wie), das den Himmel erinnerungslos zum Verschwinden gebracht hat.
    Was hat die Naturwissenschaft (das kontrafaktische Urteil als Totalität) mit dem Unzuchtsbecher zu tun? Liegt diese Frage nicht schon der Kritik der reinen Vernunft zugrunde (in der im Begriff der Erscheinung die Totalisierung der Frage nach dem Wie und im Ausschluß der Erkenntnis der Dinge an sich der Ausschluß der Frage nach dem Was und Wer sich manifestiert)?
    Der Satz Roman Herzogs „Wir wollen das Entsetzen nicht konservieren“ distanziert sich von allen, denen die Schrecken des Faschismus in die Glieder gefahren sind, die das Entsetzen nicht loswerden. Und er macht gemeinsame Sache mit allen, die dieses Entsetzen nie erfahren haben und glauben, es durch Verurteilung des Geschehenen sich vom Leibe halten zu können. Er konserviert die universale Verdrängung, die die falsche Normalität nach dem Kriege ermöglichte. So steht er in der präsidialen Tradition des Begriffs der Kollektivscham. Seit Theodor Heuss diesen Begriff unters Volk brachte, haben die Deutschen gelernt, sich im Blick der andern zu sehen, sind sie von der Frage, was die andern über sie wohl denken mögen, nicht mehr losgekommen. – Welche neue Wendung drückt sich in dem Satz Roman Herzogs aus (der auf die exkulpierende Kraft der Verurteilung, auf das Abwerfen der Scham, auf die neue „Unverkrampftheit“, abzuzielen scheint)?
    Wer die „Konservierung des Entsetzens“ (um die es nicht geht, der Ausdruck denunziert nur die Erinnerung) vermeiden will, konserviert das Entsetzen vor dem Entsetzen: die verdrängte Schuldreflexion, die dabei ist, in eine neue Qualität der Wut umzuschlagen.
    Die Übertragung der transzendentalen Logik aus dem Medium der Naturerkenntnis in das des Rechts läßt sie nicht unverändert. Die Apriorisierung des Objektbegriffs macht den Angeklagten zum Feind; die transzendentale Ästhetik wird zurückübersetzt in die Bekenntnislogik (der das Feindbild sich verdankt); die synthetischen Urteile apriori werden singularisiert und zurückgeführt auf die reine Verurteilung, ein reines Subsumtionsurteil: unendlich schuldig (die Schwere der Schuld wird unermeßlich). Der Grund der Singularisierung des synthetischen Urteils apriori liegt in der Einheit von Projektion und Schuldverschiebung, die die Apriorisierung des Objekts im Feindbild erst ermöglicht. Die Schwere der Schuld des Angeklagten hat ihr Maß am Gewicht der verdrängten (im Urteil durch Projektion nach außen abgeleiteten) Schuld des Staats, die ihr eigenes Maß an dem sich kontrahierenden Gewaltmonopol des Staates hat.

  • 14.1.96

    Privateigentum ist durch Raub, Erbschaft oder Tausch erworbenes fremdes Eigentum. Die Urform der Aneignung ist der Raub, der durch den Tausch nur reversibel gemacht worden ist. Diese Reversibilität ist das logische Fundament des Privateigentums, der Säkularisationsprozeß der Prozeß der Herstellung und universalen Durchsetzung dieser Reversibilität (Grund des Weltbegriffs). Das Armutsgebot (in der Fassung der indischen Mystik: Mein ist dein, und Dein ist dein) gründet in der (nicht moralischen, sondern logischen) Kritik dieser Reversibilität und hält die Einsicht in die Asymmetrie des Eigentumsbegriffs fest: Eigentum gründet nicht in der Unmittelbarkeit des Besitzens, sondern in der Anerkennung durch andere (seit dem Ursprung der Zivilisation in der staatlich organisierten Anerkennung des Privateigentums durchs Recht).
    Das Armutsgebot rührt an die Ursprungsgeschichte des Weltbegriffs, hält diese Ursprungsgeschichte und damit den Weltbegriff selber (die „Sünde der Welt“) reflexionsfähig.
    Die staatlich organisierte Anerkennung des Privateigentums ist der logische Grund der Entfaltung der Raumvorstellung, der „subjektiven Formen der Anschauung“. Der Ursprung und die Entfaltung der mathematischen Naturwissenschaft sind in die Geschichte des Ursprungs und der Entfaltung der staatlichen Institutionen verflochten.
    Der Levinassche Satz über die Attribute Gottes, die nicht im Indikativ, sondern im Imperativ stehen, gilt auch in der umgekehrten Anwendung (als Grundlage der Kritik der Idolatrie): Der Gott des Anklägers ist der Ankläger, der des Richters ist der Richter. Der Götzendienst war die erste projektive Verkörperung des Rechtfertigungszwangs – sein Preis war die Schicksalsidee -, das begriffliche Denken die zweite.
    Isolationshaft: Mit der Vergesellschaftung von Herschaft ist der horror vacui zu einem Instrument des Terrors geworden.
    Der Name der Barbaren gehört zur Präventivideologie des antiken Imperialismus, der der Wilden zur Präventivideologie des modernen Kolonialismus.
    Die Habermassche Intersubjektivität gründet in der Abstraktion vom Gesicht, sie sperrt das Subjekt ein ins Für-sich-Sein des Nebeneinander, in dem alle nur Objekte für einander sind. Darin gründet sein Universalismus, ein Universalismus der Theorie, gegen den die Theologie den Universalismus der Lehre setzt.
    Die Leugnung des Gesichts ist der Preis für die Anerkennung der schlechten Unendlichkeiten der subjektiven Formen der Anschauung.
    Hat der Rock aus Fellen, den Gott den ersten Menschen zur Bedeckung ihrer Blöße gab, etwas mit den Schuppen der Fische zu tun, die gegessen werden dürfen? Wie wird die Haut des Leviatan und des Behemoth im Buch Hiob beschrieben?
    Zum Menschensohn auf den Wolken:
    – Erscheint der Menschensohn nicht an der Stelle, an der bei Noe der Bogen in den Wolken stand?
    – Sind die Wolken nicht die Manifestation der Herrlichkeit Gottes am Tag (die in der Nacht als Feuersäule erscheint)?
    Hat Adornos „Eingedenken der Natur im Subjekt“ etwas mit dem zu tun, was Schelling in den Weltaltern die „Demut der Materie“ genannt hat?
    Himmel und Erde: Bäume ziehen ihre Lebenskräfte nicht nur aus der Erde, sondern ebenso auch aus dem Himmel.
    Was dem Bischof sein Kreuz, ist dem Arzt sein Stethoskop. Und warum müssen Richter und Priester bei ihrer Tätigkeit sich verkleiden?
    GSG 9: Die Autonomen des Staates.
    Sollte nicht auch die raf einmal überlegen, ob und in welchem Maße sie zum Lehrmeister dieses Staates geworden ist? Die einzige Waffe, gegen die der Staat ohnmächtig ist, ist die der Reflexion.
    Es sollte nicht vergessen werden, daß das Recht (wie im Auschwitz-Prozeß) auch als Instrument der Aufklärung genutzt werden kann. In Staatsschutzprozessen ist es zu einem Instrument der Gegenaufklärung geworden. Die Gründe sind analysierbar.
    In jeder Verurteilung steckt ein Keim der Paranoia, der nur durch Reflexion unschädlich zu machen ist. So wie ein Gericht keinen Beschluß fassen dürfte, bevor es nicht der Selbstaufklärungspflicht nachgekommen ist (einer Pflicht, die der 5. Senat nachweislich verletzt hat, als es Hubertus Janssen als einen, „der sich selbst als Pfarrer bezeichnet“, bezeichnete). Zur Selbstaufklärungspflicht eines Gerichts, scheint mir, gehört auch der erkennbare Wille und die Fähigkeit, sich in den Angeklagten hineinzuversetzen. Wer das vorab verdrängt, macht den Angeklagten zum Feind und begibt sich selbst der Möglichkeit, zu einem objektiven Urteil zu gelangen. Würde es nicht auch zu den Selbstaufklärungspflichten des Gerichts gehören, wenn es schon eine Anklage zuläßt, die den Vorwurf des Mords und des versuchten Mords (an Newrzella u.a.) mit beinhaltet, daß die Umstände der Todesschüsse in Bad Kleinen insgesamt aufgeklärt werden? Wenn ein wesentlicher Teil des Geschehens durch Gerichtsbeschluß von der Beweiserhebung ausgeschlossen wird, heißt das nicht, daß das Gericht sich selbst von seiner Aufklärungspflicht entbindet? Erklärt hiermit nicht das Gericht, daß es in diesem Punkte an der Wahrheitsfindung nicht interessiert ist?

  • 6.1.96

    Die Theorie des kommunikativen Handelns, der ihr zugrundeliegende Begriff der Sprache, verwechselt Wort und Schrift, sie verdrängt die sprachlogische Differenz beider. Die Sprache, deren Begriff dem Konzept zugrunde liegt, ist die einer bücherinternen Kommunikation. Die Levinassche Asymmetrie gründet in der Beziehung zwischen mir und dem Andern (zwischen Ego und Alter), sie ist der Grund der Differenz zwischen Wort und Schrift, in deren Kontext sie sich (im Staat, im Recht, in der Wissenschaft) entfaltet. Sie begründet die Logik der Schrift und am Ende das Konzept einer „Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt“ (Titel eines Vortrags von Karl Popper, vgl. Habermas, S. 115). Die Logik der Schrift bringt die Stimme zum Schweigen, ersetzt das Gebot durchs Gesetz, schafft eine Welt (ex nihilo), in der man alles darf, sich nur nicht erwischen lassen (der Nominalismus hat gleichsam grundsätzliche Vorkehrungen gegen das Erwischtwerden getroffen; vgl. das Feigenblatt und die Bekenntnislogik).
    Habermas‘ „Verletzlichkeit der Person“ und seine Ranküne gegen Adorno gründen in seiner Abwehr der Theologie.
    Ist in dem Gleichnis vom Weizen der steinige Grund die Kirche („auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen“), und sind die Dornen und Disteln der Staat und die Ökonomie?
    Nicht die Kirche, sondern der Kapitalismus, die Ökonomie, ist das steinerne Herz der Welt; er hat deshalb gesiegt, weil er der Erbe und die Verkörperung aller Sieger ist: das Subjekt des Hegelschen Weltgerichts.
    Enthält nicht Mt 16 (zusammen mit Mt 18) über die Gründungs- und Bestandsgarantie der Kirche hinaus eine weit darüber hinausreichende Dramatik?
    Das Inertialsystem ist als Instrument der Instrumentalisierung der externe (anorganische) Kern des Animalischen. Das Tier unterscheidet sich von der Pflanze durch seine sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit, durch die Selbstbewegung und durch seine objektivierende Tätigkeit (sein „kommunikatives Handeln“). Nur daß beim Tier diese objektivierende Tätigkeit insgesamt zwangshaft ist: instinktgebunden.
    Indikativ und Imperativ: Wäre Gott allwissend, wäre er nicht barmherzig.
    Die Sprache lebt aus der Kraft des göttlichen Namens. Deshalb können Tiere nicht sprechen.

  • 29.12.95

    Bekenntnislogik ist Stellvertreter-Logik (mit der Opfertheologie als Schuldverschubsystem). Hierzu ist Joh 129 in der Tat ein Schlüsseltext (Ersetzung des Nachfolgegebots durch das theologische Konstrukt der „Entsühnung der Welt“).
    In den gleichen Zusammenhang gehört das Paulus-Wort, daß durch das Gesetz die Sünde gekommen sei, das nur durch die Bekenntnislogik zur Grundlage der Rechtfertigungslehre geworden ist. Bezieht es sich nicht auf die vorausliegende Transformation des Gebots ins Gesetz, in der die Bekenntnislogik gründet (auf das gemeinsame Pflügen von Ochs und Esel)?
    Die Transformation des Gebots „Du sollst nicht töten“ in ein Gesetz läuft auf die Verurteilung des Mörders hinaus.
    Hegel hat einmal auf die Veränderung des Krieges (und in der Konsequenz dieser Veränderung auf die des Staates) durch die Erfindung der Fernwaffen (die technische Perfektionierung von Pfeil und Bogen durch die Erfindung des Pulvers: durch Kanone und Gewehr) hingewiesen, die den Feind endgültig aus der Konstellation des Angesichts herausgenommen, das Töten im Krieg zu einem abstrakten Vorgang gemacht hat: Das Töten ist zu einem technischen Vorgang geworden. Die Erfindung des Schießpulvers hat den realen Feind durch das Feindbild (und die Barbaren durch die Wilden) ersetzt. Die gleiche Logik (die Logik der Verdrängung des Angesichts und des Schreckens) liegt der „Erfindung“ der Gefängnisse, der Irrenanstalten und der Schlachthäuser zugrunde.
    In Auschwitz wurde sowohl technisch-industriell als auch von Angesicht zu Angesicht getötet. Himmler: „… und dabei anständig geblieben zu sein“.
    Ist der „Hinterhalt“ (die strategische Form der List) zusammen mit Pfeil und Bogen (und sind beide zusammen mit dem Staat) erfunden worden? Gibt es nicht biblische Geschichten, die diese Beziehung dokumentieren (Zusammenhang mit dem „Bogen in den Wolken“)?
    Nach 2 Sam 1 läßt David den Amalekiter töten, der (im Widerspruch zu der Darstellung in 1 Sam 31) bekannte, er habe Saul getötet. „Dein Blut über dein Haupt! Denn dein eigner Mund hat wider dich gezeugt, da du sprachst: Ich habe den Gesalbten des Herrn getötet.“ (Vgl auch 2 Sam 4: Die Ermordung Isbaals durch Baana und Rechab, die Söhne Rimmons aus Beeroth, und deren Tötung durch David.)
    In 2 Sam 5 übersetzt nur Riesler mit „die Dunklen und die Blonden“, während die Zürcher Bibel, aber auch Zunz mit „die Blinden und die Lahmen“ (und Buber mit „die Blinden und die Hinkenden“) übersetzen.
    Steht nicht das Prophetenwort „Mein ist die Rache, spricht der Herr“ gegen die Instrumentalisierung der Rache durch den Staat, durchs Recht? (Und ist nicht die Diskriminierung dieses Worts, die es als Beweis für einen „altorientalischen Rachegott“ nimmt, nur ein Mittel, die Erinnerung an die staatskritischen Elemente der Prophetie zu verdrängen: Die Rache soll das Monopol des Staates bleiben. Aber genau das ist das Ursprungsmotiv der Judenfeindschaft und des Antisemitismus.)
    Was geht in den Köpfen vor sich, wenn die Polizei Bewohner der Slums in Montevideo festnimmt und zwingt, durch den Slum zu laufen und zu rufen „Hoch lebe die Polizei“?
    Oder: Was ist in der Ursprungsgeschichte der Kirche passiert, als sie den Kreuzestod Jesu instrumentalisiert, ihn zur Grundlage der Opfer- und Sakramententheologie gemacht hat?
    Und was geht hier vor, wenn in deutschen Staatsschutz-Verfahren die Angeklagten generell zu Feinden werden?
    Muß nicht jeder Befreiungskampf heute auch ein Kampf gegen bestimmte Formen der Logik sein: gegen jene Formen der Logik, die verhindern sollen, die Folgen des eigenen Tuns noch wahrzunehmen?
    Die Grenze zwischen Offenbarung und Mythos ist identisch mit der Grenze, die die Schuld von der Sünde trennt. Jesus hat „die Sünde der Welt“ auf sich genommen, nicht die „Schuld der Welt“ hinweggenommen. Die Bemerkung Emmanuel Levinas‘, daß alle Gewissensprobleme (man könnte auch sagen: alle Schuldprobleme) apriorische Probleme sind, hängt hiermit zusammen.
    Die subjektiven Formen der Anschauung haben die Welt „verurteilt“ (dadurch ist die Welt zur Welt geworden). Sie haben die Logik des kopernikanischen Systems zu einer apriorischen Logik gemacht. Die Bedeutung der speziellen Relativitatstheorie Einsteins liegt darin, daß sie die verurteilende Gewalt des Systems auf das System selber angewandt hat: daß sie es verurteilt hat.
    Gegenständlich, stillgestellt, ist das Vergangene nicht an sich, sondern nur für den, für den es vergangen ist. Die Objektivität der Vergangenheit ist in sich selber subjektiv vermittelt, zu ihren Konstituentien gehört der Akt der Objektivierung (wie die Geschichtsschreibung zur Geschichte). Mit dem Fortschreiten der Geschichte ändert sich nicht nur unser Blick auf die Vergangenheit, sondern es ändert sich die Vergangenheit selber (die allein durch unsern Blick, durch unsere Erinnerung, Sein gewinnt). Der Weltbegriff und die ihn konstituierenden subjektiven Formen der Anschauung leugnen diese Veränderung. Wirkliche Objektivität gewinnt die Vergangenheit nur im Licht der Erlösung, der Idee der Auferstehung.
    Das Ideal einer objektiven, die Tatsachen ein für allemal feststellenden Geschichtsschreibung leugnet die Hoffnung, die auch die Toten mit umfaßt.

  • 28.12.95

    Die gelegentliche Bemerkung Emmanuel Levinas‘, daß alle Gewissensprobleme apriorische Probleme sind (Vier Talmud-Lesungen, S. 118), ist eine schlagende Widerlegung jedes affirmativen Verständnisses der transzendentalen Logik. Sie wirft ein Licht auf die Gründe des „Grübelns“: auf das sinnlose Kreisen in dem Raum einer apriorischen Logik (das nicht zufällig dem sinnlosen Kreisen gleicht, in dem das kopernikanischen System die Planeten gefangen hält – hat die „Venus-Katastrophe“ vielleicht etwas mit der Katastrophe des Ursprungs der Sexualmoral zu tun?), aber auch auf das großartige Wort Kants, das das moralische Gesetz in mir zum Sternenhimmel über mir in Beziehung setzt. Wäre es möglich, daß diese Bemerkung das Rätsel der Gravitation löst: ist das Licht das durchs Gravitationsgesetz verschlossene Innere der Schwerkraft (vgl. die Jesaia-Stelle über das Licht und die Finsternis)?
    Auf den gleichen Zusammenhang bezieht sich das Wort Adornos, daß heute alle sich ungeliebt fühlen, weil keiner zu lieben mehr fähig ist.
    „Ihr seid das Licht der Welt“: das Licht, das in jeder Epoche durch Reflexion der Finsternis (der „Sünde der Welt“) der Finsternis neu abzuringen ist.
    Mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit hat das Objekt der naturwissenschaftlichen Erkenntnis sich verschoben: Im kopernikanisch-newtonschen System kreisen die Planeten um die Sonne (um das Gravitationszentrum), in der speziellen Realtivitätstheorie Einsteins kreist das Inertialsystem um die Lichtgeschwindigkeit (ist nicht das Licht die aufgehobene Schwerkraft?). Die Gleichungen der Lorentz-Transformation sind die Gravitationsgleichungen, die dieses Kreisen beherrschen.
    In diesen Kontext gehört der Hinweis von Levinas, daß das Gesicht des Andern das Gebot „Du sollst nicht töten“ verkörpert (das gleiche Gesicht, das den absoluten Charakter der subjektiven Formen der Anschauung, der in der Abstraktion vom Blick des Andern gründet, und damit die Vorstellung der unendlichen Ausdehnung des Raumes und das kopernikanisch-newtonsche System widerlegt).
    Auch die Kirche steht in der Tradition Babels: Ist nicht die Ursprungsgeschichte des Dogmas und die Geschichte der Orthodoxie ein spätes Echo der babylonischen Sprachverwirrung?
    Das Feigenblatt, Ochs und Esel: Gehören sie nicht zu dem Vorgang, in dem das Besserwissen sich vor die Erkenntnis schiebt?
    Inquisition: Ebenso schlimm wie die direkte Zerstörung des Vertrauens (die „wissende“ Kinder hervorbringt) ist der Mißbrauch des Vertrauens: der Kindern, die man selber schamlos belügt, zugleich das Lügen verbietet. Ist die Naturerkenntnis, die unterm Apriori der subjektiven Formen der Anschauung steht, das Paradigma eines solchen „Mißbrauchs des Vertrauens“, sind nicht die subjektiven Formen der Anschauung eine Verkörperung dieses Mißbrauchs?
    Die Kritik der reinen Vernunft verbindet die Begründung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis mit der Kritik dieser Erkenntnis. Die Beziehung von Begründung und Kritik erscheint im System in der Unterscheidung und Trennung der Kritik der Urteilskraft von der Kritik der reinen Vernunft. In der Wirkungsgeschichte Kants scheint allein das Moment der Begründung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis sich durchgesetzt zu haben, während das Motiv der Kritik angesichts der überwältigenden Erfolge der Naturwissenschaften verdrängt und vergessen wurde (vorbereitet wurde das in der Hegelschen Instrumentalisierung der Kritik, die es ihm ermöglichte, sie mit dem erkenntnisbegründenden Teil der kantischen Vernunftkritik zu verschmelzen und die neue Form der Einheit beider als Dialektik zu domestizieren).
    Kritik wird durch Instrumentalisierung zur Komplizenschaft.

  • 26.12.95

    Für den „Leidenskelch“, von dem Bedenbender gelegentlich spricht, gibt es zwei neutestamentliche Belegstellen: die Getsemane-Geschichte und die Stelle, an der Jesus den Jakobus fragt, ob Jakobus den Kelch trinken könne, den er, Jesus, wird trinken müssen. Aber meinen diese Stellen nicht eigentlich etwas anderes: Ist der „Leidenskelch“ nicht in Wahrheit der Taumelkelch, der Kelch des göttlichen Zorns und Grimms, am Ende der Unzuchtsbecher: Symbol der Geschichte des Herrendenkens (der Taumelkelch ist der Kelch, den die Herrschenden trinken, der sie besoffen macht; vgl. Hegels Definition des Wahren in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, Theorie-Werkausgabe, S. 46)?
    Zur Jotham-Fabel: Der Feigenbaum ist ein Symbol des Friedens (das Sitzen unterm Feigenbaum). Die Dornen und Disteln wachsen in der Wüste (mit der Wüste als Symbol der wachsenden Herrschaft des Äußeren über das Innere: der Geschichte des Weltbegriffs).
    Verweist nicht der strafrechtliche Begriff des Mordes auf eine merkwürdige Über-Kreuz-Verschiebung (ursprünglich verweist das lateinische mors, aus dem der Begriff des Mordes sich herleitet, auf das subjektlose Sterben, während der Begriff des Todes auf ein Töten durch einen andern zurückweist)? Im Begriff des Mords ist nicht mehr die Tat, sondern der Täter das eigentlich definierende Moment: in ihn ist das Moment der Konkurrenz zum Staat mit eingegangen, das den Mord zum Mord und den anderen Tod zu einem neutralen Ereignis, einem Naturereignis, gemacht hat (darin spiegelt sich die Beziehung des Ursprungs und der Geschichte des Staats zum Ursprung und zur Geschichte des Naturbegriffs).
    Gehört nicht das strafrechtliche Konstrukt des Mörders zu den logischen Bedingungen des Objektbegriffs, fällt es nicht unter die Kritik der Verdinglichung? Die Begründung einer Eigenschaft durch eine vergangene Tat, die zugleich verurteilt wird (die Begründung der Eigenschaft und des Dings in der Logik der Verurteilung): Steht dagegen nicht Joh 129, die Forderung der Übernahme der Sünde Adams, die den christlichen Namen begründet? Es gibt keine Theologie ohne die so begriffene Idee der Erbsünde: Die Sünde der Welt ist die Erbsünde (und die Taufe, die „von der Erbsünde befreit“, das Symbol der Erfüllung des Nachfolgegebots).
    Die Theologie im Angesicht Gottes gründet in der Erinnerung des Paradieses.
    Im Gegensatz zum Gott der Philosophen ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs einer, den etwas gereut: der lernfähig ist. Diese Lernfähigkeit gehört zu den Attributen Gottes, die im Imperativ, nicht im Indikativ stehen.
    Die kantische Vernunftkritik hat (als Kritik des Wissens) die Idee eines „allwissenden“ Gottes widerlegt; sie hat damit eine Gottesvorstellung widerlegt, zu deren Konsequenzen die Leugnung der Lernfähigkeit: die Leugnung des Attributs der Barmherzigkeit, gehört.
    Der aristotelische Gott war der „erste Beweger“; den „allwissenden“ Gott hingegen haben die Muslime erfunden, die dann konsequenterweise aus der Barmherzigkeit Gottes seine unterschiedslose „Allbarmherzigkeit“ gemacht haben.
    Gott ist nicht allwissend, er sieht ins Herz der Menschen (das ist das Feuer, das Jesus vom Himmel bringen wollte, und er wollte, es brennte schon).
    Die InfoAG gleicht darin dem Gericht sich an, daß sie die Beziehung der „Kirchenleute“ zur Angeklagten zu diskriminieren versucht, ihnen in ähnlicher Weise wie das Gericht Hubertus Janssen unterstellt, er unterstütze die raf, den Verdacht, „objektiv“ für den VS zu arbeiten, anzuhängen versucht. Beide Konstrukte sind paranoid, beide arbeiten nach der Methode der Umkehr der Beweislast: der Ankläger braucht seine Unterstellung nicht zu begründen, der Beschuldigte soll seine Unschuld beweisen. Beide machen Gebrauch von dem Satz, wonach Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand ist.
    Das Feinddenken und die Ausgrenzung und Diskriminierung des Verräters sind, weiß Gott, nicht unbegründet, sie sollten aber reflexionsfähig gehalten werden, weil sie anders in eine Logik hineinführen, die am Ende als Logik der Identifikation mit dem Aggressor sich erweist. Diese Logik ist die Logik des Staates, die es zu durchbrechen gilt.
    Die Bekenntnislogik hat einen paranoiden Kern.
    Der Begriff der Erscheinung erinnert nicht zufällig an den Bereich des Gespenstischen: Sind nicht die neutestamentlichen Dämonen Vorläufer der Naturwissenschaften (in deren Bann die Welt insgesamt heute steht)?
    Hegel hat den kantischen Kritikbegriff vergegenständlicht (ins Vergangene transformiert), ihn in den Begriff der Objektivität selbst hineingetrieben, wo er dann in der Idee des Weltgerichts sich verkörpert. So ist Kritik zu einer im Interesse der Herrschaft instrumentalisierten und domestizierten Kritik geworden. Dieser Kritikbegriff hat die Dialektik begründet, er ersetzt Solidarität durch Komplizenschaft. Er hat den Erkenntnisbegriff durch ein eingebautes Freund-Feind-Denken vergiftet.
    Das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit läßt auch eine Interpretation zu, in der die Lichtgeschwindigkeit selber als unendliche Geschwindigkeit sich erweist, während die schlechte Unendlichkeit der räumlichen Ausdehnung (und mit ihr das die Raumvorstellung konstituierende Prinzip der Gleichzeitkeit) auf die Logik der Zeitumkehr, der im Objekt nichts entspricht, zurückweist. Nur im Kontext dieser Logik, die die Vorstellung des Zeitkontinuums begründet (die Zukunft zu einer zukünftig vergangenen Zukunft macht), sind die Richtungen des Raumes reversibel. Die Logik der Zeitumkehr verwirft die Idee der Rettung, sie macht den katastrophischen Lauf der Geschichte unumkehrbar. In den indoeuropäischen Sprachen beherrscht diese Logik über die Formen der Konjugation (insbesondere über das Präsens und über den darin fundierten Ursprung des dritten Geschlechts, des Neutrums) die Grammatik (in der Geschichte vom Sündenfall symbolisiert die Schlange das Neutrum). Die Logik der Zeitumkehr ist der Kern der Logik der Schrift.
    Zum Verständnis der „subjektiven Formen der Anschauung“: Ein Kind, das etwa 20 m hinter seiner Mutter hergeht, blickt mich, als ich ihm begegne, ganz kurz aus seinen Augenwinkeln an, senkt dann seinen Blick, verschließt sein Gesicht und drückt so seine Weigerung aus, aus dem Status des Objekts meiner Anschauung (dem Status des räumlichen Objekts) herauszutreten und mit mir, und sei es nur durch den Blick, zu kommunizieren.
    Es gibt nichts Neues unter Sonne (Kohelet): Es ist die gleiche Sonne, die Homer und die uns bescheint, aber es sind nicht die gleichen Sterne.
    Gehört nicht das Auftreten der Ehrenbataillone beim Empfang fremder Staatsmänner im Fernsehen ebenso zu den Formen der politischen Verdummung wie der Auftritt der MP- und Schußwesten-bewehrten Polizeibeamten beim Hogefeld-Prozeß? In beiden Fällen verselbständigt sich die öffentliche Demonstration gegen das, was wirklich dort passiert (und gegen die Öffentlichkeit abgeschirmt werden soll). Dieser Prozeß darf nicht einmal mehr ein Schauprozeß sein, weil er sich damit selbst entlarven würde. Daß Justitia eine Binde vor den Augen trägt, heißt, daß sie ohne Ansehen der Person urteilt (sie soll nicht den Rang der Person, sondern nur die Tat vor Augen haben). Dieser Grundsatz jeden rechtsstaatlichen Verfahrens wird suspendiert, wenn statt des Angeklagten ein Feind zum Gegenstand des Verfahrens wird.
    Zu den Konstruktionsprinzipien synthetischer Urteile apriori gehört das Prinzip der Austauschbarkeit, der Reversibilität von Subjekt und Prädikat. Im Rahmen dieser Logik begründet der Satz „Alle Mörder sind Staatsfeinde“ den Schluß „Alle Staatsfeinde sind Mörder“. Das aber ist die Logik des Vorurteils (der moralischen Version des synthetischen Urteils apriori) ebenso wie die der mathematischen Erkenntnis (diese Logik liegt u.a. der kopernikanisch-newtonschen Astronomie zugrunde): Sie macht das Ungleichnamige (e.g. Himmel und Erde) gleichnamig. Die kantischen Antinomien der reinen Vernunft (die Hegel, um seine dialektische Logik zu begründen, neutralisieren muß) beziehen sich auf diesen Sachverhalt, sie haben ihn erstmals kenntlich gemacht, und zwar mit Hilfe der logischen Figur des „apagogischen Beweises“, mit dessen Hilfe Kant dem Prinzip der Reversibilität von Subjekt und Prädikat endgültig die Grundlage entzogen hat. Dieser Nachweis aber reicht weiter, als es zunächts erscheint: Er rührt an den Grund und die Grenze der Beweislogik, und damit an den Grund und die Grenze des Satzes, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand ist (der u.a. dazu dient, das Verfahren der Umkehr der Beweislast unangreifbar zu machen). Der kantische Nachweis ist die erste Demonstration der logischen Relevanz des Levinas’schen Hinweises auf die Asymmetrie zwischen mir und dem Andern, ein Hinweis, der den logischen Universalismus sprengt (und in diesem Zusammenhang den Erkenntnisbereich, auf den in der theologischen Tradition der Begriff Lehre sich bezog, neu begründet). In der kantischen Antinomie der reinen Vernunft hat die Philosophie das Prophetenwort vom Rind und Esel (und dessen biblischen Konnotationen, die tief in den theologischen Begriff des Opfers hineinreichen) eingeholt.
    Das Prinzip der Umkehr der Beweislast begründet das positivistische Rechtsverständnis, indem es das Recht zu einem Subsumtionsrecht macht (das dann den Weg frei macht für ein Verfahren, in dem der Angeklagte zum Feind wird).
    Gemein ist jede Präventiv-Anklage, die dem andern die Last des Unschuldsbeweises zuschiebt, die davon ausgeht, daß die Verteidigung allein Sache des Angeklagten sei. Diese Form der Präventiv-Anklage geht davon aus, daß Unbarmherzigkeit und Gnadenlosigkeit erlaubt sind (und das ist der logische Abgrund, aus dem der Staat hervorgeht). Dieser Logik hat Kant den Boden entzogen.
    Was ist von einem Verfahren zu halten, in dem durch Gerichtsbeschluß die Wege verstellt werden, auf denen vielleicht der Unschuldsbeweis zu führen möglich wäre?
    Ist nicht die Bekenntnislogik der Knoten, den Alexander nur durchschlagen hat, der eigentlich zu lösen wäre: der Knoten, der den gesellschaftlichen Herrschafts-, Schuld- und Verblendungszusammenhang zusammenbindet? Wäre nicht die Kritik der Bekenntnislogik das Ende des Bücherschreibens (die Widerlegung des Kohelet), das Heraustreten aus dem Bann der Logik der Schrift, das Heraustreten aus dem Bann der Logik des Weltbegriffs?
    Hängt die Bedeutung der apokalyptischen Formel „der ist, der war und der sein wird“ nicht auch von der Reihenfolge der Zeitbestimmungen ab?
    Zu den Orionen (vgl. das Jesaia- Zitat bei Bedenbender) wäre die Hiob-Stelle hinzuzunehmen (über den Orion und die Plejaden). Beschreiben nicht die Planeten die Außengrenzen, zu denen neben dem König, dem Krieg und dem Handel (der Geldwirtschaft) auch die Frauen gehören (Zitat eines Ethnologen: das ist ein feindlicher Stamm, mit dem heiraten wir nur).
    Empfindlichkeiten sind Wege in die Opferfalle: Bezeichnen sie nicht genau den Punkt, in den das Wort, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwinden werden, Hoffnung zu pflanzen versucht?
    Pharisäer und Schriftgelehrte: Nur unterm Rechtfertigungszwang, der selber aus dem Vergangenheitscharakter des Gebots entspringt, wird das Gebot zum Gesetz.
    Zu Kafkas Parabel vom Schauspieldirektor, der eine Neuinszenierung vorbereitet: Müßte er nicht den zukünftigen Schauspieler, dessen Windeln er wechselt, erst zeugen?
    Diente nicht die Verschiebung des Naturbegriffs von der Zeugung zur Geburt (von physis zur natura) dazu, die messianischen „Wehen der Geburt“ zu verdrängen, sie unsichtbar zu machen, sie zu individualisieren, sie als individuelle Strafe für die „Sünde der Welt“ dem ganzen Kollektiv der Frauen anzuhängen? Verweist die Bedeutungsverschiebung in den Begriffen Natur und Welt nicht auf eine sprachlogische Differenz, die auf die Beziehung der griechischen zur lateinischen Grammatik zurückweist? Und liegt dieser sprachlogischen Differenz nicht die Differenz in den politischen Institutionen zugrunde, der Unterschied der institutionellen und imperialen Entfaltung des Römischen Reiches und des Caesarismus zur philosophiebegründenden polymorphen Gestalt der griechischen Polis?
    Gab es die hagiographische Unterscheidung von Confessor und Virgo schon in der griechischen Kirche, oder gehört sie zur Gründungsgeschichte der lateinischen Kirche? Hängt sie mit der Umformung des Symbolums in eine Confessio, mit der nicht nur der Name, sondern zugleich die Logik der Sache sich ändert, zusammen? Die Vermutung wäre zu begründen, daß das Symbolum (das für Augustinus noch ein sacramentum war) im Schuldzusammenhang der imperialen lateinischen Sprachlogik zur Confessio geworden ist.

  • 22.12.95

    Der Stern der Erlösung beginnt mit der Todesangst und endet mit der Konstruktion des Angesichts. Levinas hat erstmals im Gesicht des andern die Verkörperung des Gebots: du sollst nicht töten, erkannt (Grund der Verworfenheit und der Dekonstruktion jedes Fahndungsplakats).
    In jedem Gesicht erkennt sich Gott; im Paßfoto und im Fahndungsplakat, in ihrer identifizierenden Gewalt, erkennt sich der Staat.
    Der Staat ist nicht der „sterbliche Gott“, sondern die Sterblichkeit Gottes; sein Lebensgrund ist das von der Barmherzigkeit, vom Atem Gottes, getrennte strenge Gericht: der Erstickungstod Gottes.
    Hängt nicht die Geschichte vom Feigenbaum zusammen mit dem Levinas’schen Satz, daß die Attribute Gottes im Imperativ, nicht im Indikativ stehen? Nach der Interpretation des Johannes Scottus Eriugena wäre das Feigenblatt das Symbol des in den Indikativ übersetzten Gebots (die Logik dieser Übersetzung ist die Bekenntnislogik). Der Feigenbaum, der nur Blätter, keine Frucht trägt, wäre dann das Dogma, die indikativische Theologie, die Theologie hinter dem Rücken Gottes: Diesem Feigenbaum gilt die Verfluchung (deren Folgen Petrus dann erkennt).
    Ist nicht der Levinas’sche Satz über die Attribute Gottes der Schlüssel zum Verständnis des Jesus-Worts über die Sünde wider den Heiligen Geist? Die Übersetzung des Imperativs in den Indikativ, die Universalisierung der Theologie, die Verwandlung der Lehre in eine theoretische Wahrheit: Das wäre dann die Sünde wider den Heiligen Geist, die weder in dieser, noch in der zukünftigen Welt vergeben werden kann.
    In der Schwierigen Freiheit zitiert Levinas einen Satz aus dem Talmud, wonach die Prophetie auf die messianische Zeit sich bezieht, während die zukünftige Welt etwas ist, was noch kein Auge gesehen hat.
    Das Inertialsystem hat im wörtlichen Sinne den Himmel ausgelacht.
    Adornos Kritik der Verdinglichung ist die Kritik des desensibilisierenden Kerns der Hegelschen Logik: Der Kern der Hegelschen Logik ist der Dingbegriff.
    Zur Genese des Nationalismus: Der Preis für die Rezeption des Weltbegriffs ist die Identifikation mit dem Staat. Der Weltbegriff ist die Tarnkappe des Staats; als Prinzip der Vergegenständlichung der Welt wird der Staat selber entgegenständlicht; er wird in den blinden Fleck der Vernunft gerückt und somit unsichtbar. Der Weltbegriff ist die automatisierte Rechtfertigung des Bestehenden, er ist das Produkt einer List der Vernunft, die Herrschaftskritik gegenstandslos macht.

  • 20.12.95

    „Israeliten und Israelis bekennen sich als Abendländer. Was wollen sie vom Abendland bewahren.“ (Levinas: Der Fall Spinoza, in Schwierige Freiheit, S. 104) Ist Israel (im Sinne Levinas‘) ein christlicher Staat? – Das könnte die These belegen, daß der Zionismus den Antisemitismus beerbte: Sehen nicht die Dämonen wieder einmal genauer als die Anderen? Erkennen die zu Antizionisten mutierten Antisemiten in Israel wieder einmal das, was sie in sich selber hassen, werden sie hier endgültig als „Christen“, als konsequente Vertreter der Bekenntnislogik, erkennbar?
    „Unsere Sympathie für das Christentum … bleibt freundschaftlich und brüderlich. Sie kann nicht väterlich werden.“ (ebd. S. 108) Hängt das mit dem merkwürdigen Phänomen in den Evangelien zusammen, daß das Verschwinden Josephs, das Vaters Jesu aus den Texten, einhergeht mit dem Hervortreten der Vater-Hypostase, die dann wiederum den Namen, mit dem Gott selbst sich geoffenbart hat, verdrängt?
    Solidarität ohne Komplizenschaft: Wer den Mord rechtfertigt, weiß nicht, was er tut. Die (nachträgliche) Rechtfertigung wird ihm unter der Hand zur Norm, deren einziger Zweck es zu sein scheint, das Grauen und den Schrecken zu verdrängen, die mit dem Töten verbunden sind; das gleiche Grauen und den gleichen Schrecken, die das eigentliche Erbe des Nationalsozialismus sind, und die durch jede Norm, durch die, die das Töten rechtfertigt, wie auch durch die, die es verurteilt, verdrängt wird. Dem Strafrecht zufolge wird nicht die Mord, sondern der Mörder bestraft; der Mord ist kein Tat-, sondern ein Täterdelikt. Die Tat fällt nicht unters Recht, weil sie ein Teil der Gewalt ist, die das Recht begründet; der Mord ist ein Täterdelikt, weil der Staat im Mörder seinesgleichen erkennt. Was am Mord verurteilt wird, ist nicht die Verletzung des Gebots: Du sollst nicht töten, denn die würde die Grundlagen des Staates, das Recht ebenso wie das Militär (das seit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht alle zu Komplizen zu machen versucht), mit verurteilen. Im Mörder verurteilt der Staat nicht den Mord, sondern die Hybris dessen, der sich ein Recht anmaßt, das nach dem Selbstverständnis des Staates nur ihm zusteht. Deshalb darf zur Begründung der Strafbarkeit des Mordes nur auf den Schaden, den er dem Opfer zufügt, Bezug genommen werden, nicht aber darauf, was einer, der einen anderen tötet, sich selbst antut. Die Befriedigung der Rachegefühle (die zu seinen eigenen Existenzbedingungen gehört) ist dem Staat wichtiger als deren Auflösung, die allein in der Lage wäre, dem Gewaltpotential, das die gemeinsame Grundlage des Staats und der Verbrechen ist, ein Ende zu machen.
    Jedes Urteil ist inhuman, das unfähig ist, sich in den Angeklagten hineinzuversetzen. Wird diese Unfähigkeit zum Prinzip erhoben, wird der Angeklagte zum Feind (wie generell im Bereich der Staatsschutzverfahren heute).
    Solidarität ohne Komplizenschaft kündigt auch das Einverständnis mit der Philosophie. Der theologische Satz, daß nur Gott ins Herz der Menschen sieht, bezeichnet genau die Stelle, an der der Staat blind ist, und an der sich alle blind machen, die sich – sei es als seine Anwälte, sei es als „Feinde“ des Staates – mit ihm gemein machen. Es gehört zur Tradition der deutschen Staatsmetaphysik, daß hier der öffentliche Ankläger Staatsanwalt heißt. Er vertritt die Anklage nicht als Person, die ihr Tun öffentlich zu verantworten hat, sondern als Anwalt des Staates, der ihn legitimiert und exkulpiert, im genauesten (nämlich im theologischen) Sinne „verantwortungslos“ macht.
    Der Staatsfeind ist eine contradictio in adjecto: der Staat ist kein Wesen, dem man Feind sein könnte: man kann ihn weder lieben noch hassen (beide Verhaltensweisen wären pathologisch). Aber ist nicht der Staat das pathologische Wesen, das Feinde produziert (und, indem er in seine Bürger das Feinddenken induziert, sie beherrschbar macht)?
    Ohne Sport und ohne Stofftiere ist der Staat nicht mehr zu ertragen, aber mit ihnen wird er unerträglich.
    Wer sich gegen das „Herz“ der Menschen blind macht, kann zwischen einem seelsorglichen und einem konspirativen Gespräch nicht mehr unterscheiden (das Feinddenken macht ihn paranoid).
    Das Grundgesetz enthielt auch den Versuch, einige Vorkehrungen zu treffen, die Möglichkeiten eröffnen sollten, dem Zwang der Komplizenschaft sich zu entziehen. Dazu gehörten das Recht auf Wehrdienstverweigerung (gegen die Komplizenschaft mit dem Recht zu töten), das Recht auf Widerstand (gegen die Komplizenschaft mit dem Mißbrauch der Gewalt im eigenen Land) und das Asylrecht (gegen die Komplizenschaft mit den Unrechtsstaaten draußen).

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