Meeks

  • 13.11.95

    Ist die Bezeichnung der Urkirche als „Sekte“ nicht ebenso konsequent wie anachronistisch, wenn man – wie Wayne A. Meeks – die gesamte Eschatologie, das apokalyptische Element in der paulinischen Theologie, nur als ein Instrument der Gemeinschaftsbildung (der Bindung nach innen und der Abgrenzung nach außen) begreift? Der Begriff der Soziologie, der den Erörterungen Meeks‘ zugrundeliegt, projiziert die Gegenwart in die Vergangenheit, weil er von der politischen, herrschaftsgeschichtlichen Reflexion abstrahiert.
    An der Zeit wäre eine Kritik der Naturwissenschaft, die sie nicht „widerlegt“, wohl aber die Wunde, die sie geschlagen hat, erfahrbar macht.
    Das Inertialsystem hat die subjektiven Formen der Anschauung Kants nicht nur vergegenständlicht, sondern zugleich die Zeit unter die Form der äußeren Anschauung subsumiert. Das war der Preis für die Konstruktion des Inertialsystems. Aber ist nicht in der gleichen Bewegung der Raum zu einer Form der inneren Anschauung geworden: zur Grundlage und zum Medium der subjektiven „Vorstellungen“, zum Phantasieraum?
    Verletzt nicht der Rassebegriff, die Vorstellung von Erhaltung der Reinheit des Blutes, indem er der Exogamie den Weg verstellt, das Inzestverbot (Zusammenhang mit dem modernen Naturbegriff!)?
    Der „Mantel der Nächstenliebe“ übt Gnade für die Täter, aber er ist gnadenlos gegen die Opfer.
    Die Maschine, die Hegel in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes als das Reifen des sich bildenden Geistes mißversteht (Bd 3 der Theorie-Werkausgabe, S. 18), hat nach Hegel weitergearbeitet, sie hat sich durch die Idee des Absoluten nicht bremsen lassen.
    Im Rahmen einer Kritik der Beweislogik wäre nachzuweisen, daß es Beweise gibt, die das genaue Gegenteil dessen beweisen, was sie zu beweisen vorgeben. Darauf bezieht Benjamins Satz „Überzeugen ist unfruchtbar“. Die Kritik des ontologischen Gottesbeweises ist unter Berücksichtigung Hegels nach Kant über Kant hinauszutreiben.
    Im Lateinischen heißt Beweis demonstratio. Dr Begriff und die Methode des Beweises stammen aus der Geometrie (von Euklid bis Spinoza).
    Steckt nicht in jedem Beweis etwas vom Anspruch der Intersubjektivität, der dem andern bedeutet, dem eigenen Denken zu entsagen. Der Beweis fordert die Unterwerfung unter eine Logik, die – allerdings nicht grundlos – zu durchbrechen wäre. Es ist kein Zufall, daß die Formalisierung der Logik zu Lasten der Logik der Begründung geht. Die Argumentation appelliert auch an die Namenskraft der Sprache, in der der Satz „Wer A sagt, muß auch B sagen“, nicht unbedingt gilt.
    „Rede von Gott“: Die Rede ist per definitionem monologisch. Ihr Adressat ist nicht der Einzelne, sondern die Gemeinschaft: ein Kollektiv. Wer einen einzelnen „zur Rede stellt“, will, daß er sich „unterordnet“, in eine ihm vorgeordnete Gemeinschaft wieder eingliedert. Reden erwarten keine Antwort, vielleicht Beifall, aber niemals Widerspruch. Die Rede ist die säkularisierte Predigt. Keine Rede ohne Selbsterhöhung, ohne die Hybris des Redenden. Es ist diese Hybris, die sich den Hörern mitteilt (und die von ihnen erwartet wird). Hitler war in erster Linie, wenn nicht sogar ausschließlich, ein Redner. Seine politischen Handlungen waren Inszenierungen, die den Raum, den Resonanzboden, für seine Reden bereiten sollten (der Zusammenbruch des Faschismus war der Zusammenbruch dieses Raumes: danach, ohne diesen Raum, war Hitler ein Nichts, nur noch eine komische Figur: einer, der sich grundlos aufregt). Es gibt keine Rede ohne Ritual, ohne standardisierte Argumentation, auch ohne den spezifischen Ton der Rede. Die Rede lebt von dem Klima der Empörung, das sie erzeugt (darin gleicht sie dem Gerede, mit dem sie unter dem beiden gemeinsamen Bann von Rechtfertigungszwängen steht, auf deren Instrumentalisierung, die ausschließlich über die Mechanismen der Empörung läuft, sie abzielt). Ziel der Rede ist es, Emotionen zu wecken, „Hunde hinterm Ofen hervorzulocken“. Für die Hörer ist die Rede der Handlungsersatz (das moralische Alibi) der Ohnmächtigen. Das Grundmodell der Rede ist die antisemitische Rede. Reden sind ghettobildend: Sie „überzeugen“ nur die eigenen „Anhänger“, andere erreichen sie nicht mehr.
    Zum Begriff der Rede: Jemandem „ins Gewissen reden“ heißt, ihm das Gewissen ausreden.

  • 9.11.95

    Die Lehre von der Erschaffung der Welt, die auf die weltkonstituierende Funktion des Staates zurückweist, läßt sich auch nicht durch das angehängte ex nihilo heilen (das auf den ökonomischen Grund der weltkonstituierenden Funktion des Staates zurückweist). Es sei denn, daß dieses ex nihilo die Vorstellung ausschließen soll, es gäbe eine ursprüngliche Vergangenheit, eine Vergangenheit vor der Schöpfung.
    Die Marxsche Idee einer klassenlosen Gesellschaft und seine Vorstellung vom Absterben des Staates enthalten einen erkenntniskritischen Aspekt, der mit zu entfalten wäre. Bezeichnen nicht die drei evangelischen Räte (Armut, Keuschheit und Hören) genau die Elemente, die die Logik des Absterbens des Staates zu begründen vermögen.
    Wenn die griechische Grammatik das Paradigma einer (in der Trennung des Sehens vom Hören begründeten) Logik der Schrift ist, dann ist die hebräische Grammatik das einer (im Hören begründeten) Logik des Worts.
    Im Credo steht das secundum scripturas nach dem et resurrexit tertia die, nicht nach dem crucifixus etiam pro nobis: sub Pontio Pilato passus et sepultus est.
    Für die Griechen waren die Barbaren die Fremden, für die Christen – bis hin zu Thomas – die Völker, die Heiden; die Neuzeit wird mit dem projektiven Namen der Wilden eröffnet; erst Hegel hat diese ganze Sphäre zusammengefaßt im Objekt des Weltgerichts: in den Opfern der Geschichte. Damit ist die Barbarei endgültig historisiert worden.
    Wayne A. Meeks verweist auf einen archäologischen Fund in Korinth, der auf die Existenz einer hebräischen Synagoge dort verweist (Urchristentum …, S. 107). Demnach war in römischer Zeit der Name der Hebräer noch in Gebrauch.
    Das Argument, daß (im Mörfelder Wald) Wege deshalb nicht gesperrt worden sind, weil erkennbar war, daß sie ohnehin kaum benutzt worden sind, entspringt einer Logik, die das Gefühl genießt, hier auch die letzten drei Spaziergänger noch aus dem Wald ausschließem zu können. Ist dieses Gefühl so weit von dem entfernt, das Skinheads ergreift, wenn sie Behinderte, Ausländer oder Obdachlose angreifen? Im Kontext hierarchischen Verwaltungsdenkens ist die Bevölkerung das, was unten ist und sich nicht wehren kann.
    Wie verträgt sich eigentlich die fortschreitende Privatisierung öffentlicher Dienste und Aufgaben, die den Staat zur Beute der Privatwirtschaft macht, mit der sich zuspitzenden Durchdringung der öffentlichen Verwaltungen durch hoheitlich-hierarchisches Verwaltungsdenken?
    Der Staat ist das Wesen, das kreuzigt, die Welt ist der Ort, die Schädelstätte, an der gekreuzigt wird, während Natur das Deck- und Rätselbild des Opfers vor Augen stellt, ohne das es den Staat und die Welt nicht geben würde (christologischer Naturbegriff).
    Das Gewaltmonopol des Staates, das einmal die Rachelogik durchbrechen sollte, ist inzwischen selbst zu einem Instrument der Rachelogik geworden.
    Gewissenhaft, befähigt und befugt, gesinnt und gesonnen: Hinweis zur Konvergenz der Sprache der Verwaltung mit der Sprache des Nationalismus (die hierarchische Struktur der faschistischen Organisationen war ein genaues Abbild der hierarchischen Verwaltungsstrukturen).
    Die Idee der Heiligung des Gottesnamens, die die Sprache von den Folgen des Sündenfalls, von der Erbsünde, reinigt, entzieht jeder Herrschaftsreligion, jeder Form der Religion für andere, damit aber jeder Religion überhaupt den Grund.

  • 2.11.95

    Zur Ursprungsgeschichte der Ware: Ein afrikanischer Stammeshäuptling über einen Nachbarstamm: „Sie sind unsere Feinde; wir heiraten sie.“ (Zit. nach W.A.Meeks: Urchristentum und Stadtkultur, S. 18) Kann es sein, daß in der Vorgeschichte Frauen ähnlich „erworben“ wurden wie Sklaven und andere Handelsgüter: Sie wurden geraubt (vgl. Ri 2116ff und den „Raub der Sabinerinnen“)? Wäre das nicht eine Erklärung für den Status der Ehe, die seit je einer durch Kauf begründeten Eigentumsbeziehung nachgebildet war, auch für das Inzest-Verbot und für den Ursprung des Patriarchats (sowie des Staats, als dessen Modell die Familie gilt)?
    Lohnarbeit ist die technisch perfektionierte Form der Schuldknechtschaft. Ihre Vorstufe war die persönliche Schuldbeziehung zu einem Gläubiger. Lohnarbeit ist das Produkt der Transformation dieser Beziehung in eine logische Funktion des Systems. Die Trennung der Menschen von ihren natürlichen Subsistenzmitteln, ihre Expropriation, in der Geschichte der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals (der kopernikanischen Wende der Geldwirtschaft), führt nicht mehr in die physische Abhängigkeit des Sklaven von seinem Herrn, sondern in die herrenlose Dauerabhängigkeit vom System, in den Zwang zur Selbsterhaltung in der vom Tauschprinzip beherrschten Gesellschaft: in den Zwang zum Gelderwerb durch entfremdete Arbeit, durch Arbeit für andere.
    „Ihr seid das Licht der Welt.“ Dieses Wort trifft die Kirchen ins steinerne Herz ihres dogmatisches Selbstverständnisses. Es geht von dem einfachsten Sachverhalt aus, daß die Welt finster ist, und die Kirche Licht in diese Welt zu bringen habe. Das Licht hat sein Maß an der Finsternis, während nur der dogmatische und fundamentalistische Kleinglaube wähnt, die Finsternis habe ihr Maß an dem Licht, das er zu verkörpern glaubt. Das in Angst vor der Wahrheit erstarrte Dogma ist nicht das Licht, sondern der Scheffel überm Licht. Und das Licht ist kein Besitz, kein Gnadenschatz, der der Kirche gegeben und der von ihr zu hüten und zu verwalten wäre, sondern in jeder Epoche ist es der Finsternis neu abzugewinnen. Gott will nicht, daß sein Wort leer zu ihm zurückkehrt.

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie