Munch

  • 24.1.1997

    Ist nicht der im Kontext der Rechtfertigungszwänge sich konstituierende Moralbegriff antisemitisch? Und ist nicht umgekehrt die jüdische Tradition ein Beleg dafür, daß es möglich ist, unter den gesellschaftlichen Bedingungen des falschen Lebens gleichwohl die Tradition zu wahren? In dieser Konstellation gründet die Idee des verborgenen Gerechten. Adornos Satz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ drückt genau diesen Sachverhalt aus. Er entzieht dem moralischen Urteil (und damit der Urteilsmoral, dem „Bekenntnis zu …“ und dem „Glauben an …“) die Grundlage.
    Die Urteilsmoral, zu deren Konstituentien der Rechtfertigungszwang gehört, ist christlichen Ursprungs; sie gehört zu einer Unsterblichkeitsvorstellung und zu einer Idee des seligen Lebens, die die Welt ausgrenzt, sie zum Teufel schickt. Es ist dieser Rechtfertigungszwang, der die Welt zum Teufel schickt, der um der eigenen Schuldlosigkeit willen bereit ist, alles, was an die eigene Schuld gemahnt, der Hölle zu überantworten.
    Das moralische Urteil ist kein Instrument der Befreiung, es sei denn als Gegenstand der Reflexion.
    Sed libera nos a malo: Müßte nicht die neuere Übersetzung, die an die Stelle des Übels das Böse setzt, nochmals korrigiert werden? Müßte es nicht heißen: Sondern befreie uns von der Bosheit?
    Das Sehen ist das Instrument des bestimmenden Urteils, das Hören das Organ des reflektierenden Urteils. Ist nicht der Schrei von Edvard Munch ein Versuch, das Sehen das Hören zu lehren? In der Bibel schreit das Blut Abels zum Himmel, schreien die Steine, während Gott vom Himmel brüllt.
    Wer aus JHWH einen Wettergott macht, kehrt nur die Metaphorik um.
    Ist nicht die Privatsphäre das Medium der Konstituierung des urteilenden Subjekts, des bestimmenden Urteils, der transzendentalen Logik?
    Sind nicht das bestimmende und das reflektierende Urteil durch Umkehr auf einander bezogen? Und wer das reflektierende Urteil als bestimmendes mißversteht, macht von dem unzulässigen Mittel der Beweisumkehr (Schuldumkehr) Gebrauch. Ähnlich ist in RAF-Prozessen das Instrument der Beweisumkehr (und damit der Schuldumkehr) das Konstruktionsprinzip des synthetischen Urteils apriori, das am Ende herauskommt.
    Diese Umkehr: die Vertauschung von Subjekt und Prädikat (Name und Begriff: deshalb mußte das Nomen aus der Grammatik eliminiert werden), ist der Grund des Hegel’schen Begriffs des Wahren (des bacchantischen Taumels, an dem kein Glied nicht trunken ist). Die subjektiven Formen der Anschauung machen diese Umkehr zur Norm.
    Das beweislogische Problem des apagogischen Beweises (der Antinomie der reinen Vernunft) gründet in diesem Umkehrproblem (im Problem der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit), das allein durch Schuldreflexion zu lösen ist.
    Die Irreversibilität der Beziehung von Subjekt und Prädikat im Urteil ist Ausdruck und Folge der Irreversibilität der Beziehung von Oben und Unten: Die Welt ist alles, was der Fall ist.
    Die Naturwissenschaften gründen in dem ungeheuren (durchs Gravitationsgesetz gestützten) Versuch, die Oben-Unten-Beziehung reversibel zu machen (daher rührt der irre Zwang der „Weltraumforschung“, wie umkehrt der Versuch, die Zeitgrenze zur Vergangenheit zu durchbrechen in dem ebenso irren Forschungsapparat sich manifestiert, mit dessen Hilfe die „Struktur der Materie“ erforscht werden soll.
    Dieser Umkehrschluß ist zugleich die Grundlage des Neoliberalismus und der gegenwärtigen „Wirtschaftspolitik“, in der Durchsetzung der Rationalität und der Herrschaft der „reinen Marktgesetze“.
    In den Weltreligionen (die als Schriftreligionen in dieser Verführung stehen) heißt das Produkt der Anwendung dieser Logik der Beweisumkehr (der Schuldumkehr) Fundamentalismus (der in einem logischen Fehler gründet, nicht in einer falschen Gesinnung oder einem falschen Bekenntnis).
    Das Dogma und die Orthodoxie gründen in der Verwechslung von Subjekt und Prädikat, einer Verwechslung, die dem Urteil gleichsam magische Qualität verleiht.

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