Musik

  • 3.5.1997

    Ist nicht die Bannformel der Amsterdamer Synagoge eine Folge der kopernikanischen Wende (haben nicht Fluch und Schwur ihren logischen Ort am Sternenhimmel)?

    Der Fundamentalismus läßt sich (auch bei seinen Kritikern) dingfest machen am Verständnis des Staubfressens, und ist nicht das Staubfressen der Beweis, daß die Schlange das grammatische Neutrum repräsentiert?

    Verweisen nicht Verdrängung, Projektion und Schuldverschiebung auf den gleichen sprachlichen Sachverhalt, den in der Schrift die Schlange symbolisiert: auf die sprachlogische Funktion des Neutrum?

    Verweist nicht die Stimme in Frescobaldis Capriccio (Stefan Wyss, Passagalia, pass.) auf das Problem der Materialisierung in der Musik (das auch ein Problem der Neutralisierung ist), auf den Ursprung des Bedeutungslosen, Chaotischen, aus dem die Musik erschaffen wird, und kündigt sich hier, im Barock, nicht schon die Schönbergsche Revolution an?

    Die Geschichte der Instrumentalisierung hat ihre eigene Dynamik (im Falle der Musik sollte im Begriff der Instrumentalisierung durchaus der Doppelsinn mit gehört werden). Der Begriff dieser Geschichte verweist auf die Geschichte der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse und auf deren wechselseitige Beziehung. Ihre Rückprojektion in die Natur heißt Evolution.

    Merkwürdige Spiegelung der Natur in den frühgeschichtlichen Institutionen: Die gehörnten Tiere sind Opfertiere, Raubtiere verkörpern den Staat (seine Beziehungen nach außen, nach innen werden sie zu apokalyptischen Tieren, die aus der Schlange hergegangen sind).

    Hierzu der ungeheure Satz: Barmherzigkeit, nicht Opfer.

    Masada, Worms, Uriel da Costa, Walter Benjamin, Primo Levi et alii: Die Verzweiflung im Angesicht der Unmöglichkeit der „Bekehrung des Sünders von den Wegen des Irrtums“.

    Experten: Innenarchitekten gibt es, seit auch die Privatsphäre (das Asyl der Innenwelt) gegen den Blick von außen, gegen den Seitenblick, keinen Schutz mehr bietet, der Reklame, den Verwertungsinteressen des Kapitals, dem „Lauschangriff“ des Staatsschutzes, dem Fernsehen und der Massenpresse hilflos ausgeliefert ist. Seitdem gibt es es kein Zuhause mehr, leben alle in einer synthetischen Innenwelt, lassen die Wohnungen von modernen Haftanstalten nicht mehr sich unterscheiden. Wie die Wärter in den Knästen garantieren die Experten, daß man nichts „falsch“ macht (das Falsche ist die Abweichung von der vergesellschafteten, instrumentalisierten Wahrheit). Hier wird der letzte bethlehemitische Kindermord vorbereitet.

    Die Definition der Wahrheit als Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand erinnert an die Geschichte von Hase und Igel: Das Objekt mag sich anstrengen, wie es will, der Begriff, den es nie erreicht, ist immer schon da (Heidegger definiert denn auch konsequenterweise das Subjekt, den Repräsentanten des Begriffs, als „Dasein“).

    Maß der Gotteserkenntnis ist der Satz, daß nur Gott ins Herz der Menschen sieht. Gott wird nur von dem erkannt, der Seiner Erkenntnis sich angleicht. Hierin gründet das Konzept einer Theologie im Angesicht Gottes, das eins ist mit der Idee der vollständigen Säkularisation aller theologischen Gehalte. Der gleiche Sachverhalt drückt in dem Satz sich aus, daß die Attribute Gottes im Imperativ, nicht im Indikativ stehen. Gotteserkenntnis ist die Realisierung der Geistesgegenwart, die konkrete, handlungsleitende Erkenntnis seiner Gebote. Die grammatische Form der Gotteserkenntnis ist die Form der Lehre, ein Indikativ, der in sich selbst die Kraft des Imperativs repräsentiert, wie die Sätze Adornos:

    – „Erstes Gebot der Sexualethik: der Ankläger hat immer unrecht“, und:

    – „Heute fühlen sich alle ungeliebt, weil keiner zu lieben fähig ist“.

    Die Kritik der Ontologie ist der Anfang der Bekehrung des Sünders von den Wegen des Irrtums.

    Mit dem Absterben des Staates verliert der Weltbegriff seine Gewalt. Mit dem Ende des Staates wird auch der Tod nicht mehr sein; jede Träne wird abgewischt.

  • 12.12.1996

    Ist der Himmel die andere Todesgrenze, die Grenze zur Auferstehung? Und ist es nicht genau diese Grenze, die Kopernikus gegenstandslos gemacht hat?
    Das Christentum hat aus der platonischen Höhle, deren Bewohner die Dinge an den Schatten erkannten, die auf ein Licht hinwies, dessen Quelle unsichtbar war, weil sie hinter dem Rücken der Bewohner und der Dinge lag sie, die Hölle gemacht, in der alle, die Bewohner wie die Dinge, dem subjektlosen Blick ausgesetzt sind, der von allen Seiten auf sie fällt. Dieser subjektlose Blick (der mitleidlose Blick der Anschauung) ist der Grund des horror vacui. In einer von Gott verlassenen Welt kann keiner mehr allein sein. Im Begriff der Erscheinungen, der als Inbegriff der Objekte der Anschauung sich definieren läßt, gewinnen die platonischen Schatten ihre allein ästhetisch begründbare Realität.
    Reicht die Wahrnehmung Edgar Morins, daß es die Musik ist, die die Schattenwelt des Films dreidimensional (und damit substantiell) macht, die den horror vacui vertreibt und der Schattenwelt, indem sie die Erinnerung an ihre Fundierung im horror vacui unterdrückt, den Schein des Realen verleiht, nicht weit über den Film hinaus; erklärt sie nicht die gegenwärtige Funktion und Bedeutung der Musik insgesamt, insbesondere auch den Bruch in der Musikerfahrung der Nachkriegsgeneration (und korrespondiert dieser Erfahrungsbruch nicht mit der bis heute unaufgearbeiteten Faschismuserfahrung dieser Generation)? Ist die Musik der Ersatz und das Surrogat des Geistes, der in dieser Welt keinen Grund mehr findet?
    In welcher Beziehung steht die Musik zum Namen des Himmels (und zur Idee der Erfüllung des Worts), welche Bedeutung haben die Vorstellungen von den Engelschören und den Sphärenharmonien?
    Wer die Bedeutung und die Funktion des Begriffs des Scheins bei Hegel begreift, hat das Rätsel der Hegel’schen Logik gelöst.

  • 4.11.1996

    Zur Allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins gehört das Bild des Fahrstuhls, der aus seiner Halterung sich losgerissen hat und in den freien Fall (in den Zustand gleichförmiger Beschleunigung) übergegangen ist. Die Bewegung dieses Fahrstuhls ist in seinem Innern, wenn der Blick nach draußen versperrt ist, nicht mehr wahrnehmbar. Sie ist allein daran zu erkennen, daß nur die reinen Trägheitsgesetze herrschen, während die Schwere aufgehoben zu sein scheint. Dieses Bild läßt sich ins Gesellschaftliche übersetzen, wenn man den Begriff der Schwere durch den der Schulderfahrung ersetzt und zugleich Ursache und Wirkung austauscht: Der Versuch, eine Gesellschaft zu konstruieren, in der es gelingt, die Schulderfahrung und ihre Reflexion (die mit der Fähigkeit, in den andern sich hineinzuversetzen, logisch verknüpft ist) endgültig auszuschließen, wird auf ein Modell hinauslaufen, das dem des fallenden Fahrstuhls aufs Haar gleicht. Nur: Diese Welt, deren Modell eine Welt ist, die von den reinen Marktgesetzen beherrscht ist, wird eine vom Feindbilddenken verhexte Welt sein.
    Ist nicht die Sprache, und in ihr die Kraft, in einen andern sich hineinzuversetzen, die nur in der Sprache gründet, der Beweis für die Idee der Auferstehung der Toten?
    Die Bundesanwälte wie auch die Richter in den RAF-Prozessen werden sicher gut schlafen: es gelingt ihnen, auch noch die Alpträume, von denen sie eigentlich selbst heimgesucht werden müßten, auf andere zu verschieben.
    Dieser Prozeß bringt ein bis oben mit Tränen angefülltes Faß zum Überlaufen.
    Erkenntniskritische Einrede wider den „Rechtsstaat“: Schuld ist kein Gegenstand des Wissens.
    Täterstrafrecht ist Schuldrecht und ein Feindrecht, während das Strafrecht selber seiner eigenen Logik nach eigentlich nur auf Handlungen, auf Taten sich beziehen läßt (der Schuldspruch gilt der Handlung, nicht der Person). Mit der Einbeziehung des Täters ins Strafrecht wird zwangsläufig zugleich die Gemeinheit aus dem Kreis der Straftatbestände ausgeschlossen. Der Begriff und die Gestalt des Angeklagten gehört zu einem Strafrecht, das eigentlich nur auf Handlungen sich bezieht. Im Täterrecht, das auch die Gesinnung zu einem strafrechlichen Tatbestandsmerkmal macht (das apriorische Objekt des Täterrechts ist der Mörder), wird der Angeklagte tendentiell zum Feind: zu einem Objekt, das durch seine Tat sich selbst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen hat, und für das die moralische Hemmung, die der Manifestation von Gemeinheit im Wege steht, eigentlich nicht mehr gilt. Der Antisemitismus ist eine hypertrophe Form des Täterstrafrechts.
    Eine der Interpretationen der letzten Satzes des Buchs Jona wäre, daß am Ende die Barmherzigkeit auch die Unbarmherzigen, die nicht wissen, daß sie es sind, ergreift.
    Spenglers Bemerkung, daß die Musik in der modernen Welt die Stelle einnimmt, die in der alten Welt die Statue eingenommen hat, ließe vielleicht sich so erläutern, daß die Erstarrung, die damals (in der Statue wie im Namen des Heros) die Menschen ergriffen hat, heute die Welt ergreift, und die Musik das Aufbegehren dagegen ausdrückt. Gibt es nicht heute schon eine Musik, die nur noch gegen die Wände antrommelt?
    Hat nicht der Begriff der Liebe, wie er dann (unter Ausschluß der Außenwelt und unter Verdrängung der Idee der Barmherzigkeit) in die christliche Tradition eingegangen ist, etwas von dem – mit der gleichzeitig entstandenen Bekenntnislogik verknüpften – Affekt, der die Menschen unter der Gewalt eines gemeinsamen Feindbildes aneinander bindet, ein Affekt, der heute beginnt, als Begleitaffekt der Komplizenschaft sich zu enthüllen? Steht nicht die Geschichte vom barmherzigen Samariter gegen genau diesen Affekt? Eine Liebe, die nur auf den Nächsten geht, und nicht auch auf die Ausgegrenzten und den Feind (auf die Armen und die Fremden), hat diesen Namen nicht verdient.
    Die jüngste Version der kantischen Antinomien der reinen Vernunft ist die, die im Blick auf die Nazis sich zeigt: Das, was sie getan haben, darf nicht ungesühnt bleiben, aber reproduziert sich in dem Urteil und in der Strafe, die wir über sie verhängen, nicht der Faschismus selber (wie der Raum in der Vorstellung seiner unendlichen Ausdehnung)?
    Das Bekenntnis des Namens Gottes (nicht das Bekenntnis zu Gott: der Tempel war nicht das Haus Gottes, sondern das Seines Namens) würde, wenn wir endlich begreifen, was das heißt, die subjektiven Formen der Anschauung sprengen und der Sprache die Kraft des Sehens zurückgeben. Das hat einmal in den Bildern der prophetischen Utopie sich ausgedrückt (in dem Begriff des Gotterkennens, des Geistes, der die Erde erfüllen wird, und in der Ersetzung des steinernen durch das fleischerne Herz).
    Das letzte Opfer wäre das des transzendentalen Subjekts, aber war das nicht schon in den biblischen Tieropfern eigentlich gemeint? In einer Sprache, die der erkennenden Kraft des Namens mächtig (und deren innere Triebkraft die Barmherzigkeit) wäre, bedürfte es des transzendentalen Subjekts nicht mehr.
    Der Übergang vom confiteri und von der confessio zum Bekennen und zum Bekenntnis ist der Übergang von der Ohnmachtserfahrung zur bewußten und intendierten Identifikation mit dieser Ohnmacht, die, anstatt im Symbolum den Funken der Hoffnung, im Bekenntnis nur noch ihre Rechtfertigung sucht. Hier ist die Erinnerung an die Umkehr getilgt. Der moderne Bekenntnisbegriff ist das Siegel auf den subjektiven Formen der Anschauung (das Siegel der Orthogonalität), das Gegenteil der Siegel, mit denen einer kabbalistischen Tradition zufolge die sechs Richtungen des Raumes auf göttliche Namen versiegelt sind.
    Das Feuerwerk von Ideen, die nicht mehr zum ruhigen Licht der Sonne, die den Tag erhellt, sich zusammenschließen wollen.
    Hören und Sehen: Was haben der Hahn und der Morgenstern gemeinsam? Gibt es nicht im Sohar eine Stelle, wonach der Hahn die Dämonen der Nacht vertreibt?
    Wenn die Gebete der Heiligen in der Apokalypse im Bilde des Rauchs, der zum Himmel aufsteigt – ein angenehmer Geruch für Gott -, symbolisiert werden, verweist das nicht auf die innerste Intention des Gebets, in Gott die Kräfte der Erinnerung wachzurufen, die an den Geruch sich anschließen? Das diffamierende antisemitische Bild der jüdischen Nase diente unter anderem auch dazu, das Eingedenken mit einem wirksamen Tabu zu belegen.
    Wer nicht fähig ist, in einen anderen sich hineinzuversetzen, wird sich selbst nicht begreifen.
    Aufmerksamkeit ist einmal das „natürliche Gebet der Seele“ genannt worden. Ist Aufmerksamkeit nicht die vielfach eingeübte, dann spontan gewordene Fähigkeit, in den Andern sich hineinzuversetzen? Zur Einübung dieser Fähigkeit gehört insbesondere der Widerstand gegen Geschwätz und Gerücht.
    Auch die Erkenntnis der Dinge ist durch die Reflexion des Andern, durch die Fähigkeit, in andere sich hineinzuversetzen, vermittelt. Deshalb ist der der Wissenschaft zugrundeliegende Erkenntnisbegriff, der an der intentio recta sich orientiert, reflexionsbedürftig. Die subjektiven Formen der Anschauung sind das bloße Alibi für diese intentio recta, ein Intrument der Verhinderung der Reflexion.
    Gott ist niemals Objekt, und die theologische Bedeutung des Gottesnamens liegt darin, daß er daran erinnert, daß Gotteserkenntnis des Mediums der Sprachreflexion bedarf.

  • 04.10.1996

    „Es gibt nichts tierischeres als ein reines Gewissen“: Dieser Satz (der die Bekenntnislogik in ihrer Wurzel trifft) rechtfertigt nicht nur den Nobel-Preis: Er bezeugt die Sensibilität und Aktualität, die prophetische Erkenntniskraft, seiner Trägerin. Er ist ein Schlüsselsatz zur Erkenntnis jeder Art von Faschismus.
    Die Logik des apagogischen Beweises ist der Stachel im Herzen des Objekts (Grund des kontrafaktischen Urteils, der Urteilsethik, der Wertethik).
    Die Bekenntnislogik versucht die Lücke zu schließen, die der apagogische Beweis aufreißt. Dazu bedarf sie der Idee des Absoluten (der gegenstandslosen Spiegelung des Subjekts im Unendlichen). Die Confessiones des Augustinus enden mit dem Selbst-Bekenntnis.
    Sind nicht die Confessiones des Augustinus die Urgestalt der erbaulichen Literatur, die lateinischen Ursprungs ist? Zur erbaulichen Literatur gehört die „fromme Lüge“: Religion als Mittel der Verführung anderer? Die Idiosynkrasie gegen das Theater verweist auf eine Dramaturgie, dessen Bühne eine Sprache ist, die die Namenskraft der Sprache aus dem prosaischen Indikativ, an den sie gefesselt ist, nicht mehr zu entwickeln vermag (wodurch unterscheidet sich der lateinische vom griechischen Indikativ?). Die „Wörtlichkeit“ des Genesis-Kommentars des Augustinus (de genesi ad litteram) drückt das aufs genaueste aus. Es ist die Wörtlichkeit eines Indikativs, der im Bann der imperialen Logik der lateinischen Sprache die Herrschaftsreflexion verlernt hat. Der Bann der imperialen Logik ist der Bann der Objektivierung.
    Zu den Elementen der erbaulichen Literatur gehören:
    – die Legende (die, nachdem sie von der Herrschaft in den Dienst genommen wurde, zur Fälschung sich entwickelt hat),
    – die Privatisierung der Idee der Vorsehung (und deren Erkennbarkeit durch den Frommen), die die stoische Ataraxia als Gleichgültigkeit gegen die Welt ins Objektive wendet: in die Dinge projiziert,
    – die zentrale Funktion der Sexualmoral (und der zölibatären Lebensweise), in die die verdrängte Herrschaftskritik projiziert wird,
    – daraus abgeleitet die merkwürdige Beziehung zu Frauen (die heilige Mutter und die namenlose und dann verstoßene Geliebte).
    Die subjektiven Formen der Anschauung (zur Logik der Natur- und Geschichtserkenntnis): Der mitleidlose Blick strahlt als Kälte der Welt zurück.
    Der Bruch zwischen E- und U-Musik (und die zunehmende Verrottung beider) ist ein Reflex der Entstehungs- und Vollendungsgeschichte der Beton-Welt: Die Rockmusik lehrt die Menschen, nach der Pfeife dieser Betonwelt zu tanzen, während die Schlager (und die Pop-Musik) ihnen helfen, vor dieser Welt die Augen zu verschließen, sich aus dieser Welt herauszuträumen. Nicht mehr die Musik, sondern die avancierteste Gestalt ihrer Reflexion erschüttert die Fundamente der Welt.
    Die Beton-Welt ist ein ebenso realer wie sprachlicher Sachverhalt: An der Zeit wäre die Entfaltung einer politischen Grammatik (Ursprung des Neutrum, Geschichte der Deklination und Konjugation, Beziehung der Sprache zur Mathematik, zum Inertialsystem).
    Die Apokalypse unterscheidet zwischen den Gebeten der Heiligen (Rauchopfer) und den Taten der Heiligen (weiße Kleider).
    Sind Satan und Teufel Verkörperungen der imperialen Macht, symbolisieren sie den Caesar? Gibt es hierzu Hinweise in der Geschichte der Versuchungen Jesu (die in der konstantinischen Wende real werden: Teilhabe an der Macht, Steine statt Brot, Sturz von der Zinne des Tempels)?

  • 23.10.95

    Die Bekenntnislogik ist ein Produkt der Instrumentalisierung des Rachetriebs. Das Christentum hat den Satz „Mein ist die Rache, spricht der HERR“ mit der Opfertheologie ins Affirmative gewendet und zugleich den „jüdischen Gott“ zum „altorientalischen Rachegott“ erklärt. Diesem Vorgang verdankt sich das Schuldverschubsystem, das der christlichen Gnaden- und Erlösungslehre zugrundeliegt (die Vorstellung von einem gnädigen und barmherzigen Gott, der die Sünden vergibt, ohne noch das sicut et nos dimittimus debitoribus nostris zu fordern).
    Der Schrecken Isaaks: Liegt das Befreiende des Lachens nicht darin, daß man lernt, mit dem Schrecken zu leben?
    Was war der Grund für den Untergang, die (unblutige!) Vernichtung, der Rotte Korah, die „lebendig in die Unterwelt gefahren“ ist? Nur Korah war ein Levisohn, Dathan und Abiram waren Rubensöhne, wer waren die 250 Männer (Num 16)?
    Der Satz, daß es einen Gott gibt, begründet keine Theologie, nur eine Religion für andere. Dieses „es“ repräsentiert die Welt, deren Logik das „es gibt“ die Gottesvorstellung unterwirft. Auch der Begriff der Existenz ist theologisch unbrauchbar: Die Existenz ist in sich selbst gesellschaftlich vermittelt. Nachdem der ontologische Gottesbeweis am Ende auf die Existenzphilosophie zusammengeschrumpft ist, ist der Begriff der Existenz zum Decknamen der Hybris geworden.
    Der Tod ist für die Existenzphilosophie der reine Aggressor und das „Vorlaufen in den Tod“ der Akt der Identifikation mit dem Aggressor. Nur durch Identifikation mit dem Aggressor kann man innerhalb der Logik der Existenzphilosophie sich vor diesem Aggressor noch schützen.
    Esel und Rind: Das Nachfolgegebot verlangt, das Kreuz auf sich zu nehmen, nicht es den andern als Joch aufzuerlegen.
    Eine Musikphilosophie heute hätte von der Allgegenwart einer „Musik“ auszugehen, die längst zum schwarzen Loch geworden ist, das alles Licht in sich aufsaugt, keines mehr ausstrahlt.
    Das neue „Asylrecht“: Die Fortsetzung von Hoyerswerda mit anderen Mitteln.
    Die Empörung gehorcht bewußtlos dem Schuldverschubsystem.
    Barmherzigkeit, nicht Opfer: Nicht auf die Unschuld kommt’s an, sondern aufs Tun.
    Wer das eigene Sehen als In-Augenschein-Nehmen erfährt, sollte sich nicht wundern, wenn er am Ende wie ein Auto ausschaut.
    Waren die Pyramiden Einrichtungen zur Ehrung der Toten oder zum Schutz gegen sie? Waren sie der Preis für die pharaonische Herrschaft, die präventive Absicherung, daß die Pharaonen nach ihrem Tod nicht wiederkommen werden? War das Grab nicht seit je auch ein Schutz vor den Toten (augenfällig das Hünengrab, dessen Last der Tote niemals würde abwerfen können: waren die Toten in den Hünengräbern nicht gefesselt, in „Hockstellung“)? Und war das Gefühl der Trauer nicht auch seit je ambivalent, der geheuchelte Schmerz, hinter dem die Erleichterung sich verbarg?
    Ist die Priesterschaft der Kirche die Wache vor dem Grab, zu dem der Himmel am Ende geworden ist: die Absicherung der Verhinderung Seiner Wiederkunft? Nur der „zur Rechten des Vaters“ sitzende Herr scheint für kirchliche Zwecke brauchbar zu sein.
    Für den Fundamentalismus ist das Licht eine Fluchtburg, keine öffnende und offensive Befreiung von der Blindheit. So darf er sich nicht wundern, wenn er das Licht unterm Scheffel wiederfindet. Der Missionsauftrag der Kirche kann nicht darin sich erfüllen, daß am Ende alle unter dem Scheffel sich versammeln.
    Durch den Export der Armut ist die Arbeitskraft draußen billiger und zur Konkurrenz der Arbeitskraft im eigenen Lande geworden. Das ist der ökonomische Grund des Reimports der Armut.
    Der Lauf der Welt: Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg militärisch zwar verloren, den Raub des jüdischen Eigentums und den Gewinn aus der Ausbeutung der KZ-Sklaven, der Fremdarbeiter und der Kriegsgefangenen aber behalten dürfen. Sie waren ein Teil der Grundlagen der ökonomischen Revision des verlorenen Krieges unter den Bedingungen und in der Folge des „Kalten Krieges“, zu dessen Gewinnern Deutschland gehört. Das Land, das die ganze Last des Zweiten Weltkrieges getragen hat, Rußland, war am Ende der wirkliche Verlierer.
    Ökonomie und Rassismus: Sind nicht die Stabilität der DM und der „Standort Deutschland“ die Erben der faschistischen Rassenideologie, die zynische Aufdeckung ihres ökonomischen Kerns?
    Der Slogan „Standort Deutschland“ (der auf die Probleme der Geldwertstabilität, der Außenhandelsbilanz sich bezieht) ist ein Stichwort für die Verwilderung der ökonomischen Sitten.
    Heute gibt es (als Pendant zum Gesinnungs-Marxismus) einen Bereicherungs-Kapitalismus, der dabei ist, die eigenen produktiven Grundlagen zu zerstören. 90 % der Geldbewegungen auf den internationalen Märkten sind spekulative Bewegungen, nur noch 10 % beziehen sich auf den Warenverkehr und auf Dienstleistungen.
    Der Rechtfertigungszwang (das moralische Pendant zum kapitalistischen Prinzip der Gewinnmaximierung) macht das Schuldverschubsystem irreversibel.
    Der Staat, der nur an marktwirtschaftlichen Grundsätzen sich orientiert, ist ein Profitmaximierungsmaschine, ein Instrument der Umverteilung und Ausbeutung.

  • 1.10.1995

    Liberum arbitrium und die Freiheitsgrade des Raumes: Das Konstruktionsprinzip der Form des Raumes ist das Prinzip der Reversibilität aller Richtungen im Raum. Die Logik dieses Prinzips verbindet die Form des Raumes mit der Logik des Tauschprinzips (mit der prinzipiellen Reversibilität des Tauschs und der darin gründenden Wahlfreiheit). Die Logik des Tauschprinzips gilt jedoch nur für die Besitzenden, die Armen haben keine Wahl.
    O Haupt voll Blut und Wunden: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Orgelmusik und dem Kruzifix? Ist nicht die Orgelmusik Raummusik, schafft sie nicht erst den Raum, in dem dann das Kruzifix seinen Platz findet? Die Orgel erfüllt den Raum, den sie definiert: Ist sie nicht die Antizipation (und nach Bach die Parodie?) des Geistes, der am Ende „die Erde erfüllt, wie die Wasser den Meeresboden bedecken“? Apriorischer Gegenstand der Orgel ist die Passion (während die Messe, und mit ihr die Opfertheologie, erst mit dem Orchester und als Konzert ihre angemessene musikalische Form gefunden hat).
    Hanspeter Maurer hat durch die Missa Solemnis (durchs Credo) seinen Zugang zur Trinitätslehre (deren Kern die Opfertheologie, nicht die Passion ist) gefunden.

  • 22.9.1995

    Zu Off 133: Den Faschismus nicht als Feind, sondern als Verführung begreifen, heißt, auch das Feindbild Faschismus, das mit der Realität seiner Vergangenheit aufs fatalste zusammenhängt, noch als Verführung begreifen. Erst als vergangener siegt der Faschismus (eigentlich dürfte es nach dem Faschismus nichts mehr geben, was ihn nur überlebt).
    Das Feindbild ist (als Teil der Bekenntnislogik) gemeinschaftsbegründend: ein gesellschaftlicher Kitt.
    Die Todesangst wird durch den Historismus, die Vergegenständlichung und Instrumentalisierung der Vergangenheit, verdrängt und begründet zugleich.
    Stammen nicht das Bekenntnis, das Dogma, die Orthodoxie aus dem (weltkonstituierenden) Geiste des Rechts? Und ist nicht der „rechtsfreie Raum“, den es nach Meinung des Münchener Bischofs Wetter nicht geben darf, der Raum, in dem sich die Juden, die Ketzer, die Frauen bewegen?
    (Ist die Existenz der Juden, der Häretiker und der Frauen der Beweis dafür, daß der Raum in keiner seiner drei Dimensionen ins Unendliche sich erstreckt? – Im Kontext der Vorstellung des unendlichen Raumes sind der Antisemitismus, die Unfähigkeit, abweichende Anschauungen zu ertragen, und die Frauenverachtung unvermeidlich.)
    Gerichte, die unter dem Bann des Feindbildes stehen (z.B. in Mord- oder in Staatsschutzprozessen), stehen unter dem Bann des synthetischen Urteils apriori; sie haben nicht mehr die Freiheit, abweichende Fakten zu tolerieren, ohne sie – zynisch und paranoid zugleich – nach Maßgabe des Feindbildes einzuordnen. Jede humane Regung gegenüber einem Angeklagten (der in Wahrheit ein Feind ist) wird zwangsläufig als Unterstützung des Feindes und als Angriff auf das Gericht wahrgenommen.
    Ist nicht der 129a die endgültige Grundlage für die Produktion synthetischer Urteile apriori im Strafrecht? Mit dem Tatbestandsmerkmal „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ wird die Zurechnung einer Tat auch ohne Tatbeteiligung möglich (vgl. den Mordvorwurf wg. des Todes des GSG 9-Beamten im Hogefeld-Prozeß). Eine konkrete Tatbeteiligung braucht nicht mehr nachgewiesen zu werden. Soweit sie dann doch noch erforderlich ist, hat die Kronzeugenregelung die letzte Lücke geschlossen (so im Falle Eva Haule, Christian Klar, Sieglinde Hofmann).
    An der bayerischen Reaktion auf das Kruzifix-Urteil läßt sich erkennen, daß genau jene, die nur noch ein instrumentalisiertes Verhältnis zum Christentum haben, sich über das Urteil empören. Das begründet die Frage, ob das Kruzifix nicht genau dafür das Symbol ist. Der Gebrauch dieses Symbols in den Kreuzzügen, in der Geschichte der Ketzerverfolgung und im Umkreis der Inquisition belegt den gleichen Sachverhalt.
    (Zu Erika Steinbachs Angriff auf die evangelische Kirche in Hessen: So wie den Herrn Hintze hätte die CDU gern alle Pfarrer. Aber verhalten sich nicht in gleichsam vorauseilenden Gehorsam die meisten, allen voran die katholischen Bischöfe, schon entsprechend?)
    Ist der Ausdruck „die Dinge beim Namen nennen“ nicht ein Hinweis auf die fortschreitende Umformung der Sprache zu einem Instrument der Verurteilung (mit ihrer Transformation in den Indikativ)? Ist die benennende Kraft der Sprache endgültig an den gesellschaftlichen Schuldzusammenhang übergegangen? Bezeichnungen wie Nazi, Terrorist, Mörder sind real nur im Kontext eines Schuldverschubsystems, das von der Realität nicht mehr sich unterscheiden läßt.
    Staatsschutzverfahren haben nicht mehr die Kraft zu belehren, weil sie selbst nicht mehr belehrbar, nicht lern- und erfahrungsfähig sind. Es bleibt nur die „Belehrung nach außen“, die Abschreckung, das Errichten eines Tabus (jede „Belehrung nach außen“ ist zugleich eine nach innen, ein Instrument der Verdrängung). Staatsschutzverfahren sind Verfahren der Vorverurteilung, des Vorurteils.
    Zur Genese und zum Begriff des Rassismus: Verdacht und Unterstellung sind experimentelle Anwendungsformen des kontrafaktischen Urteils. Ihre Verwandlung in synthetische Urteile apriori (ihre Biologisierung) macht sie zu Instrumenten des Vorurteils.
    Wie hängt das kontrafaktische Urteil mit dem liberum arbitrium, dem moralischen Äquivalent der „Freiheitsgrade des Raumes“, und wie hängen beide mit den kantischen Antinomien der reinen Vernunft zusammen?
    Erbaulichkeit ist ein Produkt der Übersetzung der Schrift in gegenständliche Vorstellungen, die dann kontrafaktisch ausgemalt werden können (der Mythos war die Einübung dieser kontrafaktischen Ausmalung, der Film ist das Produkt seiner Anwendung). Erbaulichkeit leugnet die Kraft der Sprache. Im Medium kontrafaktischer Urteile hat die transzendentale Ästhetik und Logik (als Inbegriff der Subjektivität) sich konstituiert. Erbaulichkeit nimmt „die Rechte“ der Subjektivität gegen die Idee der Wahrheit wahr. Erbaulichkeit ist blasphemisch.
    Reich der Erscheinungen: Gegenständliche Vorstellungen werden kontrafaktisch ausgemalt, aber durch Musik werden sie verkörpert. Musik verleiht den Vorstellungen Tiefe: Deshalb ist Musik eine aus dem Geist des Christentums (nicht immer jedoch aus christlichem Geist) erzeugte Kunstform, und deshalb bedarf der Film der Musik, um plastische und lebendige Präsenz zu gewinnen.

  • 14.7.1995

    Der Wertbegriff und das moralische Urteil sind Instrumente des Konkretismus und der Personalisierung.
    Haben nicht die Erklärungen der raf etwas von ad-hoc-Stellungnahmen: Sie liefern Rechtfertigungen, keine Begründung.
    Der Satz „Mein ist die Rache, spricht der Herr“ ist kein indikativischer Satz, er gilt nicht zu allen Zeiten und an allen Orten. Wahr ist er nur in einer bestimmbaren Konstellation, und zwar als Imperativ: Rache ist nicht deine Sache.
    Auch das Dogma ist nicht an sich unwahr, aber es wird unwahr im Bann der indikativischen Logik (im Bann des „Logozentrismus“).
    Jede Personalisierung ist atheistisch. Ihr Grund und ihr Telos ist der Antisemitismus (der Jude ist der Schuldige an sich). Und der verbreitete Nachkriegs-Atheismus ist ein posthumer Sieg Hitlers. Nur: Die ans Konfessionsprinzip gebundenen Kirchen sind ohnmächtig gegen diesen Atheismus.
    Die kritische Reflexion des Weltbegriffs rührt auf eine doppelte Weise an die Wurzeln des Christentums. Der Weltbegriff bezeichnet die differentia specifica, durch die das Christentum innerhalb der jüdischen Tradition von dieser Tradition sich unterscheidet, während die kritische Reflexion des Weltbegriffs den Bann löst, unter dem abrahamitischen Religionen bis heute stehen.
    Hegel hat einmal auf den merkwürdigen Sachverhalt hingewiesen, daß der Begriff Geschichte sowohl die historischen Ereignisse als auch ihre schriftliche Objektivierung bezeichnet. Und er hat recht: Die Geschichte konstituiert sich als vergangene Geschichte durch die Geschichtsschreibung. Dieser Vorgang ist ein weltkonstituierender Akt (sprachlogisch ist das Präsens durchs Präteritum vermittelt). In dieser Konstellation gründet die welthistorische Bedeutung der opfertheologischen Objektivation des Kreuzestodes.
    Sind nicht die eigentlich „geschichtlichen Bücher“ der Bibel die apokalyptischen Bücher? Und eigentlich ist jede Geschichtsschreibung apokalyptisch und die Verdrängung des Bewußtseins davon zugleich: Sie vollstreckt an der Vergangenheit das Jüngste Gericht, um die Gegenwart zu begründen. Unser Bild von der Geschichte ist das eines rechtskräftig gewordenen Todesurteils (der Historiker ist der Scharfrichter). Deshalb ist parakletisches, verteidigendes Denken heute Erinnerungsarbeit.
    Die Opfertheologie (und nicht der Kreuzestod) war der Gründungsakt der christlichen Zivilisation.
    Der Jubel der Barockmusik, dessen säkularisierter Nachhall seit zwanzig Jahren die Popmusik durchdröhnt, war schon kryptofaschistisch. Bach war kein Barockmusiker, seine Musik war die Umkehrung der Barockmusik, ihr Paradigma war die Passion.
    Jede Personalisierung gründet in dem Glauben an die magische Kraft des Bekenntnisses, die magische Kraft von Anschauungen (die deshalb seit dem Ursprung totalitärer Systeme zu todeswürdigen Verbrechen geworden sind).
    Der Satz (der sprachlogisch sich ableiten läßt), daß die Attribute Gottes im Imperativ, nicht im Indikativ stehen, läßt sich leicht am Kontext der Vorstellung demonstrieren, daß Gott nicht bereut. Unter diesem Imperativ steht seit der Diskriminierung des Anthropomorphismus das Herrendenken: Nicht Gott, sondern die Hybris seiner irdischen Vertreter erfährt die Vorstellung als unerträglich, eine einmal getroffene Entscheidung wieder zurücknehmen, sie öffentlich bereuen zu müssen. Das Gesicht, das die Herren zu verlieren fürchten, ist die Maske der Person, nicht das göttliche Angesicht, dessen Leuchten seinen Grund in der göttlichen Barmherzigkeit findet. Die theologische Verwerfung des Anthropomorphismus war die Verwerfung der göttlichen Barmherzigkeit.
    Die Finsternis über dem Abgrund: Ist das nicht der Nachthimmel, und sind nicht die Sterne in der Tat ein Zeichen der Hoffnung?
    Der Satz: „Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist“, ist ebensosehr ein Gebot wie es ein Ausdruck der Hoffnung, des Verlangens, der Sehnsucht ist.
    Wenn Jeremias für Babylon und gegen Ägypten votiert, so war das weniger Ausdruch einer „realistischen“ Einschätzung der Machtverhältnisse als vielmehr die prophetische Einsicht in einen Vorgang, der die Gotteserkenntnis im Kern verändert hat.
    Zum Begriff des Seins: Die Fundamentalontologie war faschistisch, weil das Sein (wie der Begriff des Eigentums, mit dem er zusammenhängt) außerhalb der staatlichen Organisation, die im Faschismus zum Selbstzweck wird, nicht sich definieren läßt.

  • 9.5.1995

    Steckt nicht in dem Satz aus der Dialektik der Aufklärung: „Die Distanz des Subjekts zum Objekt, Voraussetzung der Abstraktion, gründet in der Distanz, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt“ (Neupublikation 1969, S. 19), die ganze Kritik des Inertialsystems und der Raumvorstellung? Die Distanz zum Objekt und die Beziehung des Herrn zum Beherrschten gründen in der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit. Ist nicht, was bei Kant Erinnerung heißt, eine in die Vergangenheit zurückprojizierte Planung?
    Sind die Planeten Instrumente zur Austarierung des Zeitkontinuums (und damit auch des Inertialsystems: des dreidimensionalen Raumes)?
    Das Menetekel: Gezählt, gewogen und zu leicht befunden, ist ein frühes Symbol des Inertialsystems (und jeder Ästhetik): der Abstraktion von der Schwerkraft.
    Was haben Rind und Esel mit der Gravitation zu tun? Gibt es nicht auch eine astronomische Anwendung des Satzes vom Rind und Esel (auch ihrer Beziehung zum Opfer, zur Auslösung der Erstgeburt)? Sind nicht Sünde und Schuld die moralischen Äquivalente der Gravitation (und Objekt und Begriff Reflexe der Abstraktion von der Gravitation)?
    Ist die Technik der Esel und die Ökonomie das Rind? Und ist nicht die Beziehung von Technik und Ökonomie (von äußerer und innergesellschaftlicher Naturbeherrschung) ein Schlüssel zur Lösung des Rätsels der Beziehung von Astronomie und Banken? Verweist nicht die Unterscheidung der Zentralbanken von den Geschäftsbanken und innerhalb der Geschäftsbanken die Unterscheidung von Depositen- und Kreditbanken auf den Grund der Dreidimensionalität des Raumes?
    Was bedeutet eigentlich der Spruch „quod licet Jovi non licet bovi“?
    War nicht die Astrologie so etwas wie das frühe Modell einer Regierung: mit Jupiter (Baal?) als Regierungschef, Mars (Nebu?) als Verteidigungsminister, Venus (Ischtar?) als Familienminister und Merkur als Handels- und Wirtschaftsminister; Saturn wäre dann der Finanzminister? Von den klassischen Ressorts fehlen (aus rekonstruierbaren Gründen) insbesondere der Außen- und der Justizminister.
    Und ist nicht die Musik das Echo des Seufzens der Kreatur, das am Ende seinen Wiederhall in den Posaunen des Gerichts und den sieben Donnern finden wird? (Haben die sieben Donner etwas mit dem Brüllen JHWHs zu tun, oder auch damit, daß der Himmel am Ende wie eine Buchrolle sich aufrollen wird, und hängt es damit zusammen, daß ihre Botschaft nicht niedergeschrieben werden durfte?)
    Der übermächtige Rachetrieb im Nachkriegsdeutschland, der die Politik, das Recht, aber auch die privaten Verhältnisse durchsetzt, gründet in den Racheängsten nach Auschwitz. Die Kollektivscham hat die Kollektivschuld nicht aufgelöst, sondern stabilisiert und zugleich verdrängt. Durch Transformation in die Kollektivscham ist die Kollektivschuld unauflösbar geworden.
    Läßt sich nicht an dem Thalesschen „Alles ist Wasser“ die Beziehung von Selbstreflektion und Vergegenständlichung sich demonstrieren. Was bei Aristoteles aus diesem Satz geworden ist, ist bereits ein Produkt der Veranderung der Thalesschen Intention.
    Den Positivismus aus dem Gesetz der doppelten Negation ableiten.
    Im Begriff des Notwendigen bezeichnet die Not eher das Subjekt als das Objekt des Wendens.
    Drückt nicht das Moment der Abwehr in der Habermasschen Philosophie aufs deutlichste in der Irrationalisierung der Mimesis (im Nachwort zur Neupublikation der Dialektik der Aufklärung) sich aus (hier prallt der Habermassche Gedanke von der Härte des unreflektierbar gewordenen Raumes ab)?
    Newtons Theorie des absoluten Raumes war darin begründet, daß die Drehung des Raumes um eine seiner Achsen zwar die Form des Raumes, nicht aber die Bewegungen in ihm, unberührt läßt. Das Relativitätsprinzip gilt nur für Translationsbewegungen (für geradlinig gleichförmige Bewegungen), nicht für Rotationen. Ein ruhender Körper in einem um eine seiner Achse rotierenden Raum läßt sich von der Kreisbewegung eines Objekts in einem ruhenden Raum durch das Auftreten von Zentrifugalkräften (in denen die Inertialkräfte sich manifestieren) unterscheiden. Reale kreisförmige Bewegung (wie die Planetenbewegungen im kopernikanischen System) sind in einem Inertialsystem nur möglich, wenn die Zentrifugalkräfte durch Gegenkräfte aufgehoben werden, die nicht auf Inertialkräfte sich zurückführen lassen (wie z.B. die Gravitationskräfte). Noch verwickelter werden die Probleme im Falle der Anwendung des Inertialsystems auf das Licht: Die Erscheinung der Fortpflanzung des Lichts im Raume zieht zwangsläufig (und keineswegs nur empirisch) den ganzen Formalismus der Elektrodynamik und der Mikrophysik (einschließlich des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit und der Paradoxien der Mikrophysik) nach sich: Das Inertialsystem verwandelt die Welt in die Totalität dessen, was der Fall ist.

  • 8.5.1995

    Die Grenzen zwischen Information, Unterhaltung und Reklame sind durchs Fernsehen fließend geworden.
    Auch die Ontologie ist eine Ethik, allerdings im Banne des Selbsterhaltungsprinzips und der zum Schicksal hypostasierten Sachzwänge. Für den Zuschauer ist das Schicksal zur Unterhaltung geworden.
    Sind nicht die Pflanzen aufs Licht und die Tiere auf den Sternenhimmel bezogen? So hängen der erste und der dritte, der vierte und der sechste Schöpfungstag zusammen. Aber wie verhält es sich dann mit dem zweiten und dem fünften Schöpfungstag, der Erschaffung der Feste des Himmels (und der Scheidung der oberen von den unteren Wassern) und der Erschaffung der großen Seetiere, der Fische und der Vögel des Himmels (U-Boot und Hai, Stuka und Adler)?
    Heiligung des Gottesnamens: Kritik ist das Feuer, durch das der Begriff hindurch muß, um zum Namen geläutert zu werden. Kritik ist das sprachliche Äquivalent des Feuers.
    Zu Hegels Dialektik von Herr und Knecht vgl.
    – Ulrich Sonnemanns Hölderlin-Rezeption in seinem Essay über das „Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten“ und
    – die biblische Konstellation von aufgedeckter Blöße und Knechtschaft in der Gestalt des Ham.
    Die Hegelsche Dialektik von Herr und Knecht bezieht sich auf den Prozeß der Vergesellschaftung von Herrschaft, nicht auf die Auflösung ihres Banns.
    Zum Brechen des Brotes (an dem die Jünger Ihn in Emmaus erkannten) vgl.
    – die symbolische Beziehung des Brotes zur Barmherzigkeit,
    – die „wunderbaren Brotvermehrungen“ und
    – das Eucharistiesymbol, das heute, in der vollends verdinglichten Welt, zu Protest geht.
    Ist nicht die spezielle Relativitätstheorie (das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit) ein Beitrag zur Lösung des Rätsels der Physik, die allgemeine Relativitätstheorie hingegen ein Hinweis auf die Unmöglichkeit der Lösung: der realsymbolische Ausdruck der Unmöglichkeit der Lösung ist das Objekt dieser Theorie selber: die Schwere.
    Gehören zu dieser „Unmöglichkeit“ nicht die Worte: „Weiche von mir Satan, deine Gedanken sind Menschen-, nicht Gottesgedanken“ (Mt 1622); „bei den Menschen ist dies unmöglich, bei Gott aber sind alle Dinge möglich“ (1926)? Ist das Objekt der Theologie heute nicht generell das Unmögliche eher als das, was Georg Lukacs einmal mit der Kategorie des objektiv Möglichen zu fassen versuchte: Nur wer die Last auf sich nimmt, befreit sich von ihr; aber ist nicht genau das das Unmögliche, auf das sich das Schriftwort bezieht?
    Wie hängt der Schatten, über den niemand springen kann, mit der Schwere zusammen, die niemand aufheben kann? Vgl. Jes 457: „der ich das Licht bilde und die Finsternis schaffe, der ich Heil wirke und Unheil schaffe, ich bin’s, der Herr, der dies alles wirkt“.
    Posaunen des jüngsten Gerichts: Edgar Morins Hinweis, daß die Musik im Film die bewegten Bildern aus ihrer flächenhaften Abstraktheit befreit, ihnen Leben, Tiefe und Gewicht verleiht, findet seine Ergänzung in einer Bemerkung Spenglers, wonach in der modernen („faustischen“) Kultur Musik die Stelle einnimmt, die in der antiken („apollinischen“) Welt die Statue einnahm. Wie der antike Tempel für die Statue, das Götterbild, gebaut wurde, so die moderne Kirche für die Musik, die sie erfüllen sollte. Hat nicht die Musik die Aufgabe übernommen, als Schutz vor dem horror vacui den leeren Raum (die Labor- und Experimentierwelt des newtonschen Kosmos) mit der Erinnerung an das aus ihm ausgeschlossene Leben zu erfüllen? – Welches Bedürfnis drückt in der allgegenwärtigen Musik heute sich aus, und vor allem: wie drückt dieses Bedürfnis in dieser Musik selber sich aus? Handelt es sich nicht erstmals um eine Musik, die nicht nur mehr den räumlichen, sondern auch den zeitlichen horror vacui vertreiben soll? (Seit wann gibt es den „Zeitvertreib“, das Wort und die Sache?) Welche Löcher müssen heute durch das allgegenwärtige Angebot an Unterhaltung gestopft werden?
    Menetekel: Nimmt die Kunst wirklich dem Leben die Schwere? Gilt das „gezählt, gewogen und zu leicht befunden“ nicht für die der Ästhetik in jeder ihrer Manifestationen zugrunde liegenden Abstraktion von der Schwere (die die genetische Beziehung der Kunst zum Mythos begründet)?

  • 28.4.1995

    Auch: Das tun die Andern doch auch; was andere können, wirst du doch auch wohl können; ich auch. Die Reflexion auf den anderen, die in dem Wörtchen „auch“ drinsteckt, gehört zu den Implikationen des Weltbegriffs. Es ist die Logik des „außengeleiteten Charakters“, die in politischem Zusammenhang das Gewissen durch das Ausland (oder die Geschichte) ersetzt. Ist das „auch“ nicht der Statthalter des Inertialsystems in der Sprache? Wie steht es überhaupt mit jenen Sprachpartikeln, die als logische Partikel fungieren, zu denen neben Und und Oder das Sowohl-als-auch und das Ohnehin gehören.
    Kritik der Informatik als Gesellschaftskritik: Verweist nicht die Schwierigkeit, Computerprogramme in Gebrauchsanweisungen zu erklären, auf einen Mangel in den Programmen selber? Gleichen diese Schwierigkeiten nicht den Problemen, die heute bei der Formulierung von Rechts- und Verwaltungstexten (Gesetzen, Verordnungen, Richtlinien, behördlichen Formularen) auftreten? Hängen diese Probleme damit zusammen, daß in der Technik wie in der Gesellschaft die Beziehungen zwischen Intention und Resultat, Ziel und Nebenwirkungen, immer undurchschaubarer werden? Der Rückzug auf den Positivismus löst das Problem nur subjektiv (er schafft zur unzulänglichen Tat das gute Gewissen), nicht objektiv, er verschärft es nur.
    Heute eine Meldung in der FR: Der Asylantrag eines russischen Offiziers, der sich geweigert hat, am Tschetschenien-Krieg teilzunehmen, und dem in seiner Heimat wegen Desertation die Todesstrafe droht, ist abgelehnt worden. Nach diesem Rechtsverständnis sind Bürger Leibeigene ihres Staates, hat der Staat ein Eigentumsrecht an seinen Bürgern, das ihm ein anderes Land auch im Rahmen des Asylrechts nicht streitig machen darf.
    Kritik des Personbegriffs: Der Personbegriff hat sich erst im Kontext der staatlichen Organisation einer Gesellschaft von Privateigentümern konstituiert; er bezeichnet genau diesen Sachverhalt: die Eigentumsfähigkeit, durch die er in die staatlichen Institutionen eingebunden wird (nur deshalb gibt es juristische Personen, nach Scheler auch Gesamtpersonen). Wenn der Personbegriff (beispielsweise im Kontext der christlichen Mission) auch auf Menschen in nicht staatlich organisierten Gemeinschaften angewandt wurde, war das nicht schon ein erster fundamentaler Akt zur Vorbereitung der kolonialistischen Unterwerfung (ihrer Eingliederung in staatliche Strukturen)? Vor allem aber: Hat nicht die Einführung des Personbegriffs in die (lateinische) Trinitätslehre durch Tertullian der christlichen Theologie die entscheidende Wendung gegeben, durch die sie fähig wurde, zur Legitimationsgrundlage des Römischen Reiches zu werden? Hat nicht die Theologie mit der Rezeption des Personbegriffs sich selbst in die Eigentumsstrukturen verstrickt, die es dem Staat ermöglichten, ein Eigentumsrecht an der Theologie zu erwerben? Mit der Rezeption des Personbegriffs ist der Idee der Heiligung des Gottesnamens der Grund entzogen, ist die Idee des Namens (und damit der Gotteserkenntnis selber) entwurzelt worden, hat die Theologie sich dem Zugriff des Begriffs preisgegeben. Der Personbegriff hat die Kraft des Namens gelöscht.
    Müssen nicht die Tiersymbole der Apokalypse (der Drache, das Tier aus dem Meer und das Tier vom Lande) auch auf die Trinitätslehre bezogen werden (das Tier vom Lande, das zwei Hörner hat wie das Lamm und redet wie der Drache, der falsche Prophet, ist eine offenkundige Parodie des Heiligen Geistes)?
    Drückt in dem Hegelschen Satz, daß die Natur den Begriff nicht halten kann, nicht etwas von der Logik sich aus, die der symbolischen Tierkonstellation in der Apokalypse zugrunde liegt? Wenn die Natur den Begriff nicht halten kann, so ist das eine Folge des Zirkels, in den die Vorstellung, daß die Idee die Natur frei aus sich entläßt, sich verstrickt. Natur und Idee konstituieren sich, indem sie sich gegenseitig ausschließen: Deshalb vermag weder die Idee die Natur aus sich zu entlassen, noch die Natur den Begriff in sich zu halten; beide, Natur und Begriff (oder Idee), sind durch die Urteilsform vermittelt, ihre Geltung reicht soweit wie die Erkenntniskraft des Urteils, unabhängig davon haben sie keine Bedeutung. Kann es sein, daß die zum Drachen hinzutretenden Tiere als symbolische Repräsentanten des Urteils (und damit des Weltbegriffs) sich begreifen lassen?
    Hängt das Buch Hiob mit dem Buch Jona nicht insofern zusammen, als beide nicht auf jüdische, sondern auf Verhältnisse in der Völkerwelt sich beziehen: Der prophetische Auftrag des Jonas ist an Ninive gerichtet, und Hiob war ein Mann aus Uz. (Was bedeutet es, daß Hiob zusammen mit Noah und Daniel bei Ezechiel – 1414+20 – genannt wird?) Im Buch Hiob erscheinen erstmals die beiden Tiere (Behemoth und Leviathan); im Buch Jonas ruft der König auch die Tiere (die Rinder und Schafe) zur Buße auf, und Gott begründet sein Erbarmen gegen Ninive u.a. mit dem Hinweis auf „so viel Vieh“.
    Zu Jona: Hat Tarschisch nicht doch etwas mit Tarsos, dem Geburtsort des Paulus, zu tun?
    Wenn der Fisch etwas mit dem Schiff zu tun hat (die beide durch Umkehrung aufeinander sich beziehen lassen), hat dann auch das Schaffen etwas mit dem Faschismus zu tun (und das bara mit dem arab)?
    Ist der Ismael ein Israel ohne Isaak (ohne die Konstellation von Schrecken, Lachen und Akeda)? – Ist die arabische Schrift eine Sternschrift?
    Erinnert nicht der Hinweis Edgar Morins, daß die Musik dem Film Tiefe, Plastik und Materialität verleiht, an eine Bemerkung Spenglers, daß die Musik in der modernen Welt die Stelle einnimmt, die in der alten Welt die Skulpturen, die Statuen innehatten? War nicht schon das kopernikanische System eine dramatische Konzeption für eine Guckkastenbühne, deren Wände der Fixsternhimmel bildete: Produkt einer Ästhetisierung der Welt? Und hat diese Ästhetisierung nicht im politischen Faschismus, der das Produkt einer Inszenierung und eigentlich ein Film war, sich vollendet? Welche Bedeutung hat dann heute die allgegenwärtige Musik (und was drückt in ihr sich aus)?
    Verweist nicht der kantische Begriff der Erscheinung (vor dem Hintergrund der transzendentalen Ästhetik, die das Reich der Erscheinungen begründet) auf die Ästhetisierung der gesamten Wirklichkeit? Nicht erst die mathematischen Naturwissenschaften, sondern schon ihr Vorläufer, die Orthodoxie, hat die Wahrheit durch das Verhältnis von richtig und falsch ersetzt: Indiz der vollständigen Ästhetisierung der Theologie. Die Orthodoxie war das Produkt der Monologisierung der Theologie, ihrer Subsumtion unter die Logik der Schrift. Sie hat die Theologie gegen das „Heute, wenn ihr Seine Stimme hört“ immunisiert.
    Die Apokalypse ist eine Gesellschaftstheorie; sie gehört zur Geschichte der Logik der Schrift: So wie auch die Passion Jesu, zu der das „damit die Schrift erfüllt werde“ (in dem Gespräch auf dem Weg nach Emmaus und und in der Belehrung des äthiopischen Eunuchen durch Philippus) gehört.
    Ist nicht der Unterschied zwischen dem „et sanabitur anima mea“ im „Domine, non sum dignus“ und seiner deutschen Übersetzung „so wird meine Seele gesund“ der Unterschied ums Ganze? Hier liegt das finstere Geheimnis einer durch die Bekenntnislogik verhexten Erlösungslehre: Das sanabitur verweist aufs Hören des Worts, das Gesunden auf einen magischen Akt. Der Bann wird erst gesprengt, wenn der Gehorsam, den alle Kirchen fordern, durchs Hören gelöst wird.
    Daß Primo Levi, Jean Amery und Paul Celan Selbstmord begangen haben, sagt etwas über den Stand der Prophetie heute.

  • 13.4.1995

    Im Kontext ihrer Beziehung zum Licht ist die Scham ein sprachliches, dialogisches Phänomen. Sie gehört zur Logik der Rechtfertigung (und hat die Abstraktion von der Intention auf Änderung zur Grundlage). Scham ist herrschaftsbegründend und -stabilisierend.
    Die Gravitationstheorie hat den Himmel zum Verschwinden gebracht, die Elektrodynamik das Licht.
    Wenn der Ort die äußere Begrenzung eines Körpers ist, dann ist die spezielle Relativitätstheorie Einsteins der Ort des Lichts.
    Die Äquivalenz von Masse und Energie ist der Reflex des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit in der Materie.
    Horror vacui: Das Vakuum ist die Parodie des Lichts.
    Hodie, si vocem eius audieritis. Liegt darin nicht die Erinnerung an den Satz: Und Gott sprach: Die Erde bringe hervor …? Wie hier die Erde „Seine Stimme hört“, so sollen wir es heute (deshalb ist der Mensch aus Erde geformt: Adam). Der Himmel und die Meere, die nichts selber hervorbringen, sondern nur als Medien begriffen werden, in die hinein Gott die großen Seetiere, die Fische und die Vögel des Himmels erschafft, sind nicht fähig (würdig?), „Seine Stimme zu hören“. Die Sterne hat Er gemacht und an die Feste des Himmels geheftet.
    Die Eliminierung des teleologischen Moments aus dem Begriff der Erkenntnis hat ihren Ursprung in der Enttäuschung der Parusie-Erwartung, in der Hellenisierung der Theologie, in der Geschichte des Ursprungs des Dogmas. Sie war in ihrem Ursprung ein Reflex des Caesarismus in der Theologie.
    Was bedeutet es für das Verhältnis der Sprache zur Welt, wenn heute „rein sachliche“ Erörterungen auf Empfindlichkeiten treffen und als Beleidigung erfahren werden können? Ist hier nicht ein Problem angezeigt, das nur noch durch die Hereinnahme von Joh 129 ins Nachfolgegebot sich lösen läßt? Es ist der Zustand der Welt selber, der die Rechtfertigungszwänge begründet, unter denen die Menschen heute stehen, Folge der Unfähigkeit, das anklagende Prinzip, das die Welt durchherrscht, zu begreifen. „Wenn die Welt euch haßt“: Das bezieht sich nicht mehr nur auf die Lieblosigkeit einzelner, sondern auf die innere, durch den Zustand der Welt selber determinierte Verfassung der Sprache heute.
    Die Bekenntnislogik ist eine Scham-Bedeckungs-Logik (die Logik des Feigenblatts).
    Ist nicht die Kollektivscham der Kern und das Prinzip des Tiers? (Ist nicht die Tiergattung ein Produkt einer „ursprünglichen“ Kollektivscham? Und sind die Tiere nicht durch eine Art Scham in die Gattung gebannt? Diese Gattungsscham, die auf eine genetische Beziehung des Tiers zum Licht verweist, ist der Grund der Unfähigkeit, die Welt zu reflektieren, aus ihrem Bann herauszutreten.)
    Auch der Ausdruck „Etwas mit gleicher Münze heimzahlen“ gehört zu den Konnotationen des Tauschprinzips.
    Kanthers Vorschläge zur Reform des öffentlichen Dienstes:
    – Leistungszulagen setzen ein Beurteilungswesen (mit entsprechenden Ermessensfreiräumen) voraus, das den ohnehin paranoischen Zustand der Verwaltungen weiter fördern wird. Keiner der von der Gewährung der Zulagen Ausgeschlossenen (und das dürfte die Mehrheit sein), der nicht anfällig wäre für den Verdacht, hier würden andere Dinge honoriert als Leistung. Angeheizt werden Konkurrenzdruck, Neid, Gerede, Mobbing, insgesamt ein Betriebsklima, das alles mögliche fördern mag, nur nicht Leistung. Leistungszulagen, die nicht an objektive, nachprüfbare Kriterien gebunden sind, sind Öl ins Feuer der Paranoia. Und ausbaden muß es das Gemeinwesen, das möglicherweise diese innere moralische Korruption der Verwaltung für die Lösung der Probleme hält, die sie eben damit hervorbringt und verschärft.
    – Das Instrumentarium, das Kanther vorschlägt, scheint eher eines der Disziplinierung als eines zur Förderung der Leistung zu sein (es paßt in den Zusammenhang des Konzepts der Privatisierung öffentlicher Einrichtungen wie die Faust aufs Auge). Es befördert die Radfahrermentalität, mit absehbaren Folgen nach innen wie nach außen. Aber war von einem Mann wie Kanther etwas anderes zu erwarten? Geht es ihm nicht ohnehin mehr um die Außenwirkung, um den Eindruck, den er damit bei seinen Anhängern macht, als um eine produktive und konstruktive Veränderung? Hier scheint der Punkt erreicht, an dem es nicht mehr darum geht, ob eine Maßnahme dem angestrebten Ziel angemessen ist und greift, sondern nur noch darum, daß sie bei denen, die ohnehin glauben, Beamte seien Faulenzer, sie lebten von „unsern Steuergeldern“ und ließen sich nur ungern in ihrem Büroschlaf stören, den Eindruck erweckt: Hier greift einer durch.
    Andreas und Philippus: Die Bedeutung des Namens Philippus liegt offen: Sie liegt in der Tradition des Makedoniers Philippos, der der Vater des großen Alexander war, dessen Taten vorbereitet hatte. Aber worauf bezieht sich der Name Andreas (Bruder des Simon Petrus)?
    Wirft es nicht ein Licht auf die Bedeutung sowohl der Musik als auch der Dreidimensionalität des Raumes, wenn Edgar Morin zufolge die Musik im Film primär die Aufgabe hat, das flächenhafte bewegte Bild zu verräumlichen, ihm den Schein der Tiefe und des Gewichts: des Plastischen, Dreidimensionalen, Körperlichen, der Materialität zu geben? Ebenso wichtig ist eine zweite Wahrnehmung Edgar Morins: Der Schein der Realtität wird im Zuschauer fundiert und verstärkt durch das Arrangement des Zuschauens, die ihn in eine Situation bringt, die den Trieb, in die Handlung einzugreifen, schon im Keim erstickt. Mit seiner Ohnmacht aber werden die Quellen des Selbstmitleids (des Sentiments) und der Identifikation eröffnet und gefördert. Durch die Reduzierung seiner Handlungsfähigkeit aufs Weinen und Lachen wird er – wie der Rohstoff in den Prozeß der industriellen Produktion – als passives Objekt (als träge Masse) in die Handlung mit hereingezogen, die ihn, ohne daß er eine Chance hätte, sich dessen bewußt zu werden, verändert, für den Zustand der Welt, in dem es das Kino gibt, konditioniert.
    Durch die Verinnerlichung der Scham und durchs Selbstmitleid – die beide auf die Ursprungsgeschichte der modernen Naturwissenschaften zurückweisen – ist das moderne Drama (und in seiner Folge der Film) zum Liebesdrama geworden, während die antike Tragödie an die Sphäre des Gerichts gebunden war. Aber ist nicht das Liebesdrama das Produkt der Subsumtion der Liebe (der Barmherzigkeit) unters Gericht (bedingt durch das Verhältnis des Gerichts zur Form der Anschauung)? Und rührt nicht daher seine Affinität zur Hysterie?
    Schuldig wird man durchs Urteil der Andern, die man im Schuldgefühl als Richter anerkennt: schuldig wird man im Anblick der Welt. Sündig wird man durch die Tat: durch die Verletzung des göttlichen Gebots; sündig wird man im Angesicht Gottes. Im Anfang der Sünde steht die Tat. Und die „Sünde der Welt“ bezeichnet die weltbegründende Tat Adams, in deren Bann wir so lange stehen, wie wir unfähig sind, sie auf uns zu nehmen.
    Die Fichtesche Tathandlung begründet den Ursprung der modernen Ontologie.
    Im Ursprung der Welt steht die Tat, aber das Wort entspringt dort, wo „das Lamm“ (und in seiner Nachfolge die Menschen) diese „Sünde der Welt“ auf sich nimmt. Dieses Lamm ist „würdig, die sieben Siegel zu lösen“ (und hatte die Kraft, Maria Magdalena von den sieben unreinen Geistern zu befreien).

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