Naturwissenschaft

  • 20.12.1996

    Der Satz, daß Gott ins Herz der Menschen sieht, ist identisch mit dem andern, daß er barmherzig ist.
    „Der Sinn ‚Gottes‘ ist die solidarische Gesellschaft“ (Ton Veerkamp, S. 99): Aber schließt das nicht auch die Vergangenheit mit ein: die Solidarität mit den Toten? Gilt nicht Horkheimers Satz immer noch: Wie kann auf diesem riesigen Leichenberg, auf dem wir leben, je eine richtige Gesellschaft errichtet werden?
    Nach Jer 423 entspricht der Erde das tohuwabohu, dem Himmel die Finsternis über dem Abgrund. Licht und Finsternis sind wie Wasser und Feuer Kategorien des Himmels, Kategorien der Reflexion des Himmels im Medium der Sprache. Im Kontext der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gibt es die Unterscheidung zwischen Licht und Finsternis nicht mehr. „Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 514, vgl. Joh 812).
    Erinnert nicht Ton Veerkamps Begriff der Weltordnung an den Habermas’schen „herrschaftsfreien Diskurs“? Es ist nicht nur eine Sache der freien Entscheidung, ob man sich für eine andere Weltordnung oder für den herrschaftsfreien Diskurs einsetzt. Es gibt neben der bestehenden Welt keine andere Weltordnung, die nicht durch die Reflexion dieser bestehenden Welt vermittelt wäre, und ebenso gibt es keinen herrschaftsfreien Diskurs, der nicht der Reflexion von Herrschaft bedürfte, um den Diskurs aus dem Bann der Herrschaft zu lösen.
    Mit der Marx’schen Kritik des deutschen Idealismus ist der Geist nicht erledigt. Marx hat Hegel nicht in dem Sinne widerlegt, daß man sich danach nicht mehr mit ihm zu befassen brauche. Er hat ihn „vom Kopf auf die Füße gestellt“: Seine Kritik war ein Akt der Umkehr.
    Der Weltbegriff ist der Inbegriff einer Eigentumsordnung, die vom individuellen Eigentümer abstrahiert, und deren Urheber der Staat, das Organisationsprinzip einer Gesellschaft von Privateigentümern, ist.
    Was ihr auf Erden lösen werdet, wird auch im Himmel gelöst sein: Hat das nicht etwas mit der Welt zu tun, mit dem Knoten, den Alexander nur durchschlagen, nicht gelöst hat?
    Die Welt ist der Inbegriff einer apriorischen Logik, die uns die Erfahrung abnimmt.
    Wenn der Ursprung des Weltbegriffs zivilisationsbegründend war, dann war Auschwitz der Zivilisationsbruch, in dem die Welt untergegangen ist.
    Verstand und Einsicht: Während die Einsicht auf die Erkenntnis des Herzens, des Organs der Barmherzigkeit, sich bezieht, bezieht sich der Verstand auf das Auge, das Organ des Urteils, des Gerichts.
    Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren: Als sie erkannten, daß sie nackt waren, haben sie gelernt, sich in den Augen der Andern wahrzunehmen. Dagegen steht der Satz, daß Gott ins Herz der Menschen sieht (auch dieser Satz steht im Imperativ, nicht im Indikativ).
    Das „Bedecken der Sünde“ hat etwas mit der Vergangenheit und mit der „Erinnerungsarbeit“ zu tun: mit der öffentlichen Reflexion der Kräfte der Vergangenheit, die so ihre anwachsend nachtragende Macht über uns verlieren, deren Bann über uns nur so gebrochen werden kann. Die Sünde ist dieser Bann, der das Licht der Reflexion nicht aushält, nicht erträgt.
    Läßt der „Zentralbank-Kult“ (Edward Luttwak in Lettre Nr. 35, IV/96, S. 8ff) als ein zwangslogischer Versuch, das kopernikanische System politisch-ökonomisch nachzubilden, sich verstehen? Die Finsternis über dem Abgrund ist das gesellschaftliche Äquivalent des kosmischen tohuwabohu.
    Hegels logische Korrespondenz von Ich und Ding läßt sich näher bestimmen, wenn man das Ding als Ware begreift und das Ich als Reflexionsform der Warenform.

  • 19.12.1996

    Objekte sind ausländisch: Jede Landesgrenze ist eine Verurteilungs- und Schuldgremze.
    Ton Veerkamp: Der erste Johannesbrief (TuK Nr 71/72):
    – „Raffgier“ (S. 45) antisemitisch?
    – Sprache und Inertialsystem: Ist die Sprache Bubers (und in der Folge die Ton Veerkamps) nicht eine Konsequenz aus der Anerkennung der Herrschaftslogik, die vom Inertialsystem nicht zu trennen ist? Folge: Unschuldstrieb (nicht Sünde, sondern Schuld – „Verfehlung“, „sich daneben benehmen“ (S. 65) – als Maßstab)
    . „Huld“/Barmherzigkeit (s.o.); „Bewährung“/Gerechtigkeit; „Weltordnung“/Welt; „Solidarität“/Liebe,
    . 68er Desiderat: affirmativer Gebrauch des Begriffs der Ideologie („falsches Bewußtsein“ nicht reflektiv, sondern nur als Waffe),
    . „klare politische Linie“, „unbedingte Ablehnung“, „kompromißlos“ (S. 66/88),
    . „wie ‚Gott‘ geschieht“ (vgl. „wie Gott funktioniert“ – in: Vernichtung des Baal): Ästhetisierung/Historisierung,
    . Tribut gezollt (nicht „gewährt“, S. 91): Tribut nur im „Ausland“, in unterworfenen Völkern, Einfuhrzoll für das Recht der Existenz unter der Besatzungsmacht,
    . „Bekenntnis zu“ (S. 85), Problem der Bekenntnislogik (dagegen: Bekenntnis des Namens),
    . Opfertheologie: „barbarischer Unsinn“ (S. 75) – reflektieren, nicht verdammen; Verurteilung, Feindbildlogik und Xenophobie („barbarisch“),
    . „Inspiration“/Geist: daß mit der Marx’schen Widerlegung der idealistischen Systeme der Name des Geistes obsolet geworden ist, ist wahr und unwahr zugleich.
    – Problemkreis Antichrist/Apokalypse/Antijudaismus (S. 52)?
    Verweist der Übergang vom hebräischen Satan auf den griechischen diabolos nicht auf einen Fortschritt, liegt dazwischen nicht der Weltbegriff, verweist die logische Figur des diabolos nicht darauf, daß das Satanische, das Prinzip der Anklage (der Verurteilung), in die Struktur der Welt mit eingegangen ist, ja eigentlich sie begründet? Deshalb gibt es im NT (und in der Folge davon in den Weltreligionen) Dämonen. Die Idee der creatio mundi ex nihilo ersetzt die Schöpfung durch einen Abstraktionsprozeß.
    Ton Veerkamps Begriff der „Weltordnung“ macht etwas deutlicher, aber zugleich verwischt es auch etwas. Es ersetzt die im Anblick von Rom notwendige Kraft der Reflexion (des Weltbegriffs) durch ein praktikables Feindbild. Auch diese Vergangenheit ist nicht vergangen. Wer seinen Hegel kennt, weiß, daß Begriffs- und Herrschaftsgeschichte so mit einander verflochten sind, daß sich das eine vom andern nicht mehr ablösen läßt. Die Größe der Gefahr, die Rom verkörpert, wird erst sichtbar im Licht des Weltbegriffs. Der Begriff der „Weltordnung“, der diese Gefahr zum Feindbild verdichtet, ist schon Produkt einer Verharmlosung.
    Wird nicht, wenn man den Namen der Liebe durch den Begriff der Solidarität ersetzt, das Entscheidende herausdefiniert? Solidarität steht schon unter dem Gesetz der Instrumentalisierung (Liebe ist auch instrumentalisierbar: dagegen richtet sich der Rat der Keuschheit).
    Steckt nicht in der Praxis der Geldschöpfung, der Kreditschöpfung durch die Banken ein astronomiekritisches Potential (Grund der Beziehung des Begriffs der creatio mundi ex nihilo zur Ursprungsgeschichte des Staates, zur Ursprungsgeschichte des Gewaltmonopols des Staates)?
    Die Idee der Barmherzigkeit enthält das Potential einer Kritik der Transzendentalphilosophie, sie vermag insbesondere die Stellung und Bedeutung der transzendentalen Ästhetik in der Transzendentalphilosophie endgültig aufzuklären. Die Sprengung des Begriffs gründet in der Sprengung der ästhetischen Grundlagen des Begriffs (in der Beziehung des Begriffs zu den Formen der Anschauung, der Schaubühne unserer subjektiven Vorstellungen, unserer Vorstellungen von Natur und Geschichte).
    Gründet nicht die politische Theologie in der Unfähigkeit zur Reflexion des Urteils (in der Vertauschung und Verwechslung von Subjekt und Prädikat), und verbindet das nicht deren gegenwärtige Verkörperungen mit ihrer Ursprungsgestalt in der politischen Theologie Carl Schmitts? Gilt das Freund-Feind-Paradigma nicht auch für die nachfolgenden (nachfaschistischen) Konstrukte? Das Problem der politischen Theologie gleicht dem der naturwissenschaftlichen Astronomie: Sie macht das Ungleichnamige gleichnamig, indem sie die Sphäre der Herrschaft mit der theologischen in eins setzt. Sie rührt an das Problem, das Derrida fast schon denunziatorisch an Benjamins „Kritik der Gewalt“ glaubte gesehen zu haben: an das Problem der Ununterscheidbarkeit des Holocaust von der göttlichen Gewalt.
    DIE BANK GEWINNT IMMER: Es gibt keine Chance, mit politischen Mitteln die Beziehung von oben und unten umzukehren; man kann nur die Personen austauschen, aber nicht die Strukturen ändern: und das hilft nicht viel. Die Beziehung von oben und unten unterscheidet sich von den anderen Richtungsbeziehungen dadurch, daß sie irreversibel ist. Die einzige Chance benennt Jakobus: Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht. Der Name der Barmherzigkeit aber ist der des Geistes.
    Die Folgen der Ersetzung des Begriffs der Gerechtigkeit durch den der Bewährung, der ihn in einen autoritären Grund verpflanzt, läßt sich an dem Satz Horkheimers prüfen: Ein Richter, der in einen Angeklagten nicht mehr sich hineinversetzen kann, kann kein gerechtes Urteil mehr fällen. Wer den Begriff der Gerechtigkeit durch den der Bewährung ersetzt, begibt sich der Möglichkeit der Rechtskritik (die zu den zentralen Gegenständen der Prophetie gehört). Er kann Recht und Gerechtigkeit (Links und Rechts) nicht mehr unterscheiden.

  • 16.12.1996

    „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“: Die Bekenntnislogik war das Instrument der Auflösung des Naturbegriffs durch eine Zwangsreflexion, die durch die Opfertheologie (und durch die Geschichte des Weltbegriffs, in der diese gründet) vermittelt ist. Die Bekenntnislogik reflektiert einen Bekenntnisbegriff, der seinem Ursprung im Schuldbekenntnis hat, aus ihm durch ihm durch eine systematische logische Umkehrung hervorgegangen ist (sic, B.H.). In der Bekenntnislogik wird das Schuldbekenntnis, das auf die Fähigkeit zur Schuldreflexion als Selbstreflexion sich gründet, zum Fremdbekenntnis, zum Schuldverschubsystem, zu einem systematischen Instrument der Abwehr, Verschiebung und Projektion. Es ist die gleiche Umkehr, die bei Kant das Verhältnis von reflektierendem und bestimmendem Urteil in der Sache bestimmt (das Instrument dieser Umkehr ist die transzendentale Ästhetik, sind die subjektiven Formen der Anschauung und in ihnen die durch Orthogonalität und Reversibilität definierten Beziehungen der Richtungen im Raum, die das Ungleichnamige gleichnamig machen). Zu den Wirkungen der Bekenntnislogik (aus denen ihre Ursprungsgeschichte sich ablesen läßt) gehört die Selbstzerstörung der an die Sprache gebundenen Sensibilität, die sie durch Empfindlichkeit ersetzt. Die Empfindlichkeit (die insgesamt pathologisch ist) gründet im Rechtfertigungszwang, der selber als Umkehrung der Fähigkeit zur Schuldreflexion, als Produkt der Verdrängung und Unterdrückung dieser Fähigkeit, sich begreifen läßt. Im Kontext dieses Rechtfertigungszwangs gründet eine Logik, unter deren Bann die Differenz zwischen Verstehen und Verzeihen sich verwischt, unkenntlich wird: die Logik der Verurteilung (die dem Satz „Alles verstehen heißt alles verzeihen“ zugrundeliegt). So bleibt Auschwitz unter moralischem Apriori „unverständlich“, während das, was hier geschehen ist, ohne daß das an dem Urteil über das Grauenhafte etwas ändert, unter den Prämissen der Schuldreflexion (die durch den Weltbegriff außer Kraft gesetzt werden) sehr wohl sich verstehen läßt.
    (Hierzu:
    – Verurteilung des Nationalsozialismus ohne Reflexion des Schreckens nicht möglich;
    – Reflexion des Schreckens und Reflexion der subjektiven Formen der Anschauung;
    – Schuldverschubsystem, „Entsühnung der Welt“, Entlastung und Enthemmung, das Problem des Strafrechts und die Ohrenbeichte, Kirche und Staat als Produkte der Vergesellschaftung des Opfers und der Rache;
    – das Dogma, die Orthodoxie, das Geld, das Inertialsystem und die Logik der Verurteilung, des Schuldverschubsystems;
    – das Gebot der Feindesliebe und der imperativische Gehalt der Attribute Gottes;
    – die Astronomie und der Name des Himmels.)
    Das Problem der Bekenntnislogik ist ein lateinisches (und in der Folge dann ein deutsches) Problem. Die confessio ist ein halbiertes homologein. Sie unterscheidet sich wie das Bekenntnis vom homologein durch die Abstraktion von der Nachfolge (dem christlichen Äquivalent der Umkehr). Augustinus‘ Confessiones stellen dann die Beziehung zum „Sündenbekenntnis“, zur Schuld, her. Das homologein ist als Name der Umkehr aufs zukünftige Handeln bezogen, die confessio aufs vergangene, auf die „Bekehrung“, deren Geschichte Augustinus in seinen Confessiones erzählt, am Ende nur noch auf den Taufakt. Die confessio hat das homologein der Herrschaftslogik unterworfen. Erst als Bekenntnis wird das Bekenntnis endgültig und unentrinnbar zu einem Instrument der Herrschaftslogik: Durch die Umkehr des Schuldbekenntnis im Glaubensbekenntnis bekenne ich die Schuld der Andern, die ich weder bekennen kann noch darf. Durchs Glaubensbekenntnis wird das Christentum zum Christentum für Andere, hat es sich selbst instrumentalisiert. Diese Logik der Instrumentalisierung, die in der Theologie sich entfaltet hat, ist dann zum Modell der naturwissenschaftlichen Aufklärung geworden.
    Die Bekenntnislogik reprodziert und stabilisiert die Gewalt des Begriffs, während die Nachfolge den Begriff zurückübersetzt in den Namen (die Blätter des Feigenbaums zurückübersetzt in die Frucht).
    Gewinnt die Tatsache, daß nach dem Ende der Märtyrerzeit die geschlechtsspezifische Aufteilung der Heiligen in (männliche) Bekenner und (weibliche) Jungfrauen erfolgt, im Kontext dieser Logik nicht eine ungeheure symbolische Bedeutung?
    Es gibt keinen Weltbegriff ohne das projektive (feindbildlogische) Moment, das in dem Namen der Barbaren erstmals sich ausdrückt. Dieses projektive Moment ist in der Bekenntnislogik zur logischen Automatik geronnen: Deshalb gehört zur Bekenntnislogik ein eliminatorischer Wahrheitsbegriff: das Feindbild, die Ausgrenzung der Verräter (der Häresien) und die Frauenverachtung.
    Sind nicht die Christen reflektierte Barbaren, und gehörte zur Rehellenisierung des Christentums nicht die erneute projektive Ableitung dieses Syndroms im Namen der Wilden (auch im Begriff der „rohen Natur“, die nur durch Bearbeitung zu humanisieren ist)?
    Wer mit dem Verurteilen das Verstehen tabuisiert, die Fähigkeit, auch ins Verurteilte noch sich hineinzuversetzen, unterdrückt, fördert die Barbarei, die aus dem Vorurteil folgt. Und diese Geschichte (die Geschichte des Vorurteils) hat angefangen in der Geschichte der Dogmas, im Kampf gegen die Häresien, die auch nur verurteilt, aber nie verstanden wurden. Wer heute eine transzendentale Logik schreiben wollte, müßte sie als Reflexion der Bekenntnislogik schreiben, ihr Ziel wäre eine Theorie des Antisemitismus, der Xenophobie und des Sexismus. Diese Reflexion könnte dann allerdings vor dem Naturbegriff nicht halt machen, sie würde ihn sprengen.
    Im Bekenntnisbegriff ist das Pharisäische zu einem Teil des logischen Systems und damit instrumentalisiert worden. Und die kirchliche Rezeption Pharisäer-Kritik, der Verurteilung der Pharisäer, gehörte zu den Grundlagen des Bekenntnisbegriffs. Das Symbol dieser Geschichte ist das biblische Symbol des Feigenbaums.
    Zur Logik der Verurteilung gehört Walter Benjamins These vom mythischen Charakter des Rechts, und es ist nun wirklich ungeheuerlich, daß es – soweit ich sehe – zu Derridas „Gesetzeskraft“, zu seinen Reflexionen zu Benjamins Kritik der Gewalt, aus dem Bereich der Frankfurter Schule keine Erwiderung gibt.
    Das Problem, die Geschichte der RAF zu verstehen, gehört in den Umkreis der Reflexion der Logik der Verurteilung (und der Bekenntnislogik). Die RAF ist in extremer und signifikanter Weise (für sich selbst wie für die staatliche Verfolgung) zum Opfer der Logik der Verurteilung geworden. An den RAF-Prozessen wäre nachzuweisen, daß das Problem RAF auf diesem Wege nicht zu lösen ist, es sei den über die Selbstzerstörung der Gesellschaft.
    Die Reflexion der Bekenntnislogik schließt die Revision der Geschichte der Aufklärung, die mit der Dialektik der Aufklärung begonnen wurde, mit ein.
    Die Bekenntnislogik und das Dogma sind Stabilisatoren der Rechtfertigungszwänge, die durch Reflexion aufzulösen wären.
    Der Satz „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet“ widerlegt die Bekenntnislogik, entzieht ihr die Grundlage.
    Die Logik der Verurteilung ist ein Sinnesimplikat der Geschichte des Begriffs. Deshalb ist die Weltgeschichte das Weltgericht. Und deshalb konnte Hegel diesen Schiller’schen Satz als Schlußstein seines Systems verwenden. – Aber dagegen steeht der Satz aus dem Jakobus-Brief: Die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht.
    Aufgabe einer Theologie heute wäre es, das Dogma zurückzuübersetzen in eine Theologie der Erfahrung, in eine Logik-Kritik, die eins wäre mit dem Konzept, die Theologie hinter dem Rücken Gottes zurückzuübersetzen in eine Theologie im Angesicht Gottes. Das wäre zunächst ein sprachlogisches Problem, in dem ein reales Problem sich verbirgt: das der Apokalypse. Hierzu hat Franz Rosenzweig die ersten Stichworte geliefert: der Name ist nicht Schall und Rauch, und das Problem des Gottesnamens ist gründet in dem logischen Problem des Namens überhaupt. Das logische Problem der Verurteilung ist in der Logik des Begriffs selber präsent in der Frage der Konstituierung des Objekts, in der die Identität des Begriffs gründet. Oder anders: Das Problem des Gottesnamens, das Ton Veerkamp zu Recht ins Zentrum seiner „Autonomie und Egalität“ gerückt hat, ist das Problem der Selbstreflexion des Nominalismus, das in der Philosophie als das Problem der Rettung Kants durch seine Hegel’sche Widerlegung hindurch sich beschreiben läßt. Die Logik selber verändert sich, sie wird mit der Reflexion der Logik der Verurteilung, ihres blinden Flecks (des blinden Flecks, in den allein die Prophetie Licht zu bringen vermag), selber zum Medium der Reflexion. Ein sprachlogisches Hilfskonstrukt der Logik der Verurteilung, das zur Ursprungsgeschichte der Philosophie (und zur Konstituierung des Naturbegriffs) gehört, war der Name der Barbaren. Durch ihn ist der Objektbegriff als Repräsentant des Verurteilten, in dem der Begriff des Begriffs gründet, vermittelt.
    Die Reflexion der Verurteilung ist ohne die Reflexion des naturwissenschaftlichen Erkenntnisbegriffs, in dem der Objektbegriff im Kontext seiner Konstituentien sich entfaltet, nicht mehr möglich. Deshalb ist das Kant-Studium immer noch unerläßlich.
    Die Fundamentalontologie ist der Statthalter des Fundamentalismus in der Philosophie. Merkwürdig, daß dieser Fundamentalismus, der einmal als weit folgenreicher sich erwiesen hat, weniger Widerstand hervorruft als der religiöse.
    Hat nicht der Satz „Seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben“ etwas mit dem Traum des Nebukadnezar zu tun? Ist nicht die Klugheit der Schlangen der Traum des Nebukadnezar? Oder anders: Ist nicht die Hegel’sche Philosophie einer der Verkörperungen sowohl der Klugheit der Schlangen als auch des Traums des Nebukadnezar, und war nicht Hegel ein halbierter Daniel, dem nur die Arglosigkeit der Tauben fehlte, um als ganzer Daniel den Traum seiner Philosophie auch deuten zu können?
    Die Instrumente der Subjektivierung (der Sinnesqualitäten, der Kritik und der Schuld) wird innerhalb der Gersamtzusammenhangs der transzendentalen Logiken repräsentiert durch die Form des Raumes, durch das Geld und durch die Bekenntnislogik, die das Subjekt in die Rechtfertigungszwänge und deren projektive Verarbeitung hineintreiben.
    Die Feindbildlogik transformiert die transzendentale Logik in die Urteilsmoral, sie verwandelt die Moral in eine Herrschaftsinstrument (in die Universalität einer Moral für andere).
    Das verteidigende Denken ist nicht nur auf Gesellschaftliches bezogen: Emitte spiritum tuum, et renovabis faciem terrae. Die Logik der Naturwissenschaften ist als reine Objektlogik die Logik der Verurteilung, einer Verurteilung, die heute dahin tendiert, das verteidigende Denken schon vom Grund her auszuschließen.
    Die Logik der Verurteilung ist die Logik des Vorteils, sie lebt von der Gewalt des Feindbildes.
    Der Staat reproduziert sich durch die Sanktionierung und Ausbeutung des Rachetriebs in der Institution des Rechts, während die Kirche sich über die Sanktionierung und Ausbeutung Unschuldtriebs reproduziert.
    Gab es in Israel Knäste (und waren die Schuldknechtschafts-Regelungen wie Sabbatjahr und Jubeljahr Institute zur Knastvermeidung)? Haben die Brunnen, in die Joseph und Jeremias geworfen wurden, etwas mit den Knästen zu tun?
    Die Landesgrenze ist wie jede Abstraktionsgrenze eine Verurteilungs- und Schuldgrenze.

  • 14.12.1996

    Ist nicht der erste Satz aus den Weltaltern, darin das „die Zukunft wird geahndet“, der Schlüssel zur Schelling’schen Naturphilosophilosophie? Hat nicht Habermas, der dann später die Idee einer Reflexion der Natur wie eine heiße Kartoffel hat fallen lassen, über Schelling promoviert?
    Sind nicht die kantischen Totalitätsbegriffe, Wissen, Natur und Welt, die Stützpunkte, an denen der mathematische Imperialismus seine Herrschaft über die Sprache in der Sprache selbst begründet und absichert? Und die subjektiven Formen der Anschauung sind sowohl das Sklavenhaus und der Eisenschmelzofen Ägypten als auch der Ort der babylonischen Gefangenschaft der Sprache.
    Als die Evangelien griechisch verfaßt wurden, als das Christentum seine eigene Schrift nachlieferte, ist das Wort, daß das Lamm die Sünde der Welt auf sich genommen hat, auf eine sehr ironische Weise wahrgemacht worden.
    Hat nicht die Verbalisierung des Tetragrammaton, gegen die der Name des Namens als außerordentlich keusch sich erweist, einen hämischen Klang? Ist vielleicht die gegenwärtige Gestalt des Atheismus in Deutschland eine Zuspitzung und Radikalisierung des „eliminatorischen“ Antisemitismus?
    Hegels Geschichte des Begriffs ist die Geschichte des Schuldverschubsystems, die Geschichte von Entlastung durch Projektion, deren logisches Zentrum der Staat ist. Die Begriffe Natur und Welt bezeichnen den Installationsapparat des Schuldverschubsystems; wer „die Sünde der Welt auf sich nimmt“, entzieht dem Naturbegriff den Grund (während die Idee der Entsühnung der Welt, die Vorstellung, die Sünde der Welt sei schon „hinweggenommen“, die Logik des Naturbegriffs stabilisiert).
    Wer den Exodus historisiert, in die Vergangenheit bannt, leugnet ihn. Wir leben immer noch im Sklavenhaus, im Eisenschmelzofen Mizrajim. Hat nicht die Eucharistie etwas mit den Fleischtöpfen Ägyptens zu tun? Erst vor diesem Hintergrund wird die Geschichte der ägyptischen Plagen und der Verhärtung des Herzens Pharaos aktuell und wichtig (einschließlich des Motivs, daß das Opfer, das das Volk Israel in der Wüste darbringen will, den Ägyptern ein Greuel ist).
    In der ganzen Schrift steckt etwas immer noch Unabgegoltenes. Nur mit dieser Einschränkung wird man sagen dürfen, daß in Geschichte Jesu die Prophetie sich erfüllt habe: Auch in dieser Erfüllung steckt noch etwas Unabgegoltenes.
    Es gibt nicht eine Vergangenheit, sondern es gibt Stufen der Vergangenheit: Der Hierarchiebegriff gilt allein für die Vergangenheit. War nicht die Astrologie das Bild, in dem diese Stufend der Vergangenheit erstmals wahrgenommen worden sind? Ebenso ist der Tod nicht ein einfacher Tatbestand, sondern auch er verkörpert sich in verschiedenen Gestalten. Und sind nicht die Grenzen der Astrologie Todesgrenzen? Das Ungeheuerliche der speziellen Relativitätstheorien liegt darin, daß sie die Richtungsabhängigkeit der Zeit, ihre innere Differenzierung erstmals aufs deutlichste kenntlich gemacht und der Vorstellung einer einheitlichen Zeit, die gleichwohl besteht, den logischen Grund entzogen haben: Die Vergangenheit ist nicht nur vergangen. Hier ist die Zeit erstmals reflexionsfähig geworden. Die Vorstellung des Zeitkontinuums, der Einheit der Zeit, ist der Grund der Orthogonalität des Raumes, des Grundes der Abstraktion. Ist vielleicht hierin (in dieser Beziehung zu den kantischen „subjektiven Formen der Anschauung“) die Lösung des Rätsels der Zahl 666 beschlossen?
    Das Inertialsystem ist das zerstörte Antlitz, der zerstörte Name und die Ursprungsgestalt des Feuers. Die Naturwissenschaften haben das Feuer vom Himmel geholt (darauf weist die Apokalyps schon hin).
    Das Christentum hat mit der dies dominica den Begriff der Ruhe vom Saturn auf die Sonne verschoben. Hat nicht Tarschisch, woher Salomo das Gold für den Tempel holte, etwas mit der Sonne zu tun? Beide repräsentieren das „Ende der Welt“.
    Hat die Entrückung des Paulus (in den dritten Himmel) etwas mit der Verschiebung des Sabbat auf die dies dominica zu tun?
    Der Geist muß heute durch die Engführung der Erinnerung hindurch. Die Welt wird unverständlich, wenn man glaubt, man könne die Vergangenheit (auch die Vergangenheit anderer) auf sich beruhen lassen und so, als wäre heute der erste Tag, jeden Tag neu beginnen. Dieser erste Tag: Das wäre in der Tat der letzte.
    Aber hat nicht das Inertialsystem genau diese Funktion, ist es nicht der Turm von Babel, der bis an den Himmel reicht, und der zum Grund der Verwirrung der Sprachen geworden ist.
    Was bedeuten die Namen von Euphrat und Tigris, und wie unterscheiden sie sich? Der Euphrat findet sich in der Apokalypse wieder, der Tigris im Buch Tobit (Tobias und Rafael haben aus ihm den Fisch gefangen, aus dem sie die Mittel nehmen, mit deren Hilfe Sara vom Dämonen Asmodai und Tobit von seiner Blindheit befreit werden); beide entspringen im Paradies.
    Bezeichnen nicht der fahrende Zug, der fallende Fahrstuhl und der Hohlraum Plancks drei Aspekte ein und derselben Sache (das Plancksche Strahlungsgesetz ist so etwas wie das Gravitationsgesetz zur speziellen Relativitätstheorie Einsteins)?
    Die Bekenntnislogik ist eigentlich eine Rechtfertigungslogik, und diese Logik konvergiert mit der transzendentalen Logik Kants, die sowohl auf die Naturwissenschaften wie auf die ökonomische Struktur der Gesellschaft sich bezieht.
    Was hat es mit der Frucht des Feigenbaums auf sich? Aus Weizen wird Brot, aus der Frucht des Weinstocks wird Wein und aus der Frucht des Ölbaums das Öl hergestellt, mit dem der Messias gesalbt wird. Als Produktionsstätten kommen in der Schrift nur die Kelter vor (bei den Propheten und in der Apokalypse) und der Backofen und der Backtrog (bei den ägyptischen Plagen: die Frösche, die die Backöfen und die Backtröge heimsuchen, gehen auch ins Schlafgemach und aufs Lager). Die Ölpresse scheint nicht vorzukommen, während es zu den Friedensbilder gehört, daß einer unter dem Feigenbaum sitzt (oder wie Nathanael, der „wahre Israelit“, unter dem Feigenbaum steht).
    War es nicht eine entsetzliche fundamentalistische Umkehrung, wenn die Kirche die Eucharistie als Transsubstantiation verstanden hat, die auch durch die reformatorische Korrektur nicht besser geworden ist? Was die Kirchen mit dem kannibalistischen Syndrom in die Köpfe und ins Unterbewußte der Gläubigen eingesenkt haben, ist fast nicht mehr reflexionsfähig zu machen.

  • 11.12.1996

    Wenn der Satz stimmt, daß der Klügere nachgibt, sind dann nicht die Richter die Dummen?
    Wenn die Attribute Gottes im Imperativ stehen, dann ist der Satz, daß etwas „nicht geht“ (weil es unmöglich ist), als Ausrede nicht mehr brauchbar: Bei Gott ist kein Ding unmöglich.
    Ist nicht der Satz, daß die Attribute Gottes im Imperativ stehen, nur ein anderer Ausdruck dafür, daß die erste Philosophie die Ethik ist?
    Es gehört zu den Aprioris der RAF-Prozesse, daß die Lücken der Beweislogik zu Lasten der Angeklagten ausgenutzt werden.
    Barmherzigkeit und Erkenntnis: Nicht die (passive) Hoffnung, sondern die (aktive) Barmherzigkeit löst die Probleme der Beweislogik.
    Heute ist die Konstruktion des Lebens selber herzzerreißend. Der Zustand der Welt nimmt alle in Geiselhaft.
    Hat nicht Heidegger die Hegel’sche Idee des Absoluten auf die kürzeste Formel gebracht: auf das „Vorlaufen in den Tod“? Nur: Hegel war noch verzweifelt über das Resultat seiner Philosophie, er wußte sich „von Gott verdammt, ein Philosoph zu sein“; Heidegger hingegen ist ein begeisterter Sympathisant des Seins.
    Der Bann, unter dem die Natur steht, der Bann des Naturbegriffs selber, hat seine Wurzel in dem gesellschaftlichen Primat der Selbsterhaltung; er hat mit der Instrumentalisierung der Vernunft einen gemeinsamen Ursprung. Gegen diese Instrumentalisierung der Vernunft stehen die drei evangelischen Räte (die von der Kirche durch Instrumentalisierung nochmals verraten worden sind).
    Zu den Einsichten, die der Sprachreflexion sich verdanken, gehört, daß Gott nicht stumm ist. Das Wort Gottes drückt aufs deutlichste in dem imperativischen Charakter der göttlichen Attribute sich aus.
    Wenn wir den gegenwärtigen Stand der Naturwissenschaft wirklich begreifen würden, würde es uns dann nicht „wie Schuppen von den Augen fallen“? Stammt das Wort, daß einem etwas wie Schuppen von den Augen fällt, nicht aus dem Buch Tobit? Die Salbe, mit deren Hilfe die Schuppen von den Augen des Tobit lösten, wurde aus der Galle des Fisches gewonnen, den Tobias und Rafael, als der Fisch den Tobias verschlingen wollte, aus dem Fluß Tigris gefangen hatten.
    Als Jesus zur Samariterin vom Quell des lebendigen Wassers sprach, hat er da nicht Jesaias zitiert?
    Zum Zug, der in den Abgrund rast: Die Schienen dieses Zuges sind die subjektiven Formen der Anschauung (und mit ihnen das Geld und die Bekenntnislogik). Jürgen Habermas hat, als er den kritischen Naturbegriff der kantischen Tradition verwarf und die Natur aus dem Bereich der Reflexion ausschied, dazu beigetragen, den Zug auf diese Schiene zu setzen. Damit hat er dem reflektierenden Urteil die Erkenntniskraft abgesprochen.
    Emitte spiritum tuum et renovabis faciem terrae. Dieser Geist, der das Antlitz der Erde erneuern wird, ist der Geist der Barmherzigkeit, der Geist, der über das Gericht triumphiert, in dessen Bann das Antlitz der Erde steht, dessen Bann dieses Antlitz entstellt. – Ist nicht das kopernikanische System (als Säkularisationsprodukt des Pantheons) das entstellte Antlitz der Erde?
    Haben nicht die subjektiven Formen der Anschauung Kants etwas mit den paulinischen Elementargeistern zu tun?
    Im Feindbild-Clinch betreibt jede Seite, auch wenn keine es weiß, das Geschäft des Feindes. Und die Staatsschutzsenate sind nur noch Institute des Feindbild-Clinchs. Der Satz Jutta Ditfurths, daß der Staat seine Terroristen braucht, ist heute dahin zu ergänzen, daß ebenso die Terroristen, nachdem sie aus ihren Rechtfertigungszwängen nicht mehr sich lösen können, den Staat brauchen. Für den Zug, der in den Abgrund rast, war die RAF ein Energie-Lieferant.
    Wenn die Begriffe der Pflicht und der Verantwortung den Gesetzen der Selbsterhaltung untergordnet werden, dann weiß keiner mehr, was er tut. Die Vorstellung, daß der Markt es schon richten werde, ist gemeingefährlich und am Ende selbstmörderisch.
    Heute wird die Religion von denen verraten, die in ihr Trost suchen.
    Die Frage nach falsch oder richtig, die heute im Allgemeinen mit der Frage nach der Wahrheit verwechselt wird, wird grundsätzlich im Nachhinein (nicht beantwortet, sondern) entschieden: sie gilt (wie der Begriff des Wissens) nur für Vergangenes, und für Zukünftiges nur in dem Maße, in dem seine Vergangenheit sich antizipieren läßt. Es ist dieser Begriff des Richtigen, der Begriffen wie Orthodoxie, Orthogonalität ihre Schlüssigkeit und ihre objektive Bedeutung verleiht. Der Begriff des Richtigen ersetzt das Was durch das Wie; das Referenzsystem, auf das er sich bezieht, ist das Inertialsystem (der Inbegriff des Richtigen). Im Kontext des Richtigen lassen sich Rechts und Links nicht mehr unterscheiden. Hat hiermit das „Sitzen zur Rechten des Vaters“ (die Rechte ist die Seite der Barmherzigkeit, die Seite des Heiligen Geistes, die der Begriff des Richtigen ins Gegenstandslose verflüchtigt) etwas zu tun?

  • 9.12.1996

    Staatsschutz ist Feindbildpflege.
    In allen geschichtlichen Revolutionen haben sich am Ende genau die auf die Märtyrer des Anfangs berufen, die dann zu Erben ihrer Verfolger geworden sind. Das gilt auch für Revolutionen, die keine waren: z.B. für die RAF (die heute ihre Gefangenen instrumentalisiert).
    Die Bekenntnislogik ist ein Produkt der Instrumentalisierung des Opfers. Das instrumentalisierte Opfer ist der Naturgrund der Herrschaft, die diese Opfer zur Nährung der Rachephantasien braucht, die die hierarchischen Rechtsordnungen begründen.
    Wer die eigene Geschichte nicht verraten will, ist in Gefahr, die eigenen Ziele zu verraten. Ohne den schmerzhaften Prozeß der Reflexion der eigenen Geschichte sind die Ziele nicht zu retten. Ohne diesen Prozeß droht die RAF wirklich an der falschen Alternative, die die Verfolgungsbehörden ihr aufzuzwingen versucht, zugrunde zu gehen: Es geht nicht um Komplizenschaft oder Kronzeugenregelung, sondern um die Wiederherstellung der öffentlichen Diskussion. Der Griff zu Waffe war ein Produkt der Verzweiflung an der Kraft des Arguments, er hat dem Feind die Waffen geliefert.
    Ich befürchte, mit der Zwangskomplizenschaft, die hinter dem Stichwort „Verrat der eigenen Geschichte“ sich verbirgt, erzeugt die RAF selber die Kronzeugen gegen sich selbst.
    So erbaulich er klingt, der Satz hat einen fürchterlich ernsten Kern: Es kommt nicht darauf an, die eigene Haut zu retten, sondern es kommt darauf an, die eigene Seele zu retten. Nur: Zweitausend Jahre Christentum haben bewirkt, daß niemand mehr weiß, was das heißt.
    Anpassung an die Welt hat heute die präzise Bedeutung der Identifikation mit dem Aggressor (der logische Kern dieser Identifikation ist die Bekenntnislogik, die die Opfer zu Verfolgern macht).
    Ist es nicht mit dem Urknall wie mit dem Kuchenbacken: Das, was am Ende herauskommt, wurde vorher in anderer Beschaffenheit und Zusammensetzung hineingesteckt? Eine Alternative zur Idee der Schöpfung ist der Urknall ebensowenig, wie das hegelsche Weltgericht eine Alternative zum Jüngsten Gericht gewesen ist. Die theoretischen Elemente, die dem Konstrukt des Urknalls zugrunde liegen, sind allesamt Elemente, die von einer schon bestehenden Welt abstrahiert sind.
    Es gibt auch einen historischen Schuldzusammenhang, der aus sich selbst den Schein erzeugt, es gäbe keine Alternative dazu.
    Gerechtigkeit ist im Kern eine theologische Idee, und ein Recht, das die Erinnerung daran endgültig preisgegeben hat, wird zum Unrecht.
    Der Fehler des Christentums liegt genau in dem buddhistischen Element in ihm: in der Vorstellung, daß einer für sich selig werden könne.

  • 6.12.1996

    Wie hängen die drei Elemente Name, Umkehr und Angesicht mit den drei Elementen im Stern der Erlösung zusammen, mit Gott Welt Mensch? Bezieht sich nicht der Name auf Gott, die Umkehr auf die Welt und das Angesicht auf den Menschen? Aber steckt nicht im Angesicht des Menschen das verborgene Angesicht Gottes und der Welt, schließt nicht die Umkehr, die auf die Welt sich bezieht, die des Menschen und dann auch die Umkehr Gottes mit ein, und ist nicht im Namen Gottes der verborgene Name der Dinge und der Menschen mit enthalten?
    Ist die „Zahl eines Menschen“ nicht der Fluchtpunkt einer Sprache, die ihre erkennende Kraft, die Kraft des Namens, verloren hat? Bezieht sich hierauf nicht das Wort, daß, wer einen Sünder von seinen Wegen des Irrtums bekehrt, seine eigene Seele rettet? Und bezieht sich nicht auch das Wort von dem einen Sündern, über dessen Bekehrung größere Freude im Himmel herrscht als über 99 Gerechte, auf diese „Zahl eines Menschen“? Und hat die „Zahl des Menschen“ nicht etwas mit der Geschichte von den sieben unreinen Geistern (die den Wegen des Irrtums korrespondieren) zu tun?
    Sind die sieben unreinen Geister die Herren über die Wege des Irrtums?
    Welche irdischen Väter kommen in den Evangelien vor, neben
    – Zacharias, Joseph, Zebedäus?
    – Gehört nicht insbesondere der Vater dessen dazu, dem Jesus sagt: „Laß die Toten ihre Toten begraben“, auch der Vater eines Besessenen, der königliche Beamte, dessen Sohn krank war, Simon Ischarioth (der Vater des Judas), dazu Simon von Cyrene (der Vater des Alexander und Rufus)?
    – Dazu gehören dann noch die in den Namen der Söhne bezeichneten Väter, die Väter des Bartholomäus, des Simon Barjonas (Petrus), des Bartimäus, aber auch des Barabbas.
    – Und beziehen sich auch die Beinamen auf Väter: Alphäus, Thaddäus, Kleophas?
    Der Tod ist ein Meister aus Deutschland: Aus einem auf der Straße aufgeschnappter Gesprächsfetzen, es ging offensichtlich um einen Arzt: „Er ist sehr nett, und er hat eine Mordspraxis.“ Gehören dazu nicht der Mordshunger und der Mordsspaß, der Mordskerl, das Mordsweib und das Mordskind (auch die Bombenstimmung; dem Bedeutungsfeld dieser Bildungen kommt der Gebrauch des adjektivs „geil“ unter Jugendlichen heute nahe)? Woher kommt und was bedeutet eigentlich die Wendung: aus seinem Herzen keine Mördergrube machen (gemeint ist: frei heraus, ohne „falsche“ Rücksicht auf die „Empfindlichkeit“ von Anwesenden, in ihrer Gegenwart hinter ihrem Rücken über sie reden)? Wie hängt dieser Gebrauch des Mordbegriffs mit dem strafrechtlichen Begriff des Mords zusammen? – Etymologisch bezeichnet der Mord die Instrumentalisierung des Sterbens, nicht nur das einfache Töten, sondern ein Töten für einen außerhalb des Tötens liegenden Zweck (Kluge, S. 488).
    Ist nicht die ganze Theologie heute eine, die in Gottes Gegenwart hinter seinem Rücken über ihn redet? Ist die Vorstellung eigentlich so absurd, daß man über Gott nur im Bewußtsein seiner Gegenwart reden darf, daß man eine Theologie (als „Reden über Gott“) ohne eine Reflexion, die dem Gebet zumindest ähnlich ist, blasphemisch zu nennen gezwungen ist? Damit hängt es zusammen, daß eine Theologie, die diesen Namen verdient, zusammen mit der Naturwissenschaft (mit dem objektiverenden Erkenntnisbegriff) nicht bestehen kann.
    Die Schrift ist die moralische Norm der Gegenwart, die Gegenwart die Verständnis-Norm der Schrift.
    Wie lange ist eine Theologie noch zu halten, die nur noch ihre destruktiven Kräfte auslebt (vom privaten Bereich über die Liturgie, das Dogma, die Moral und die Politik bis in die Ökonomie)?
    Ist nicht die Zentrierung der Moral in der Sexualmoral die Venus-Katastrophe?

  • 4.12.1996

    Muß man nach dem Hogefeld-Prozeß und nach der Rückkehr von Christoph Seidler vielleicht doch das Undenkbare denken? „Die von ihm gemachten Aussagen … bringen auch das Fahndungskonzept von Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft ins Wanken: Das Gesicht der RAF hat mit den Gesichtern auf den Fahndungsplakaten mutmaßlich nicht allzuviel zu tun“ (so in der FR von heute). Was wäre, wenn die nie aufgeklärten Aktionen der RAF gar nicht von ihr kamen, daß sie von den Gefangenen der RAF, von denen, die sich im Untergrund als „Mitglieder der RAF“ verstanden und von denen, die sie unterstützten, die es alle nicht besser wußten, nur dafür gehalten worden sind, weil sie an diesen Aktionen, am Bild der Kontinuität ihres „Kampfes“, eine Stütze ihres Selbstbewußtseins, ihrer „Identität“ zu finden glaubten? War das „Aussteiger-Programm“ vielleicht ein Programm, daß sicherstellen sollte, daß niemand mehr aus dem „Untergrund“ sich ans Licht traute, weil das möglicherweise das ganze Konstrukt hätte platzen lassen? Was ist gemeint, wenn, der FR zufolge, „in Sicherheitskreisen … der Fortbestand des ‚Aussteigerprogramms‘ damit begründet“ wird, daß man „auf diese Art Illegale ‚der Justiz zu(führe)’“?
    Sind nicht die Bilder vom fahrenden Zug oder vom frei fallenden Fahrstuhl, an denen Einstein das Grundproblem seiner Relativitätstheorien demonstriert hat: das Problem der Beziehung des ruhenden zum bewegten Inertialsystem, Bilder der Beziehung des Naturbegriffs zum Weltbegriff, die Kant einmal durch die Beziehung des dynamischen zum mathematischen Ganzen der Erscheinungen zu definieren versucht hat?
    Heute sind nicht mehr nur die Kapitalisten „Charaktermasken des Systems“, sondern ebenso die, die glauben, durch Feindschaft gegen das System, durch seine Verurteilung und Bekämpfung, dem Bann schon entronnen zu sein. Wenn es einen Fortschritt gibt, dann den, daß heute – in einem noch aufzuklärenden Zusammenhang mit der Verurteilungslogik – beide Seiten zu Marionetten des Systems geworden sind, daß sie beherrscht.

  • 29.11.1996

    Hat die Erschaffung Evas aus der Seite Adams etwas mit der Exogamie zu tun?
    Das plancksche Strahlungsgesetz bezieht sich auf eine Versuchsanordnung, zu der insbesondere ein „dunkler Hohlraum“ gehört: ein von allen Seiten umschlossener Raum, in dessen Innern der gleiche Zustand bestehen soll wie außerhalb, nur daß die unmittelbare Wechselwirkung zwischen den Verhältnissen draußen und dem Geschehen im Innern ausgeschlossen werden soll, mit einer Ausnahme, deren Isolierung der Zweck der Versuchsanordnung ist: die thermische Einwirkung. Die Versuchsanordnung soll im Innern des Raumes einen Gleichgewichtszustand herstellen und stabilisieren, der nur noch von einem Parameter abhängt: von der Temperatur.
    Der statistische Charakter der planckschen Strahlungsformel drückt nicht nur ihre Unabhängigkeit von der Konkretisierung mechanischer oder elektromagnetischer Prozesse aus; sie verweist auf einen Systemeffekt, auf den Systemcharakter des Erhaltungssatzes, der hier auf den Gesamtzustand im Innern des Hohlraums sich bezieht. Ob diesem Systemeffekt die mechanischen und elektromagnetischen Modelle, die unsere Vorstellung dem Gesetz zugrundelegt, wirklich zugrundeliegen, ist eine sekundäre Frage.
    Beschreibt nicht Girard in seinem Konzept des „versöhnenden Opfers“ die Ursprungsgeschichte des Rechts? Wenn das Urteil „im Namen des Volkes“ gefällt wird, so ist das in dieser Urteilsformel zitierte Volk der Repräsentant der Opfernden in diesem versöhnenden Opfer, und der Verurteilte das Opfer. Aus dieser Konstellation läßt der Satz, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand ist, sich herleiten.
    Beschreibt René Girard in „Das Heilige und die Gewalt“ nicht aufs genaueste die Wolfsreligion, der auch das Christentum mit der Opfertheologie sich angeglichen hat? Als Staatsreligion hat das Christentum sich auf die Seite der Verfolger (der Wölfe) geschlagen. Die subjektiven Formen der Anschauung sind das Wolfsgesicht (das Gesicht, das nicht mehr barmherzig blickt: das Gesicht des Hundes, das nach christlicher wie nach jüdischer Tradition das Zeitalter des Antichrist kennzeichnet). Nur die Kraft, die in der Lage ist, die subjektiven Formen der Anschauung wieder reflexionsfähig zu machen, ist fähig, ihre verhexende Gewalt aufzulösen.
    Benennt Gott nicht am Ende des Buches Jona, mit dem Hinweis auf die 120000, die rechts und links nicht unterscheiden können, den Grund, weshalb Jona nach Tarschisch geflohen ist?
    Die Bundesrepublik: Ist sie die Finsternis über dem Abgrund, in den das nationalsozialistische Deutschland sich gestürzt hat?
    Staatsschutzprozesse machen eigentlich kurzen Prozeß, und sie dauern nur so lange, und sind nur deshalb so aufwendig, weil sie das vertuschen müssen.
    Das merkwürdige Gefühl bei den ersten Prozeßbesuchen, daß Ankläger und Gericht sich offensichtliche unter dem Zwang sehen, das „in dubio pro reo“ auf sich selber anzuwenden.
    Zu Hubertus J./JU:
    – des Kaisers neue Kleider,
    – der Versuch, die eigene Geschichte zu reflektieren, steht in ausgesprochenem Kontrast dazu, daß das in diesem Urteil völlig unter den Tisch gefallen zu sein scheint,
    – statt dessen der infame Freispruch, das ein Licht wirft auf die instrumentalisierende Logik, die dieses Verfahren insgesamt beherrscht hat,
    – nachdem es eine kritische Öffentlichkeit für diese Prozesse nicht mehr zu geben scheint („RAF-Mitglieder“, die läßt man fallen wie eine heiße Kartoffel), mußte natürlich Hubertus Janssen, der diese Rolle fast als letzter noch übernommen hat, die Infamie geradezu magnetisch anziehen.
    Daß es noch einige gibt, die keine Sympathisanten der RAF sind, die aber diese Art der Prozeßführung gleichwohl erschreckt, hat das vielleicht etwas damit zu tun, daß sie den Schrecken des Faschismus nicht loswerden, mit dem diese ganze Geschichte – übrigens auf beiden Seiten der „Front“ – unendlich viel zu tun hat.
    Eine wutbebende „heilige Empörung“, die Humanität und Reflexionsfähigkeit „christliches Geschwafel“ nennt, weckt nun wirklich schlimmste Erinnerungen.
    Käme es nicht in der Tat darauf, das ungelöste Problem, für das die RAF steht, endlich reflexionsfähig zu machen, anstatt diese Reflexion so wütend und denunziatorisch zu vedrängen?
    Ist hier nicht die JU auf einer Linie mit den Hardlinern der RAF, sind nicht beide darauf aus, diese Reflexion durch Ausgrenzung und Gegendiskriminierung zu unterbinden? Das „leider!“ der JU erschreckt mich mindestens ebensosehr wie die RAF. Hieraus höre ich den Ton der größten terroristischen Vereinigung, die es in diesem Lande gegeben hat, und deren Potential offensichtlich fortbesteht.
    Einer der Effekte der Feindbildlogik ist es, daß sie, ohne es zu merken, den Feind zur Norm des eigenen Handelns macht. Feinde werden nur allzu leicht zu Doppelgängern: Jeder erkennt im andern, was er in sich selbst verdrängen muß. Der Verfolgungswahn ist ein Produkt der Unfähigkeit zur Selbstreflexion.
    Wer den Feind als Wolf erfährt, wird selbst zum Wolf. Für den Wolf aber ist auch das Lamm ein Wolf, das er glaubt, zerreißen zu müssen, um sich zu verteidigen.
    Ist nicht der Girard’sche Doppelgänger ein Feindbildeffekt?

  • 28.11.1996

    Zum Sternkreis gehört der Widder, nicht das Lamm, wie zu den Sternzeichen überhaupt der Adler, nicht die Taube gehört. Zum Sternkreis gehört auch die Jungfrau.
    Inzestverbot: Der Satz, daß auch die Natur durch Kultur vermittelt ist (Girard, S. 330), gilt nicht nur für die Verwandschaftsverhältnisse und die Heiratsregeln.
    Die Symbollogik unterscheidet sich sowohl von der Logik des Begriffs wie auch von der korrespondierenden Logik der Zeitfolge (des Historismus). Der Fundamentalismus versucht, die Logik des Begriffs und die der Zeit auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Aber dieser Nenner ist der der Gewalt. Das hegelsche Weltgericht ist noch harmlos gegen das, was die Nazis daraus gemacht haben.
    Wie ist das mit den sieben Köpfen und den zehn Hörnern des Drachen und des Tiers aus dem Meer? Das Tier vom Lande hat zwei Hörner (wie ein Widder) und redet wie ein Drache.
    Haben die zehn ägyptischen Plagen nicht eine Vorgeschichte und eine Nachgeschichte? Zur Vorgeschichte gehört die Geschichte von den Stäben, die zu Schlangen werden, aber die Schlange Aarons frißt die der ägyptischen Zauberer; die Nachgeschichte, das ist die Geschichte des Passa und der Tötung der Erstgeburt in Ägypten.
    Hören, nicht Gehorsam: Die Idee des Heiligen Geistes bedeutet u.a., daß der Kreuzestod kein Vorbild irgendeiner Nachahmung (kein Objekt der mimesis) ist, sondern Ursprung des Nachfolgegebots, das die Forderung der Autonomie und der Öffentlichkeit mit einschließt.
    Wie hängt das Inertialsystem mit dem Inzestverbot (mit der Exogamie) und mit dem Namen der Barbaren zusammen?
    In der grammatischen Geschichte des Urteils entsprechen das Subjekt und das Nomen dem Namen der Barbaren, während das Objekt und das Substantiv dem Begriff des Wilden korrespondieren. Der durch die kopernikanische Wende neu definierte Naturbegriff bezeichnet eine Natur, zu der die Wilden gehören.
    Niemand kennt den Tag und die Stunde, weder die Engel im Himmel, noch der Sohn, sondern allein der Vater: Der Kapitalismus hat aus den Tagelöhnern die Arbeiter mit Arbeitsvertrag und Stundenlohn gemacht.
    Zum Hogefeld-Urteil:
    Dieses Urteil hat nur die Anklage ratifiziert, und das selbst in dem Punkt, in dem es die Angeklagte freispricht (die Gründe des Freispruchs waren schon bei Einreichung der Anklageschrift offenkundig und hätten eigentlich zur Zurückweisung dieses Anklagepunktes führen müssen; aber es ging um etwas anderes: um die gerichtliche Feststellung, daß – ohne entsprechende Beweiserhebung – Wolfgang Grams den GSG 9-Beamten Newrzella erschossen hat, und das war nur über eine entsprechend instrumentalisierte Anklage gegen Birgit Hogefeld möglich; nach dem Freispruch ist diese gerichtliche Feststellung nicht mehr revidierbar – ist nicht auch die Nutzung der Rechtsprechung zu rechtsfremden Zwecken eine Rechtsbeugung?).
    Den Weg zur Ratifizierung der Anklage durch dieses Urteil hat dieser Senat sich freigeschaufelt
    – durch Ablehnung fast aller Anträge der Verteidigung, insbesondere der Anträge
    . auf Hinzuziehung neutraler, von den ermittelnden Behörden unabhängiger Gutachter,
    . auf Ladung und Befragung der behördeneigenen Gutachter (deren Feststellungen dann zur Grundlage des Urteils geworden sind) – wie begründet diese Anträge waren, konnte man bei Vernehmung eines suspendierten BKA-Beamten erkennen, der von massiven Eingriffen der BAW in die Ermittlungen des BKA berichtete und selber, nachdem er in seinen Ermittlungen zu vom Anklageinteresse der BAW abweichenden Ergebnissen gekommen war, suspendiert und aus dem Verkehr gezogen worden ist,
    . auf Ladung von Zeugen, die die Geschehensabläufe in Bad Kleinen hätten aufklären können, an denen das Gericht jedoch nicht interessiert war,
    – sowie durch eine Beweiserhebung, die z.T. erst nach suggestiver Befragung der Zeugen durch Mitglieder des Senats die für dieses Urteil brauchbaren Ergebnisse brachten,
    – und nicht zuletzt dadurch, daß die Erklärungen der Angeklagten am Gericht wie an einer Betonwand abprallten; im Urteil findet sich nicht einmal mehr der Versuch, auf diese Erklärungen einzugehen: so als wären sie ins Leere gesprochen.

  • 27.11.1996

    Der alltägliche Positivismus: Eines der wichtigsten Mittel, mit deren Hilfe der Positivismus sich in der Realität verankert, ist das Geschwätz (das auf dem Bauche kriecht und Staub frißt). Aufgabe des Geschwätzes ist es, durch Schuldverschiebung (Konkretismus und Personalisierung) die am Geschwätz Teilnehmenden von Schuld zu entlasten, die Reflexion durch positivistisches Beharren auf den Tatsachen (die es nicht an sich, sondern vor allem für den Redenden sein müssen), auf der intentio recta, zu unterdrücken und zu verdrängen. Geschwätz zielt auf Komplizenschaft: den andern in diesem Schuldverschubsystem auf seine Seite zu ziehen; deshalb braucht das Geschwätz gemeinsame Objekte des Geschwätzes, Objekte, die alle am Geschwätz Beteiligten gemeinsam entlastet, im Ernstfall den gemeinsamen Feind. Das Geschwätz kennt nur die Sprache des Indikativs, die eigentlich eine Sprache des versteckten Imperativs ist: Die Botschaften, die von dieser Sprache ausgehen, sind Kommandos, die jeden, der sie akzeptiert, an der Befehlsgewalt teilhaben lassen, in die Logik des Herrendenkens hineinziehen. Es kommt darauf an, die objektivierende Gewalt des Geschwätzes so zu nutzen, daß man immer auf der Subjektseite, die oben ist, nie auf der Objektseite (der Seite der Schuld), die unten ist, sich wiederfindet. Mit der Verdrängung der Erinnerung an diese Objektseite des Geschwätzes aber wird die Reflexion unterdrückt und verdrängt: die Fähigkeit, in den Andern, über den geredet wird, sich hineinzuversetzen. Das Geschwätz kennt kein Ende, es wird immer abgebrochen, und es muß deshalb immer neu geübt, eintrainiert werden. Das zentrale Thema jedes Geschwätzes ist die Schlechtigkeit der Welt, die dann, weil sie keine Wahl läßt, anders gegen sie sich zu behaupten, zur Norm des eigenen Verhaltens wird (die absolute Norm ist die Norm, die das Feindbild repräsentiert?.
    Der Positivismus macht die Wissenschaft zum Geschwätz; die 68er Bewegung hat den Marxismus zum Geschwätz gemacht (und beide haben ihre Kraft dann auch an der kritischen Theorie erprobt, die das nicht überlebt hat).
    Die Unfähigkeit zur Reflexion hängt mit der Unfähigkeit, rechts und links zu unterscheiden, zusammen, mit der Unfähigkeit, sich in den Andern hineinzuversetzen (vgl. die Konstruktion der hegelschen Dialektik, ihren Zusammenhang mit der Raum-Reflexion: An sich, Für sich, An und Für sich, ihren Zusammenhang mit der kabbalistischen Tradition, daß die sechs Richtungen des Raumes auf göttliche Namen versiegelt sind; Zusammenhang mit dem Angesicht und mit der Heiligung des göttlichen Namens).
    Zum hegelschen „bacchantischen Taumel“ vgl. Girard, Das Heilige und die Gewalt, S. 187ff.
    Die Verwaltung ist die technische Seite der Ökonomie, das Instrument und die Form der innergesellschaftlichen Naturbeherrschung.
    Das Glaubensbekenntnis ist ein Fremd-Schuld-Bekenntnis (ein Schuldbekenntnis, dessen Subjekt der Andere, nicht der Bekennende ist), und es ist dazu geworden durch die Rezeption des Weltbegriffs, durch die Hereinnahme der Logik des Weltbegriffs.
    Die Rechtschreibreform hat zumindest in dem einen Fall der Substantivierung der Adjektive („im Großen und Ganzen“) ein reflexives Element der Sprache neutralisiert und verdrängt. Gibt es dazu noch weitere Belege in dieser „Reform“? Ist das nicht ein Beispiel für die Anpassung der Sprache an den BILD-Zeitungsstil, in dem auf Nebensätze generell verzichtet wird, und der dadurch seine denunziatorische Qualität gewinnt?
    Lassen sich die den Substantivierungen zugehörigen Objekte (das Große, das Ganze, das Böse, das Gute) bestimmen, haben sie nicht etwas mit der Logik der Xenophobie zu tun?
    Die Großschreibung insgesamt ist ein Hilfsmittel der Staatsmetaphysik, eine Stütze der Staatsgesinnung: sie macht die Sprache der Staatsanwaltschaft verfügbar, sie macht sie zur Sprache eines Staates, der in sich selbst das anklagende Prinzip, dessen Anwalt der Staatsanwalt ist, repräsentiert.
    Der bisherige adjektivische Gebrauch, der in der Kleinschreibung sich ausdrückte, ließ das Substantiv, auf das sie sich bezog, in der Schwebe. Die neue Schreibweise macht kurzen Prozeß.
    Wurde nicht bei der neuen Regel, bisher zusammengeschriebene Verben jetzt getrennt zu schreiben (heiligsprechen > heilig sprechen) übersehen, daß damit der sprachlogische Sinn verändert wird, leistet sie nicht der Verwechslung des substantivischen Gebrauchs (Zusammenschreibung) mit dem adjektivischen (Getrenntschreibung) Vorschub (der Unfähigkeit, das eine vom andern zu unterscheiden)? Müßte es in der Konsequenz nicht auch Haus Besitzer heißen? Bemerkt hat man es bei Verben wie heimkehren, bei denen es bei der alten Schreibweise belassen wurde, weil hier die Bedeutungsverschiebung nicht zu übersehen war.
    Räumliche Reflexionen: Züge, Fahrstühle und der plancksche Hohlraum haben wie auch Häuser Wände, sie sind gleichsam Objekte von innen (Grund der Unterscheidung von Innen und Außen). Haben nicht moderne Kirchen, auch gelegentlich moderne Wohnungen, die Außenseite der Wände nach innen gekehrt (Verwechslung des transzendentalen Subjekts mit Gott: das Innere, in das nur Gott sieht, ist wie die Außenwelt unerkennbar geworden)?
    Sind nicht die Sternbilder des Tierkreises die Häuser der Astrologie?
    Die mechanischen Stoßprozesse haben den Schwerpunkt als Reflexionspunkt, die ersten optischen Gesetze bezogen sich auf die Reflexion der Strahlen an einer Fläche (die Farbe ist eine Qualität der Fläche, der Außenseite eines Körpers: die Farbe der Haut ist die Farbe des Fleisches – welche Beziehung hatte das Purpur zur Fleischfarbe, und welche Bedeutung hatte dieses Purpur, das Handelsobjekt der Phönizier, der Kanaanäer?). Im planckschen Hohlraum werden die Strahlen an den umgebenden Wänden, die Atome an einander und an den Wänden reflektiert. Im Gravitationsgesetz reflektieren sich Gravitationskräfte an den schweren Körpern (an den schweren Massen).
    Ist nicht das Angesicht der Kontrapunkt zum Schwerpunkt (zum Zentrum eines Inertialsystems)?
    Spiel mit dem Feuer: Das plancksche Strahlungsgesetz bezeichnet den Angelpunkt, an dem Chemie, Atom- und Mikrophysik aufeinander sich beziehen: das Feuer (das spezielle Relativitätsprinzip definiert das Trägheitsprinzip, das allgemeine Relativitätsprinzip den Schwerpunkt: den Ursprungspunkt des Inertialsystems). Das Feuer ist das Antiinstrument (die Entdeckung des Werkzeugs und des Feuers gehören zusammen).
    Mit der dies dominica, mit der Verlegung der Sabbatruhe vom Tag des Saturns auf den der Sonne (mit der Ersetzung der zeitlichen Definition der Ruhe durch eine räumliche: der zukünftigen Welt durch den räumlich präsenten Himmel), hat das Christentum das kopernikanische System antizipiert.
    Ist die Kleptomanie, das Gegenstück sowohl zur Einbruchsfurcht als auch zur männlichen Aggression, nicht in erster Linie eine weibliche Neurose?
    Ist aus dem Buch der Richter etwas über das Leben der Menschen in der Zeit der Richter zu entnehmen (Stadt und Land, Familie, wovon lebten die Menschen)?
    Transzendentale Ästhetik: Ist nicht ein wesentliches Moment der Masken (Girard, S. 245ff) das Sehen ohne gesehen zu werden, eine Funktion, die in der Geschichte der Aufklärung durch das Konstrukt der Anschauung ersetzt worden ist? – „Die Maske und der monströse Doppelgänger sind eins“ (S: 246): Die subjektiven Formen der Anschauung, die der Person den Grund verschaffen, sind Produkte der Vergesellschaftung, Repräsentanten des Objekts: der Anderen und der Dinge im Subjekt.

  • 26.11.1996

    Hegels Begriff der Philosophie gründet darin, daß eine philosophische Einsicht als vergangene sich vergegenständlicht und damit ihren Erkenntnischarakter verliert, sie wird zwangsläufig zum Objekt der Reflexion und der Kritik. So aber hat die Zeit Gewalt über die Erkenntnis erlangt.
    Unterscheidet sich nicht die mathematische Erkenntnis (und damit auch die mathematische Naturerkenntnis) von der Philosophie dadurch, daß sie diesen Akt der Vergegenständlichung als ihr Apriori in sich aufgenommen und so geglaubt hat, dem kritischen Prozeß, dem die Philosophie unterworfen ist, sich entziehen zu können? Durch diesen Akt der Vergegenständlichung aber verschließt sie sich der Einsicht (sie ersetzt das Was durch das Wie), wird sie blind: Sie wird zum vergessenen Traum, der nur durch Erinnerungsarbeit noch zu rekonstruieren und zu deuten ist (der Traum des Nebukadnezar).
    Der Gegenpol der mathematischen Erkenntnis ist der Erkenntnisbegriff, der der Kabbala zugrundeliegt, die darauf abzielt, die vergangenen Gestalten der Erkenntnis (die Tradition) zu retten. In diesem Sinne hat Walter Benjamin einmal über Franz Rosenzweig gesagt, er habe „es vermocht, die Tradition auf dem eigenen Rücken zu befördern anstatt sie seßhaft zu verwalten“.
    Kant hat die Wurzeln der vergegenständlichenden Kraft der Mathematik in den subjektiven Formen der Anschauung erstmals rein herauspräpariert und damit reflexionsfähig gemacht. Es gibt keine Abstraktion ohne Vergessen; diese Konstellation ist in die für die subjektiven Formen der Anschauung konstitutive Orthogonalität mit eingebaut. Dieses Prinzip der Orthogonalität ist der Grund der Unfähigkeit, rechts und links zu unterscheiden; sein theologischer Reflex ist die Orthodoxie (und die Orthodoxie eine Vorstufe des Inertialsystems, in dem die Orthogonalität zur Totalität sich entfaltet).
    Zu Derrida, Gesetzeskraft: Das Wunder ist eine Manifestation der göttlichen Gewalt (vgl. hierzu René Girard, Das Heilige und die Gewalt, S. 185). Dem korrespondiert der Rosenzweig’sche Begriff des Wunders: die Erfüllung des prophetischen Worts.
    Der Zwang, die Juden, bevor sie ermordet wurden, zu demütigen und zu quälen, auf den Goldhagen verweist, hängt auch damit zusammen, daß die Täter auch die Demütigung, die sich selbst antun mußten, noch zu externalisieren gezwungen waren, durch Verschiebung auf die Opfer loszuwerden suchten. Genau das hat die Täter süchtig gemacht.
    Hat das erste Wunder Jesu in Kana, die Verwandlung von Wasser in Wein, etwas mit der ersten der ägyptischen Plagen zu tun: mit der Verwandlung von Wasser in Blut; und der Kreuzestod etwas mit dem Tod der Erstgeburt?
    (Beitrag von Claus Leggewie auf der Wissenschaftsseite der FR von heute:) Ist nicht der Topos, daß das Verlangen nach und die Zustimmung zur Einführung des Königtums in Israel der Beginn des gleichen Politikverständnisses sei, das heute im Staat Israel sich vollendet, ein Konstrukt des gleichen Fundamentalismus, dessen christliche Variante der Antisemitismus ist, der sich auch zu gerne auf die Geschichte der Landnahme im Buch Josue beruft? Es liegt in der Konsequenz dieser Konstruktion, wenn dann genau die Autoren (wie Benjamin und Bloch), die die Katastrophe schon in ihren Anfängen wahrgenommen haben, zu ihren Verursachern gerechnet werden (ähnlich schon Derrida, in dem Buch Gesetzeskraft). Wie es aussieht, gibt es niemanden mehr, der Kant gelesen hat; und wenn er ihn gelesen hat, hat er den Unterschied zwischen dem bestimmenden und dem reflektierenden Urteil nicht begriffen.
    Ist die Verurteilung des Nationalsozialismus der Exorzismus des Staates, mit dem er die Reflexion auszutreiben versucht, die im Nationalsozialismus das „wahre Gesicht des Staates“ erkennt?
    Haben nicht die Lichterketten anläßlich der fremdenfeindlichen Ausschreitungen etwas mit dem Pfeifen im Walde und mit dem Spruch, der in der Nazizeit in fast jeder Wohnung zu finden war, zu tun: „Immer wenn du meinst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her …“?
    Die Verwaltung, in der alle nur noch ihre Pflicht tun, aber keiner mehr weiß, was er tut, ist das genaueste Exempel der Innensicht in dem frei fallenden Fahrstuhl.
    Die Staatsschutzsenate unterscheiden sich vom Volksgerichtshof, in dem Ankläger und Richter eins waren, eigentlich nur dadurch, daß sie formell an der Unterscheidung von Anklage und Gericht festhalten; aber zugleich erwecken sie den Eindruck, das Gericht sei nur ein Hilfsorgan der Anklage, Herr des Verfahrens sei die BAW. Auch das ein Effekt der Rationalisierung, der Domestizierung des Faschismus: seine Instrumentalisierung, nicht seine Aufhebung.

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