Ökonomie

  • 25.11.1996

    Der durch die Ökonomie instrumentalisierte und verwüstete Staat gewinnt im Nationalismus die mythische Qualität seines Ursprungs zurück: die Gewalt der Verrottung und der Ausblendung dieser Verrottung aus dem Bewußtsein. Aufgabe des Staatsschutzes ist es, diesen Vorgang mit Hilfe der remythisierten Logik des Rechts zu stabilisieren.
    Die gekreuzigte, gestorbene und begrabene Sinnlichkeit wird, wenn es ihr gelingt, den Bann der Anschauung zu sprengen, im Leib der Sprache wieder auferstehen.
    Die Sinnlichkeit aus dem Bann der Anschauung befreien heißt, die Empfindlichkeit in Sensibilität transformieren. Diese Sensibilität sprengt den Bann des Naturbegriffs, sie erneuert das Antlitz der Erde.
    Die subjektiven Formen der Anschauung sind das Instrument der Instrumentalisierung der Vernunft.
    Der Himmel ist sein Thron, die Erde der Schemel seiner Füße: Haben wir nicht den Himmel zum Schemel unserer Füße gemacht und sitzen mit dem Arsch im Dreck?
    Der Begriff der Reinheit wird durch das definiert, was er ausschließt: durch das Unreine. Das können die Sexualität und der Schmutz sein, es kann aber auch die Befleckung durch Gewalt sein. In beiden Fällen muß, allerdings mit konträren Folgen, das Opfer rein und makellos sein.
    Zur Kritik der reinen Vernunft: Was verunreinigt die Vernunft? Ist die reine Vernunft eine, die sich mit dem, was außer ihr liegt, nicht mehr beschmutzt, die sich nur mit dem, was sie aus sich selbst hervorbringt, befaßt: eine Vernunft, die nichts mehr erkennt?
    Vor den Staatsschutzsenaten geht es nicht mehr um die Taten, sondern nur noch ums Erwischtwerden (das Gericht muß nicht mehr die Tatbeteiligung beweisen, sondern der Angeklagte muß die Konstrukte der Anklage widerlegen). Zugrunde liegt die Logik des Sündenbocksyndroms, in dem die Unschuld dessen, der nach dieser Logik verfährt, durch die Unwiderlegbarkeit der Schuld des Sündenbocks (nicht durch den Nachweis ihrer Realität) bewiesen wird. Aufgabe der Staatsschutzsenate ist es, die Unschuld des Staates zu beweisen, damit beweist er die Schuld des Sündenbocks (der Hexe, des Juden). Die Sündenbocklogik ist ein Teil der Bekenntnislogik, die aus der Umkehr des Schuldbekenntnisses sich herleitet, aus dieser Umkehr das Bewußtsein der eigenen Schuldosigkeit gewinnt.
    Ist nicht die Pluralisierung der Sünde der Welt (Joh 129), die übrigens nicht schon in der Vulgata erfolgte, sondern erst in der Liturgie erscheint, die im Agnus Dei aus dem peccatum mundi die peccata mundi gemacht hat, das genaueste Indiz für den postdogmatischen Status der ins Lateinische übersetzten Theologie? Diese Übersetzung gehört zur Geschichte der drei Leugnungen Petri.
    Sind die Planeten die Pferde, die den Sonnenwagen ziehen? Und hat nicht der Tierkreis etwas mit dem Sündenbocksyndrom zu tun, sind im Tierkreis nicht alle Motive dieses Syndroms versammelt (Steinbock, Wassermann, Fische, Widder, Stier, Zwillinge, Krebs, Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion, Schütze)? – Vgl. Girard, Das Heilige und die Gewalt, S. 237f (im Kontext der Zitate aus Euripides‘ Bakchen).
    Das kabbalistische Motiv, wonach die sechs Richtungen des Raumes auf göttliche Namen versiegelt sind, bezieht sich nicht allein auf ihre Unendlichkeit, sondern ebensosehr auf ihren Ursprung in der Orthogonalität. Die Orthogonalität bezeichnet den Verhärtungs- und Verblendungspunkt, dem die „schlechte Unendlichkeit“ des Raumes sich verdankt, ihr Ursprung fällt in die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos. Beziehen sich hierauf nicht insbesondere die Insekten-Plagen: die Mücken, die Bremsen und die Heuschrecken?
    Welche Zeichen konnten auch die Zauberer tun, und welche konnten sie nicht mehr tun, weil sie von ihnen selber befallen waren? Und an welcher Stelle kommt der Satz, daß, was die Israeliten opfern werden, den Ägyptern ein Greuel ist (liefert hierzu nicht das Sündenbocksyndrom den Schlüssel)?
    Gehören nicht das Sklavenhaus Ägypten und der Eisenschmelzofen in die Vorgeschichte des Sündenbocksyndroms? Der Sklave ist der instrumentalisierte (nicht mehr real geopferte) Sündenbock, die Sklaverei eine der ersten Stufen der Geldwirtschaft: Sklaven sind Waren, die arbeiten (im Kapitalismus arbeitet das Geld). Und Frauen sind Sklaven, die man genießt.
    Die Frau des Potiphar kehrt die durch die Sklaverei definierte Geschlechterbeziehung um: Sie will mit dem Sklaven tun, was sonst nur der Herr mit der Sklavin tut; und sie kehrt, als es ihr mißlingt, das Argument um: sie denunziert den Sklaven, daß er sie, wie es nur der Herr mit seiner Sklavin darf, hat mißbrauchen wollen. Gehört diese Geschichte nicht zur Mythoskritik: zur Auflösung des Vatermord/Inzest-Motivs (in dem der Sohn an die Stelle des Sklaven tritt: Ist nicht der Gottessohn der Gottesknecht)?
    Die Schlange und der Drache beziehen sich auf Babylon.
    Der Personbegriff, dem im Griechischen noch ein logischer Begriff korrespondiert, tritt rein erst im Lateinischen hervor, er vollendet die Arbeit des Begriffs, indem er dessen Formgesetz auf den Namen überträgt: so löscht er (in der Trinitätslehre) den Namen.
    Nach Emmanuel Levinas ist das Angesicht die Verkörperung des Gebots: „Du sollst nicht töten“. Sind dann nicht Fahndungsplakate und Personalausweise (als sozialisierte Fahndungsplakate) blasphemisch? Der Personalausweis ist der Beweis der Identität von Verfolger und Opfer. Jedes Fahndungsplakat denunziert das Angesicht.
    Zu den Terroristen-Plakaten (die – seit wann eigentlich? – in jedem deutschen Krimi gezeigt werden): Wieviele der dort Abgebildeten waren gar nicht in der RAF, und sind nicht etliche, nur weil sie auf Plakaten gestanden sind, für Taten verurteilt worden, die sie nicht begangen haben?
    Hat nicht Fichte den Personal-Ausweis erfunden, und war diese Erfindung nicht eine zwangsläufige Folge des Begriffs des Nicht-Ich?
    Der Geist ist das „Feuer vom Himmel“, von dem er wollte, es brennte schon.
    Erst der Paraklet befreit das apologetische Denken vom Rechtfertigungszwang.
    Ist nicht die Welt der Traum Nebukadnezars, und fehlt uns nicht nur noch der Daniel, der diesen Traum dem Vergessen entreißt und deutet? Propheten sind keine Träumer, sondern Traumdeuter.
    Der Satz aus dem Hebräerbrief: Der Gastfreundschaft vergeßt nicht, denn durch diese haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt (Hebr 132), ist ein Schlüssel zur Engellehre: Er verweist auf die Konvertibilität der Namen des Fremden und der Engel. Hat er nicht damit die Engel der Apokalypse und den Namen des Evangeliums in ein neues Licht gerückt?
    War nicht Joseph für den Pharao ein Engel, und ist nicht für den Pharao, der Joseph nicht mehr kannte, Moses zum Gott und Aaron zum Propheten geworden? Ist diese Konstellation nicht auch ein Symbol der Kirche?

  • 24.11.1996

    Ist das Vaterland nicht eine römische Erfindung (patria), und ist der Gottename Vater nicht dagegen gerichtet (und hat das Problem der Väter in den Evangelien überhaupt hier seine Ursache, wie z.B. das „Laßt die Toten ihre Toten begraben“ oder die Frage: „Welcher Vater würde, wenn sein Kind ihn um ein Stück Brot bittet, ihm einen Stein geben“ – steckt in dieser Frage nicht die ganze Staatskritik der Evangelien)?
    Die subjektive Form der äußeren Anschauung ist der Repräsentant des Gewaltmonopols des Staates im Subjekt, die subjektive Form der inneren Anschauung das Instrument seiner Vertuschung. Das gegenständliche Korrelat der subjektiven Form der inneren Anschauung ist der Hades, das Totenreich, die Hölle.
    An den Gleichungen der Lorentz-Transformation läßt sich das Gesetz der Umkehrung erkennen, dem das Inertialsystem sich verdankt.
    Das spezielle Relativitätsprinzip macht die vier Himmelsrichtungen (rechts und links, vorn und hinten) konvertibel, das allgemeine Relativitätsprinzip Himmel und Erde (oben und unten). Nur: Die Bewegung des fallenden Fahrstuhls ist nicht umkehrbar. Das aber heißt, daß die Beziehung von oben und unten genau durch die Operation, die sie reversibel macht, irreversibel wird.
    Ähnlich sind die Staatsschutzprozesse als politische Prozesse Prozesse der Entpolitisierung.
    Während das Strafrecht sonst dem Trägheitsgesetz, der Mechanik korrespondiert, korrespondiert das Staatsschutzrecht dem Gesetz der Schwere, das nur über die Identität von träger und schwerer Masse dem Trägheitsgesetz kompatibel gemacht werden kann. Der Satz „Gemeinheit ist kein strafrechtlicher Tatbestand“ gilt unmittelbar nur fürs Strafrecht, dessen Grenze er definiert; in den Staatsschutzverfahren, die die Grenzen des Strafrechts ausloten, wird er zum Prinzip und zur Grundlage der Verfahren. Staatsschutzverfahren suchen (durch Anwendung der Logik des Schuldverschubsystems) den schwerelosen Zustand herzustellen, der das Innere des fallenden Fahrstuhls definiert. Staatsschutzverfahren gehorchen zwangshaft und blind dem Unschuldstrieb des Staates, der ihn vollends böse macht.
    An dem Bild des frei fallenden Fahrstuhls läßt sich die Beziehung der Naturwissenschaft zur politischen Ökonomie demonstrieren und klären: Im frei fallenden Fahrstuhl ist das Kausalverhältnis eindeutig von seinem Bewegungszustand auf den Zustand im Innern des Fahrstuhls gerichtet. Im Bereich der politischen Ökonomie kehren sich die Verhältnisse um: Der Versuch, im Innern eines ökonomischen Systems einen schwerefreien Zustand herzustellen, versetzt dieses System in den Zustand des freien Falls. Das Problem der Beziehung von Naturwissenschaft und Ökonomie ist das Problem der Reversibilität (die dem Unschuldstrieb folgende Unfähigkeit zur Schuldreflexion macht die Schuld erst irreversibel, sie zerstört die Sprache, die von der Idee der Reversibilität der Schuld: von der Idee der Umkehr lebt).
    Laborbedingungen sind Exkulpationsbedingungen: Sie gehorchen dem Schuldverschubsystem und haben den gleichen Effekt wie Schlachthäuser, Irrenhäuser, Gefängnisse („Zuchthäuser“). Gründet die kabbalistische Tradition, daß die sechs Richtungen des Raumes auf göttliche Namen versiegelt sind, nicht in dieser Konstellation? Die sechs Richtungen des Raumes sind insgesamt dann noch mal auf die Irreversibilität der Zeit versiegelt: das ist das siebte Siegel; deshalb ist der siebte Tag der Tag der Ruhe (und der Menschensohn der Herr des Sabbat). Das „ruhende Inertialsystem“ (das zwangsläufig in zwei Versionen sich konstruieren läßt) ist die absolute Parodie des Sabbat.
    Gehorsam und Hören: Die Grenze zu den Barbaren ist die Grenze der sprachlichen Kommunikation. An der gleichen Grenze erfolgte die Erfindung der alphabetischen Schrift bei den ersten Handelsvölkern (der erste Handel war Fernhandel), den Phöniziern. Ist nicht die griechische Sprache eine Folge der Erfindung der Schrift: Ist nicht die innere sprachlogische Ausgestaltung des Griechischen der zweite Schritt, der dieser Sprache (wie das Aramäische dem Hebräischen) den Charakter einer Verkehrssprache verliehen hat? Hier erst ist diese Schrift zivilisationsbegründend („hellenistisch“) geworden.
    Haben die Inder das Wissen, die Griechen die Natur und die Römer die Welt erfunden? Ein Prozeß mit einer merkwürdigen logischen und zeitlichen Verschiebung: Er beginnt mit den „Veden“ und vollendet sich mit einer über die Araber vermittelten indischen Erfindung: mit der Erfindung der Null, die die moderne Algebra und die Konstruktion des Inertialsystems überhaupt erst ermöglichte.
    Was vermag das Sündenbocksyndrom und das Konzept der wechselseitigen Begründung des Heiligen und der Gewalt zu leisten im Hinblick auf die Selbstaufklärung des Begriffs der Öffentlichkeit (Hinrichtungen waren und Strafprozesse sind öffentlich)?
    Haben nicht die Staatschutzprozesse aus den Fehlern des Volksgerichtshofs gelernt? Ist nicht diese unheilige Trinität aus BKA, BAW und Staatsschutzsenaten ein Versuch, das Vorurteil zu rationalisieren, es technisch verfügbar zu machen? Oder anders: Ist nicht der Begriff der „Organisierten Kriminalität“ (und sind nicht einige andere ähnliche Konstrukte) auch ein Stück Projektion, steckt dain nicht etwas, in dem der Staat sich selbst wiedererkennen müßte? Sind nicht die mafiösen Strukturen, die ihren Namen von der italienischen Mafia haben, heute dagegen exemplifiziert werden an Organisationen, die aus China, aus Vietnam, aus Rußland oder aus Rumänien stammen, ein Abbild von Strukturen, die unter dem logischen Zwang der Aufgaben in staatlichen Einrichtungen sich herausgebildet haben und erkennen lassen? Sind nicht die Formen der „Organisierten Kriminalität“ Reflexionsformen des „freien Marktes“, und dienen die Hinweise auf die „Organisierte Kriminalität“ nicht mittlerweile als Alibi für die entsprechende Ausgestaltung der Einrichtungen, die sie bekämpfen (und zugleich auf andere Aufgaben sich vorbereiten) sollen ? Ist das nicht eine der Folgen der Feindbildlogik, die seit je mit dem Hinweis auf den Feind bewußtlos die eigene Angleichung an den Feind betrieben hat?
    Sind nicht alle Feindbilder: Organisierte Kriminalität (Mafia), Terrorismus (Iran, Libyen, PKK, IRA, ETA, Fundamentalismus, insbesondere der Islam) zugleich Bilder von feindlichen oder verbrecherischen Organisationen ausländischer Herkunft oder des Internationalismus im Innern des Staates? In den gleichen Kontext gehört das Wiederaufleben der Religions- und Weltanschauungskriege.
    Gehören hierher nicht die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und im Anblick der aus dem Bann des Ost-West-Konflikts herausgetretenen Ökonomie (Globalisierung, Freisetzung der Kräfte des „freien Marktes“, „Reform“ des Sozialstaats) notwendigen Versuche der Reorganisation (der Neudefinition der Aufgaben) der Militärapparate, der Geheimdienste, der Terrorismus- und der Kriminalitätsbekämpfung?
    Ähnlich wie die Privatisierung des Fernsehens die Medienlandschaft verwüstet hat, verwüsten die Privatisierung staatlicher Aufgaben die Politik und die Staatsschutzprozesse den Rechtsstaat.
    Lassen sich nicht heute schon die mafiösen Strukturen in der Politik an Parteien festmachen: an der Komplizenschaft von Religion und intriganter Machtpolitik, an der Speerspitze des Neoliberalismus, der nur noch die Interessen seiner Klientel vertritt, und an der Einbindung der Sozialdemokratie, die für sich selbst das „Bangemachen gilt nicht“ längst außer Kraft gesetzt hat?
    Das Problem läßt sich am Beispiel Helmut Schmidt demonstrieren, der einmal den Ermittlungsbehörden und den Gerichten die Weisung mitgegeben hat, in der Terrorismus-Bekämpfung „bis an die Grenze des Rechtsstaats“ zu gehen, während er in der Frage der Währungspolitik der Deutschen Bundesbank seine kritische Reflexionsfähigkeit sich bewahrt zu haben scheint.
    Ähnlich die Kirche, die die Spannung ihre eigenen inneren Widerspruchs (des Widerspruchs zwischen dogmatischer und moralischer Tradition und den materiellen Zwängen des ökonomischen Weltzustandes) heute bis zum Zerreißen an sich selbst erfährt (die Last, unter der sie steht, ist in der Gestalt des gegenwärtigen Papstes, der kein Zyniker ist, aber trotzdem das Opus Dei stützt und seiner Hilfe sich bedient, geradezu sinnlich erfahrbar). Die Kirche in Deutschland dagegen scheint allein an der repressiven Sexualmoral zu leiden, während sie das Problem des Dogmas, des Bekenntnisses, der Orthodoxie nicht sieht und die ökonomischen Weltprobleme nur bis zu dem Punkt zu sehen scheint, an dem sie beginnen, den eigenen Status in Frage zu stellen.
    Es gibt nicht mehr den einen Angelpunkt, an dem alle Probleme sich festmachen lassen. Ist nicht das Problem heute in der Schrift schon präzise bezeichnet: in der Geschichte der drei Leugnungen und in der Geschichte von den sieben unreinen Geistern (in den Gestalten des Petrus und der Maria Magdalena).
    Zu verweisen ist insbesondere auf die sieben unreinen Geister, von denen keiner mehr für sich alleine in Anspruch nehmen darf, den Angelpunkt der Lösung der Weltprobleme zu bezeichnen.
    Zu René Girard: Ist nicht das Lamm Gottes, das würdig ist, die sieben Siegel zu lösen, die Umkehrung der Perspektive des Sündenbock-Syndroms?
    Nicht in der Sonne und nicht im Mond, aber auch nicht in Jupiter und Mars oder Venus und Merkur, sondern im Saturn, und dann erst in der Konstellation der anderen „Planeten“, ist die Lösung der Welträtsel beschlossen. In den vergeblichen Versuchen der sechs anderen Planeten, in sich selbst die Imago der Ruhe nachzubilden, die im Saturn ihren Grenzbegriff findet. Die Abbilder des ruhenden Zentrums sind allesamt Verführungen des Unschuldstriebs.
    Venus und Merkur: Liegt die Exogamie nicht noch vor dem Ursprung des Fernhandels?
    Jupiter und Mars: Liegt der Krieg vor der Konstituierung des Rechtsstaats?
    Adornos Konzept des Eingedenkens der Natur im Subjekt war ein saturnisches Konzept.
    Was hat diese ganze Geschichte mit dem Wasser und dem Feuer zu tun, mit der Taufe und dem Geist?

  • 21.11.1996

    René Girard, Ausstoßung und Verfolgung: Sind nicht die subjektiven Formen der Anschauung die letzten Repräsentanten des kollektiven Mords? Klingt nicht in der Urteilsformel „Im Namen des Volkes“ dieser kollektive Mord, der den Staat begründet, nach?
    Das Sündenbock-Paradigma schlüsselt den Mythos, und in seinem Kern den Schicksalsbegriff, von innen auf.
    Alle Mythen sind Ursprungsmythen, und deren Reflexion ist ein Teil der notwendigen Erinnerungsarbeit.
    Das Sündenbock-Paradigma ist ein Teil der Feindbild-Logik, die erstmals im Namen der Barbaren sich stabilisierte. Der Name der Barbaren ist zugleich die erste Manifestation der „subjektiven Form der äußeren Anschauung“, des Prinzips der Veräußerlichung der (subjektiven wie nationalen) Außenwelt.
    Wie paßt in dieses Sündenbock-Syndrom die Exodus-Geschichte hinein, mit der Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos?
    Ist nicht die Daniel-Geschichte eine Fortführung und Erweiterung der Joseph- und Exodus-Geschichte (in der der Feuerofen dem Eisenschmelzofen Ägypten entspricht)? Ist Daniel der Joseph redivivus unter den veränderten Bedingungen Babylons?
    Unterscheidet sich nicht der Pharao von den Königen Babylons durch seine Anonymität? Er ist der Pharao, der König Ägyptens, während die Könige Babylons Nebukadnezar bzw. Belsazar (und die Könige Persiens Darius, Artaxerxes und Kyros) heißen.
    Der Staat ist die Institutionalisierung des kollektiven Mords, in dem er (wie das Nachkriegs-Deutschland in Auschwitz) seinen Gründungsakt erkennt und zu „vertuschen“ sucht. Die Vertuschungsarbeit ist der Mythos, in dem die Erinnerung jedoch durchscheint.
    An der Stelle, an der Rene Girard Plato zitiert, zitiert er den „Staat“, und zwar nicht nur das platonischen Werk, das unter diesem Titel überliefert ist, sondern auch die Institution.
    Der Staat ist die objektive Realität des Begriffs (das objektive Korrelat der subjektiven Formen der Anschauung). Insofern hat die gegenwärtige Phase der Geschichte der politischen Ökonomie ihre fundamentale Bedeutung für die Selbstverständigung der Philosophie.
    Der real existierende Sozialismus und – als es mit ihm zu Ende ging – die 68er Marxismus-Rezeption in der BRD haben, als sie sich der Selbstreflexion entzogen, deren Medien der eigenen Feindbildlogik angepaßt und zu den Waffen umgeschmiedet, an denen sie dann zugrunde gegangen sind.
    Die Begriffe, mit denen wir glauben, die Welt zu verstehen, und die Logiken, die wir mit diesen Begriffen rezipieren und verinnerlichen, sind in Wahrheit die Fäden, die uns zu Marionetten der Welt machen. Es gibt keine Selbstreflexion mehr ohne die Reflexion der Strukturen, die die Welt beherrschen, und wir verstehen die Welt nicht, wenn wir uns selbst nicht verstehen. Die Selbstreflexion ist ein zentrales Element der Kritik der politischen Ökonomie. Und wenn diese Selbstreflexion dahin führt, daß es sich als notwendig erweisen sollte, die erste der geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins zu korrigieren, indem man sie umkehrt, so wird man’s auch tun müssen: nämlich in dem Sinne, daß nicht die (als Zwerg unterm Tisch versteckte) Theologie dem historischen Materialismus dient, sondern daß der Zwerg unterm Tisch mit Hilfe des historischen Materialismus aus seiner Zwangslage sich befreit.
    Oder anders: Die kantische Vernunftkritik ist als Wissenschaftskritik zugleich Gesellschaftskritik, aber man kann die Gesellschaftskritik von der Wissenschaftskritik nicht trennen. Mit der Verwerfung und Preisgabe der Wissenschaftskritik haucht die Gesellschaftskritik ihren Geist aus. Auch das Projekt Moderne darf nicht dogmatisiert, es muß reflexionsfähig gehalten werden.
    Das Sündenbock-Paradigma wird durch die subjektiven Formen der Anschauung und die daraus hervorgegangene transzendentale Logik, in die sie mit eingeht, automatisiert und unkenntlich gemacht. In der transzendentalen Logik scheint jener Vertuschungseffekt, der den Mythos durchherrscht, endgültig geworden zu sein. Die Hinweise Kants, daß dieser transzendentale Apparat noch zu reflektieren wäre, sind schon von seinen Nachfolgern, die ihn nur perfektioniert haben, verdrängt worden. (Hegel, der die Reflexion bis zu den durch den Weltbegriff gesetzten Grenzen vorgetrieben hat, ist im Gelingen seines Projekts gescheitert.)
    Die subjektiven Formen der Anschauung haben den parvus error in principio der Theologie, des Dogmas, der Orthodoxie, der Opfertheologie, das Entsühnungskonzept und die Bekenntnislogik, rein herauspräpariert, er ist damit erstmals analysierbar geworden.
    Worauf es heute ankäme wäre: das Resultat der Kritik der Urteilskraft, das Konzept des reflektierenden Urteils, auf die transzendentallogischen Fundamente des bestimmenden Urteils, auf das Resultat der Kritik der reinen Vernunft, rückwirkend anzuwenden.
    Zielte nicht der Satz: „Seht ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe; darum seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben“ auf eine Erkenntnisfigur, die in der Beziehung Daniels zu Nebukadnezar vorgebildet ist: zu lernen, den Traum des Andern, den dieser vergessen hat, zu rekonstruieren und zu deuten?
    In Girards Sündenbock-Syndrom gibt es den entscheidenden Akt, in dem sich der Kreis um das Opfer schließt, bevor es ermordet, zerrissen und zur gemeinschaftsbildenden Grundlage der Brüderhorde wird. Ist nicht die Philosophie und die aus ihr hervorgegangene Geschichte der Aufklärung in diesen Kreis und in diese Tat gebannt, und zwar in eben diesem Akt, in dem sie das Bewußtsein der Tat verloren hat?
    Ist nicht das Bild des kollektiven Mords das präzise Bild dessen, was mit Auschwitz in Deutschland passiert ist? Und ist nicht das letzte Rätsel dieser Geschichte die kollektive Verdrängungsgeschichte, eine Verdrängungsgeschichte, an der alle teilhaben, in die alle verstrickt sind, der keiner sich entziehen kann, es sei denn, er versucht, diesen Bann durch Reflexion zu sprengen?
    Paßt nicht zu René Girard der Satz (Produkt eines reflektierenden, nicht eines bestimmenden Urteils), daß die Geschichte der Naturwissenschaften mit der Hexenverfolgung begonnen und mit Auschwitz geendet hat?
    Läßt nicht die Flucht des Jonas nach Tarschisch aus dem Sündenbock-Syndrom sich herleiten, und erinnert nicht die Szene auf dem Schiff, als die Schiffsleute ihn ins Meer werfen, an den kollektiven Mord?

  • 18.11.1996

    Der deutsche Begriff der Schöpfung leitet sich her aus dem Verb schaffen (schuf, geschaffen), wobei allerdings die Substantivierung auf das schwach konjugierte Verb schöpfen (schöpfte, geschöpft) zurückgreift. Vor diesem Hintergrund müßte das erschaffen eigentlich einem ausschöpfen entsprechen. Stehen die Begriffe Schöpfung und Geschöpf (zu dem es auch die Schöpfkelle gibt) in Zusammenhang mit einer sprachlogischen Entwicklung, die der Geschichte des Dingbegriffs analog ist und mit ihr auf einen gemeinsamen Ursprung zurückweist, eine Entwicklung, die eindeutig ökonomisch determiniert ist: Hier bezieht sich das Schaffen auf die materielle Produktion (schaffe, schaffe, Häusle baue), die Schöpfung auf deren ökonomische Grundlage: das Geld, den Kredit (die Geldschöpfung, deren Begriff der Vorstellung einer creatio mundi ex nihilo zugrundeliegt; ist dieses nihil nicht das durch den Staat gerantierte und organisierte Eigentum?). Das Schöpfen zieht die Vorstellung eines Gefäßes nach sich, aus dem ich etwas schöpfe (während die creatio auf eine Materie zurückweist, aus der etwas gemacht ist). Ist dieses Gefäß (an das der prophetische Gebrauch der Begriffe Topf, Kelch, Becher erinnert) nicht durch die kantische Vernunftkritik bestimmbar geworden: in den „subjektiven Formen der Anschauung“, sind die Formen der Anschauung vielleicht der Taumelkelch, der Becher des göttlichen Zorns, aus dem die Herrschenden trinken, und von dem alle, die aus ihm trinken, trunken werden? War nicht der Rußlandfeldzug der Nazis, in dem sie die Kirchen als Verbündete gewonnen haben, und in dessen Schatten die „Endlösung der Judenfrage“ in Angriff genommen werden konnte, ein Weltanschauungskrieg und deshalb ein „totaler Krieg“ und ein Vernichtungskrieg?
    Bezieht sich nicht das Präfix er- in erschaffen, erscheinen, auf das ex nihilo im theologischen Schöpfungsbegriff? Nur ist hier das nihil ästhetisch vordefiniert.
    Die deutsche Sprache enthält das Potential zu einer Erkenntnis des Weltzustandes, die nur über die Sprachreflexion zu gewinnen ist.
    Der Kern des Neutrum ist nicht das Was, sondern das Wie.
    Die Skinheads verwechseln radikal mit ratzekahl.
    Gibt es Literatur zur Geschichte der ägyptischen Plagen und der Verhärtung des Herzens Pharaos?
    Ist nicht Auschwitz der Versuch einer Umsetzung eines naturwissenschaftlichen Welt-Konzepts in ein gesellschaftliches?
    Der ungeheuerliche Gedanke Hegels, daß Tiere zu anderen Arten wie zu anorganischen Materien sich verhalten, stimmt nur halb; richtiger ist, daß das Verhältnis der Arten zueinander unter dem Gesetz der Feindbildlogik steht, unter dem Gesetz des Gerichts. Der Begriff der Art ist für Hegel der Grund und der Beweis dafür, daß die Natur den Begriff nicht halten kann. Daß aber umgekehrt der Begriff zuerst als Art (als Subjekt-Objekt der Feindbildlogik, als Totem) sich konstituiert, daß er selber mit dem Mal behaftet ist, das Hegel der Natur ankreidet: das wäre der Punkt, aus dem die Kritik der Hegelschen Philosophie herzuleiten wäre.
    Im noachidischen Bund hat Gott den „Bogen in den Wolken“ vom Objekt der Anschauung zu einem Gegenstand der Erinnerung gemacht. Er soll an die Verheißung erinnern, daß es eine zweite Sintflut nicht geben wird, und an den in dieser Verheißung begründeten noachidischen Bund.
    Christkönig: der einzige König mit einer Dornenkrone.
    Ist nicht der Satz „Die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht“ auch ein Hinweis auf die Kraft der Sprache, auch den Bann der Naturwissenschaften über die Dinge zu brechen?
    Löst sich nicht das Problem, weshalb das Opfer Abels angenommen worden ist, das Opfer Kains hingegen nicht, durch die (anachronistischen) Hinweis auf die beiden Nahrungsgebote? Und hier löst sich auch das Problem, weshalb der Name des Gerichts beides bezeichnet, das Essen und die richtende Instanz.
    War nicht in der Geschichte des Opfers die der Barmherzigkeit verborgen? Nur unter diesem Aspekt ist das Kreuzesopfer ein Opfer. Der andere, der herrschaftsstabilisierende Aspekt des Opfers, ist blasphemisch. Auch hier gilt das Gesetz der Asymmetrie: Opfer werden gebracht, aber sie dürfen niemals gefordert werden. So, nur so wird das Opfer durchsichtig als ein Symbol der Logik der Schuld. Er, der die Sünde der Welt auf sich genommen hat, hat sich selbst als Opfer dargebracht, aber hätten wir es jemals annehmen dürfen? Mir sind heute Reinhold Schneider und Camilo Torres näher als der Priester am Altar.
    Hat nicht das lateinische Christentum seit je die Erlösung mit Ataraxia verwechselt (mit Marc Aurel als Kirchenvater)?
    Zum Begriff der Kälte, oder zur Idee einer moralischen Geographie: Gehört zu Reinhod Schneiders Winter in Wien nicht der Nordpol Rom? Zum Weltbegriff der Apokalypse gehört eine Geographie, deren Grundlagen der Moral zu entnehmen sind (ein Weltbegriff, deren prima philosophia nicht die Ontologie, sondern die Ethik ist).
    Der einzige Erkenntnisweg von dieser Welt zur zukünftigen Welt führt durch eine Gestalt der Erinnerung, die an der Idee der Auferstehung sich orientiert, hindurch.
    Rosenzweig hatte recht: In der Welt, in der er lebte, war das Christentum für ihn keine Alternative, war das Feuer der Theologie allein noch in der jüdischen Tradition lebendig. Genau aus diesem Grunde hat das Judentum den Vernichtungswillen der vom Christentum geprägten Welt auf sich gezogen. Deshalb richtet sich die Idee der Auferstehung (als regulative, nicht als konstitutive Idee) in erster Linie auf Auschwitz: als ein Mittel, das Unbegreifliche zu begreifen.

  • 17.11.1996

    Steckt nicht in jeder Verdrängung ein Stück Euphorie, Todeslust? Haben die Christen die Idee des seligen Lebens (und die dazugehörige Unsterblichkeitsvorstellung) vielleicht mit dieser Euphorie verwechselt?
    Die Hölle, deren Wahrnehmung und Reflexion in uns selbst wir uns verweigern, fügen wir dann zwangshaft anderen zu. Auch die Hölle steht unter dem Gesetz der Asymmetrie.
    Aus welchem Kontext stammt eigentlich der Begriff der Rasse? Sein Gebrauch verweist eher auf den Bereich des Ackerbaus, der Haustierhaltung, der Züchtung, als den der normalen Biologie, auf die die Begriffe Gattung und Art sich beziehen; m.a.W. er transportiert die Logik der Naturbeherrschung in die Biologie. Sein Ursprung liegt im Bereich der Domestikation; es darf vermutet werden, daß seine Anwendung auf „wilde Tiere“ erst nach deren Aufnahme und Zur-Schau-Stellung in Zoologischen Gärten erfolgte. Der Rassebegriff ist aus dem Kontext der Vererbungslehren nicht herauszulösen; der Begriff der Vererbung ist selbst ein Rassebegriff. Dem entspricht es, daß der Rassenbegriff schon vom Grunde her ein wertendes Element in sich enthält; die eigentliche Rasse ist die „edle Rasse“.
    Die Genforschung ist ein letzter Ausläufer einer Entwicklung, die am Rassebegriff sich orientierte: Bezeichnend der Begriff des „genetischen Materials“ (des biologischen Äquivalents der Mikrophysik), der das Lebendige insgesamt dem gesellschaftlichen Zugriff erschließt.
    Läßt nicht der Charakter der Hegelschen Philosophie an der Stellung des Begriffs der Art in dieser Philosphie, zentral in der Hegelschen Logik, sich demonstrieren? Hegel hat bereits den Begriff der Rasse rezipiert (und auf Menschenrassen bezogen).
    Omne animal post coitum triste: In welcher logischen Beziehung stehen die Begriffe Rasse und Masse? Ist nicht die Rasse das biologische Äquivalent zum physikalischen Massebegriff, wobei der Begriff der Vererbung dem der Gravitation entsprechen dürfte? Hat nicht die Schwangerschaft etwas mit der Schwere (deren sprachliches Umfeld in das der Schwangerschaft hereinreicht)? Und ist nicht die Gebärmutter der Ort der Transsubstantiation von Schwere in Leben (und der Akt der Begattung der biologische Reflex des freien Falls, der zugleich als Bild des Todes sich enthüllt: hat nicht jede Lust etwas von der Euphorie)?
    Der Begriff der Rasse korrespondiert dem des Organischen. Aber ist nicht das Organische Ausdruck des Schuldzusammenhangs: Reflex des Widerstandes, an dem alles Lebendige (von der Botanik bis in die Ökonomie) sich abarbeitet? Der Rassebegriff ist ein Schicksalsbegriff (das moderne Gegenstück der antiken Astrologie).
    Der Begriff der Rasse (der bezeichnenderweise aus dem Bereich der Sprachforschung stammt) entspringt dem Versuch, den Mangel der Natur, die Hegel zufolge den Begriff nicht halten kann (Hegels Beweis: daß es mehr als zwei Arten gibt), zu beheben, den Begriff selber zu naturalisieren: Der Begriff der Rasse indiziert einen herrschaftsgeschichtlichen Sachverhalt, dessen reale politische Entsprechung der Faschismus (und in seinem Kern der Antisemitismus) war. Sind die Hegelschen zwei Arten (die Verkörperungen des Allgemeinen und des Besonderen) eine Vorstufe der faschistischen Polarisierung der Rassen, derzufolge zu der zur Herrschaft berufenen Rasse der Arier die absolute Gegenrasse der Juden gehört?
    War es nicht ein sehr tiefer Gedanke, wenn im Kontext der Astrologie die menschlichen Organe den Planeten zugeordnet worden sind?
    Die ezechielische Individualisierung der Schuld wird mißverstanden, wenn sie der Strafrechtslogik subsumiert wird. Sie zielt nicht darauf ab, den Sohn von den Sünden der Väter zu entlasten, sondern ihn anzuleiten („dixi et salvavi animam meam“), die Sünden der Väter (die in Babylon zur Sünde der Welt geworden sind) als seine eigenen zu erkennen. Diese Individualisierung der Schuld ist der Grund, aus dem Joh 129 sich herleitet. Hier ist der Punkt, an dem die Menschen erwachsen werden.
    Der Abgrund, auf den der Zug zurast, ist einer, den wir selbst hervorbringen, wenn wir glauben, wir könnten ihm entgehen, wenn wir andere hineinstoßen. Das logische Modell, das diesem Bild zugrunde liegt, war eine Unsterblichkeitslehre, die am Zustand der Welt desinteressiert war und deshalb eigentlich nur zur Hölle paßte. Eine dieser Unsterblichkeitslehre angemessene Himmelsvorstellung hat es eigentlich nie gegeben.
    Das pathologisch gute Gewissen ist ein Euphorie-Effekt. Der freudsche Todestrieb und die Weiterentwicklung dieses Konstrukts durch Erich Fromm (in seiner „Anatomie der menschlichen Destruktivität“) läßt sich nicht aufs Psychologische eingrenzen; er wird erst durchsichtig, wenn in seine Konstruktion seine Beziehung zum Zustand der Welt mit hereingenommen wird.
    Die 68er Bewegung hat ihre Wurzeln in der kollektiven Verdrängung nach dem Krieg, an der sie partizipierte und die sie verstärkt hat. An der 68er Bewegung wird zugleich sichtbar, daß es kein deutsches Spezifikum mehr ist (auch wenn es hier in besonderer Schärfe hervorgetreten ist), sondern ein gesamtgesellschaftliches. Dieser Zusammenhang wäre zu demonstrieren an der Geschichte des Ursprungs und der Entfaltung der Naturwissenschaften (an ihrer Beziehung zu ihren ökonomischen Wurzeln).
    Die Beziehung der Naturwissenschaften zur Ökonomie ist das Modell und die Wurzel des Konstrukts der Reversibilität, das in den Naturwissenschaften, in der transzendentalen Logik, die sie beherrscht, sich entfaltet. Diese Reversibilität hat ihre Grenze an der Schwere (Begriff und Objekt; Empörung, Hochmut und Niedertracht; Gemeinheitslogik und die besondere Schwere der Schuld).
    Wie hängt die Gemeinheitslogik („besondere Schwere der Schuld“) mit dem Ursprung des Rassebegriffs zusammen?
    Nach Kluge (Etymologisches Wörterbuch, 22. Aufl., S. 583) wurde das Wort Rasse im 18. Jhdt. aus dem Französischen (race) übernommen (race gehört zusammen mit it. razza, span. raza, port. razo; Herkunft umstritten: lat. ratio – Vernunft, arab. ra’s – Kopf, auch lat. radix – Wurzel, Zusammenhang mit radikal).
    Das „mathematische Symbol“ des Menschen bei Franz Rosenzweig, das B = B, ist der Beweis dafür, daß es zur Reflexion keine Alternative gibt.
    Ist nicht in der christlichen Tradition der Kontext der Herrlichkeits-Theologie (kabod; Ezechiel und die Merkaba-Mystik) durch Ästhetisierung von der Reflexion des Weltzustandes getrennt, damit aber herrschaftslogisch instrumentalisiert und neutralisiert (und d.h. narkotisiert und euphorisiert) worden?
    Die Idee der Barmherzigkeit sprengt die Fesseln der Herrschaftslogik, sie eröffnet das Reich der Freiheit in den Kirchen. Dem entspricht das Wort „Barmherzigkeit, nicht Opfer“, dessen christliche Variante der Jakobus-Satz enthält „die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht“. Sie bezeichnet den Beginn der Gotteserkenntnis. Sie löst das Problem der Theodizee durch Erkenntnis ihrer Gegenstandslosigkeit. Sie ist das Pendant des Kafkaschen Satzes „Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns“.
    Wie die christliche Buße die Umkehr von der Erinnerung getrennt (und mit dieser Trennung die Umkehr ins Sadistische transformiert) hat, so hat der Gehorsam sich von dem Hören getrennt, auf das das sch’ma Jisrael verweist.
    Die Transformation der Umkehr in den Sadismus wäre am Beispiel des Antisemitismus (an dem Problem, auf das Daniel Jonah Goldhagen hingewiesen hat: weshalb der Judenmord mit den zusätzlichen Demütigungen, Gemeinheiten und Grausamkeiten einherging) zu demonstrieren.
    Mein ist die Rache, spricht der Herr: das heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß wir auf die Erfüllung des Rachetriebs verzichten sollen; wie Seine Rache dann aussieht, ist ein anderes Problem. Rachegott: da gibt’s nur einen, das Absolute, das in dem Staat sich verkörpert, dessen konsequenteste Gestalt der Faschismus ist.
    Zum evangelischen Rat der Armut, „Mein ist dein, dein ist dein“: Der Anspruch, etwas für mich als Eigentum zu reklamieren, ist blasphemisch, und er bleibt es, auch wenn er inzwischen in die Fundemente der Gesellschaft mit eingebaut worden ist. Dieses blasphemische Moment in der gegenwärtigen Konstruktion des Lebens hängt mit dem Problem der Euphorie zusammen (mit den Wurzeln der Ästhetik und mit der Verhärtung der Herzen).

  • 16.11.1996

    „Es war, als sei man einfach dadurch, daß man am Leben war, in ein fremdes Grundstück eingebrochen, und der das Wort an dich richtet, läßt dich wissen, daß dein Dasein unerwünscht ist“ (Ruth Klüger, weiter leben, S. 113): Deutlicher kann man den Zusammenhang des Antisemitismus (der Feindbildlogik) mit dem Eigentumsprinzip, das den Staat begründet, nicht zusammenfassen.
    Zur Bemerkung über Adornos Satz, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, der hier wieder einmal nur in der Gestalt zitiert wird, in der ihn das öffentliche Gerücht kolportiert (Klüger, S. 127), wäre einfach auf die Fundstelle in den Prismen (1955. S. 31), die keiner zu kennen scheint, zu verweisen.
    Heute in der FR ein Hinweis auf Rene Girard („Religion und Gewalt“): In den Erklärungsansatz wäre das Problem des Objektivierungsprozesses, der Zusammenhang von Ökonomie und Naturwissenschaften und ihres gemeinsamen Apriori, in denen die Sündenbockmechanik und die mythische Opferlogik (Feindbildlogik, Sündenbockmechanismus und Bekenntnislogik) sich reflektieren, mit aufzunehmen.
    Der Grund der Unterscheidung von Welt und Natur liegt in der Unterscheidung der subjektiven Formen der äußeren und der inneren Anschauung (in der Unterscheidung von Raum und Zeit). Der Begriff der Natur (der auf das „dynamische Ganze der Erscheinungen sich bezieht) steht unter dem Gesetz der inneren, der der Welt (der auf das „mathematische Ganze der Erscheinungen“ sich bezieht) unter dem der äußeren Anschauung. Der Naturbegriff gründet in der Vergegenständlichung der Zeit, der Weltbegriff in der des Raumes.
    Natur und Ökonomie sind beides Produkte des Seitenblicks auf die Zeit: die Ökonomie unter dem Aspekt der Produktion (des ante rem: der Vergegenständlichung der Zeit), die Natur unter dem des Konsums (des post rem: der bereits vergegenständlichten Zeit): Nach der biblischen Geschichte vom Sündenfall produziert Adam den Staub, den die Schlange frißt. Das Subjekt der Ökonomie setzt sich gleichsam an den imaginären (unendlichen) Anfang der Zeit, das der Natur an ihr imaginäres (unendliches) Ende: so sind die säkularisierten Formen der Schöpfung und des Gerichts auf einander verwiesen. Hiermit hängt es zusammen, wenn der Weltbegriff die Schöpfung leugnet und der Naturbegriff die Auferstehung.
    Die RAF-Prozesse sind Teil einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, in deren Folge Auschwitz uns immer näher auf den Leib rückt. Es gibt eine Form der Aufarbeitung der Vergangenheit, die ohne es zu wissen in Wiederholungszwänge umschlägt. Der Transmissionsriemen dieses Umschlags ist die Urteilsmagie, die Vorstellung, man könne den Schrecken durchs Urteil bannen.
    Auf einem Sportplatz spielen zwei Mannschaften von 10-Jährigen Fußball; am Rande die Trainer der beiden Mannschaften, die ihre Kommandos ins Feld brüllen, die die Kinder dann begeistert befolgen: So werden Pawlowsche Reflexe eingeübt, die nicht nur die Grundlage sportlicher Erfolge sind, sondern zugleich die Erfolgsreligion (die winner-Mentalität und die Logik, die ihr zugrundeliegt: die Feindbildlogik) eintrainieren. So wird der Sport zu einem Nebenzweig einer von der BWL dominierten Ökonomie, zu einer die Herrschaft des Selbsterhaltungsprinzips stabilisierenden Ideologie. Vor dieser Folie ist der Graf-Prozeß ein nationales Ereignis.
    Ließe sich nicht anhand der Steuerprozesse zunächst gegen Graf Lambsdorf und jetzt gegen Graf der „Fortschritt“ der politischen Ökonomie aufs genaueste bestimmen? Im Zuge der Privatisierung staatlicher Aufgaben und der gleichzeitigen Transformation von Politik in Verwaltung lassen private und öffentliche Interessen sich schon fast nicht mehr unterscheiden.
    Boris Becker und Steffi Graf: So wurden die Funktionen, die früher einmal Filmstars hatten, vom Film in den Sport, vom Himmel auf die Erde, transformiert. Rührt das nicht an den Kern der Logik, aus der der Antisemitismus sich herleitet?
    Haben nicht das Tier aus dem Meer und das Tier vom Lande schon etwas mit der Unterscheidung von Himmel und Erde zu tun, und ist nicht der falsche Prophet und der Antichrist die Verkörperung einer Phase des Säkularisationsprozesses, die das Feuer des Himmels zum Objekt von Naturbeherrschung zu machen strebt (Off 1313: „Und es tut große Zeichen, sodaß es sogar Feuer vom Himmel fallen läßt, vor den Menschen“)?
    Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet: Wenn am Ende die Menschen (die „Väter“) der Verblendung verfallen, selber Schöpfer der Dinge geworden zu sein, werden die Dinge sie verbrennen.
    Ist nicht die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos die früheste Gestalt der Hegelschen Geschichtsphilosophie (mit dem Untergang der Streitmacht Pharaos im Schilfmeer als Weltgericht)?
    Die Gestalt der Selbstreflexion, die heute notwendig wäre, läßt sich nur mit dem Wort in Joh 129 noch bestimmen: Das Sehet, mit dem dieses Wort beginnt, richtet sich nicht an den Zuschauer, sondern an den Nachfolger, es steht nicht im Indikativ, sondern im Imperativ.
    Die Urteilsmoral ist die Moral des Zuschauers (und des Richters). In dieser Konstellation gründet der Zwang zum Geschwätz. Die Feindbildlogik ist ein Teil der Logik des Geschwätzes.
    Beziehen sich das Angesicht, der Name und das Feuer auf eine Trinitätslehre von innen, und was hat diese Trinitätslehre mit einem Schöpfungsbegriff zu tun, in dem neben Himmel und Erde auch das Meer vorkommen?
    Auschwitz hat die Erinnerung des Himmels verbrannt, die Asche gegen den Himmel gestreut. Aber dieses Feuer ist nicht erloschen: in diesem Feuer sind wir.
    Die Logik, die die Oben-Unten-Beziehung reversibel gemacht hat, hat das Ungleichnamige gleichnamig gemacht: Sie hat die Herrschaftslogik ausweglos gemacht und die Feuer der Hölle in der Sprache entzündet.
    Hängt nicht das Wort, daß die Pforten der Hölle sie (die Kirche) nicht überwältigen werden, mit dem anderen zusammen: Was ihr auf Erden lösen werdet, wird auch im Himmel gelöst sein?
    Der ungeheure Gedanke, daß der Himmel die sinnliche Grenze zur Vergangenheit ist (eine Grenze, die nur die Gebete der Heiligen zu durchdringen vermögen). Die Erinnerung an diese Grenze wurde durch Kopernikus verdrängt. Seitdem erreicht das Gebet den Himmel nicht mehr, bleibt es ins monadologische Subjekt, in die Bedürfnisse der Einsamen (wie der Gegenstand der Planckschen Strahlungsformel in den dunklen Hohlraum, aus dem keine Strahlung mehr nach draußen entweicht), eingesperrt.
    Die ergreifende Symbolik des Satzes: „Wenn mei dä Augen togeiht, wär’n se enk opgaohn“, auch das Bild der alten Frau im Krankenhaus, die 1945 immer nur den einen Vers sang „Wildgänse rauschen durch die Nacht … die Welt ist voller Morden“.
    Wenn es einen Fortschritt in der Geschichte gibt, dann müßte er in der Linie Assur, Babylon, Persien, Griechenland und Rom liegen: Militärmacht, Tempelwirtschaft, Rechtsstaat, Zivilisation zur öffentlichkeitsfundierten respublica und zum Caesarismus.
    Das Sklavenhaus Ägypten, der Eisenschmelzofen, ist zu dieser Geschichte exterritorial.
    War es nicht der „politische Auftrag“ der Geschichtswissenschaft seit der Erfindung der Sumerer, diese klaren und durchsichtigen Strukturen zu verwirren? Und gleicht dieser Auftrag nicht dem, den die Kopenhagener Schule in der Physik dann übernommen hat?
    Newton hat das to be ins naturwissenschaftliche Grundgesetz übertragen: ins Gravitationsgesetz (das Präfix be-: Kristallisationskern der Verräumlichung und Verdinglichung).

  • 14.11.1996

    Die Beziehung des Inertialsystems zum Dogma liegt nicht in seiner Form – das Äquivalent dieser Form ist die Bekenntnislogik -, zur Stabilisierung der subjektiven Formen der Anschauung (und der Bekenntnislogik) bedarf es eines inhaltlichen Dogmas, und dessen Rolle hat das kopernikanische, das heliozentrische System übernommen. An dessen Stabilität, die mit der Opferung des Himmels (oder, was dem gleichbedeutend ist: mit der Verinnerlichung des Opfers) erkauft ist, hängt die der gesamten Naturwissenschaft.
    Roland Barthes‘ Rekonstruktion des Mythos („Mythen des Alltags“), in dem er der Logik der Beziehung von Herrschaft, Natur und Mythos auf die Spur kommt. Zu rekonstruieren wäre ergänzend dazu der ökonomische Grund dieser Logik.
    Gilt nicht der Satz „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet“, für den Mythos insgesamt (durch Reflexion den Bann des Urteils, der in den Sternen sich verkörpert, brechen). Ist nicht der Mythos Ausdruck der urteilsproduzierenden Gewalt?
    Israel ist sein erwähltes Volk, nicht sein auserwähltes: In diesem „aus-“ drückt die neiderfüllte Selbstausgrenzung der „Völker“ sich aus, die den Antisemitismus erzeugt.
    Im Objektbegriff steckt ein politisches Moment: ein Stück feindliches Ausland. Sind nicht die Form des Raumes und die Logik des Geldes Denkmäler der Eroberungs- und Unterwerfungsgeschichte, in der der Staat sich konstituiert und entfaltet hat?
    Ist der Himmel die sinnliche Entsprechung der Grenze zum Ausland schlechthin, und deshalb das providentielle Korrelat der Herrschaftslogik? Durch die kopernikanische Wende ist die ganze Welt zum herrenlosen Gut für eroberungssüchtige Staaten geworden.
    Versicherungsprobleme, Bemerkung zum Vertrauensproblem in der Ökonomie (vgl. die Dokumentation in der FR von heute): Werden nicht durch die gleiche Logik, die die Realität heute versteinern macht und dem ökonomischen Begriff des Vertrauens seine raison d’etre entzieht (was in der ökonomischen Theorie in der Ersetzung der Nationalökonomie durch die BWL sich widerspiegelt), die „Risiken“ von der Unternehmensseite nach unten verlagert und zum Bodensatz der verschwindenden Kraft der Reflexion; ist das Ganze nicht ein Teil der Sozialgeschichte des Urteils?
    Brennender Dornbusch: Ist der Name des Himmels, der nach kabbalistischer Tradition die Namen des Wassers und des Feuers in sich enthält, die erste Manifestation der Urteilsform, und zugleich die einzige, die deren Formgesetz von innen enthüllt? Sind Wasser und Feuer die Angesichte, die Subjekt und Prädikat, das Wer und das Was, Objekt und Begriff, einander zukehren: Ist das Wasser das Antlitz des Begriffs, das Feuer das des Objekts? Gründet das Relativitätsprinzip im Namen des Wassers, und verweisen das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit und das der Identität von schwerer und träger Masse aufs Feuer?
    Der erste Satz der Philosophie ist von Thales überliefert: Alles ist Wasser.
    Worauf bezieht sich der „Bogen in den Wolken“ nach der Sintflut (und das daran geknüpfte Versprechen)? Und in welcher Beziehung stehen die Wolken des Himmels und der Menschensohn), die Sterne des Himmels (das Himmelsheer und der Dominus Deus Sabaoth) und die Vögel des Himmels?
    Der Himmel ist Sein Thron: In welcher Beziehung steht der Himmel (die Urteilslogik) zum Eigentum (zum Staat als der Organisationsform einer Gesellschaft von Privateigentümern)? Und was hat das Privateigentum (und die in ihm gründende „Privatsphäre“) mit dem Grenzbegriff der Identität von träger und schwerer Masse zu tun?
    Ist der hebräische wie auch der deutsche Name des Wassers nicht der Plural von Was? Auf welche sprachlichen Wurzeln verweisen die Namen ouranos, caelum, sky und heaven? Und was hat der Himmel mit dem Hammer zu tun (vgl. Kluge: Etymologisches Wörterbuch)?
    Das vierte Gebot („Du sollst Vater und Mutter ehren, …“) ist das alttestamentliche Korrelat des neutestamentlichen Gebots der Feindesliebe.
    Wer heute gegen Mauern anrennt, härtet die Mauern und rennt sich selbst den Kopf ein: Zu den Mitteln, die die Mauern härten, gehört auch die Feindbildlogik (die im übrigen ein Kollektivum ist, der logische Kern des Weltbegriffs, zu dem, wenn man ihn als Kopf begreift, als Mauer die Natur gehört).

  • 11.11.1996

    Das Inertialsystem (das mit den „subjektiven Formen der Anschauung“, mit der transzendentalen Ästhetik, in den Erkenntnisapparat eindringt) ist das verdinglichte Dogma. In seinem Kontext
    – verändert sich das Urteil und mit ihm die Sprache,
    – wird das Urteilssubjekt zum Objekt,
    – wird das Nomen, das das Subjekt bezeichnet, zum Substantiv,
    – das Opfer, auf das die Opfertheologie sich bezieht, wird verinnerlicht: geopfert wird die Sinnlichkeit, die Vernunft, die Fähigkeit zur Schuldreflexion,
    – die Sprache wird zur bloß subjektiven Reflexion entmächtigt, die an der versteinerten Objektivität abprallt; sie verliert ihre erkennende Kraft, die im Namen gründet, und wird selber zu einem Instrument der Information und der Mitteilung verdinglicht, als welches sie dann der Kommunikationstheorie ihr Objekt liefert.
    Als Endstufe einer verdinglichten und automatisierten Bekenntnislogik, an deren exkulpierender Kraft es partizipiert (als Zerfallsprodukt des Dogmas), begründet das Inertialsystem mit der Verinnerlichung des Opfers, mit der Unfähigkeit, das Undenkbare zu denken, das Schuldverschubsystem und in dessen Kern die Feindbildlogik, die das Bewußtsein aller verhext.
    Das erste, das Christentum begründende Opfer war das Opfer des Lammes, ich hoffe nicht, daß das zweite, die Geschichte des Christentums beendende Opfer das Opfer der Taube sein wird, ein Opfer, das vorgebildet ist in der Verinnerlichung des Opfers, die das Inertialsystem verkörpert.
    Der entscheidende Schritt zur Konstituierung des Objekt ist die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, das Schellingsche „Ahnden“. (Ist diesem Ahnden am Anfang der Weltalter nicht ein Sinn abzugewinnen, wenn man es auf den Satz bezieht „Mein ist die Rache, spricht der Herr“?)
    Kant hat mit seiner Kritik der Urteilskraft die Fähigkeit, Links und Rechts zu unterscheiden, noch einmal zu retten versucht. Diese Fähigkeit ist dann in den Systemen des deutschen Idealismus endgültig untergegangen.
    Das Undenkbare denken: Bei Franz Rosenzweig drückt sich das in der Intention, das Zerdachte zu rekonstruieren, aus, in den Sätzen: „Von Gott (dem Menschen, der Welt) wissen wir nichts, aber dieses Nichtwissen ist Nichtwissen von Gott (dem Menschen, der Welt)“, in der Rekonstruktion der drei Objekte jenseits des Wissens (oder auch: jenseits der Todesfurcht?).
    Was haben die vier Winde mit dem Geist Gottes zu tun?
    Der 68er Marxismus hat, wie es scheint, einen Problembereich der marxistischen Tradition vollständig verdrängt, den Bereich, der durch den kritischen Ideologiebegriff, durch den Begriff des falschen Bewußtseins und das Problem der Beziehung von Unterbau und Überbau sich umschreiben läßt. Genau diese Themen aber sind es, die den Bereich der Reflexion in der Marxschen Theorie bezeichnen. Sie sind gleichsam gegenstandslos geworden, als das Element der Kritik, der kritischen Reflexion, unter die Feindbildlogik subsumiert wurde. Zugleich ist die Theorie der Gefahr der Personalisierung erlegen. Die Vermutung läßt sich begründen, daß diese Verdrängung zusammenhängt mit der anderen, die seitdem die Beziehung zur Vergangenheit insgesamt verhext, nämlich daß man geglaubt hat, den Nationalsozialismus durch bloße Verurteilung bannen zu können, ohne auf das Grauen und den Schrecken, für die der Name steht, sich noch einlassen zu müssen. Mit der Bereitschaft und der Fähigkeit, das Grauen und den Schrecken an sich heranzulassen, aber ist die Reflexionsfähigkeit verdrängt worden. Der Marxismus ist zu einer Art Naturwissenschaft verkommen, Produkt des gleichen reflexionslosen „Seitenblicks“, zu dem es seit der kopernikanischen Wende kein Alternative mehr zu geben scheint.
    Ist nicht der 68er Marxismus selber Ausdruck von politisch-ökonomischen Veränderungen, die er nicht mehr begreift: der versteinerten Verhältnisse, deren Zubetonierung er selber mit provoziert hat?
    Um auf das Bild des in den Abgrund rasenden Zugs zurückzukommen: Dieses Bild ließe sich kritisieren als ein Bild des „Seitenblicks“. Und diese Kritik wäre berechtigt. Aber es gibt kein anderes, so wie es einen anderen, die Totalität ins Auge fassenden Blick außer dem „Seitenblick“ (der dem kopernikanischen Blick auf den Kosmos entspricht) nicht gibt. Den gleichen Sachverhalt hat Adorno einmal mit dem Hinweis zu fassen versucht, daß die Welt immer mehr der Paranoia sich angleicht, die sie doch zugleich falsch abbildet. Aufgabe der Kritik wäre es, dieses Bild durch Reflexion auf seinen Wirklichkeitsgehalt, der mit dem Bild, in dem er sich ausdrückt, nicht identisch ist, aufzulösen.
    Haben die drei obersten Sefirot etwas mit den drei kantischen Totalitätsbegriffen, mit dem Wissen, der Natur und der Welt, zu tun?
    Urteile in RAF-Prozessen brauchen nicht mehr wahr zu sein, sie müssen nur unwiderlegbar sein. Darin gleichen sie dem antisemitischen Vorurteil, das sie zugleich durch einen strategischen Vorteil übertreffen. Das antisemitische Vorurteil war moralisch angreifbar, während diese Urteile die Logik der moralischen Indifferenz des Rechts in sich enthalten (sie neutralisieren die moralische Angreifbarkeit durch ihre rechtliche Unangreifbarkeit), so glauben sie, auch der moralischen Kritik entzogen zu sein, gegen sie als immun sich zu erweisen. Aber wäre nicht an ihnen der Satz aus dem Jakobus-Brief zu erproben: Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht, das Grundprinzip einer wirklich eingreifenden Rechtskritik?
    Der zentrale Punkt ihrer Schwäche ist die Unwiderlegbarkeit der RAF-Urteile: Unwiderlegbar sind sie allein in einem logischen Medium, dessen Funktion und Qualität der der Laborbedingungen im Hinblick auf den naturwissenschaftlichen Erkenntnisbegriff entspricht. Die juristischen „Laborbedingungen“ müssen zuvor hergestellt werden, zu ihnen gehören:
    – das in Gesetzesform bereits vorliegende Instrumentarium der Einschränkung und Behinderung der Verteidigung (Zusammenfassung sh. Bakker-Schut),
    – die Bedingungen, denen die Angeklagten während der Untersuchungshaft (die dann in der Strafhaft zwangsläufig beibehalten werden müssen) unterworfen werden, und die sie aller subjektiven Bedingungen ihrer eigenen Verteidigung berauben (sie imgrunde rechtlos wie den Feind machen) sollen,
    – das Instrumentarium der „instrumentalisierten Anklage“, mit dessen Hilfe Einfluß auf potentielle Zeugen genommen werden kann (sie können unter Druck gesetzt werden, u.a. durch Erpressung der Zustimmung zur Anwendung der Kronzeugenregelung, in anderen Fällen können auf diesem Wege die Voraussetzungen für ein Zeugnisverweigerungsrecht geschaffen werden).
    Nicht zufällig erwecken RAF-Prozesse den Eindruck, daß nicht der erkennende Senat, sondern die Anklage der wirkliche Herr des Verfahrens ist, der durch das vorgenannte Instrumentarium seine Steuerungsfähigkeit auf den Prozeßverlauf und auf alle Prozeßbeteiligten auszudehnen vermag.
    Es läßt sich nicht mehr ausschließen, daß das Urteil gegen Birgit Hogefeld in einem geradezu herzzerreißenden Sinne ein Fehlurteil ist:
    – begründete Zweifel, ob eine Angeklagte die Taten, für die sie verurteilt worden ist, wirklich begangen hat, sind objektiv nicht ausgeräumt worden,
    – das Urteil hat nicht einmal mehr versucht, den Eindruck zu widerlegen, es sei die Rache dafür, daß die Angeklagte sich geweigert hat, sich als Kronzeugin zur Verfügung zu stellen, und
    – es kann nicht mehr ausgeschlossen werden, daß diese Weigerung letztlich darin begründet war, daß sie ihr wirkliches Ziel, in die RAF Reflexionsfähigkeit hereinzubringen, wenn sie anders sich verhalten würde, selber verraten würde.
    Aber zu der Fähigkeit, diese Möglichkeit sich auch nur vorzustellen, fehlten dem Gericht und vor allem der BAW die Freiheit der Phantasie, die durchs Apriori des eigenen Feindbildes und des daraus resultierenden Verurteilungswillens außer Kraft gesetzt war. Diese Verfahren sind insgesamt nur noch Verkörperungen mythischer Gewalt, die im mythischen Schrecken der Urteile (in den mehrfach lebenslänglichen Haftstrafen, der „besonderen Schwere der Schuld“) sich entlädt.
    Staatsschutzverfahren als Verkörperungen mythischer Gewalt: Liegt das nicht in Konsequenz der Logik ihres Auftrags und der vorgegebenen Rahmenbedingungen ihrer Durchführung?
    Ist die Geschichte vom Traum des Nebukadnezar, den Daniel, bevor er ihn deuten kann, erst rekonstruieren muß, da Nebukadnezar ihn nicht mehr weiß, nicht ein Modell des Satzes, daß, wer einen Sündern vom Weg seines Irrtums bekehrt, damit seine (eigene) Seele vom Tode rettet?
    Hat nicht der Fernhandel, der heute in der Globalisierung des freien Marktes sich vollendet, seit je nur den Staat, nicht die Menschen genährt?
    Läßt sich die Geschichte von den sieben unreinen Geistern nicht auf die hegelsche Dialektik von Herr und Knecht beziehen:
    – es gibt nicht nur einen Knecht, sondern eine arbeitsteilige Organisation von Knechten, einen subjektlosen Organismus unterschiedener knechtlich-abhängiger Funktionen;
    – es gibt nur einen Herrn, und wenn die Knechte ihn ablösen, werden dann die letzten Dinge nicht ärger sein als die ersten?
    Die Gemeinheiten des Herrn reproduzieren (und potenzieren) sich in denen des Knechts. Der Ausweg wäre allein eine Gestalt der Herrschaft, die aus dem Bann der Gemeinheit, der Feindbildlogik und des Herrendenkens herauszutreten vermöchte.
    Die Konstellation, in die die Reklame die „Liebe“ zur Eigentumslogik rückt (durch Instrumentalisierung des Bedürfnisses nach Anerkennung, des Geliebtwerden-Wollens, des Selbstmitleids): ist das die Venus-Katastrophe?
    In den stalinistischen Schauprozessen der 30er Jahre soll es die Fälle gegeben haben, in denen angeklagte Genossen, die wußten, daß die Anklagen frei erfunden waren, sich diese gleichwohl zueigen machten, auch das – für sie dann vernichtende – Urteil akzeptierten, weil sie auch noch in dieser Situation die Parteiraison über ihre persönliche Einsicht stellten und glaubten, so der Partei, deren weltbefreiender Auftrag für sie außer Frage stand, noch einen Dienst zu erweisen.
    Politische Prozesse konstituieren so etwas wie ein innerstaatliches Völkerrecht. Nicht nur der Status der Angeklagten, sondern auch der der Strafgefangenen ist zweideutig. Ähnlich changiert die Logik der Strafen zwischen der Logik des Strafrechts und der des Kriegsrechts. Mehrfach lebenslängliche Haftstrafen und ein Begriff wie der der „besonderen Schwere der Schuld“ transportieren das Urteil und die Strafe über die Grenzen des Strafrechts hinaus; ihre Irrationalität ist ein Teil ihrer Rationalität: in ihrer Wirkung gleichen sie den Wirkungen der Aberkennung der bürgerlichen Rechte oder der Ausbürgerung, dem Entzug der Staatsbürgerschaft, der in der nationalsozialistischen „Endlösung der Judenfrage“ der letzte Schritt vor der Vernichtung war. Deshalb erwecken RAF-Prozesse den Eindruck kurzer Prozesse, die nur deshalb so lange dauern, weil anders das Selbstverständnis der Ankläger und der Richter, das auf ihr Handeln keinen Einfluß mehr hat, nicht zu begründen wäre.
    Wie hängt diese Logik mit der der Ware <zu deren Ursprungsgeschichte der Fernhandel, der Sklaven- und Frauenmarkt, die Geschichte der Eroberung und Unterwerfung anderer Völker und in der letzten Geschichtsphase ein Kolonialismus gehört, dem die ganze Welt zum herrenlosen Gut geworden ist> zusammen?

  • 10.11.1996

    Der neue Faschismus hat sein Zentrum aus der Politik in die Ökonomie verlagert. „Standort Deutschland“ ist ein faschistisches Programm. Die direkte Kolonialisierung der dritten Welt (und der Nicht-Besitzenden im eigenen Land) wird durch die Marktgesetze ersetzt, die dann durch überdimensionale Militär- und Polizeiapparate geschützt werden müssen.
    Der neue Faschismus hat einen Rationalitätskern, den alle Privateigentümer, Hausbesitzer und Familienväter aufgrund der ökonomischen Zwänge, denen sie selbst unterworfen sind, spontan verstehen. Erkennbar ist dieser Faschismus nur noch auf der Seite der Realität, die sie nicht mehr sehen. Sein Rationalitätskern ist zugleich der blinde Fleck dieses Faschismus.
    Was einmal Ausbeutung hieß, heißt heute Sparprogramm.
    Ist die Unterscheidung von Eigentum und Besitz (die in der Institution des Staates gründet) nicht eine theologische Unterscheidung: Verleiht das Eigentum dem Eigentümer nicht die theologischen Attribute, die im Begriff der Ware, an der Marx sie wahrgenommen hat, nur sich widerspiegeln? Oder mit anderen Worten: Ist nicht die herrschende Eigentumsordnung (zu der es keine Alternative zu geben scheint) in sich selber atheistisch, und die Religion, die sie stützt, Götzendienst?
    Zur Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos: Ist das pharaonische „Faul seid ihr, faul“ nicht das Modell der heutigen Sparprogramme?
    Vorn und hinten, rechts und links sind reversibel, oben und unten hingegen sind es nicht: Deshalb steht der Begriff über dem Objekt wie der Herr über dem Knecht. Die moderne Raumvorstellung, in der alle Richtungen gleich sind, verdankt sich der Übertragung der Eigenschaften der vier Himmelsrichtungen auf die Beziehung von Himmel und Erde. Der Zustand, in dem der Schein (der die Wurzel jedes Scheins ist) sich durchsetzt, oben und unten seien reversibel, ist der in dem fallenden Fahrstuhl, an dem Einstein seine Allgemeine Relativitätstheorie demonstriert hat: ein Bild der Katastrophe, die keiner mehr wahrzunehmen fähig ist. Aber: Gott hat Himmel und Erde erschaffen, nicht die Welt. Die Idee des Himmels, die im Kontext des Ursprungs des Weltbegriffs zunächst zum mythischen Götterhimmel (mit der Schicksalsidee als logischem Kern) neutralisiert, dann mit der kopernikanischen Wende verdrängt worden ist, war für die Prophetie der Fundus der Herrschaftskritik. Die Apokalypse unterscheidet sich von der Prophetie durch den bereits erfolgten Abschluß des historischen Umwälzungsprozesses, der im Weltbegriff, in der durch ihn neu organisierten Erfahrung des Bewußtseins, sich manifestiert.
    Ist die Lichtgeschwindigkeit eine in erster Linie auf die vier Himmelsrichtungen bezogene „Naturkonstante“, und erst sekundär auf die durch oben und unten definierte Richtung des Raumes zu beziehen? Oder anders: Drückt in der Lichtgeschwindigkeit das Verhältnis der Schwere zu den zur Fallrichtung orthogonalen Richtungen sich aus? Das Undenkbare denken, das hat sowohl einen politischen wie auch einen naturwissenschaftskritischen Sinn.
    Ist nicht Hitlers politisch-gesellschaftlicher Begriff der Masse ein spätes Echo des lateinischen (von mater abgeleiteten) Begriffs der Materie?
    Gehört nicht zum Begriff der „Schwere der Schuld“, der in den Staatsschutzprozessen zentral zu werden beginnt, ein Begriff der Unschuld, der nur noch für jene gilt, die oben sind: für die Herrschenden? In diesem Begriff der „Schwere der Schuld“ vollendet sich das Schuldverschubsystem. Aber gibt es nicht ein christliches Erlösungskonzept und zu seiner Begründung eine ganze Theologie, die dem vorgearbeitet haben?
    Das Gebot der Feindesliebe rührt an die Wurzeln des Staates, der ohne die Feindbildlogik zu existieren aufhören würde.
    Der real existierende Sozialismus ist daran zugrunde gegangen, daß er gemeint hat, es sei möglich, das Spiel der imperialistischen Mächte (in das er sich im vorauseilenden Gehorsam seines machtpolitischen Realismus hat hineinziehen lassen) mitzuspielen. In diesem Spiel ist die Theorie zur Ideologie und die Praxis gemein geworden. Auch hier gilt: DIE BANK GEWINNT IMMER.
    Außen und Innen: Dieses Paradigma bestimmt auch die Bekenntnislogik: Der Feind ist draußen, der (mit dem Feind kooperierende) Verräter im Innern. Und sind die Frauen nicht die Indifferenz beider, haben sie nicht etwas vom Feind und vom Verräter zugleich?
    Das Präfix be- ist der sprachliche Repräsentant der veräußerlichenden, von außen auf die Sprache einwirkenden und das Innere der Sprache nach außen kehrenden Kraft: der Repräsentant des Raumes, der Form der äußeren Anschauung, in der Sprache. Beschreiben nicht die Präfixe insgesamt den gesamten und umfassenden sprachlogischen Zusammenhang, in dem die inertia, das Inertialsystem, sich konstituiert? Sind sie (wie die Präpositionen, mit denen sie zusammenhängen, ja teilweise identisch sind) nicht die sprachlichen Reflexionsformen dieser Äußerlichkeit, die unterm Bann der „subjektiven Form der äußeren Anschauung“ nur noch blind, reflexhaft angewandt und nicht mehr reflektiert werden? Sind sie nicht die Schale des Kelchs?
    Entspricht dem englischen to be nicht im Französischen das Präfix de-; sind sie nicht der sprachliche Reflex der jeweiligen Sprachlogik, der empirischen Sprachlogik im Englischen und der rationalen, deduzierenden Sprachlogik im Französischen? Während das englische to be dem Infinitiv Sein im Deutschen entspricht, verweist das französische Präfix de- auf eine ganze Konstellation von Präpositionen und Präfixen im Deutschen wie von, aus, ab-, ent-. Zum deutschen ur- (in Urteil und Ursprung) scheint es im Englischen und im Französischen keine Entsprechung zu geben. Ist die deutsche Sprachlogik eine Ursprungslogik, ist die Ursprungslogik das Medium der Selbstreflexion der deutschen Sprache?
    Der Logik des Vorurteils kommt es – wie der Logik der Urteile in Staatsschutzprozessen – nicht mehr darauf an, ob eine Position, eine These, eine Feststellung wahr ist, sondern nur noch darauf, daß sie nützlich und unwiderlegbar ist. Das Vorurteil (und in ihrem Kern die Logik der Gemeinheit) ist kein inhaltliches Problem, sondern eins der Beweislogik.
    Wie hängt die Logik des Vorurteils mit dem Grund der Ästhetik zusammen?
    Reproduzieren nicht die Urteile der Staatsschutzsenate zwangshaft den Fehler, der die Aufarbeitung der Vergangenheit seit ihren Anfängen erlegen ist: Die Vergangenheit war nicht mehr durch Verurteilung aufzuarbeiten, sondern allein dadurch, daß man in den Schrecken sich hineinversetzt, ihn reflektiert.
    „Seht, ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe; deshalb seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben“: Das Undenkbare denken heißt heute, auch der Paranoia als logisches Hilfsmittel der Reflexion (nicht jedoch des bestimmenden Urteils: des Vorurteils) sich zu bedienen; wer sie als Hilfsmittel des bestimmenden Urteils mißbraucht, ist ihr schon verfallen. Ist das nicht auch ein Problem der Schriftinterpretation und des Schriftverständnisses? Hat nicht die historische Bibelkritik, als sie dem grassierenden Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts erlegen ist, aus den Netzen der Paranoia (in diesem Falle des Antisemitismus) nicht mehr sich lösen können?
    Es gibt keine Möglichkeit, aus der Theologie hinter dem Rücken Gottes einfach nur herauszutreten. Der Weg in eine Theologie im Angesicht Gottes führt nur durch die Reflexion der Theologie hinter dem Rücken Gottes hindurch. Auch das ist ein Anwendungsfall des Programms: das Undenkbare denken.

  • 8.11.1996

    „Wir Deutschen“, sind das nicht die Nachfahren der Hitlerschen Masse?
    Als Micha Brumlik den Namen des Angesichts mit „Ausdrucksgeschehen …“ übersetzte, hat er ihn in die Sprache einer EG-Verordnung übersetzt, in die vergegenständlichende Sprache des Rechts und der Verwaltung. Wenn Levinas zufolge die Wirklichkeit des Angesichts die Unendlichkeit des Raumes widerlegt, dann drückt die Brumliksche Übersetzung den Zwang aus, die räumliche Unendlichkeit wiederherzustellen, die den Objektivierungszwang begründet und perpetuiert.
    Die stockende Verlesung des Urteils im Hogefeld-Prozeß durch den vorsitzenden Richter erweckte den sicherlich nicht unbegründeten Eindruck, daß darin Widerstände sich ausdrückten, die mit dem, was die Nazis den „Kampf gegen den inneren Schweinehund“ nannten, zu tun haben mochten: Der eigentliche Gegner dieses Kampfes (des „inneren Ringens“, wie es die gewähltere Formulierung des Feuilletons damals nannte) waren die humanen Regungen, von denen auch Nazis nicht frei waren. In diesem Kontext löst sich ein Problem, das Daniel Jonah Goldhagen benannt hat, die Frage, weshalb der Judenmord mit den zusätzlichen Grausamkeiten, Verhöhnungen und Demütigungen verbunden war, die ihn begleiteten: Darin drückte dieser „Kampf gegen den inneren Schweinehund“ sich aus, der auf die Juden verschoben und an ihnen vollstreckt wurde. So paradox das klingen mag: In diesen Manifestationen der Gemeinheit kam zum Ausdruck, daß das Gewissen in den Tätern noch nicht ganz erloschen war und in den Juden immer wieder mit erschlagen werden mußte. Genau das begründete auch den Wiederholungszwang, das suchthafte Verhalten der Täter: Nachdem sie einmal in die Zwänge dieser Logik hineingeraten waren, konnten sie nicht mehr davon lassen. Es gibt Taten, die nur als Wiederholungstaten möglich sind, weil sie das, was sie intendieren, nicht erreichen, aber eben dadurch ihre Wiederholung erzwingen.
    Die Urteilsbegründung ist der Beweis, daß der Eindruck, den Gericht und Bundesanwaltschaft erweckten, wenn Birgit Hogefeld ihre Erklärungen vortrug, nicht getrogen hat: Ankläger und Richter haben sich in einen synthetischen Schlaf versetzt, in dem sie nur das noch hörten, was sie hören wollten; die Erklärungen selbst haben sie nicht mitbekommen.
    Man muß das auch mitdenken, und sollte es nicht verdrängen: Anklage und Gericht sind selber auch „Opfer der RAF“, die sie zu den erbarmungslosen Handlungen, wie es die Urteile von Anfang an gewesen sind, gezwungen haben; und dafür haben sie sich gerächt. Dieser Mechanismus drückt in der geradezu verwilderten Logik der Urteilsbegründung sich aus.
    In einem Land, in dem alle nur noch ihre Pflicht tun, aber keiner mehr weiß, was er tut, weil alle unter Zwängen stehen, die sie nicht mehr zu durchschauen vermögen, gibt es dann nur noch ein Verfahren: Augen zu und durch! Das gefährliche dieses Verfahrens ist: es ist ansteckend.
    Kohl: Heute, in dem Erfolg, den sie nicht veursacht hat, der ihr wirklich nur zugefallen ist, plustert sich die Blindheit und Stummheit der „deutschen Frage“, die in Kohl sich verkörpert, zu welthistorische Größe auf.
    Flucht nach Tarschisch: Tarschisch liegt am Ende der Welt; aus Tarschisch hat Salomo mit Schiffen die Goldschätze geholt, die er für den Bau und die Ausstattung des Tempels benötigte. – Rom hat nicht mehr Handel getrieben, sondern die Welt erobert und ausgeplündert und die Beute im Triumphzug nach Rom geführt. Die Triumphbogen des imperialen Rom: Heute sind das die Auslandsjournale des Fernsehens.
    Läuft nicht Franz Rosenzweigs Verständnis des Christentums darauf hinaus, daß das Christentum genau diese Flucht nach Tarschisch ist? Und legt seine Beschreibung nicht den Gedanken nahe, daß nicht die Synagoge, sondern die Kirche die Binde vor den Augen trägt?
    Israel heute: Ist es nicht, als seien die Sadduzäer auferstanden, die an die Auferstehung nicht glaubten? Aber hatte es eine andere Wahl?
    Was hat der Begriff der Ruhe in den beiden Relativitätstheorien (die sich von der Bewegung nicht mehr unterscheiden läßt) mit der Sabbatruhe zu tun, oder auch mit dem Wort, demzufolge der Menschensohn Herr des Sabbat ist? Ist hier nicht ein weiteres Beispiel für den Greuel am heiligen Ort?
    Liegt nicht die Aufgabe der Theologie heute in dem Problem, vor das Nebukadnezar den Daniel gestellt hat: einen Traum zu deuten, den Nebukadnezar vergessen hat?
    Gewinnt nicht in der Gestalt Birgit Hogefelds, in dem Urteil über sie, das auf eine neue Weise die Identifikation mit dem Objekt des Urteils erzwingt, diese Identifikation eine neue Qualität, und das dank der Reflexionskraft Birgit Hogefelds?
    Steckt nicht das „Zeichen des Jona“ in dem Problem, vor dem Jona selber steht, und das er mit seiner Flucht nach Tarschisch vergeblich zu lösen versucht: im Problem des Anfangs? Dieser Satz „In vierzig Tagen wird Ninive zerstört“, der einzige Satz, den er dann noch herausbringt, steht zwar in der prophetischen Tradition, hat aber nicht mehr die Qualität eines prophetischen Satzes, er ist kein „Wort des Herrn“. Prophetisch ist allein – und das auf eine ungeheuerliche Weise – seine Wirkung. Hierin liegt das Grundproblem des Buches Jona. Ist es nicht das gleiche Problem, das Hegel einmal in dem Satz ausgedrückt hat, er sei dazu verdammt, ein Philosoph zu sein?
    Die jüdische Tradition zieht die Grenze zwischen Prophetie und Geschichte an anderer Stelle als die christliche. Für die jüdische Tradition gehören die Bücher Josue, Richter, Samuel und Könige zu den prophetischen Büchern, für die christliche zu den historischen (ich halte die Entscheidung Bubers, der in dieser Frage den Schriftkanon an die christliche Tradition angleicht, wenn nicht für falsch, so jedenfalls nicht für jüdisch). Das Problem, das in dieser Differenz sich anzeigt, war genau das Problem, das Franz Rosenzweig mit einer sehr präzisen Begründung dazu gebracht hat, mit dem Stern der Erlösung dem Historismus abzusagen. Das Problem Historismus/Offenbarung war der Gegenstand der Gespräche, in denen seine Vettern Ehrenberg und sein Freund Rosenstock ihn dazu bringen wollten, den Schritt, den sie vollzogen hatten, nämlich Christ zu werden, ebenfalls zu vollziehen. Seine Antwort darauf war: Ich bleibe Jude, und das übrigens mit einer Begründung, die im Entscheidenden auf Texte aus dem Neuen Testament, aus dem Kontext christlichen Selbstverständnisses und nicht gegen dieses Selbstverständnis, sich bezog. Der Stern der Erlösung war dann gleichsam das Siegel auf dieser Entscheidung, in deren Kern eine Kritik des Historismus aus dem Geist der Prophetie sich findet. Dieses Verhältnis (der Prophetie zum Historismus) läßt an seiner Beziehung zu Hegel sich demonstrieren; hier liegt der Anfang einer Bewegung, an deren Ende vielleicht ein Satz stehen könnte, der auch Rosenzweigs Werk in ein neues Licht zu rücken vermöchte: Das Weltgericht ist nicht das Jüngste Gericht, das Jüngste Gericht wäre vielmehr das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht. Um das zu sehen, hätte Rosenzweig vielleicht den Jakobusbrief lesen müssen, den Satz: Die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht.
    Gibt es nicht die Kaskaden rhetorischer Fragen auch bei Klaus Heinrich, dessen „Schwierigkeit nein zu sagen“ gleichwohl zu den Texten gehört, die (wie auch Ulrich Sonnemanns „Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten“) ihre unmittelbare Aktualität überleben werden.
    Der Gott der Hebräer ist der Gott derer, die Fremde für andere sind, während der Gott der Philosophen der Gott derer ist, für die Andere Fremde sind, die deshalb der Projektionsfolie der Barbaren oder der Heiden bedürfen. Und es ist der Gott der Hebräer, den der Pharao, der Herr des Sklavenhauses, nicht kennt, und der, indem der Pharao in dieser Nichtkenntnis zu verharren versucht, die Geschichte seiner Herzensverhärtung begleitet.
    Zu dem Satz „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“: Das Bild ist falsch, hier hat Brecht den Schoß mit einer anderen Körperöffnung verwechselt.
    Tatsachen sind nackt, aber erkennen wir in dieser Nacktheit nicht doch nur den Spiegel unserer eigenen Nacktheit?
    Wenn es heißt, daß die Liebe eine Menge Sünden zudeckt, so sollte man dazu in Erinnerung behalten: Sie deckt die Sünden der Andern zu, nicht die eigenen.
    Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht: Heißt das nicht, daß nur, wer die eigenen Sünden reflexionsfähig hält – und das ist der Barmherzige -, die Abwehrmechanismen außer Kraft setzt, die uns zu Richtern über andere macht.
    Nicht zufällig fällt die kopernikanische Wende, die universale Verdinglichung der Welt, die Himmel und Erde gleichnamig gemacht hat, mit einer weltgeschichtlichen Wende zusammen, in der die europäische Gesellschaft, die damalige Christenheit, die gesamte Welt zu herrenlosem Gut erklärt und das Werk ihrer politischen und ökonomischen Aneignung und Ausbeutung begonnen hat. Die Wende in der Astronomie war das Bild und der Reflex einer Wende in der Geschichte der politischen Ökonomie. Hier ist Europa zum Tier aus dem Meer geworden. Die Welt, die den Himmel ins Licht des Gravitationsgesetzes gerückt hat, ist die Welt dieses Tieres. Gehört nicht die Geschichte der Inquisition zur Ursprungsgeschichte naturwissenschaftlichen Aufklärung?
    Das Verbindungsglied zwischen dem allgemeinen Gravitationsgesetz und der Wendung in der Geschichte der Aufklärung insgesamt liegt in der metaphorischen (oder der realsymbolischen) Beziehung der Schwere zur Schuld. Seitdem sucht das positivistische, vom Feindbild-Denken durchsetzte Rechtsverständnis nach einem Objekt, dem sie zur eigenen Entlastung die absolute Schwere der Schuld anhängen kann. Die Geschichte des Antisemitismus (wie auch der Ketzer- und Hexenverfolgung) ist noch nicht zu Ende.
    Zur perversen Logik der Staatsschutzverfahren gehören der Begriff der „besonderen Schwere der Schuld“ und die mehrfach lebenslänglichen Haftstrafen, für die offensichtlich ein Leben nicht ausreicht, um den Projektions-, Rache- und Sühnetrieb zu befriedigen. Sie erweisen sich als Elemente eines nationalen Schuldverschubsystems, das insbesondere im deutschen Staatsverständnis sich zu verkörpern scheint.
    (Wachsen etwa die Widerstände in dem gleichen Maße, in dem ich versuche, sie durch Reflexion aufzulösen?)
    Es gibt Leute, die immer so reagieren, als wüßten sie schon alles. Dringt das nicht immer mehr auch in den Universitätsbetrieb ein? Ein Hinweis darauf, daß Professoren heute nicht besser sind, als es die Oberlehrer, die sich auch Professor nannten, einmal waren.
    Die verwaltete Welt erzeugt im Bildungswesen eine eigene und sehr spezifische Art von Katastrophen.




  • 3.11.1996

    Wie hängt das Problem des apagogischen Beweises mit der Logik der Instrumentalisierung (des „Seitenblicks“ und der Fähigkeit, rechts und links zu unterscheiden) zusammen? Gründen die Probleme, in deren Zusammenhang für Kant der apagogische Beweis zum Problem wird, in der doppelten Instrumentalisierung (der Instrumentalisierung der instrumentalisierenden Gewalt durch die subjektiven Formen der Anschauung), und hängen sie nicht mit der Konstituierung der drei Totalitätsbegriffe (der Begriffe des Wissens, der Natur und der Welt, die in der kantischen Vernunftkritik erstmals rein hervortreten), mit deren Hilfe sie gegen die Reflexion sich abschirmen, zusammen? Und ist nicht die Reversibilität aller Richtungen im Raum (derzufolge jede Richtung in die gleiche schlechte Unendlichkeit, ins gleiche nihil, führt) das Modell, an dem der apagogische Beweis (und durch ihn hindurch der Hegelsche Begriff der Dialektik) sich orientiert? – In diesem Zusammenhang gewinnt die kantische innere Differenzierung des nihil, des Begriffs des Nichts (in der Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe, Kr.d.r.V., Insel-Ausgabe, S. 267ff), eine hochsignifikante Bedeutung.
    Das Prinzip der Reversibilität aller Richtungen im Raum erzeugt den Schein der Gleichheit von Anklage und Verteidigung im Rechtsstreit und verdrängt das Herrschaftsmoment, an das der deutsche Titel Staatsanwalt so deutlich erinnert, und das in Staatsschutzprozessen zu der Situation führt, die Birgit Hogefeld mit dem Satz „die Bank gewinnt immer“ aufs genaueste bezeichnet hat. Aber wird dieser Schein nicht schon durch die Beziehung des Begriffs zum Objekt, in der die herrschaftsmetaphorische Zuordnung von Oben und Unten eindeutig festgelegt ist, widerlegt, während doch zugleich der Materialismus oder das Postulat vom Vorrang des Objekts von der Hoffnung lebt, daß die Barmherzigkeit über das Gericht triumphiert? Und ist nicht das Prinzip der Reversibilität aller Richtungen im Raum (und damit die subjektive Form der äußeren Anschauung selber, die darin sich ausdrückt) der Grund, aus dem die Feindbildlogik hervorgeht, und das Konstrukt, in dem sie zugleich sich vollendet, sowie die Verkörperung der logischen Struktur, die die Herrschaftsbeziehung von Begriff und Objekt begründet und sie zugleich verstellt, als Herrschaftsbeziehung unkenntlich macht? Löst sich nicht in dieser Konstellation das Problem der kantischen Antinomien und des apagogischen Beweises, damit aber das Problem der Beweislogik überhaupt? Diesen Knoten aufzulösen wäre eine der Hauptaufgaben der Philosphie, die dann aber sich nicht wundern darf, wenn sie in der Theologie sich wiederfindet.
    Das Prinzip der Reversibilität aller Richtungen im Raum leugnet den Tod und macht ihn irreversibel zugleich (darin gründet die Logik der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit). Schließt nicht die Idee der Unsterblichkeit der Seele, die in diesem Prinzip gründet, die Vorstellung mit ein, daß sie für die Toten nicht gilt, und liegt nicht ihr Haupteffekt in der Leugnung der Idee der Auferstehung, die sie nach außen zugleich dementiert? Hier liegt die fast unüberwindbare Hemmung, die der Lösung des Problems der Raumvorstellung sich entgegenstemmt. Das Prinzip der Reversibilität aller Richtungen im Raum ist der fast nicht mehr aufzuhebende Grund der Irreversibilität der Zeit, und die Außengrenze, die der Raum für mich definiert, ist eine Grenze zur Vergangenheit, die nur ich nie überschreiten werde, während alle andern sie bereits überschritten haben, für mich schon tot sind (sic, B.H.). In dieser Konstellation gründet das Problem des apagogischen Beweises und seine Lösung (vgl. hierzu die kabbalistische Tradition, daß die sechs Richtungen des Raumes auf göttliche Namen versiegelt sind, auch die Gestalt der Maria Magdalena und die Geschichte von ihrer Befreiung von den sieben unreinen Geistern).
    Das Canettische Bild vom Sieger, der als letzter Überlebender auf einem Riesenleichenberg steht, ist das genaueste Symbol der Logik der subjektiven Formen der Anschauung. Die Form der äußeren Anschauung ratifiziert an den Dingen, was in der Form der inneren Anschauung, in der Vorstellung des Zeitkontinuums, vorgebildet ist: die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, die Konstituierung des Totenreichs, über das der Anschauende starr, sprach- und empfindungslos als einziger sich erhebt. Durch die Subsumtion der gesamten Zukunft unter die Vergangenheit (die den Begriff des Wissens begründet) mache ich mich selbst zum Sieger, der alle überlebt; und das ist die der Idee der Unsterblichkeit der Seele zugrunde liegende Vorstellung, die als eine ihrer Konstituentien den Widerspruch gegen die Idee der Auferstehung der Toten in sich enthält. Heideggers Hinweis, daß wir den Tod nur als den Tod der anderen erfahren, nie als den eigenen, gründet in dieser Logik, deren Bann allein durch den Levinas’schen Hinweis auf die Asymmetrie, die den Anderen als Medium der Selbsterkenntnis ins Blickfeld rückt, sich auflösen läßt.
    Die subjektiven Formen der Anschauung, in denen die richtende Gewalt, die sie für die gesamte Objektwelt repräsentieren, zugleich gegen das richtende Subjekt sich erstreckt, sind der Beweis des Satzes „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“.
    Die subjektiven Formen der Anschauung sind der blinde Fleck in der Ursprungs-, Entfaltugns- und Durchsetzungegeschichte der Marktgesetze.
    Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren: Der richtende Blick erfährt sich selbst im richtenden Blick des Andern, und d.h. als nackt.
    Gehört nicht zu dieser Problem-Konstellation aus Logik der Gemeinheit, Beweislogik, Feindbildlogik auch das der Beziehung des Rechts zum Staat, daß insbesondere ein Recht, das sich zum Organ des Staates macht, indem es die Selbstreflexion des Staates, in dessen Logik seine eigene Ursprungsgeschichte beschlossen ist, grundsätzlich ausschließt, damit die Idee der Gerechtigkeit selber tangiert? Die Instrumentalisierung des Rechts, die im Hogefeld-Prozeß am gesamten Beweisverfahren, insbesondere aber an der (Nicht-)Behandlung des Gesamtkomplexes Bad Kleinen sich demonstrieren läßt, läßt keine andere Wahl.
    Wenn die RAF zum Symbol für das grundsätzliche und generelle Verbot, in den Angeklagten sich hineinzuversetzen und damit die Selbstreflexion des Staates in den Prozeß der Urteilsfindung mit hereinzunehmen, wird, dann kann sie nur noch unter der Bedingung zum Objekt des Rechts gemacht werden, daß das Recht auf die Idee der Gerechtigkeit keine Rücksicht mehr nehmen darf, daß es aus dem Bereich, in dem Gerechtigkeit allein möglich wäre, sich verabschiedet. Wenn das Recht, wie im Bereich der „Staatsschutz-Verfahren“, dem Staatsinteresse sich unterordnet (wenn der „Staatsanwalt“ nicht mehr Partei ist, sondern Herr des Verfahrens wird), dann wird es zu einem reinen Machtinstrument, und das ist in RAF-Verfahren geradezu sinnlich wahrnehmbar. Die besonderen Haftbedingungen derer, die Objekte solcher Verfahren sind, – und zu diesen Haftbedingungen gehören nicht nur die physischen Haftbedingungen, die Isolationshaft und die rigorose Einschränkung aller Beziehungen zur Außenwelt, zu Angehörigen und Freunden, sondern auch die damit zusammenhängenden Einschränkungen der Möglichkeiten der Verteidigung und der Verteidigerrechte (Beispiele: der vorenthaltene Text einer Rede Carlchristian von Braunmühls – Begründung: sie sei nicht wegen des Mordes an von Braunmühl angeklagt, der Zusammenhang mit der Anklage wegen Mitglieschaft in der RAF, der in anderem Zusammenhang als Beweismittel mit verwandt wurde, wurde schlicht verdrängt; dazu gehört die Ausgrenzung des Gesamtkomplesxes Bad Kleinen, die Ablehnung unabhängiger Gutachter sowie die – durch den Tenor des Senatsbeschlusses offen diskriminierende und beleidigende – Ablehnung des Antrags eines katholischen Pfarrers auf Genehmigung eines von der Angeklagten gewünschten seelsorglichen Gesprächs; zum Gesamteindruck dieses Prozesses gehört es, daß alles, was nicht in die vorprogrammierte Beweisführung <in das Verfahren der Konstruktion eines synthetischen Urteils apriori> hineinpaßte und zur Entlastung der Angeklagten hätte beitragen können, rigoros ausgegrenzt wurde; der geradezu wütende Verurteilungswille beherrschte den ganzen Verlauf des Verfahrens). Auch wenn vor dem endgültigen, rechtskräftigen Urteil grundsätzlich die generelle Unschuldsvermutung gilt, die realen Folgen, die der Verdacht für den Angeklagten hat, haben die massive und irreversible Qualität einer Vorverurteilung und einer präventiven, das offenbar schon feststehende Urteil vorwegnehmenden Strafe.
    Wie es scheint, waren für die Ablehnung von Anträge der Verteigung drei Gesichtspunkte maßgebend:
    – der ungestörte Ablauf der vorprogrammierten Beweisführung,
    – die Ausgrenzung jeder Reflexion des Selbstverständnisses der Angeklagten und
    – die Eingrenzung des Verfahrens auf das einen reinen Kriminalprozesses.
    Im Hogefeld-Prozeß, in dem jedem, der die Dinge verfolgt hatte, klar war, daß ernsthafte Störungen des Prozesses nicht zu erwarten waren, liefen die Begleitumstände gleichwohl nach den üblichen, ebenso massiven wie diskriminierenden Methoden ab, vom Transport der Gefangenen mit Blaulicht und Martinshorn bis zu den Eingangskontrollen der ProzeßbesucherInnen. Und das nicht nur aufgrund der behördenüblichen Trägheitsgesetze, sondern, wie vermutet werden darf, auch wegen der durchaus beabsichtigten Öffentlichkeitswirkung dieser Verfahrensweisen. Das hat zur Stabilisierung des Klimas beigetragen, in dem dieser Prozeß und sein Verlauf allein möglich war.
    RAF-Prozesse dienen nur noch der Herrschaftssicherung; dazu braucht man zwar Angeklagte, die aber sollten tunlichst nicht durch Reflexion den Zweck des Verfahrens, in dem sie nur Geisel sind, stören. Hier geht es um Wichtigeres: Hier werden Instrumente auf ihre Brauchbarkeit getestet, die eines Tages auch zur Erledigung anderer Aufgaben, die man offensichtlich auf sich zukommen sieht, brauchen wird; dann nämlich, wenn das Umverteilungsprojekt auf die Hilfe der Justiz angewiesen sein wird.
    Nach Hegel ist die bürgerliche Gesellschaft bei all ihrem Reichtum nicht reich genug, der Armut und der Entstehung des Pöbels zu steuern. Nachdem der Westen bisher die Armut in die Dritte Welt hat exportieren können, scheint dieser Markt jetzt gesättigt, und der Reimport der Armut, der mit der weltweiten Ausdehnung der Marktgesetze, dem Zerfall und der Verrottung der politischen (staatlichen) Souveränität, der fortschreitenden Ersetzung politischer Entscheidungskräfte durch Verwaltungseinrichtungen einhergeht, beginnt. War es bisher notwendig, den Reichtum mit dem militärischen Droh- und Vernichtungspotential nach außen zu schützen, wird es möglicherweise schon bald sich als notwendig erweisen, ihn gegen die fehlende Einsichtsfähigkeit der eigenen Bevölkerungen auch nach innen zu verteidigen. Hierzu bedarf es anderer Einrichtungen, deren Brauchbarkeit und Effizienz bisher vor allem in den Auseinandersetzungen um wirtschaftliche und militärische Großprojekte, die gegen den Willen der betroffenen Bevölkerungen durchgesetzt werden mußten, aber auch in der Terrorismus-Bekämpfung, in der die RAF als nützliches Testobjekt sich erwiesen hat, erprobt werden konnten. Jetzt gibt es ein erprobtes und schlagkräftiges Instrument, das man sich durch eine Angeklagte, auch wenn man ihr die Taten, deretwegen sie verurteilt werden soll, partout nicht nachweisen kann, nicht kaputtmachen läßt. Wo gehobelt wird, da fallen Späne.
    Zur Ersetzung der Regierung durch Verwaltung, die mit dem ökonomischen Privatisierungsprojekt (mit der Ersetzung nationalökonomischer Prinzipien und Kriterien durch betriebwirtschaftliche) zusammengeht, gehört auch ein Strukturwandel in der Justiz, der dahin tendiert, dem Verwaltungsrecht, das ein Subsumtionsrecht, ein Recht des bestimmenden, nicht des reflektierenden Urteils ist, sich anzugleichen. Es ist dieses Subsumtionsrecht, für das dort, wo das gerechte Urteilen sich hineinzuversetzen hätte, nichts mehr ist. Hier ist der Staatsschutz ein Vorreiter, der das Selbstverständnis des Angeklagten vom Grunde her ausgrenzen zu müssen glaubt, mit der Folge, daß diese Prozesse unter dem Zwang, als reine Kriminalprozesse geführt zu werden, zu politischen Prozessen werden: Sie sind Teil eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses, der in der Ökonomie wie in der Politik selber auf eine fortschreitende Entpolitisierung, auf eine schleichende Erosion der politischen Logik hinausläuft, auf ein Ausblenden dessen, was als Reflexionsfähigkeit einmal als Grundlage der politischen Freiheit begriffen worden ist.
    Das Faszinierende am Hogefeld-Prozeß war die Wahrnehmung, daß es hier der Angeklagten erstmals gelungen ist, durch eine Reflexion, die auch das Verfahren mit einbezog, aus dem Bann der Logik, die dieses Verfahren beherrscht, auszubrechen, ihn für sich selber zu brechen. Daß dieser Akt auf Seiten des Gerichts nur Abwehrmechanismen wachruft, war zu erwarten, und es ist zu befürchten, daß das auch aufs Urteil sich auswirken wird. Aber könnte es nicht sein, daß dieses Gericht genau dadurch, daß es die Dehnbarkeit der Grenzen des Rechststaats nicht mehr einzuschätzen vermag, den Bogen überspannt, damit aber diesen ganzen Bereich in ein Licht rückt, in dem er nackt dastehen wird, in dem erstmals erkennbar wird, was hier passiert?
    Die RAF hat bisher auf die Probleme, vor die sie sich gestellt sah, nur mechanisch reagiert. So hat sie, ohne es zu wissen oder gar zu wollen, ihrem Widersacher in Hände gearbeitet. Grund war die Feindbildlogik, in deren Netze sie seit ihren Anfängen sich verstrickt hat. Diese Feindbildlogik ist Teil einer Logik, in deren Herrschaftsbereich – nach einer wie ein Blitz einschlagenden Formulierung Birgit Hogefelds – die Bank immer gewinnt. Es wäre nicht nur im ureigensten Interesse der RAF, wenn sie endlich die Reflexionsfähigkeit gewinnen würde, deren erstaunliche Anfänge hier, bei Birgit Hogefeld, wahrzunehmen sind.
    Diese Reflexionsfähigkeit ist im Falle Birgit Hogefelds der Beweis, daß das Urteil, wie es auch ausfallen wird, nur ein Fehlurteil sein kann, daß nicht sein Objekt, das vom Urteil nicht getroffen wird, verurteilt wird, sondern das Gericht, das – wie so viele in diesem Lande – nur seine ihm von den Verhältnissen auferlegte Pflicht tut, dabei aber nicht mehr weiß was es tut, mit diesem Urteil sich selbst verurteilt. Nur wenn es selber reflexionsfähig gewesen wäre, hätte dieses Gericht sich selber durch das einzig gerechte Urteil, das möglich war, freisprechen können.
    Hegels Philosophie beschreibt nicht nur die Stationen auf dem Wege des Weltgeistes, sondern auch das Ende des Weges, an dem der Weltgeist sein Ziel erreicht hat. Was danach kam, läßt sich eigentlich nur noch unter dem Stichwort des Endes des Weltgeistes, seiner Selbstzerstörung, beschreiben. Das Ende des Weltgeistes ist das Ende der Geschichte, die das Weltgericht ist, das hiernach nicht mehr über die Geschichte, sondern erstmals über den Richtenden selber ergeht. Das Ende des Weltgeistes ist das Ende der richtenden Gewalt, die er verkörpert.
    Wer Billardkugeln, die Objekte der Mikrophysik und die Sternenwelt unter ein gemeinsames Gesetz bringt, ist ein Agent Beelzebubs, dessen Reich nur besteht, wenn es nicht mit sich selbst uneins ist. Die Angst vor dem Zerfall der Identität ist die Angst Beelzebus, des Herrn der Fliegen, eine Angst, die zu den Konstituentien des Insektenstaats gehört. Die Einheit des gemeinsamen Gesetzes, das die drei Sphären mit einander verbindet, wäre auf zwei Wegen zu sprengen: durch die Reflexion des Falls und durch die Reflexion des Feuers. Die Ansätze hierzu liegen vor in den beiden Relativitätstheorien Einsteins, in dem Theorem der Identität von träger und schwerer Masse und im Prinzip der Konstanz der Lichgeschwindigkeit. Aber werden die Probleme, die den beiden Reflexionen zugrundeliegen, durch sie zu lösen wären, nicht aufs merkwürdigste rerpäsentiert durch die beiden Seiten, die in den RAF-Prozessen sich gegenüberstehen: durch die Seite der Anklage und des Gerichts, und durch die der Angeklagten und RAF?
    Der Fortschritt gegenüber den Hexenprozessen, mit dem RAF-Prozesse sich durchaus vergleichen lassen, scheint mir, liegt darin, daß die Beziehung sich umgekehrt hat: In den Hexenprozessen bezeichnet der Fall (der Sturz in den Fundamentalismus) den Ausgangspunkt und das Brennen (die Scheiterhaufen) die Folge, RAF-Prozesse spielen mit dem Feuer und eröffnen in ihm den Abgrund, in den sie selber dann hineinstürzen. Das Feuer, in dem das Gericht glaubt, die Angeklagten verbrennen zu können, bevor es sie verurteilt, wird es selbst ergreifen, wenn die Urteile zu Fehlurteilen werden.
    Die erste und die zentrale Manifestation des Feuers, in dem „die Welt untergehen“ wird, war der Antisemitismus. Auch die Juden sind in Deutschland unter der Herrschaft der Judengesetze schon verbrannt worden, bevor man sie dem Abgrund überantwortet hat, dessen Verkörperung Deutschland war.
    Der Urknall steht am Anfang, das schwarze Loch am Ende: Die Realsymbolik dieser Begriffe wird erkennbar, wenn man sie auf die Selbstzerstörung der Moral durchs Urteil bezieht (der verdorrte Feigenbaum).
    Ist nicht der Antisemitismus „genial“ in dem Sinne, in dem Kant diesen Begriff definiert, nämlich als das Handeln der Natur im Subjekt? Wer das begreift, weiß, worauf Adornos Konzept des „Eingedenkens der Natur im Subjekt“ abzielte: durchs Eingedenken den Naturzwang zu brechen. Adorno meinte nicht das Mitleid mit den Tieren, das Habermas im Sinn zu haben schien, als er das Wort Adornos abänderte ins „Eingedenken der gequälten Natur im Subjekt“.
    Hat die kantische Unterscheidung von bestimmendem und reflektierendem Urteil nicht etwas mit der von Wasser und Feuer (oder auch mit der Beziehung des Was zum Wer) im Namen des Himmels zu tun? Und verweist nicht das bestimmende Urteil, auf das die transzendentale Logik sich bezieht, auf die Sintflut, die die Welt überschwemmt hat, das reflektierende Urteil, die Manifestation der Urteilskraft, hingegen auf das reinigende und verwandelnde Feuer, in dem die Welt am Ende vergehen wird?
    Wer den Versuch einer physiognomischen Beschreibung der Vertreter der Anklage und der Mitglieder des Senats unternehmen wollte, hätte mit Sicherheit einige Beleidigungsprozesse zu erwarten.
    Das Zeichen des Jona: Kann es sein, daß die Flucht des Jona nach Tarschisch in der Angst vor den Folgen seines prophetischen Auftrags begründet ist, und ist nicht die ganze Geschichte des Christentums die Geschichte dieser Flucht?
    Grundwerte und Prinzipien: Rückt nicht der Verfassungspatriotismus die Verfassung selber in die Logik des Feindbilddenkens (in die Bekenntnislogik, deren Symbol der Feigenbaum ist, der nur noch Blätter, keine Früchte mehr hervorbringt und am Ende verdorrt)?

  • 31.10.1996

    Doppelbedeutung von „fit“: Hängt nicht der Kinderspruch „fit, fit, fit“, mit dem sie lernen, mit der Häme umzugehen, mit dem „Fitness-Training“ zusammen?
    Drei Funktionen der Banken, die auch (in variabler Zusammensetzung) unterschiedlichen Formen der Banken zugrundeliegen: Zentralbanken, Depositenbanken, Kreditbanken (haben sie nicht etwas mit der Beziehung von Akkusativ, Genitiv und Dativ zu tun, und mit der Zerstörung des Nomens, seiner Umwandlung zum Substantiv?).
    Betonblock: Die Finanzierungsformen der Wirtschaft, die generell über Kredite laufen (auch Aktien sind Kredite, ebenso wie die Liquiditätskredite der Banken), erzwingen das Rentabilitätsprinzip, das vom subjektiven „Gewinnstreben“ ebenso abgekoppelt ist wie (durch die Schlachthäuser) der Fleischverzehr vom Selberschlachten oder (durch die Justiz) die Strafe von der individuellen Rache. Als Rentabilitätszwang ist das Gewinnstreben zu einer Sache der Verwaltung und damit zu etwas Objektivem geworden. Der Gewinn ist nicht mehr der Gewinn dessen, der ihn „erwirtschaftet“, sondern als Zins oder Rendite (denen ihr Ursprung nicht mehr anzusehen ist) der des Kreditgebers, der „sein Geld arbeiten läßt“. Das verwandelt die Ökonomie in ein Stück Natur, die die ganze lohnabhängige Arbeit unter sich begreift, die so der Reflexion ebenso entzogen zu sein scheint wie das Objekt der Naturwissenschaften. Aber werden durch diesen Prozeß die Kritik der politischen Ökonomie und die Kritik der Naturwissenschaften nicht vom Gang der Dinge selbst in eine Beziehung gerückt, in der sie entweder beide ausgeblendet werden oder nur noch gemeinsam möglich sind?
    Die identitäts- und gemeinschaftsstiftende Kraft der Feindbildlogik ist eine gesellschaftliche und eine logische Kraft zugleich: sie begründet auch die Subsumtionsbeziehung des Begriffs zum Objekt, in der die Feindbildlogik als Herrschaftslogik (als Instrument der Naturbeherrschung) sich materialisiert. In dem Augenblick, in dem die Urteilsfindung in einem Prozeß auf die Subsumtionslogik regrediert und die Reflexion (das Sich-Hineinversetzen in den Angeklagten) aus dem Recht ausgetrieben wird, wird der Angeklagte zum Feind und werden die Knäste zu einer sinnlichen Verkörperung des Objektbegriffs und der Subsumtionslogik.
    Max Horkheimers Satz, daß, wer vom Faschismus redet, vom Kapitalismus nicht schweigen darf, bewahrheitet sich heute auch noch darin, daß die Verdrängung der Vergangenheit in der Tat zur Grundlage des ökonomischen Handelns geworden ist.
    Es gibt keine Feindbildlogik, die sich nicht durch Berufung auf den Feind legitimiert, dadurch aber einer tendentiell paranoiden Zwangsreflexion sich unterwirft, die die freie Reflexion verhindert, indem sie ihren Gegenstand mit Hilfe eines Tabus, dessen Instrument die Empörung ist, unsichtbar macht (wie die Fixierung auf das unmoralische „Gewinnstreben“ die gesamtgesellschaftlichen Wirkungen des Rentabilitätsprinzips unsichtbar macht).
    Waren nicht Kopernikus, die Entdeckung der später kolonialisierten Welten und die Anfänge des Kapitalismus Vorankündigungen einer Explosion der Eigentumslogik, die noch bevorsteht?
    In der kantischen Transzendentalphilosophie haben die subjektiven Formen der Anschauung die Funktion, der transzendentalen Logik das apriorische Objekt bereitszustellen, das dann die Konstruktion synthetischer Urteile apriori nicht nur möglich macht, sondern erzwingt. In der Konsequenz dieser Konstruktion lieferte die transzendentale Logik nicht nur den Nachweis, daß, sondern auch die Begründung, weshalb Naturwissenschaft als Wissenschaft möglich ist, vor allem aber eine Kritik ihres Erkenntnisanspruchs. Diese Kritik ist entweder nicht zur Kenntnis genommen worden, oder aber sie war Anlaß für den wütenden Aufschrei aller Orthodoxien, von der Theologie bis zum Diamat, über den angeblichen Agnostizismus Kants. Beide, das Wegsehen wie auch die Empörung, hatten ein herrschaftslogisch determiniertes Interesse daran, die Unterscheidung der (erkennbaren) Erscheinungen von den (nicht erkennbaren) „Dingen, wie sie an sich selber sind“, die die Notwendigkeit der Reflexion begründete, nicht anzuerkennen, sie zu leugnen und mit einem Tabu zu belegen. Dieses herrschaftslogische Interesse gründet in der Beziehung der Identifizierung von Erscheinung und An sich zur identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Kraft der Feindbildlogik.
    Gründet nicht der Zwang, der in der Habermas’schen affirmativen Kommunikationstheorie und in seinem Konstrukt des „Verfassungspatriotismus“ sich manifestiert, in der Zurückweisung einer Wissenschafts- und Erkenntniskritik, die auch vor dem Naturbegriff nicht haltmacht?
    Der Knast war seit je ein Repräsentant des feindlichen Auslandes im Inland (Joseph im Gefängnis des Pharao). War er nicht in seinem Ursprung eine Privatsache, wie die Blutrache, eine Zwischenstufe zur Institution des Sklaverei, die dann vergesellschaftet worden ist in der Gestalt der Lohnarbeit, des Proletariats?
    Ist nicht der Staatsschutz eine Potenzierung des Schutzes des Privateigentums, dem nicht nur das Strafrecht, sondern eigentlich das Recht insgesamt in letzter Instanz dient?
    Ist nicht der Knast ein Zwangskloster, in dem das Armuts-, Keuschheits- und Gehorsams-Gelübde von außen auferlegt werden, und die Isolationshaft die Zwangsform des Eremitentums? Verhält sich nicht der Knast zum Mönchstum wie die Bekehrung zur Umkehr oder die Natur zur Schöpfung? Die neutralisierte Raumvorstellung ist ein Symbol der Mauern, die die Menschen im Knast von den 99 Gerechten draußen trennen.
    Zu Max Webers Kapitalismustheorie: Waren die Heroen des Kapitalismus nicht die Mönche der Mammonsreligion? Und hängt die Begriffsverschiebung, die aus der Umkehr die Buße gemacht, nicht mit dieser Geschichte zusammen?
    Unter dem Begriff des Lebens beten wir heute die Kreisläufe an, in die alles Lebendige eingebunden ist, ohne daraus sich befreien zu können. Der theologische Begriff des Lebens ist kein Naturbegriff, sondern gründet in der Idee der Auferstehung.
    Die Leibnizsche Monade ist das Symbol eines immer noch ungelösten Problems. Daß Leibniz der Ungelöstheit dieses Problems sich bewußt war, beweist seine Wahrnehmung, daß kein Blatt eines Baumes einem anderen Blatt gleicht.
    Hegels Wort, daß die Natur den Begriff nicht halten könne, ist umzukehren: Dort, wo Natur nicht nur Natur ist, sprengt sie den Begriff (es ist die Gewalt des Begriffs, die dem Befreienden die Maske des Chaotischen aufdrückt).
    Wie hält eigentlich der Vers: „Mach unser Herz von Sünden rein, damit wir würdig treten ein zum Opfer deines Sohnes“ die Erinnerung an die Greuel der Konquistadoren, der Entdeckungs- und Kolonialisierungsgeschichte insgesamt, stand?
    Käme es angesichts des Satzes aus dem Jakobusbrief von der Bekehrung des Sünders nicht darauf an, diesen Namen des Sünders aus der Gewalt des definitorischen Blicks der 99 Gerechten (aus der Gewalt der Männerphantasien) endlich zu befreien? Es sind diese Gerechten, die aus der Tatsache, daß Maria Magdalena im katholischen Heiligenkalender als „Büßerin“ geführt wird, immer nur den Schluß gezogen haben, sie müsse es aber schlimm getrieben haben. Auch das folgenlose „wir sind allzumal Sünder“ hilft darüber nicht hinweg.
    Die Feindbildlogik hängt mit der Logik der Reklame zusammen, die der Menschheit einbläut, daß man, wenn man nicht betrogen sein will, Sprache nicht mehr wörtlich nehmen darf, sondern nur noch instrumentell, indem man sie darauf hin abhört, was andere mit ihr im Schilde führen. Der Verdacht, daß einer nicht meint, was er sagt, sondern eben das meint, was er nicht sagt (daß er „durch die Blume redet“), ist eine der Quellen der Paranoia, er begründet und verstärkt das Gefühl der Bedrohung, das erst ein Feindbild rational zu machen scheint.
    Das „Liebhaben“ verwandelt das geliebte Objekt in Eigentum. Wer Feinde, anstatt sie im jesuanischen Sinne zu „lieben“, nur liebhaben möchte, will sie in Wirklichkeit einsperren.
    Rechtsstaat: Wer nicht in der Lage ist, sich in einen andern hineinzuversetzen, wer dessen Selbstverständis rigoros ausblendet, verbietet damit die Empathie und sperrt alle in die Isolationshaft ihres Egoismus und ihrer paranoiden Phantasien ein. Für sie teilt die Welt sich auf in die, die haben und zu denen man gehört, und die, die nicht haben, die man nicht mehr sieht, die ausgegrenzt werden.
    Man kann nicht Haben gegen Sein ausspielen: in dieser Welt ist nur der etwas, der was hat.

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