Pagels

  • 13.12.1996

    Sensibilität ist das Wahrnehmungsorgan der Barmherzigkeit, Empfindlichkeit das des strengen Gerichts.
    Den Kosmos im Licht der Barmherzigkeit erkennen heißt, ihn – anstatt ihn aus der Sicht der Sonne zu sehen – aus der Sicht des Saturn zu begreifen. Ebenso wie es zwei deutlich unterschiedene Begriffe der Reinheit gibt (chemisch reines Wasser, reiner Wein), gibt es auch unterschiedene Begriffe der Ruhe: den relativistischen Begriff der Ruhe (der „Ruhe“ in einem fahrenden Zug oder dem fallenden Fahrstuhl) und den der Sabbatruhe, der erfüllten Ruhe. – Hat nicht Augustinus schon die Sabbatruhe mit der andern, der Ruhe der Trägheit, verwechselt?
    Wird nicht allzuleicht die Melancholie mit dem Phlegma verwechselt (und der Sanguiniker mit dem Choleriker)?
    Die Gnosis hat als Urhäresie zum Ursprung der Bekenntnislogik einen entscheidenden Beitrag geleistet: nämlich als Feind der „Orthodoxie“ und als ihr Modell zugleich. Neben dem Feindbild und der Ausgrenzung der Verräter aber gehört zur Bekenntnislogik das Moment der Frauenfeindschaft. Ist nicht bis heute die Gnosis, wenn man von der einen Elena Pagels absieht, ausschließlich aus männlicher Sicht gesehen und beschrieben worden, einer Sicht, die insoweit begründet und berechtigt ist, als die Gnosis, mit der das Christentum sich auseinandergesetzt hat, bereits eine von Männern in Regie genommene Gnosis war. Hat nicht Elena Pagels erstmals auf eine Tendenz innerhalb der gnostischen Bewegung hingewiesen, die bisher nur unterdrückt und verdrängt worden ist? Kann es sein, daß die neue Heiligengestalt der virgo, die zusammen mit dem (männlichen) confessor die ursprüngliche Heiligengestalt des Märtyrers abgelöst hat, ein antignostischer Typos war. Haben die Märtyrinnen, die sich geweigert haben, dem Ehebefehl ihrer Väter zu folgen, das nicht aus anderen als sexualmoralischen Gründen getan? Gehört nicht diese Verschiebung von der christlichen Befreiung der Frauen aus der potestas patri in die den männlichen Blick widerspiegelnde und ihn verinnerlichende Zwangslogik der Sexualmoral zu den Folgen der antignostischen Bewegung (die nicht auf das Christentum beschränkt war)? War nicht die Verwerfung der Gnosis überhaupt konstitutiv für die Ursprungsgeschichte der Sexualmoral und des Herrendenkens in den „Weltreligionen“?
    Gleitet nicht der Historismus heute in eine Konstellation ab, in der von der Geschichte nur noch die Verwerfung der Vergangenheit bleibt? „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet“: Die Leugnung der Auferstehung, die dem Historismus zugrunde liegt, ist das Gericht der Welt über die Welt.
    Hat die Sünde wider den Heiligen Geist (die weder in dieser noch in der zukünftigen Welt vergeben wird) etwas mit den Zeitbestimmungen der apokalyptischen Tiere zu tun?
    In der Apokalypse gibt es drei Reflexionsgestalten der Zeit:
    – Gott ist der, „der ist, der war und der kommt“,
    – er ist „das A und das O, ist der Anfang und das Ende“,
    – das Tier aber „war und ist nicht und wird heraufkommen aus der Unterwelt und geht ins Verderben“.
    Zu der Zusammenstellung „Stämme, Völker, Sprachen und Nationen“:
    – im Buch Daniel fehlen die Stämme (im Buch Esther werden die Sprachen den Völkern, die Schrift hingegen den Juden zugeordnet),
    – die Begriffe erscheinen erstmals in den Stammbäumen der Söhne Noes (die Namen der Söhne der Söhne Noes sind die Namen der Sprachen),
    – sie weisen zurück auf den Turmbau zu Babel, auf die Verwirrung der Sprache (und auf die Völkertafel und die siebzig Völker).
    Hat die Völkertafel (die Zahl siebzig) etwas mit den sieben Köpfen und den zehn Hörnern des Drachen und des Tieres aus dem Meere zu tun?
    Haben der Drache und die apokalyptischen Tiere etwas mit der Beziehung des Neutrum zum Ursprung des Natur- und des Weltbegriffs zu tun?
    Der Satz, daß die Sünde wider den Heiligen Geist weder in dieser noch in der zukünftigen Welt vergeben wird, enthält keine Drohung, die an eine bestimmte Tat geknüpft wird, sondern beschreibt die innere Logik dieser Tat selber. Ist diese Sünde die des einen Sünders, über dessen Bekehrung große Freude im Himmel herrscht, und ist dieser Sünder der, an dessen Bekehrung die Verheißung der Rettung der eigenen Seele gebunden ist?
    Kann es sein, daß die Gematria nur auf die hebräische Schrift anwendbar ist, daß das Problem der symbolischen Zahlenbedeutungen im Kontext der griechischen Sprache auf einer anderen Ebene liegt? Die Zahlensymbolik des Neuen Testamentes läge dann auf dieser Ebene.
    Summenzahlen: 10, 36, 153, 276, 666.
    Träume sind die nächtlichen Schatten des Herrendenkens. Und es gibt Träume, die man beim Erwachen vergißt. Käme es nicht heute darauf an, diese Träume zu rekonstruieren und dann zu deuten?

  • 05.12.90

    Materialismus als Errettung des Vergangenen.

    Die Virulenz der Gemeinheit gründet in der ebenso realen wie paranoiden Vorstellung, daß, wer überleben will, mit den Wölfen heulen muß: die projektive Vorstellung, daß die Schlechtigkeit in der Welt überwiegt, wird als Rechtfertigung der eigenen Schlechtigkeit verwandt. Gemeinheit ist ein Selbstläufer: Modell des perpetuum mobile (allerdings mit eigenem Entropiegesetz). Das Bessere zieht die Wut auf sich, weil es die Selbstrechtfertigung (das pathologische gute Gewissen) untergräbt. Nicht zufällig sind die Einrichtungen des staatlichen Gewaltmonopols: der Justiz, der Verbrechens- und Kriminalitätsbekämpfung (einschließlich des Staatsschutzes), der Strafermittlung, des Strafrechts und des Strafvollzugs besonders anfällig für dieses paranoide Syndrom (die paranoide Staatsmetaphysik, die beispielsweise in dem Amtstitel des Staatsanwalts sich ausdrückt); hier ist eine besonders virulente Quelle der Gemeinheit (der verfolgenden Unschuld).

    Der Rechtsbegriff in Begriffen wie Menschen- oder Christenrechte verhält sich zu dem des staatlichen und auch des kirchlichen Rechtsinstituts wie der der Offenbarung zu dem des Mythos, wie Befreiung zu entfremdeter Herrschaft. Die Bekehrung des Rechts steht – wie auch die der Christen – noch aus.

    Vgl. Elaine Pagels Ausführungen über die Ausbildung autoritärer Strukturen in der Kirche in der Geschichte der Auseinandersetzung mit der Gnosis (Versuchung durch Erkenntnis). Das proton pseudos war, daß dem gnostischen Versuch einer experimentellen Theologie dogmatische und bekenntnishafte Strukturen und Bedeutung (Anspruch auf gegenständliche, gleichsam physikalische Wahrheit) unterstellt wurden. Die Kirche hat seit Beginn an einem Wahrheitsbegriff festgehalten, der automatisch in den Dogmatismus (und in seiner Folge in die naturwissenschaftliche Aufklärung, in den Prozeß der Naturbeherrschung durch Vergegenständlichung und Instrumentalisierung der Natur): m.a.W. ins Herrendenken, in paranoide Zwänge (Kriterien: Antijudaismus, Ausgrenzung und Verfolgung der Häresien, Sexismus) hineinführte.

    Gilt das Abendmahl nur für die autoritär und hierarchisch organisierte Männerkirche (für eine Kirche, die mit Antijudaismus, Ketzerverfolgung und Sexismus leben muß)? – Zusammenhang mit dem Nahrungsgebot nach dem Sündenfall?

    – Brot und Wein

    . Brot, Gen. 319, Joh. 622-66, Lev. 2626, Ps. 10516, Ez. 416, Ex. 121-1316, Joh. 1914, Ps. 7825

    . Brotbitte Mt. 61,

    . Brotbrechen Lk. 2435, Apg. 242,

    . Brotvermehrung, Mt. 1413-21

    . Kana

    – Dornen und Disteln: Gen. 318, Ex. 31ff

    – Abendmahl: Mt. 2617, Mk. 1412, Lk. 227, Joh. 622-66, 657, 131, 151, 1934, Apg. 242, 1 Kor. 1021

    – Melchisedech: Gen. 1418, 2 Sam. 59, Hebr. 71-3

    – Abraham/Isaak: Gen. 221ff

    – Passah/Exodus: Ex. 12

    – Propheten

    – Tempelopfer.

  • 09.08.89

    Die Welt (Korrelat des Realitätsprinzips) ist durch die besondere Beziehung von Allgemeinem und Besonderem, die sie repräsentiert, bezogen auf das Selbsterhaltungsprinzip (objektiv: das Tauschprinzip); dieses ist der Kristallisationskern, an den die Begriffe und Anschauungen, die die Welt konstituieren, anschließen. Zugleich damit wird jedoch alles, was nicht in das System paßt, was durchs Sieb fällt, ausgeschlossen, insbesondere Güte, Mitleid, Empathie. Die Welt repräsentiert eine Gestalt der Realitätswahrnehmung und -erkenntnis, genauer: ein Begriffssystem, das die Wahrnehmung im vorhinein strukturiert und bestimmt, das insbesondere Anklage und Gericht kurzschließt und jede Verteidigung als „Rechtfertigung“ ideologisiert. Die Welt ist der Inbegriff aller Objekte des Herrendenkens. Insoweit ist die Welt die Sünde wider den Heiligen Geist, und der Vulgärbegriff der Ideologie der Kern der zugrunde liegenden Abwehrreaktion.

    Die Welt als ein System des Zerfalls von Sprache durch Logik ist Grund und Medium der Subjektivität, gesellschaftlich des Nationalismus (als kollektive Gestalt von Subjektivität). Es ist kein Zufall, daß Deutschgesinnte in der Regel Probleme mit der deutschen Sprache haben.

    v. Rad: Wie kann man noch 1957(!) eine „Theologie des Alten Testamentes“ schreiben, ohne auch nur mit einem Wort Auschwitz und den Holocaust (die Shoah) zu erwähnen? – Kann man den „sinnlich-übersinnlichen“ Gehalt, der nicht nur unmittelbar auf die Liebe, sondern ebenso auf ihre Derivate zu beziehen ist (Beispiel: Dornen, Dornbusch, Dornenkrone), so einfach als „vagen Symbolismus“ abtun (und dagegen auf dem historischen Realgehalt bestehen, dem dann jedoch nur noch eine Theologie abzugewinnen ist, die nicht mehr harmlos ist). Kann man eine „Theologie des Alten Testamentes“ schreiben, ohne die jüdische Tradition (die Kabbala) zu kennen? Hier kann man mit Händen greifen, welchen verhängnisvollen Einfluß eine unaufgeklärte naturwissenschaftliche Aufklärung auf die historische Aufklärung hat. (Zusammenhang der großen protestantischen Tradition der Bibelkritik mit der Rechtfertigungslehre?)

    Das Christentum ist keine Siegesreligion: Es sollte skeptisch machen, daß die Dogmengeschichte auch eine Geschichte der jeweils Siegenden ist, mit der Zusammenfassung der Siege im Triumphalismus Roms. Sicher waren die Unterlegenen nicht jedesmal die Besseren; aber ist die Vorstellung so abwegig, daß mit der Abtrennung der Häresien jedesmal auch ein Teil der (zu früh und deshalb unreif hervorgetretenen) Wahrheit abgetrennt, ausgeschieden und verdrängt wurde? Eine unter diesem Aspekt geschriebene Geschichte der Häresien wäre zweifellos einer der wichtigsten Beiträge zur Selbstverständigung der Theologie (vgl. z.B. Elaine Pagels Darstellung der Gnosis oder auch Thomas‘ und Mussners Beiträge zu einer christlichen Theologie des Judentums, die freilich zu revidieren wären anhand Radford Ruethers „Brudermord und Nächstenliebe“ und der weitergehenden Konsequenzen daraus).

  • 06.08.89

    Auschwitz ist Anlaß, den theologischen Stellenwert des Martyriums (und der Opfertheologie) zu überprüfen. Falsch ist die Vorstellung, daß das Leiden schon für sich Erlösungsgrund ist (Gott ist kein Kannibale); das so erzeugte masochistische Religionsverständnis (diese Form der Leidensmystik) hat

    – die Religion zu einem Herrschaftsmittel instrumentalisiert und

    – (durch die vom Masochismus nicht zu trennende sadistische Komponente) die Bahn frei gemacht für die Schreckensgeschichte, die das Christentum für andere dann geworden ist.

    Das Selbstmitleid, das der „Aufmerksamkeit“, der Wahrnehmung, was man selbst draußen anrichtet, den Boden entzieht, hat hier seinen Ursprung. Insofern ist Heideggers Fundamentalontologie christlichen Ursprungs. (Vgl. hierzu Elaine Pagels: Versuchung durch Erkenntnis, Kap. IV.)

    Das Glaubensbekenntnis enthält weder die Lehre Jesu, (die Bergpredigt: Nächsten-/Feindesliebe), noch gehorcht es ihren Grundsätzen („Richtet nicht, …“), sie ist bereits Produkt der Neutralisierung und Instrumentalisierung, die (wie jedes Bekenntnis) die Wahrheit zur Unkenntlichkeit entstellt und so für die Heuchelei brauchbar macht. Diese Tradition hat sich neben der anderen, befreienden (und mit ihr verbunden) in der Geschichte der christlichen Religion und Theologie erhalten.

    Innen und Außen: „Glücklich ist, wer seiner selbst ohne Schrecken inne wird“ (W. Benjamin). Wer kann seiner selbst ohne Schrecken inne werden, wenn Menschen im Knast sitzen, als „Penner“ nicht wissen, wie sie den nächsten Tag überstehen, als Huren sich prostituieren müssen, um zu überleben; wenn in der Dritten Welt Kinder verhungern, weil wir im Wohlstand leben; wenn die Erinnerung an Auschwitz (wie nach alter religiöser Vorstellung Gott) allgegenwärtig ist (übrigens mit besonderer Eindringlichkeit in den Dingen, die einmal konzipiert waren als Verdrängungshilfe: dem Erscheinungsbild des deutschen „Wiederaufbaus“: unserer Städte).

    Gott suchen im eigenen Selbst: das ist wahr nur, wenn man weiß, daß das Selbst die Beziehung zum Zustand der Welt mit einschließt: wenn der Verdrängungsberg abgetragen ist (der Glaube diesen Berg versetzt hat).

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