Paranoia

  • 14.1.96

    Privateigentum ist durch Raub, Erbschaft oder Tausch erworbenes fremdes Eigentum. Die Urform der Aneignung ist der Raub, der durch den Tausch nur reversibel gemacht worden ist. Diese Reversibilität ist das logische Fundament des Privateigentums, der Säkularisationsprozeß der Prozeß der Herstellung und universalen Durchsetzung dieser Reversibilität (Grund des Weltbegriffs). Das Armutsgebot (in der Fassung der indischen Mystik: Mein ist dein, und Dein ist dein) gründet in der (nicht moralischen, sondern logischen) Kritik dieser Reversibilität und hält die Einsicht in die Asymmetrie des Eigentumsbegriffs fest: Eigentum gründet nicht in der Unmittelbarkeit des Besitzens, sondern in der Anerkennung durch andere (seit dem Ursprung der Zivilisation in der staatlich organisierten Anerkennung des Privateigentums durchs Recht).
    Das Armutsgebot rührt an die Ursprungsgeschichte des Weltbegriffs, hält diese Ursprungsgeschichte und damit den Weltbegriff selber (die „Sünde der Welt“) reflexionsfähig.
    Die staatlich organisierte Anerkennung des Privateigentums ist der logische Grund der Entfaltung der Raumvorstellung, der „subjektiven Formen der Anschauung“. Der Ursprung und die Entfaltung der mathematischen Naturwissenschaft sind in die Geschichte des Ursprungs und der Entfaltung der staatlichen Institutionen verflochten.
    Der Levinassche Satz über die Attribute Gottes, die nicht im Indikativ, sondern im Imperativ stehen, gilt auch in der umgekehrten Anwendung (als Grundlage der Kritik der Idolatrie): Der Gott des Anklägers ist der Ankläger, der des Richters ist der Richter. Der Götzendienst war die erste projektive Verkörperung des Rechtfertigungszwangs – sein Preis war die Schicksalsidee -, das begriffliche Denken die zweite.
    Isolationshaft: Mit der Vergesellschaftung von Herschaft ist der horror vacui zu einem Instrument des Terrors geworden.
    Der Name der Barbaren gehört zur Präventivideologie des antiken Imperialismus, der der Wilden zur Präventivideologie des modernen Kolonialismus.
    Die Habermassche Intersubjektivität gründet in der Abstraktion vom Gesicht, sie sperrt das Subjekt ein ins Für-sich-Sein des Nebeneinander, in dem alle nur Objekte für einander sind. Darin gründet sein Universalismus, ein Universalismus der Theorie, gegen den die Theologie den Universalismus der Lehre setzt.
    Die Leugnung des Gesichts ist der Preis für die Anerkennung der schlechten Unendlichkeiten der subjektiven Formen der Anschauung.
    Hat der Rock aus Fellen, den Gott den ersten Menschen zur Bedeckung ihrer Blöße gab, etwas mit den Schuppen der Fische zu tun, die gegessen werden dürfen? Wie wird die Haut des Leviatan und des Behemoth im Buch Hiob beschrieben?
    Zum Menschensohn auf den Wolken:
    – Erscheint der Menschensohn nicht an der Stelle, an der bei Noe der Bogen in den Wolken stand?
    – Sind die Wolken nicht die Manifestation der Herrlichkeit Gottes am Tag (die in der Nacht als Feuersäule erscheint)?
    Hat Adornos „Eingedenken der Natur im Subjekt“ etwas mit dem zu tun, was Schelling in den Weltaltern die „Demut der Materie“ genannt hat?
    Himmel und Erde: Bäume ziehen ihre Lebenskräfte nicht nur aus der Erde, sondern ebenso auch aus dem Himmel.
    Was dem Bischof sein Kreuz, ist dem Arzt sein Stethoskop. Und warum müssen Richter und Priester bei ihrer Tätigkeit sich verkleiden?
    GSG 9: Die Autonomen des Staates.
    Sollte nicht auch die raf einmal überlegen, ob und in welchem Maße sie zum Lehrmeister dieses Staates geworden ist? Die einzige Waffe, gegen die der Staat ohnmächtig ist, ist die der Reflexion.
    Es sollte nicht vergessen werden, daß das Recht (wie im Auschwitz-Prozeß) auch als Instrument der Aufklärung genutzt werden kann. In Staatsschutzprozessen ist es zu einem Instrument der Gegenaufklärung geworden. Die Gründe sind analysierbar.
    In jeder Verurteilung steckt ein Keim der Paranoia, der nur durch Reflexion unschädlich zu machen ist. So wie ein Gericht keinen Beschluß fassen dürfte, bevor es nicht der Selbstaufklärungspflicht nachgekommen ist (einer Pflicht, die der 5. Senat nachweislich verletzt hat, als es Hubertus Janssen als einen, „der sich selbst als Pfarrer bezeichnet“, bezeichnete). Zur Selbstaufklärungspflicht eines Gerichts, scheint mir, gehört auch der erkennbare Wille und die Fähigkeit, sich in den Angeklagten hineinzuversetzen. Wer das vorab verdrängt, macht den Angeklagten zum Feind und begibt sich selbst der Möglichkeit, zu einem objektiven Urteil zu gelangen. Würde es nicht auch zu den Selbstaufklärungspflichten des Gerichts gehören, wenn es schon eine Anklage zuläßt, die den Vorwurf des Mords und des versuchten Mords (an Newrzella u.a.) mit beinhaltet, daß die Umstände der Todesschüsse in Bad Kleinen insgesamt aufgeklärt werden? Wenn ein wesentlicher Teil des Geschehens durch Gerichtsbeschluß von der Beweiserhebung ausgeschlossen wird, heißt das nicht, daß das Gericht sich selbst von seiner Aufklärungspflicht entbindet? Erklärt hiermit nicht das Gericht, daß es in diesem Punkte an der Wahrheitsfindung nicht interessiert ist?

  • 26.12.95

    Für den „Leidenskelch“, von dem Bedenbender gelegentlich spricht, gibt es zwei neutestamentliche Belegstellen: die Getsemane-Geschichte und die Stelle, an der Jesus den Jakobus fragt, ob Jakobus den Kelch trinken könne, den er, Jesus, wird trinken müssen. Aber meinen diese Stellen nicht eigentlich etwas anderes: Ist der „Leidenskelch“ nicht in Wahrheit der Taumelkelch, der Kelch des göttlichen Zorns und Grimms, am Ende der Unzuchtsbecher: Symbol der Geschichte des Herrendenkens (der Taumelkelch ist der Kelch, den die Herrschenden trinken, der sie besoffen macht; vgl. Hegels Definition des Wahren in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, Theorie-Werkausgabe, S. 46)?
    Zur Jotham-Fabel: Der Feigenbaum ist ein Symbol des Friedens (das Sitzen unterm Feigenbaum). Die Dornen und Disteln wachsen in der Wüste (mit der Wüste als Symbol der wachsenden Herrschaft des Äußeren über das Innere: der Geschichte des Weltbegriffs).
    Verweist nicht der strafrechtliche Begriff des Mordes auf eine merkwürdige Über-Kreuz-Verschiebung (ursprünglich verweist das lateinische mors, aus dem der Begriff des Mordes sich herleitet, auf das subjektlose Sterben, während der Begriff des Todes auf ein Töten durch einen andern zurückweist)? Im Begriff des Mords ist nicht mehr die Tat, sondern der Täter das eigentlich definierende Moment: in ihn ist das Moment der Konkurrenz zum Staat mit eingegangen, das den Mord zum Mord und den anderen Tod zu einem neutralen Ereignis, einem Naturereignis, gemacht hat (darin spiegelt sich die Beziehung des Ursprungs und der Geschichte des Staats zum Ursprung und zur Geschichte des Naturbegriffs).
    Gehört nicht das strafrechtliche Konstrukt des Mörders zu den logischen Bedingungen des Objektbegriffs, fällt es nicht unter die Kritik der Verdinglichung? Die Begründung einer Eigenschaft durch eine vergangene Tat, die zugleich verurteilt wird (die Begründung der Eigenschaft und des Dings in der Logik der Verurteilung): Steht dagegen nicht Joh 129, die Forderung der Übernahme der Sünde Adams, die den christlichen Namen begründet? Es gibt keine Theologie ohne die so begriffene Idee der Erbsünde: Die Sünde der Welt ist die Erbsünde (und die Taufe, die „von der Erbsünde befreit“, das Symbol der Erfüllung des Nachfolgegebots).
    Die Theologie im Angesicht Gottes gründet in der Erinnerung des Paradieses.
    Im Gegensatz zum Gott der Philosophen ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs einer, den etwas gereut: der lernfähig ist. Diese Lernfähigkeit gehört zu den Attributen Gottes, die im Imperativ, nicht im Indikativ stehen.
    Die kantische Vernunftkritik hat (als Kritik des Wissens) die Idee eines „allwissenden“ Gottes widerlegt; sie hat damit eine Gottesvorstellung widerlegt, zu deren Konsequenzen die Leugnung der Lernfähigkeit: die Leugnung des Attributs der Barmherzigkeit, gehört.
    Der aristotelische Gott war der „erste Beweger“; den „allwissenden“ Gott hingegen haben die Muslime erfunden, die dann konsequenterweise aus der Barmherzigkeit Gottes seine unterschiedslose „Allbarmherzigkeit“ gemacht haben.
    Gott ist nicht allwissend, er sieht ins Herz der Menschen (das ist das Feuer, das Jesus vom Himmel bringen wollte, und er wollte, es brennte schon).
    Die InfoAG gleicht darin dem Gericht sich an, daß sie die Beziehung der „Kirchenleute“ zur Angeklagten zu diskriminieren versucht, ihnen in ähnlicher Weise wie das Gericht Hubertus Janssen unterstellt, er unterstütze die raf, den Verdacht, „objektiv“ für den VS zu arbeiten, anzuhängen versucht. Beide Konstrukte sind paranoid, beide arbeiten nach der Methode der Umkehr der Beweislast: der Ankläger braucht seine Unterstellung nicht zu begründen, der Beschuldigte soll seine Unschuld beweisen. Beide machen Gebrauch von dem Satz, wonach Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand ist.
    Das Feinddenken und die Ausgrenzung und Diskriminierung des Verräters sind, weiß Gott, nicht unbegründet, sie sollten aber reflexionsfähig gehalten werden, weil sie anders in eine Logik hineinführen, die am Ende als Logik der Identifikation mit dem Aggressor sich erweist. Diese Logik ist die Logik des Staates, die es zu durchbrechen gilt.
    Die Bekenntnislogik hat einen paranoiden Kern.
    Der Begriff der Erscheinung erinnert nicht zufällig an den Bereich des Gespenstischen: Sind nicht die neutestamentlichen Dämonen Vorläufer der Naturwissenschaften (in deren Bann die Welt insgesamt heute steht)?
    Hegel hat den kantischen Kritikbegriff vergegenständlicht (ins Vergangene transformiert), ihn in den Begriff der Objektivität selbst hineingetrieben, wo er dann in der Idee des Weltgerichts sich verkörpert. So ist Kritik zu einer im Interesse der Herrschaft instrumentalisierten und domestizierten Kritik geworden. Dieser Kritikbegriff hat die Dialektik begründet, er ersetzt Solidarität durch Komplizenschaft. Er hat den Erkenntnisbegriff durch ein eingebautes Freund-Feind-Denken vergiftet.
    Das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit läßt auch eine Interpretation zu, in der die Lichtgeschwindigkeit selber als unendliche Geschwindigkeit sich erweist, während die schlechte Unendlichkeit der räumlichen Ausdehnung (und mit ihr das die Raumvorstellung konstituierende Prinzip der Gleichzeitkeit) auf die Logik der Zeitumkehr, der im Objekt nichts entspricht, zurückweist. Nur im Kontext dieser Logik, die die Vorstellung des Zeitkontinuums begründet (die Zukunft zu einer zukünftig vergangenen Zukunft macht), sind die Richtungen des Raumes reversibel. Die Logik der Zeitumkehr verwirft die Idee der Rettung, sie macht den katastrophischen Lauf der Geschichte unumkehrbar. In den indoeuropäischen Sprachen beherrscht diese Logik über die Formen der Konjugation (insbesondere über das Präsens und über den darin fundierten Ursprung des dritten Geschlechts, des Neutrums) die Grammatik (in der Geschichte vom Sündenfall symbolisiert die Schlange das Neutrum). Die Logik der Zeitumkehr ist der Kern der Logik der Schrift.
    Zum Verständnis der „subjektiven Formen der Anschauung“: Ein Kind, das etwa 20 m hinter seiner Mutter hergeht, blickt mich, als ich ihm begegne, ganz kurz aus seinen Augenwinkeln an, senkt dann seinen Blick, verschließt sein Gesicht und drückt so seine Weigerung aus, aus dem Status des Objekts meiner Anschauung (dem Status des räumlichen Objekts) herauszutreten und mit mir, und sei es nur durch den Blick, zu kommunizieren.
    Es gibt nichts Neues unter Sonne (Kohelet): Es ist die gleiche Sonne, die Homer und die uns bescheint, aber es sind nicht die gleichen Sterne.
    Gehört nicht das Auftreten der Ehrenbataillone beim Empfang fremder Staatsmänner im Fernsehen ebenso zu den Formen der politischen Verdummung wie der Auftritt der MP- und Schußwesten-bewehrten Polizeibeamten beim Hogefeld-Prozeß? In beiden Fällen verselbständigt sich die öffentliche Demonstration gegen das, was wirklich dort passiert (und gegen die Öffentlichkeit abgeschirmt werden soll). Dieser Prozeß darf nicht einmal mehr ein Schauprozeß sein, weil er sich damit selbst entlarven würde. Daß Justitia eine Binde vor den Augen trägt, heißt, daß sie ohne Ansehen der Person urteilt (sie soll nicht den Rang der Person, sondern nur die Tat vor Augen haben). Dieser Grundsatz jeden rechtsstaatlichen Verfahrens wird suspendiert, wenn statt des Angeklagten ein Feind zum Gegenstand des Verfahrens wird.
    Zu den Konstruktionsprinzipien synthetischer Urteile apriori gehört das Prinzip der Austauschbarkeit, der Reversibilität von Subjekt und Prädikat. Im Rahmen dieser Logik begründet der Satz „Alle Mörder sind Staatsfeinde“ den Schluß „Alle Staatsfeinde sind Mörder“. Das aber ist die Logik des Vorurteils (der moralischen Version des synthetischen Urteils apriori) ebenso wie die der mathematischen Erkenntnis (diese Logik liegt u.a. der kopernikanisch-newtonschen Astronomie zugrunde): Sie macht das Ungleichnamige (e.g. Himmel und Erde) gleichnamig. Die kantischen Antinomien der reinen Vernunft (die Hegel, um seine dialektische Logik zu begründen, neutralisieren muß) beziehen sich auf diesen Sachverhalt, sie haben ihn erstmals kenntlich gemacht, und zwar mit Hilfe der logischen Figur des „apagogischen Beweises“, mit dessen Hilfe Kant dem Prinzip der Reversibilität von Subjekt und Prädikat endgültig die Grundlage entzogen hat. Dieser Nachweis aber reicht weiter, als es zunächts erscheint: Er rührt an den Grund und die Grenze der Beweislogik, und damit an den Grund und die Grenze des Satzes, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand ist (der u.a. dazu dient, das Verfahren der Umkehr der Beweislast unangreifbar zu machen). Der kantische Nachweis ist die erste Demonstration der logischen Relevanz des Levinas’schen Hinweises auf die Asymmetrie zwischen mir und dem Andern, ein Hinweis, der den logischen Universalismus sprengt (und in diesem Zusammenhang den Erkenntnisbereich, auf den in der theologischen Tradition der Begriff Lehre sich bezog, neu begründet). In der kantischen Antinomie der reinen Vernunft hat die Philosophie das Prophetenwort vom Rind und Esel (und dessen biblischen Konnotationen, die tief in den theologischen Begriff des Opfers hineinreichen) eingeholt.
    Das Prinzip der Umkehr der Beweislast begründet das positivistische Rechtsverständnis, indem es das Recht zu einem Subsumtionsrecht macht (das dann den Weg frei macht für ein Verfahren, in dem der Angeklagte zum Feind wird).
    Gemein ist jede Präventiv-Anklage, die dem andern die Last des Unschuldsbeweises zuschiebt, die davon ausgeht, daß die Verteidigung allein Sache des Angeklagten sei. Diese Form der Präventiv-Anklage geht davon aus, daß Unbarmherzigkeit und Gnadenlosigkeit erlaubt sind (und das ist der logische Abgrund, aus dem der Staat hervorgeht). Dieser Logik hat Kant den Boden entzogen.
    Was ist von einem Verfahren zu halten, in dem durch Gerichtsbeschluß die Wege verstellt werden, auf denen vielleicht der Unschuldsbeweis zu führen möglich wäre?
    Ist nicht die Bekenntnislogik der Knoten, den Alexander nur durchschlagen hat, der eigentlich zu lösen wäre: der Knoten, der den gesellschaftlichen Herrschafts-, Schuld- und Verblendungszusammenhang zusammenbindet? Wäre nicht die Kritik der Bekenntnislogik das Ende des Bücherschreibens (die Widerlegung des Kohelet), das Heraustreten aus dem Bann der Logik der Schrift, das Heraustreten aus dem Bann der Logik des Weltbegriffs?
    Hängt die Bedeutung der apokalyptischen Formel „der ist, der war und der sein wird“ nicht auch von der Reihenfolge der Zeitbestimmungen ab?
    Zu den Orionen (vgl. das Jesaia- Zitat bei Bedenbender) wäre die Hiob-Stelle hinzuzunehmen (über den Orion und die Plejaden). Beschreiben nicht die Planeten die Außengrenzen, zu denen neben dem König, dem Krieg und dem Handel (der Geldwirtschaft) auch die Frauen gehören (Zitat eines Ethnologen: das ist ein feindlicher Stamm, mit dem heiraten wir nur).
    Empfindlichkeiten sind Wege in die Opferfalle: Bezeichnen sie nicht genau den Punkt, in den das Wort, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwinden werden, Hoffnung zu pflanzen versucht?
    Pharisäer und Schriftgelehrte: Nur unterm Rechtfertigungszwang, der selber aus dem Vergangenheitscharakter des Gebots entspringt, wird das Gebot zum Gesetz.
    Zu Kafkas Parabel vom Schauspieldirektor, der eine Neuinszenierung vorbereitet: Müßte er nicht den zukünftigen Schauspieler, dessen Windeln er wechselt, erst zeugen?
    Diente nicht die Verschiebung des Naturbegriffs von der Zeugung zur Geburt (von physis zur natura) dazu, die messianischen „Wehen der Geburt“ zu verdrängen, sie unsichtbar zu machen, sie zu individualisieren, sie als individuelle Strafe für die „Sünde der Welt“ dem ganzen Kollektiv der Frauen anzuhängen? Verweist die Bedeutungsverschiebung in den Begriffen Natur und Welt nicht auf eine sprachlogische Differenz, die auf die Beziehung der griechischen zur lateinischen Grammatik zurückweist? Und liegt dieser sprachlogischen Differenz nicht die Differenz in den politischen Institutionen zugrunde, der Unterschied der institutionellen und imperialen Entfaltung des Römischen Reiches und des Caesarismus zur philosophiebegründenden polymorphen Gestalt der griechischen Polis?
    Gab es die hagiographische Unterscheidung von Confessor und Virgo schon in der griechischen Kirche, oder gehört sie zur Gründungsgeschichte der lateinischen Kirche? Hängt sie mit der Umformung des Symbolums in eine Confessio, mit der nicht nur der Name, sondern zugleich die Logik der Sache sich ändert, zusammen? Die Vermutung wäre zu begründen, daß das Symbolum (das für Augustinus noch ein sacramentum war) im Schuldzusammenhang der imperialen lateinischen Sprachlogik zur Confessio geworden ist.

  • 21.12.95

    An den Reaktionen der InfomacherInnen (des Prozeßinfos zum Prozeß gegen Birgit Hogefeld) läßt sich der Zusammenhang von
    – Rechtfertigungszwang und autoritärem Stil sowie von
    – Lernunfähigkeit und Unfähigkeit zu offener (an praktischen Zielen anstatt an Rechtfertigungszwängen orientierter) Diskussion
    zwanglos demonstrieren.
    Reicht die Wahrnehmung von Jürgen Ebach, daß der apokalyptische Behemoth, das Nilpferd, zu einem Schmusetier geworden ist, nicht an wirklich apokalyptische Zusammenhänge heran? Gehört das heute über die Kinderwelt hinaus so beliebte Schmusetier (wie auch einige in die gleiche Richtung weisenden Formen des „Tierschutzes“, einige Tendenzen der neuen Religiosität) nicht schon zu den Verkörperungen des „falschen Propheten“ (Automatisierung des Verlangens, geliebt zu werden, das die Liebe unterbindet, in der Wurzel zerstört)?
    Die Transformation in den Indikativ hat den Heiligen Geist zum „Tröster“ gemacht (sind nicht die heute so beliebten Schmusetiere säkularisierte Verkörperungen dieses „Trösters“?); wenn dagegen Levinas zufolge die Attribute Gottes im Imperativ, nicht im Indikativ stehen, dann erweist sich der Name des Parakleten als Gebot, als der Imperativ des verteidigenden Denkens.
    Der Theologie, die aus ihren eigenen Wurzeln sich zu begreifen versucht, liegt die Verteidigung allemal näher als die Anklage (die zu den Wurzeln des Staates gehört).
    Schon die Reaktion des Infos auf den Brief der „Kirchenleute“ (eine Bezeichnung, der die Formulierung des Richters Klein: „der sich als Pfarrer bezeichnet“, aufs genaueste korrespondiert) hat gezeigt, daß einige Leute in der InfoAG mit Kritik ebensowenig umgehen könne wie das Gericht. Wenn das Gericht zwischen Kritik am Verfahren und Unterstützung der raf nicht unterscheiden kann, wenn es den Kritiker umstandslos zum Sympathisanten erklärt, so ist diese Logik nicht weit entfernt von der anderen, die den „Kirchenleuten“ unterstellt, die Interessen der raf-Gegner zu vertreten. Auf Seiten des Gerichts führt diese Logik in die Paranoia, die das Verfahren in ein Instrument zur Konstruktion synthetischer Urteile apriori zu machen versucht, auf Seiten des Infos aber führt sie zur Unfähigkeit, mit diesem Verfahren wirklich konstruktiv sich auseinandersetzen zu können. Die Prozeßbeobachter aber dürfen es sich am wenigsten erlauben, den Prozeß nur als Mittel zur Bestätigung der eigenen Vorurteile zu mißbrauchen. Hier ist Sensibilität, Wahrnehmungs- und Lernfähigkeit unabdingbar. Wer alles schon im Voraus weiß …
    Kritik am Info sollte nicht zur Kündigung der Solidarität führen; wird hier nicht Solidarität mit Komplizenschaft verwechselt? Und liefert diese Verwechslung nicht der anderen Seite die Munition?
    Daß Gott die Welt aus Nichts geschaffen hat, wird sich am Ende als ein Satz erweisen, der auf einen ganz anderen Sachverhalt sich bezieht: Nicht Gott, sondern der Staat hat die Welt aus einem Nichts erschaffen, das er selber produziert. Dieses Nichts ist das Produkt einer Annihilierung: der Annihilierung der Tradition, in der die Theologie gründet. Vgl. hierzu die Stelle im neuen Weltkatechismus der Katholischen Kirche, an der der Himmel und die Erde im ersten Satz der Genesis als mythischer Ausdruck für „alles, was ist“, d.h. für die Welt, begriffen wird, während das, was Himmel und Erde von sich aus bedeuten, bereits verdrängt ist. Hier ist die Annihilierung abgeschlossen, das Annihilierte aus der Erinnerung entfernt. Mit der Dogmatisierung ist der Säkularisationsprozeß (die Umformung des Imperativs in den Indikativ: die Annihilierung des Imperativs) in die Theologie eingedrungen, hat sie im Kern zerstört, hat sie durch ein Konstrukt ersetzt, das, obwohl es von seiner Ursprungsgestalt fast nicht mehr sich unterscheiden läßt, doch das genaue Gegenteil darstellt. An diesem Vorgang lassen der Sinn und die Notwendigkeit des Bilderverbots sich demonstrieren.
    Ist nicht die Kronzeugenregelung, insbesondere mit der Zielsetzung, mit der sie in der BRD eingeführt und angewandt wird, ein Versuch, die Grenzen der Beweislogik, auf die der Satz: Gemeinheit ist kein strafrechtlicher Tatbestand, verweist, zu instrumentalisieren, jene Lücke zu schließen, die die Konstruktion synthetischer Urteile bis heute verhindert? Die Kronzeugenregelung, die politische Instrumentalisierung der Logik des Verfahrens und die Umformung des Angeklagten in den Feind (mit Verteidigern als „Unterstützern“ und Prozeßbesuchern als „Sympathisanten“: nur so läßt die Identifikation mit dem Angeklagten, die aus der Unschuldvermutung folgt, sich verhindern) sind drei Seiten einer und der gleichen Sache und zugleich das Fundament, auf das die Konstruktion eines synthetischen Urteils apriori sich stützt.
    Im Staatsschutzprozeß vollendet sich das Strafrecht, werden die Abgründe aufgedeckt, die es in sich birgt, dekonstruiert es sich selbst.

  • 10.11.95

    Hegels Logik steht unterm Bann des Dingbegriffs, sie ist eine Dinglogik. Sie vermag den Knoten, der das Ich mit dem Ding verknüpft, nur zu reflektieren, nicht zu lösen.
    Der Weltbegriff ist das Produkt und die Organisationsform der Selbstreflexion des Andersseins der Dinge (ihrer Erscheinung). Hieran läßt sich erkennen, daß der Andere und das Fremde nicht nur nicht bedeutungsgleich sind: Der Fremde erscheint als Fremder im Kontext der Selbstreflexion des Andersseins. Der Fremde ist das Realsymbol der ausschließenden Gewalt des Weltbegriffs (an ihm läßt der nationale Grund des Weltbegriffs sich ablesen).
    Oben und unten: Welcher Logik ist es zu verdanken, wenn der Rassismus mit Rangordnungsstrukturen, mit Wertordnungen und hierarchischen Abstufungen verbunden ist, mit paranoiden Verschwörungskonstrukten und mit Reinheitszwängen: mit einem Hygienezwang, der bis zum Genozid fortschreitet? Ist nicht der Antisemitismus in der Tat die Wurzel des Rassismus (und nicht nur eine seiner Erscheinungesformen)? Welches objektiv destruktive Potential steckt nicht in der Verharmlosung des Rassismus zur Weltanschauung, die ihn der Bekenntnislogik unterwirft, die selber ein Ausfluß des Rassismus ist, nicht seine Grundlage.
    Ist der kyrios als messianischer Titel Jesu der über die LXX vermittelte Gottesname adonai, der Deckname des Tetragrammatons, das selber nicht ausgesprochen werden durfte? Was bedeutet es, wenn dieser Deckname dem Christus Jesus zuerkannt wird, gleichzeitig aber das Tetragrammaton ersatzlos verschwindet? Der Name des Vaters benennt ihn bloß, er ist kein Name, in dem sich Gott selbst zu erkennen gibt.
    Ist das Dogma der Tempel, mit dem Opfer als Grundlage: das Haus seines Namens? Läßt sich die Geschichte des Dogmas (die bruchlos in die naturwissenschaftliche Aufklärung übergeht) an der Geschichte der Architektur des Kirchenbaus ablesen? Hat Hegel nicht die Geschichte der Architektur als die Geschichte der Organisation der Schwere und des Lichts aufgefaßt und beschrieben? Ist hier nicht das Verbindungselement, das das Dogma mit der naturwissenschaftlichen Aufklärung verbindet?
    Hören und Sehen: Die Nacktheit (da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren) verweist auf die Entkleidung der Dinge, ihr Herausfallen aus dem (paradiesischen) seligen Sprachgeist. Nackte Tatsachen sind obszön, und die subjektiven Formen der Anschauung, in deren Kontext sie sich konstituieren, sind der Unzuchtsbecher der Apokalypse.

  • 29.10.95

    Theologie: domestizierte Paranoia? Nicht Gott, sondern Sein NAME ist Gegenstand der Theologie. Der Gott, „über“ den zu reden wäre, ist ein paranoisches Produkt. Theologie im Angesicht Gottes ist die Theologie der Arglosigkeit.
    Ist nicht das Dogma – mit seinem Kern, der Opfertheologie – ein paranoides System, und zwar das konsequenteste, logisch durchgebildetste?
    Wenn Jugendliche heute in der Oper lachen, verweist das nicht auf den Zerfall der bürgerlichen Privatsphäre, die in der Oper an ihren herrschaftsgeschichtlichen Ursprung im Barock (an ihren Ursprung in der Geschichte der Privatisierung der Herrschaft) erinnert wird?
    Beispiele sind kein Beweis: Die Frage ist nicht, ob es Fortschritt in der Geschichte gibt, sondern was das ist, was wir Fortschritt nennen.
    Wenn Ulrich Duchrow unter Berufung auf Ton Veerkamp sagt, daß der Überbau nicht nur wirtschaftlich determiniert sei, neutralisiert er den Widerspruch zu einem sowohl als auch. Es gab nicht den Dornbusch und daneben das Feuer, sondern im brennenden Dornbusch hat Gott sich offenbart.
    Das Inertialsystem ist der Systemgrund der Ästhetisierung der Erscheinungen. Eine Kritik der Phänomenologie, des Begriffs und der Sache (von Lambert über Hegel bis Husserl), müßte insbesondere dieses Moment der Ästhetisierung im Begriff der Erscheinungen ins Bewußtsein heben. In diesen Zusammenhang gehört die Bedeutung des Präfixes er- im Begriff der Erscheinung sowie seine Beziehung zum Sein: Beide erinnern an die Logik der dritten Person (des Andern), die den Grund benennt, aus dem der Weltbegriff und der Begriff der Erscheinungen hervorgehen.
    Zur Kritik der Trinitätslehre: Die Erscheinung wird erzeugt, wie auch der theologische Ursprung auf die Christologie (auf die „Erscheinung des Herrn“), zurückweist. Wie der Sohn ist auch die Erscheinung „gezeugt, nicht geschaffen“: Deshalb ist der Begriff der Schöpfung auf die Natur nicht anwendbar (und deshalb gibt es so etwas wie eine „christologische Struktur“ des Naturbegriffs).
    Die Bewegung des Lichts im Raum wird mit den Begriffen Fortpflanzung und Ausbreitung beschrieben, und diese Begriffe bezeichnen nicht das Gleiche: Verhält sich nicht die Ausbreitung zur Fortpflanzung wie die Fläche zur Norm? Und ist es nicht diese Beziehung der beiden Begriffe, die dem Korpuskel-Welle-Dualismus zugrundeliegt, in ihm sich reflektiert?
    Mit der Austreibung der Händler und Geldwechsler aus dem Tempel hat Jesus den Auftrag an Josue zu Ende geführt: er hat den Bann über Kanaan vollstreckt.
    Der wachsende Anteil der Gremien, die Regierungsaufgaben übernehmen, aber nicht demokratisch gewählt und keiner demokratischen Kontrolle unterworfen sind: Verfassungsgericht und Zentralbanken im Innern, transnationale Gremien wie IWF, Weltbank, Europäischen Union draußen (vgl. Duchrow, Alternativen, S. 106). Zusammenhang mit dem Konstituierungsprozeß, in dem die Marktgesetze nach innen und außen sich durchsetzen („schlanker Staat“, Privatisierung öffentlicher Betriebe, Entpolitisierung der Politik und Ausbreitung der – nur noch „Sachgesetzen“ gehorchenden – Verwaltung).

  • 28.10.95

    Zur Logik der Herrschaftsgeschichte (Vergesellschaftung und Privatisierung von Herrschaft): Wie unterscheidet sich die Ohrenbeichte von der altkirchlichen Bußpraxis?
    Seit Kopernikus sind Tag und Nacht, die sinnliche Erscheinung der Natur insgesamt, zu bloßem Schein geworden, hervorgerufen durch ein kompliziertes System von Bewegungen der Sonne und der Erde im Kontext des heliozentrischen Systems. Die Unterscheidung der primären und sekundären Sinnesqualitäten gründet in der kopernikanischen Wende, die die Sinnlichkeit ins Subjekt zurückgestaut, zu Empfindungen verdinglicht hat. Wie die Materie in die Einheit der trägen und schweren Masse, so sind die sinnlichen Qualitäten in die Einheit des Gefühls, der Empfindung (der Rekonstruktion des Gefühls nach dem Modell mechanischer Stoßprozesse), zurückgenommen worden. Übriggeblieben ist eine von allen Qualitäten gereinigte Objektivität („leer, gereinigt und geschmückt“).
    Seit Kopernikus gibt es die (tendentiell paranoide) Unterscheidung der subjektiven Erfahrung von den hinter den Erscheinungen verborgenen Kräften: Grundlage aller Verschwörungstheorien.
    Im Barock kehrte die durch die kopernikanische Wende ausgeschlossene Welt der sinnlichen Qualitäten als Herrschafts-Pomp, als Bühnen-Prunk, als Oper zurück.
    Kopernikus hat, ohne die Konsequenzen zu durchschauen, einen Weltbegriff etabliert, der das Herz der Dinge endgültig in den blinden Fleck gerückt hat.
    Daß das Sein das Bewußtsein bestimmt, ist ein Satz, der niemals affirmativ, sondern eigentlich nur in kritischem Zusammenhang gebraucht werden darf, im Kontext dessen, was in der marxistischen Tradition, bevor sie selber zur Herrschaftsideologie geworden ist, Ideologie, falsches Bewußtsein, hieß.
    Die subjektiven Formen der Anschauung instrumentalisieren alles, was in ihren Bann gerät. Zu ihrer Logik gehört
    – das apriorische Feindbild (dem Objektbegriff, der im Kontext der subjektiven Formen der Anschauung sich konstituiert, entspricht in der Bekenntnislogik das Feindbild; die subjektiven Formen der Anschauung sind apriori antisemitisch),
    – der Begriff der Häresie (die Diskriminierung der nicht beweisbaren Einsicht, der Idee einer Theologie im Angesicht Gottes) und
    – die konstitutionelle Frauenfeindschaft (die Vorstellung einer Objektwelt, die allein der Gewalt verfügbar ist).

  • 27.10.95

    Ist es nicht ein deutlicher Hinweis auf den blinden Fleck in der christlichen Tradition, wenn der Stier in der christlichen Symbolik nicht mehr vorkommt?
    Hängt Num 181: „Und der Ewige sprach zu Aharon: Du und deine Söhne und dein Vaterhaus mit dir, ihre sollt die Verschuldung gegen das Heiligtum tragen, und du und deine Söhne mit dir, ihr tragt die Verschuldung eures Priestertums“, mit Joh 129 zusammen, in dem der Täufer Jesus das Lamm Gottes nennt, das die Sünde der Welt auf sich nimmt?
    Beweisbar ist nur Vergangenes. Deshalb gehört zu den Prämissen des Beweises die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit (am Ende das Inertialsystem). – Seit wann gibt es den Zeugen in der Gestalt des Märtyrers (seit Daniel und den Makkabäern)? Und ist nicht das Zeugen in dem Augenblick zu einem göttlichen Attribut geworden, als der Confessor den Märtyrer ablöste (gleichzeitig mit der Dogmenbildung und dem Ursprung und der Entfaltung der Bekenntnislogik)? Gehören in diese Geschichte, neben den Regelungen der Zeugenschaft im Rechtsstreit (und dem Problem des falschen Zeugen und des falschen Propheten), auch die Genealogien, die toledot in der Schöpfungs- und Urgeschichte?
    Der Zeugende bezeugt sich selbst in seinem Sohn (wie das Licht in seiner Fortpflanzung). Bezeugt nicht im Raum die eine Dimension die andere?
    Lots Weib: Verweist der Satz: „Ihr seid das Salz der Erde“, auf das Salz der Paranoia, mit dem heute jede Erkenntnis gewürzt sein muß, die an den Kern der Dinge rühren will?
    Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß: Heute lassen die Meisten die Probleme anderer nicht mehr an sich herankommen, weil sie der Versuchung ausweichen wollen, helfen zu müssen.
    Beherrschung der Sprache: Kann es sein, daß die Fixierung auf die Orthographie in Deutschland mit der Vergesellschaftung von Herrschaft zusammenhängt, mit der subalternen Neigung, sich als Aufpasser über alle anderen zu verstehen? Die Beherrschung der Sprache ist selbst ein ideologisches Herrschaftsmittel, das die, die wirklich Herrschaftsfunktionen ausüben, nicht mehr brauchen; die haben ihre Sekräterinnen.
    Gehört nicht auch das Mode-Adjektiv „selbsternannt“, das alle entmündigt, die nicht im Auftrag eines Kollektivs, einer Institution, oder aufgrund einer Ermächtigung durch eine autorisierte Instanz sprechen und handeln, zur Logik der Medien-Sprache? Es ist die gleiche Gewalt, die alle zu ohnmächtigen Zuschauern ihres Lebens macht und in eine nur noch ästhetische Beziehung zu sich selbst rückt. Das Leben ist zu einem geworden, in dem niemand mehr vorkommt, dem nicht von anderen das Recht dazu verliehen wurde. Ist diese Struktur nicht in der Kirche vorgebildet? Vollständige Säkularisation des Wortes: „Extra ecclesiam nulla salus“?

  • 7.10.1995

    Hören und Sehen: Die Gummiwand, das steinerne Herz und die Verwechslung von Genitiv und Dativ. Drückt nicht in diesem grammatischen Trend eine Veränderung der Beziehung zum Raum sich aus: Das Prinzip der Offenheit, das die Dinge verfügbar gemacht hat, ist zu einem Instrument der Objektivation und der Verstrickung geworden.
    „Ein Jäger längs dem Weiher ging …“ Oder heißt es: des Weihers? Lt. Duden-Grammatik folgt dem „längs“ der Genitiv, seltener der Dativ.
    Das Sehen, die monologische Logik der Schrift, bringt den Adressaten der Sprache zum Verschwinden, raubt der Barmherzigkeit ihr Objekt, verwandelt den Dativ in den Genitiv, macht den Adressaten zum Objekt auswegloser Herrschafts- und Eigentumsbeziehungen, macht ihn zum potentiellen Feind, verwandelt die Welt in eine Quelle der Paranoia. Diese Konstellation hat das Barock als Epoche der Privatisierung von Herrschaft zur Epoche des Absolutismus, des Scheins und des Pomps gemacht.
    Heute findet die Realität im Fernsehen statt, die Zuschauer sind davon (wie die Armen von den in den Schaufenstern ausgestellten Waren) ausgeschlossen; sie sind zu Zuschauern ihres eigenen Schicksals geworden, ohne es noch als solches zu erkennen (die Eigengesetzlichkeit des Fernsehens, die die Relevanz einer Sendung an den Einschaltquoten mißt, entzieht der Erfahrungsfähigkeit den Boden, macht alles zur Unterhaltung). Gleicht diese Grenze, die den Zuschauer jeder Handlungsmöglichkeit, jeder Möglichkeit, in das Geschehen einzugreifen, beraubt, nicht der des Himmels, die uns von der praktischen Gemeinschaft mit der Sternenwelt ausschließt (die dann nicht zufällig in der alten Welt als eine Schicksalsgemeinschaft erfahren wurde: das war die Grundlage der Astrologie). Hier gründet die ideologische Bedeutung der „Raumfahrt“, des Versuchs der technischen Beherrschung des Überschreitung auch dieser Grenze.

  • 4.8.1995

    Kelch des göttlichen Zorns, das Inertialsystem oder der Ursprung der indogermanischen Sprachen: Wer sich zum Herrn des Raumes macht, wird zum Objekt der Zeit. Das Perfekt ist keine Qualität des Handelns mehr, sondern eine der Zeit: die „vollendete Vergangenheit“.
    Transzendentale Ästhetik: Das Reich der Erscheinungen ist der Inhalt des Kelchs.
    Wie der Begriff des Ewigen die Vergangenheit von sich ausschließt, so der des Heiligen die Eigentumsfähigkeit, die Verfügbarkeit, die Beherrschbarkeit. Die Idee des Ewigen konstituiert sich in ihrer Beziehung zur Zeit, die des Heiligen in ihrer Beziehung zum Raum. Deshalb gehört zur Heiligkeit die Umkehr. Heiligkeit hat mit den drei evangelischen Räten, mit Armut, Hören und Keuschheit, zu tun.
    Die Heiligung des Gottesnamens ist das Abarbeiten der Ontologie in der Theologie. Die Ontologie bezeichnet das Moment der Selbstreferenz in der Philosophie.
    Der Säkularisationsprozeß ist die Geschichte der Entfaltung des Eigentumsprinzips, er ist zugleich die Geschichte der Selbstlegitimation des Bestehenden.
    Im Modernisiserungsschub des Faschismus ist der beschränkte Untertanenverstand zum Verwaltungsverstand geworden.
    Heidegger hat mit seinem Begriff des „In-der-Welt-Seins“ die Distanz, die Kant mit dem Imperativ, daß der Mensch niemals nur als Mittel, sondern zugleich auch als Zweck zu behandeln sei, bezeichnet hat, endgültig aufgehoben, nivelliert, neutralisiert. Dann aber bleibt in der Tat nur das Vorlaufen in den Tod (das die Eigentlichkeit begründet: den verzweifelten Nachhall dessen, was einmal Würde hieß).
    Die Paranoia gründet im Eigentumsprinzip.
    Gotteserkenntnis, die Erkenntnis, daß Gott den Himmel aufgespannt und die Erde gegründet hat, schließt die Kritik eines Schöpfungsbegriffs, der den Staat und die Welt an einander bindet, mit ein.
    Handel, Banken, Verkehr: Das Trägheitsgesetz wird durchsichtig am Modell der Zirkulation, das Gravitationsgesetz an dem des Kredits.
    Wo kommt der Name des „Neuen Testaments“ erstmals vor? Wahrscheinlich (zusammen mit dem Begriff des Erben, der Erbschaft) bei Paulus? Wenn nach Paulus die Christen (als „Kinder Gottes“) „Erben des Reiches“ sind, so werden sie hier in die Passivität der Erwartung gebannt, dem Wort vom Binden und Lösen wird die Grundlage entzogen, das Lösen (oder genauer: jede Alternative zum Binden) wird ausgeschlossen. Das „Neue Testament“ steht unter dem Bann der Vergangenheit. Gründet nicht der Name des „Neuen Testaments“ in der Rezeption des Weltbegriffs?
    Was bedeutet Hebr 916f: „Denn wo ein Testament ist, da muß der Tod dessen erfolgen, der es errichtet hat; denn ein Testament ist für den Todesfall fest, weil es keine Kraft hat, solange der lebt, der es errichtet hat“? Heißt das, daß Gott tot ist, oder daß Gott von uns durch eine Todesgrenze getrennt ist?
    Die List der Vernunft bezeichnet den projektiven Anteil am Begriff der Erkenntnis und des Wissens: die List der Schuldverschiebung, die die Erkenntnis neutralisiert, sie „objektiv“, „für alle gültig“ macht. Die Idee der Wahrheit aber schließt die Fähigkeit zur Schuldreflexion mit ein (und so, im asymmetrischen Kontext der „Sündenvergebung“, auch das des Bekenntnisses).
    Bekenntnis und Sündenvergebung: Nur wer zur Kirche (zur Nation etc.) sich bekennt, wird von der Sünde, nicht dazu zu gehören: von der Sünde der Trennung befreit. In dieser logischen Konstellation (die mit der Entstehung der Großreiche – mit dem Ursprung des Staates – sich bildet und in der Prophetie erstmals reflektiert wird) konstituiert sich der Glaube.
    Herrendenken: Das Inertialsystem (Repräsentant des Staats in der Natur) trennt Täter und Opfer in der Katastrophengeschichte, trennt die Verursacher von den Objekten (vgl. die sprachlogische Diffenrenz von Sehen und Hören bei Ezechiel).

  • 25.6.1995

    Anschauungen sind die Anschauungen anderer, die ich mir durchs Bekenntnis zueigen machen kann.
    Beruht die Schwierigkeit der Texte Adornos nicht darin, daß sie nicht in die Flaschen der Anschauung sich abfüllen lassen? Ihr Begreifen hängt davon ab, ob der Funke überspringt oder nicht.
    Anschauungen und Bekenntnisse sind Transformatoren, die das Feuer des Zorns in sein Anderssein: in Wut umwandeln. Die subjektiven Formen der Anschauung haben die Geschichte der Scheiterhaufen, die ein Teil der Bekenntnisgeschichte war, durch Verinnerlichung beendet.
    Alle Anschauungen haben die subjektiven Formen der Anschauung zur Voraussetzung, sie gründen in der Unfähigkeit, sie zu reflektieren. Wenn die subjektiven Formen der Anschauung mit dem biblischen Symbol des Kelchs zusammenhängen, dann verweist der Begriff der Weltanschauung auf den Unzuchtsbecher.
    Die spezielle Realitivitätstheorie rührt an die erkenntniskritische Seite der Naturwissenschaft, die allgemeine Relativitätstheorie rührt an den Grund ihrer Objektivität: an ihre theologische Seite.
    Nur der Geist hat die Kraft, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen und, wenn er alle ergreift, den Sumpf trockenzulegen.
    Die Geschichte des Dogmas und ihr Produkt, der katholische Mythos, ist die Geschichte der Umformung des Glaubens in die Form des Wissens; die Beziehung zur Zukunft wird gelöscht, der Glaube unter die Vergangenheitsform subsumiert, sein Inhalt als Himmel, Hölle und Fegfeuer in den Raum projiziert. Diese Geschichte ist die der drei Leugnungen.
    Wie hängt die Angewohnheit Kohls, in angespannten Situationen die Zunge zwischen die Lippen zu klemmen, mit den zusammengepreßten Lippen bei Politikern sonst zusammen? Die Geste erinnert die von Kindern, wenn sie zu Beginn ihr Schullaufbahn das Schreiben üben.
    In einem Brief an seine Frau (Wie Efeu an der Mauer, S. 345) beschreibt Huidobro, wie er zum erstenmal nach über zehn Jahren mit einem anderen, auch eine „Geisel“, zusammen in einer Zelle ist. Er beschreibt es, indem er von den zwei Paar zerschlissenen Schuhen erzählt, die er beim Erwachen morgens vor seinem Bett vorfindet. Das Ergreifende dieser Situation ist, daß die Dinge anfangen zu erzählen, weil sich die Menschen – nach so langer Einsamkeit – noch zu fern sind, um anderen von sich schon erzählen zu können (oder das eigene Leiden noch zu nahe ist; deshalb erbarmen sich die Schuhe und beginnen zu erzählen). Ist der Gedanke so abwegig, daß heute ein ganzes Land, seine Städte und die Wohnungen in diesen Städten nach Kriterien eingerichtet werden, deren Zweck es zu sein scheint zu verhindern, daß die Dinge sich erbarmen und anfangen zu erzählen? Tot ist, wer sich nicht mehr erbarmt.
    Die moderne Definition der Wahrheit als Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand macht die Beweisbarkeit zum Kriterium der Wahrheit.
    Der „prinzipielle Ideologieverdacht“ gegen die Autorität des Leidens ist ein Instrument zur Absicherung des modernen Wahrheitsbegriffs. Wahrheit als Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand abstrahiert von der Gewalt, genauer: Gewalt ist der blinde Fleck dieser Definition.
    Wenn – ihren Aussagen vor den Ermittlungsbehörden zufolge – keiner der GSG-9-Beamten in Bad Kleinen gesehen hat, daß Wolfgang Grams sich erschossen hat, so ist das fast schon der Beweis, daß es sich nicht um Selbstmord handeln kann: Die Beamten kennen die Folgen einer Falschaussage, deren Widerlegung sie offensichtlich für möglich, wenn nicht für wahrscheinlich halten; deshalb berufen sie sich aufs Nichtgesehenhaben.
    Ist nicht der Jesaias-Satz
    „Ich, der Herr, und keiner sonst, der ich das Licht bilde und die Finsternis schaffe, der ich Heil wirke und Unheil schaffe, ich bin’s, der Herr, der dies alles wirkt“ (457)
    eine Erläuterung des Schöpfungsberichts, seines Rhythmus von Katastrophe und Rettung (die hier vor der Katastrophe genannt wird, wenngleich die Schöpfungsfolge genau umgekehrt ist)? Wirft dieser Satz nicht ein Licht auf die geschaffenen Dinge (Himmel und Erde, die großen Seetiere und schließlich die Menschen), die zunächst als Katastrophen sich erweisen? Verweist das bara generell auf katastrophische Vorgänge (auf etwas zu Rettendes)?
    Kann es sein, daß in dem „wüst und leer“, „Finsternis über dem Abgrund“ und dem „Geist Gottes über den Wassern“ die dreifache Schöpfung des Menschen (als Ebenbild Gottes, als Sein Bild, als Mann und Weib) sich anzeigt, daß in dieser jene sich spiegeln? Und heißt es deshalb, daß der Mensch aus Erde gemacht ist (aus dem Staub, den die Schlange frißt)?
    Die Totalitätsbegriffe (Wissen, Natur und Welt) sind die Reste des durchschlagenen Knotens, den es zu lösen gilt. Die Zeit der Harmonisierung ist vorbei. Gilt nicht das gleiche auch für die Trinitätslehre, ist nicht auch sie der zerschlagene Knoten, den es zu lösen gilt (wurde nicht der Knoten durch Übersetzung des Imperativs in den Indikativ, durch Übersetzung der Offenbarung vom Hebräischen ins Griechische, zerschlagen)?
    Theologie wird zur Theologie im Angesicht Gottes, wenn man begreift, daß die Attribute Gottes nicht im Indikativ, sondern im Imperativ stehen. Und Gott suchen heißt: diesen Imperativ endlich hören zu lernen (Heute, wenn ihr Seine Stimme hört).
    Die Theodizee fällt unter das erkenntnistheoretische Problem der kontrafaktischen Urteile, das Problem, das in Vergegenständlichung des Vergangenen und in der Konstituierung der Geschichte steckt. (Zweck der modernen Wahrheitsdefinition ist es u.a., das Vergangene in die Vergangenheit einzusperren.)
    Die Kritik der Verdinglichung affiziert sowohl den Begriff der Vergangenheit als auch den der Natur.
    Wenn das Wahre der bacchantische Taumel ist, in dem kein Glied nicht trunken ist, dann ist diese Trunkenheit ein logischer Ausfluß der subjektiven Formen der Anschauung (des Kelches).
    Die Theologie hinter dem Rücken Gottes hat die Religion zur Religion für andere, zum Herrschaftsinstrument gemacht. In dieser Konstellation gründet die tiefe Zweideutigkeit der Trinitätslehre, gegen die der Satz von der Sünde wider den Heiligen Geist gerichtet ist.
    Die Übersetzung des Indikativs in den Imperativ führt direkt in das Levinassche Konstrukt (mein Verhältnis zum Angesicht des Andern und die Beziehung beider zum „Dritten“), während der Indikativ auf die durch Herrschaft vermittelte Distanz zum Objekt sich bezieht: auf den historischen Objektivationsprozeß.
    War nicht die Lichtmetaphysik einmal der Versuch, den Baum des Lebens zu rekonstruieren, der seine Wurzeln im Himmel hat und dessen Krone den Trieb in sich hat, auf der Erde sich auszubreiten?
    Die Übersetzung des Begriffs der omnipotentia mit Allmacht ist nicht korrekt, genauer wäre der Begriff des Allesvermögenden. Darauf verweist der Satz, wonach bei Gott kein Ding unmöglich ist. Erst unsere Allmacht hat die potentia von ihrem Sprachgrund getrennt. Erst dadurch ist sie böse geworden (islamisch-christlicher Ursprung des modernen Machtbegriffs). Allesvermögend ist der Retter, der Erlöser, allmächtig, aber das auch nur seinem eigenen verblendeten Bewußtsein nach, ist der faschistische Diktator. Der Preis der Allmacht ist die Paranoia.
    Haben das apokalyptische Tier aus dem Meere etwas mit den großen Seetieren (den Symbolen der Macht) und das Tier vom Lande etwas mit der Schlange in der Paradieses- und Sündenfallgeschichte (Modell des falschen Propheten) zu tun?
    Die memoria passionis, die das unabgegoltene Leiden der Geschichte nicht vergessen kann, sprengt den Bann des Vergangenen, sie verweigert sich der „Versöhnung über den Gräbern“.
    Der Kreuzestod war die Katastrophe, zu der die Rettung noch aussteht; und die Geschichte des Christentums ist die Geschichte der descensio ad inferos.
    Religion für andere, das ist das genaue Gegenteil einer Utopie, in der keiner mehr den andern belehren wird, weil alle Gott erkennen (vgl. Jer 3134).
    Ist nicht die Kirche unfähig geworden, in der Prophetie auch das Gericht über sich selbst zu begreifen?
    Erinnert nicht das Brumliksche „Ausdrucksgeschehen im Gesicht eines anderen“ an eine Videoaufnahme, die Objektivation eines nicht Objektivierbaren, die Übersetzung eines Imperativs in den Indikativ, das Gegenteil des Levinasschen Angesichts?

  • 20.6.1995

    Der Herr Prof. Dr. Thomas Feuerstein hätte die Fragen in seinem Leserbrief in der FR vom 19.06.95, bevor er sie stellte, nur einmal kurz auf Auschwitz anwenden sollen; vielleicht hätte er dann die Infamie bemerkt, die in Fragen, wie: „Wer leidet zu Recht, wer zu Unrecht? Wer erinnert mit welcher Absicht?“ steckt. Gibt es nicht eine Realität des Leidens, in deren Anblick das „Verständigungsapriori“ zynisch wird?
    Prinzipieller Ideologieverdacht: Ist das nicht eine Definition des Zynismus (und ist nicht der Zynismus die Sensibilität des Paranoikers)? Dazu gehört die aus der Logik des Marktes abgeleitete Vorstellung, von Betrügern umgeben zu sein: der Bettler mit dem Mercedes, die Arbeitslosen, die bloß nicht arbeiten wollen, die Asylanten, die nur an unserem schwer erarbeiteten Wohlstand teilhaben wollen, während Organisationen wie amnesty international, pro asyl, medico internationational nur darauf aus sind, die „Autorität der Leidenden“ zu vermarkten. Der prinzipielle Ideologieverdacht gehorcht einer Logik, die ihrer eigenen Schwerkraft nach dahin tendiert, die Realität des Leidens überhaupt zu leugnen, damit aber – und insofern gehört die memoria passionis zu den Grundlagen der Theologie – die Objektivität der Wahrheit.
    Mit dem bundesanwaltschaftlichen Konstrukt „anschlagsrelevanter Themen“ gewinnen Zynismus und Paranoia Rechtsqualität: Hier wird die Wahrnehmung des Leidens und der öffentliche Hinweis darauf unter strafrechtliche Normen subsumiert, der Ideologieverdacht zum Kriminalitätsverdacht erweitert, die „Autorität des Leidens“ unter Terrorismusverdacht gestellt. (Es gehört zu den „Leistungen“ der raf, diese Logik gefördert zu haben.)
    In welcher Beziehung stehen die drei Versuchungen Jesu zur Verführung durch die Bekenntnislogik (Feindbild, Verrätersyndrom, Frauenfeindschaft)?
    Licht, Schatten und Finsternis gibt es nur fürs Auge. Die Qualität von Licht, Schatten oder Finsternis ist physikalisch nicht einsichtig zu machen, die Physik befaßt sich nur mit den Techniken ihrer Erzeugung.

  • 19.6.1995

    Logik der Schrift: Die Schrift erzwingt die Vergegenständlichung der Einsicht zur Erkenntnis (der Sprache zum Instrument der Mitteilung).
    Leserbrief zu Metz „Religion und Politik …“ in der FR von heute (Prof.Dr.Thomas Feuerstein, FH Wiesbaden):
    – „‚Die Autorität der Leidenden‘ ist nicht unmittelbar gegeben. Stellvertreter dieser Autorität stehen unter prinzipiellem Ideologieverdacht ‚im Lichte‘ diskursiver Vernunft“. Dieser Satz stellt verteidigendes Denken unter Ideologieverdacht („Ihr laßt die Armen schuldig werden“), macht Barmherzigkeit gegenstandslos, verwirft apriori jede Alternative zu der (bis in unsere Naturvorstellungen hinein) vom Selbsterhaltungsprinzip beherrschten Welt. Sie verschiebt den Begriff der Ideologie von der Bezeichnung des Verblendungszusammenhangs auf alles, was diesen Verblendungszusammenhang durchbrechen könnte. Ist nicht schon der Begriff der diskursiven Vernunft ein Instrument des Verblendungszusammenhangs: Gemeinheit ist kein strafrechtlicher Tatbestand, weil sie durch diskursive Vernunft nicht bestimmbar ist, weil sie der Beweislogik sich entzieht. (Zu den Grenzen der Beweislogik vgl. Kants Aporien der reinen Vernunft.)
    – Es sollte nicht geleugnet werden, daß auch die memoria passionis instrumentalisierbar ist; nachzuweisen am Christentum, an der Opfertheologie und der damit systematisch verbundenen Orthodoxie (am Dogma und seiner Logik).
    – Der prinzipielle Ideologieverdacht bleibt abstrakt, er verfällt der gleichen Logik, gegen die er sich wendet: Indem er das Problem von der sachlichen auf die Bekenntnisebene verschiebt, macht er aus einer Frage der Einsicht eine Bekenntnisfrage und gehorcht so der gleichen Bekenntnislogik, deren Folgen er kritisiert. So werden das reale Leiden, die Armut wie auch Unterdrückung und Verfolgung durch einen logischen Trick zum Verschwinden gebracht. Der prinzipielle Ideologieverdacht gründet in einem logischen Trick, der die Differenz zwischen der Realität des Leidens und ihrer Instrumentalisierbarkeit selber nochmal instrumentalisiert; dieser Logik zufolge wäre jedem Bettler zunächst einmal zu unterstellen, er habe hinter der nächsten Straßenecke seinen Mercedes stehen (soll er doch das Gegenteil beweisen).
    – Zu reflektieren wäre die Instrumentalisierung des Leidens (liegt hier nicht der Kern der christlichen Opfertheologie und eine der christlichen Wurzeln des Antisemitismus?), und das wäre allerdings in der Tat die Aufgabe einer Theologie nach Auschwitz (wie auch Johann Baptist Metz sie fordert).
    – Ein alltäglicher Ausdruck des „prinzipiellen Ideologieverdachts“ ist der Elternspruch: „Stell dich nicht so an“ (er unterstellt, der Schmerz sei nicht real, sondern nur ein Mittel, damit ein anderes Ziel zu erreichen).
    – Der „prinzipielle Ideologieverdacht“ wird gleichsam zur Schufa der Philosophie; er verringert das Risiko, selber zum Opfer eines Betrugs zu werden, das aber zu dem Preis, daß er das reale Leiden ins Dunkel rückt, es unsichtbar macht. Hier wäre ein Beleg für Metz‘ Hinweis auf die Gewalt des Markt-Apriori auch in der Philosophie.
    – Was hier ins Dunkel gerückt wird, ist schon in den Anfängen der Moderne an einer realprojektiven Verschiebung nachzuweisen: am Begriff des Wilden.
    – Die Diskurslogik hat die Erinnerung an die Theologie bloß abgeschafft, anstatt, wie Adorno einmal die Intention Benjamins zu umschreiben versucht hat, alle theologischen Gehalte restlos zu säkularisieren.
    – Der prinzipielle Ideologieverdacht vermittelt das erhebende Gefühl, über der Sache zu stehen, ohne zu bemerken, daß er damit aus der Sache heraus ist. Er ist in Wahrheit ein Instrument des mitleidlosen Herrendenkens. Im sicheren Bewußtsein, daß dieser Beweis nicht zu führen ist, legt er den Opfern die Pflicht auf zu beweisen, daß sie Opfer sind. Auch so schafft man, wenn nicht eine reale heile Welt, so doch ihren allgegenwärtigen Schein.
    – Gehörte nicht die Sympathisantenjagd im Kontext des Terrorismus zu den manifesten Folgen des prinzipielle Ideologieverdachts: der Unfähigkeit, zwischen dem humanen Impuls der Empathie und ihrer politischen Instrumentalisierung zu unterscheiden? Ist nicht die Geschichte der (auf ihre juristischen Aspekte reduzierten) Auseinandersetzung mit der raf so unendlich mit den verhängnisvollen Folgen dieser Logik belastet (und hat nicht die raf selbst durch ihre Wendung zum Terrorismus diese Folgen mit zu verantworten)?
    Der Metz’sche Versuch, das Konzept einer anamnetischen Vernunft zu entfalten, ist – weiß Gott – nicht schon „gelungen“; er ist weiterhin entfaltungsfähig und -bedürftig. Es ist überhaupt keine Hilfe, diesen Versuch gleichsam apriori abzuwehren. Der prinzipielle Ideologieverdacht (der heute aus sehr tiefen gesellschaftlichen Gründen so nahe liegt, daß er fast durch Reflexion nicht mehr aufzulösen ist) wird zur Quelle der Paranoia, deren erstes Opfer – zusammen mit dem Antijudaismus, der innerkirchlichen Quelle des Antisemitismus – die kirchliche Theologie selber einmal geworden ist.
    In welcher Beziehung stehen die aufbrechenden Nationalismen und die Wendung zu fundamentalistischen Instrumentalisierungen der Religionen (auch dies ein Gegenstand einer politischen Theologie) zum derzeitigen Stand der Geschichte der politischen Ökonomie? (Ursprung der Einen Welt in der Geschichte des Marktes; Zerfall der Souveränität; Übergang von Regierung in Verwaltung, Abgabe von Regierungsaufgaben an die Verwaltung: Übergang der Souveränität an Institutionen wie Bundesverfassungsgericht, Bundesbank, EG, UNO, Weltbank und IWF.)
    Wiederkehr der kantischen Antinomien der reinen Vernunft in der Politik:
    – Die Verwaltung sprengt die Gewaltenteilung (durch Implosion): sie übernimmt zu den ihr obliegenden Aufgaben der Exekutive inzwischen auch die der Legislative und der Jurisdiktion – Angleichung von Rechtsprechung und Verwaltung; Verwaltung als Selbstorganisation des gesellschaftlichen Gewaltpotentials.
    – Verwischung der Grenzen von Innen- und Außenpolitik: Folgen für den Begriff der Gewalt (der nach innen anders definiert ist als nach außen): Läßt sich das Gewaltmonopol des (nationalen) Staates auf internationale Organe übertragen (vgl. den Golfkrieg und die Probleme der UN-Blauhelm-Truppen im Jugoslawienkonflikt).
    – Sonderstellung der Bundesbank und der Weltbank: Dekonstruktion des Prinzips der Gewaltenteilung; Teilhabe eines in der reinen Lehre nicht vorgesehenen Instituts an der Gewalt (an einer Quelle des Gewaltbegriffs: im Falle der Bundesbank im Bereich der Währungshoheit des Staates, der „Subjekt“-Länder; im Falle der Weltbank Eingriff in die Souveränität der „Objekt“-Staaten, der „Entwicklungsländer“).
    – Neonationalismen gründen in dieser Krise des Gewaltbegriffs; sie sind rational und irrational zugleich: Nation als transzendentales Subjekt in einer Welt, die zur Selbsterhaltung keine Alternative mehr kennt.
    – Fortschreitende „Privatisierung“ staatlicher Aufgaben; Folge der Expansion der Marktlogik in den Bereich der Souveränität; Begriff des Neofeudalismus zu harmlos. Ausdruck der Strukturänderungen im Gewaltbegriff (im „Begriff“: in der Herrschaftslogik des Ganzen wie in der Depotenzierung des Bewußtseins).
    Sprache und Mathematik: Kant hat die Welt als mathematischen, die Natur als dynamischen Totalitätsbegriff definiert; spiegelt sich darin das Verhältnis von Mathematik und Sprache?
    Auffallend, daß Habermas Horkheimers Skrupel hinsichtlich der Neuauflage der Dialektik der Aufklärung als Ausdruck eines offenen Problems verdrängt, sie statt dessen als „Beweis“ dafür nimmt, daß die Dialektik der Aufklärung überholt sei. Er nutzt Horkheimers Skrupel als Mittel der Neutralisierung der Dialektik der Aufklärung anstatt als Impuls ihrer Weiterentwicklung.

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