Rassismus

  • 11.09.1996

    Bekenntnisgemeinschaften sind Gemeinschaften der Verurteilung: Damit ist die Bekenntnislogik (das Programm der Eliminierung: das gemeinsame Feindbild, die Ausgrenzung der Häretiker und die Bekenntnisunfähigkeit der Frauen, die zu Objekten der Sexualmoral werden) mit gesetzt. Abgeleitete Formen der Bekenntnisgemeinschaft sind der Nationalismus, die Weltanschauungsgemeinschaften; seit ihrer Installierung im Erkenntnisapparat in der Gestalt der subjektiven Formen der Anschauung gibt es zur Bekenntnislogik keine Alternative mehr.
    Die Bekenntnislogik konstituiert sich im Schuldzusammenhang, zu ihren Konstituentien gehört der Rechtfertigungszwang; das Symbol der Bekenntnislogik ist der verdorrte Feigenbaum.
    Der Raum kennt keinen Ort, die Zeit kennt keinen Anfang und kein Ende. – In welcher Beziehung steht die Konstituierung der subjektiven Formen der Anschauung zur Sprachentwicklung und zum Ursprung und zur Entfaltung der Gemeinheit?
    Jeder Punkt im Raum ist Zentrum des ganzen Raumes; jeder Zeitpunkt trennt die Vergangenheit von der Zukunft. Es gibt keine Zeit, die sich nicht (im Hinblick auf eine nachfolgende Zeit) als vergangen, und keine, die sich nicht (im Hinblick auf eine vorausgegangene Zeit) als zukünftig bestimmen ließe. Aber unterscheidet sich nicht doch die vergangene Zukunft (die wirklich vergangen ist) von der zukünftigen Vergangenheit (die nur für unser Vorstellungsvermögen, unser Denken, vergangen ist)?
    Zur Geschichte des Urteils: Das subjectum ist das Unterworfene, das Objekt ist der Feind. Als das subjectum zum Objekt (und damit das nomen zum Substantiv und das Prädikat zum Begriff) geworden ist, ist das Subjekt von der Objekt- auf die Subjektseite verschoben worden. Das Vehikel dieser Verschiebung waren die subjektiven Formen der Anschauung.
    Sünde und Schuld sind vererbungsfähig, darin gründet ihre Beziehung zum Rassismus. Die Versöhnung ist nicht vererbungsfähig. Der Schuldzusammenhang ist ein Erbschaftszusammenhang; deshalb ist die Schicksalsidee der logische Kern des Mythos. Durchs Dogma ist auch die Versöhnung in die Erbschaftslogik hereingezogen worden.
    Gilt nicht die Geschichte vom Sündenfall auch für die Eucharistie? Wer die Frucht pflückt und genießt, braucht den Schurz aus Feigenblättern (das Glaubensbekenntnis), um seine Scham zu bedecken.
    Das Wort Schlangenbrut, das Jesus auf die Pharisäer anwendet, erinnert an die Schlange beim Sündenfall; es hängt mit dem andern Wort zusammen, in dem er den Teufel als ihren Vater (und als Vater der Lüge) bezeichnet. Die Schlangenbrut, das ist die Neutrumsbrut: Auf dem Bauche sollst du kriechen, Staub wirst du fressen.

  • 10.09.1996

    Der Objektbegriff zieht die Verurteilungslogik nach. Die subjektiven Formen der Anschauung, die die Verurteilung zum Maß der Logik machen, sind das Produkt einer Implosion der Rechtfertigungslogik, die glaubt, dem vernichtenden Urteil dadurch entrinnen zu können, daß sie sich auf die Seite der Urteilenden (der Gemeinschaft der Urteilenden in Wissenschaft und Recht, sowie angesichts des Faschismus des Urteils des Auslands) begibt, mit den urteilenden Instanzen sich identifiziert. Die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit drückt im Raum in der Reversibilität aller Richtungen sich aus: in der Subsumtion der Rechten unter die Linke, des Im Angesicht unter das Hinter dem Rücken und des Oben unter das Unten (die Säkularisation der Theologie). Ist nicht der Säkularisationsprozeß insgesamt die Wassertaufe (die Sammlung der Wasser an einem Ort und das Sichtbarwerden des Trockenen), die auf die Geisttaufe wartet? Goldhagen: Je weiter wir uns von Auschwitz entfernen, umso näher wird es uns rücken. Der Rassismus macht die Nationalitätsgrenzen zu Rassengrenzen. Verweist nicht die Zusammenstellung von „Völkern, Stämmen, Nationen und Sprachen“ in apokalyptischen Texten auf diese Abgrenzungen: auf ein System von Abstraktionschnitten? Auschwitz hat das Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ in die Nähe des „Abgestiegen zur Hölle“ gerückt. Dieser schreckliche Mechanismus: Anstatt zu begreifen, daß in den Folterstaaten, in Bosnien, auch in der RAF, uns unsere eigene Vergangenheit einholt, nutzen wir sie als Exkulpationsmittel: „Die sind auch nicht besser“. Ihr Deutschsein ist die empfindlichste Stelle der Deutschen: Käme es nicht darauf an, auf den dieser Empfindlichkeit zugrunde liegenden Trieb das Keuschheitsgebot anzuwenden? Carl-Friedrich von Weizsäckers Bemerkung, daß die naturwissenschaftliche Entwicklung der zwanziger Jahre (gemeint war die Geschichte der Kopenhagener Schule) einer „Explosion von Genie“ sich verdanke, hat einen anderen Sinn, als ihm bewußt war: War nicht auch der Faschismus eine Explosion der Tradition, die im Geniebegriff gründete? Siehe hierzu die kantische Definition und Bestimmung des Geniebegriffs, der auch diesen exkulpatorischen Effekt hatte: Nicht ich bin es, sondern die Natur in mir ist die schöpferische Kraft, der die großen Werke der Kunst, der Musik, der Philosophie, der Literatur, und am Ende auch der Naturwissenschaften, der Ökonomie und der Politik sich verdanken. Wenn von Hitlers „Charisma“ die Rede war, und wenn Hitler selbst als ein Werkzeug der Vorsehung sich verstand, so stand das in dieser Tradition. Die bisher einzige richtige Antwort hierauf war Adornos „Eingedenken der Natur im Subjekt“, der Versuch, diese Sphäre (und in ihr den Bann des Geniebegriffs) durch Reflexion aufzuhellen.

  • 07.09.1996

    Die Bergpredigt war für mich einmal der erste Hinweis auf die moralische Asymmetrie zwischen mir und den Andern sowie auf den Ursprung der Gemeinheit (die in der Verletzung dieser moralischen Asymmetrie gründet).
    Unterscheidet sich nicht die Laientheologie von der Theologen(Priester)-Theologie vor allem dadurch, daß sie nicht unter dem Zwang steht, Theologie für andere zu sein? Deshalb war seit je die monarchische Theologie der Laientheologie näher als die Theologentheologie, die seit je in einem sehr genauen Sinne „weltliche“ Theologie war. Laientheologie heute gründet in der kritischen Reflexion des Weltbegriffs.
    Laientheologie unterscheidet sich von der Theologentheologie dadurch, daß sie zwar auf die Lehre abzielt, aber nicht mehr belehren will und kann: durch den Verzicht auf den autoritären („väterlichen“) Gestus: Laientheologie ist das Resultat der Bekehrung der Herzen der Väter zu ihren Kindern (Lk 117).
    Der Weltbegriff ist die genaue Umkehrung der Levinasschen Beziehung von Indikativ und Imperativ.
    Nach Klaus Heinrich muß ich, wenn ich Dinge vergleichen will, sie an einen gemeinsamen Ort bringen. Es gibt zwei gemeinsame Orte, deren Beziehung das Zentralproblem der gegenwärtigen Theologie ist: das Inertialsystem und der Name Gottes (der Ort, der durch das Licht des Angesichtes Gottes erhellt wird).
    Das Johannes-Evangelium ist nicht antisemitisch, es wird antisemitisch, wenn man den Namen der Juden anstatt typologisch rassistisch versteht (dem entspricht es, wenn die unsägliche Diskussion um Daniel Jonah Goldhagen eigentlich nur auf der Basis eines immer noch rassistischen Selbstverständnisses der Deutschen sich verstehen läßt – und niemand merkt’s). Der Rassismus steht in der Tradition des Begriffsrealismus: Er macht Kollektivbegriffe zu Subsumtionsbegriffen.
    „Wir Deutschen“: Ist das nicht das aktuelle Äquivalent des Namens der Hebräer (das dann projektiv über den eliminatorischen Antisemitismus abgeleitet werden muß)? Sich als das erfahren, was man glaubt für andere zu sein (die Identifizierung des Subjekt-Plural „Wir Deutsche“ mit dem Objekt-Plural „Die Deutschen“). – Kann es sein, daß die Wendung „Wir Deutschen“ insbesondere dann gebraucht wird, wenn der Redende unter Rechtfertigungszwang gerät (und das Kollektiv-Subjekt hinter dem Kollektiv-Objekt sich versteckt, die Kollektivschuld durch die Kollektivscham, die beide der Sache nicht angemessen sind, ersetzt)?
    Wir Deutschen: Erkennt man die Deutschen heute nicht am ehesten daran, daß sie vom Ausland geliebt werden wollen?
    In den Neonazis, die aus Trotz das Kollektiv-Objekt zum Kollektiv-Subjekt zu machen versuchen, implodiert die Kollektivscham: und in ihr die Rechtfertigungslogik, die glaubt, der Objektzone der Veurteilung entrinnen zu können, indem sie sich zum Subjekt der Verurteilung macht. Der Faschismus ist das Produkt der Metamorphose der noesis noeseos, des Denkens des Denkens, zur Verurteilung der Verurteilenden (der Vernichtung all dessen, was als Bedrohung der eigenen Identität erfahren wird). Deshalb hat der Hinweis aufs Ausland (was „das Ausland“ wohl denken wird) die Ausländerfeindschaft eher verstärkt als eingedämmt.
    Die Grenze zwischen Begriff und Objekt ist die Innen-Außen-Grenze: die politische Grenze ebenso wie die Grenze, die die Anschauung vom angeschauten Objekt trennt. Deshalb gehören die subjektiven Formen der Anschauung zu den Konstituentien des Begriffs und des Nationalismus zugleich. Und deshalb gehört zur Entwicklung des Urteils und der Urteilsform das projektive Konstrukt der Barbaren (der Juden, der Heiden, der Ausländer, der Fremden) und der Naturbegriff.
    Ist nicht das Werk Bubers die erste Verkörperung einer Theologie, die weder warm noch kalt, sondern nur noch lau ist?
    Hat nicht das (theologische wie auch das nationale) Votum für den Staat Israel in Deutschland etwas mit der Erleichterung darüber zu tun, daß jetzt die Juden auch nicht mehr anders sind? Findet Hermann Cohens Bemerkung über die Zionisten nicht erst seine wirkliche Erfüllung in diesem Votum („die Schufte wollen genießen“)?
    Es gibt heute Dinge, die sowohl unmöglich als auch notwendig sind, und es sind offensichtlich die wichtigsten Dinge. Die Sätze der Bergpredigt werden dadurch nicht widerlegt, daß sie nicht mehr „anwendbar“ sind.
    Staatsanwalt: Liegt einer der Unterschiede zwischen England und Deutschland nicht darin, daß, während in England die Staatskirche durch die Königin repräsentiert wird, sie in Deutschland von allen verinnerlicht wurde.
    Hegels Weltgericht ist die Rache des Objekts, die dann seine Philosophie ebenso ereilte wie die Substanz, von der sie lebt.
    Ich habe getan, ich bin gewesen: In welchen Fällen wird das Perfekt mit haben und in welchen Fällen mit sein ausgedrückt? Ist das Sein substantiell, das Haben akzidentiell? Das Tun qualifiziert das Subjekt, es wird substantiell durch Dauer: als Beruf, als Nationalität, als Bekenntnis, aber auch im Falle des „Mörders“.
    Ich bin, ich habe, ich werde, ich wurde, ich würde, ich möchte. Du sollst.
    Die subjektiven Formen der Anschauung sind Formen der Selbsterpressung des Denkens.
    Der Raum (oder die subjektiven Formen der Anschauung) legitimiert den Blick von außen; er gründet in der Übermacht des Gerichts über die Barmherzigkeit, des Hinterhalts und der Gemeinheit über den offenen Konflikt, der Niedertracht über die Ohnmacht. Verkörpert nicht die Mechanik den Blick von hinten, die Gravitationstheorie den Blick von unten und die Elektrodynamik den Seitenblick?
    Das Schreien der Steine: In Lk 1940 (im Zusammenhang mit dem Einzug in Jerusalem) zitiert Jesus Hab 211 („Ja, der Stein in der Mauer schreit, und der Balken im Holzwerk antwortet ihm. Wehe dem, der eine Stadt auf Blut baut …“).

  • 06.09.1996

    Zur Kritik der Ästhetik: Der Begriff der Wahrheit wird unbestimmbar, wenn er nicht die Schuldreflexion in sich mit aufnimmt, die die subjektiven Formen der Anschauung gerade ausblenden. Das Bilderverbot trifft auf deren subjektives Korrelat: das Anschauen. Im Kontext der Schuldreflexion wird die Vorstellung einer „überzeitlichen Wahrheit“ gegenstandslos (während im Kontext einer „überzeitlichen Wahrheit“ Schuld zu einer dinglichen Eigenschaft wird und das moralische Urteil zum logischen Grund des Rassismus); Schuldreflexion unterläuft das Schuldurteil; sie macht die Wahrheit konkret: prophetisch, messianisch und am Ende parakletisch, sie bindet die Wahrheit an ihren Zeitkern: die Gegenwart.
    Die prophetische, messianische und parakletische Stufenfolge der Wahrheit ist der Realgrund des trinitarischen Symbols.
    Wenn der Heilige Geist die Barmherzigkeit verkörpert (die rechte Seite), ist dann nicht die Trinitätslehre insgesamt die Verkörperung dessen, was mit der Bildung der Raumvorstellung, mit der Ausbildung der subjektiven Formen der Anschauung (mit denen der ästhetische Grund des Mythos erkenntnisbestimmend wird), verdrängt wird?
    „Getünchte Gräber“: Ist das nicht die genaueste Beschreibung des gegenwärtigen Weltzustandes („leer, gereinigt und geschmückt“)?
    Glaube, Hoffnung und Liebe: Die Geschichte der Privatisierung der drei theologischen Tugenden ist die Geschichte eines Verrottungsprozesses. So wurde
    – der Glaube zum privaten Glauben an Gott durch seine Trennung vom prophetischen (und d.h. öffentlichen und politischen) Vertrauen in die göttlichen Verheißungen,
    – die Hoffnung zur privaten Hoffnung aufs eigene Seelenheil durch Trennung von der messianischen Idee einer Realisierung, die auch die Welt mit ergreift, sie verändert und umwandelt,
    – die Liebe zum folgenlosen Gefühl durch Trennung von ihrem Barmherzigkeitsgrund: durch Trennung von der parakletischen Herrschaftskritik.
    War nicht die Gnosis die Geburtsstunde des Christentums, und die Dogmenbildung die Entfaltung der Gnosis bei gleichzeitiger Verdrängung des Bewußtseins, Gnosis zu sein?
    Gründete das eliminatorische Element im Antisemitismus nicht in dem Prinzip der Selbstabsolution der Verurteilung des Andern? So war dessen (moralische und physische) Vernichtung die eigene Befreiung.
    Diese Selbstabsolution durch Verurteilung wird instrumentalisiert und generalisiert durch die „subjektiven Formen der Anschauung“ (in denen auch die Bekenntnislogik gründet: deshalb war der „Weltanschauungskrieg“ der Nazis gegen die Sowjetunion, der von den Kirchen unterstützt wurde, ein Vernichtungskrieg). Die Gemeinschaft der Anschauenden ist die Gemeinschaft der Verurteilenden. Sie wird legitimiert durch den Weltbegriff. Dieser Konstellation liegt die Levinassche Asymmetrie und ihre Logik zugrunde (der Satz von Rind und Esel: das Verbot, Joch und Last in eins zu setzen). Die Selbstabsolution durch Verurteilung ist die genaue Umkehrung der Levinasschen Asymmetrie: Sie macht die Last, von der nur sich befreit, wer sie auf sich nimmt, zum Joch für andere.
    Ist nicht die Unfähigkeit, Rechts und Links zu unterscheiden, die Unfähigkeit, die Asymmetrie zwischen mir und dem Andern zu begreifen?
    Die Unterscheidung von Rechts und Links wurde in der biblischen Tradition als Unterscheidung von Gericht und Barmherzigkeit begriffen. Die Unfähigkeit, Rechts und Links zu unterscheiden, gründet in der Unfähigkeit, die Unterscheidung von Im Angesicht und Hinter dem Rücken auch auf andere zu übertragen. Und ist Gott am Ende nicht reines Angesicht, ohne ein Hinter dem Rücken (der Himmel hat keine Grenze, die der Raum „nach oben“ überschreiten könnte)?
    Gotteserkenntnis ist eins mit der Heiligung Seines Namens.

  • 01.09.1996

    Viel Steine gab’s und wenig Brot (der Kapitalismus, das Inertialsystem und die Wüste). Kapitalismus und Sprache: Luther und das to be (das englische to be ist der genaueste Ausdruck des vom Tauschprinzip begründeten und durchdrungenen Empirismus und der Keim der Bekenntnislogik). Hamlets „to be or not to be“ ist nicht identisch mit Heideggers Frage „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts“, die antisemitisch und eliminatorisch ist. Die Kirche oder das Experiment Petrus. Zur Beichte gehört das (befreiende) Sündenbekenntnis, zum Strafrecht das (urteils- und strafbegründende) Schuldbekenntnis. Zum Christentum gehört die Lehre von der Erbsünde, zum Rassismus die von der eliminatorischen Erbschuld. Bezeichnet der babylonische Turm den Ursprung der „indoeuropäischen“ Sprache (die „Hethiter“ und die Achämeniden)? Die antike Gestalt der Technik war sprachbezogen, ihr Ursprungsparadigma das Neutrum, das die Sprache dem Namen entfremdet und in ein technisches Konstrukt umgeformt hat: Deshalb beginnt die Geschichte vom Sündenfall mit der Schlange (dem ersten Symbol des Neutrums; das zweite war der Turm von Babel, der die Welt in den Blick der Sprache rückte und dadurch die Sprache verwirrte).

  • 31.08.1996

    Sprachlogik: Die griechische Sprache hat links und rechts vertauscht (und die Barmherzigkeit verdrängt), die lateinische oben und unten (den Namen gegenstanslos gemacht), die deutsche vorn und hinten (das Angesicht durchs Inertialsystem ersetzt). Die griechische Sprache begründet den Dogmatisierungsprozeß (die Politisierung der Religion), die lateinische die Instrumentalisierung des Dogmas (die Privatisierung der Religion), die deutsche die Bekenntnislogik als Rechtfertigungslogik (der verdorrte Feigenbaum).
    Die Orthogonalität (das Korrelat der Projektion in der Mathematik, das im Inertialsystem als Schuldverschubsystem sich konstituiert) neutralisiert die Qualitäten der Richtungen im Raum; sie begründet eine Logik, die die Zivilisation mit der gleichen Barbarei (und ihren modernen Ableitungen und Denominationen) verbindet, die sie mit dem Instrumentarium des Schuldverschubsystems (der Verurteilung, der Verdinglichung, der Feindbildlogik und des Rassismus) zugleich nach draußen projiziert.
    Die Orthogonalität (die Norm) begründet das Maß als Maß für andere: sie macht die Last zum Joch.
    Die griechische Sprache ist die Sprache des Nomens und der (Winkel-)Geometrie (wobei die orthos-begründende, den Namen in den Begriff transformierende Abstraktion projektiv abgeleitet wurde im Namen der Barbaren); die lateinische Sprache ist die des Rechts (und der Kreuzigung Jesu); die deutsche Sprache (die durchs Christentum nur „bekehrt“ wurde und auf ihre Umkehr noch wartet) ist die Substantivs: des Rechtfertigungszwangs, der Bekenntnislogik und des Inertialsystems (mit der dreifachen Abfuhr in den Namen der Fremden, der Wilden und der Juden). Die christliche Unterscheidung der Heiden von den Völkern ist biblisch nicht zu begründen.
    Der eliminatorische Antisemitismus ist ein Produkt der Bekenntnislogik.
    Wenn Buber die Namen der Armen, der Fremden und der Barmherzigkeit beschweigt und zugleich Mizrajim mit Ägypten übersetzt, waren das nicht Kompromißbildungen, die an eine herrschaftstheologische Tradition im Christentum erinnern, die die Theologie von ihrer prophetischen Wurzeln getrennt hat? In den gleichen Zusammenhang gehört die Bubersche Zuordnung der Bücher Josue und Richter, sowie Samuel und Könige zu den historischen anstatt zu den prophetischen Büchern.
    Ein beschnittenes Christentum (das sich dann gern auf Buber beruft) ist noch nicht jüdisch (allerdings auch nicht mehr christlich).
    Es geht nicht um die „Konservierung des Entsetzens“, sondern darum, den Schrecken an sich heranzulassen, es geht um die Fähigkeit, den Schrecken zu reflektieren anstatt sich dem Kollektiv derer anzuschließen, die, indem sie das Entsetzliche bloß verurteilen, den Schrecken verdrängen und damit den Boden für seine Wiederkehr bereiten.
    Ist das nicht auch ein Teil der Eucharistie-Tradition, daß in dem Brot sein Schmerz und in dem Wein sein Tod erinnert werden?
    Joseph und Moses (und vor ihnen auch Sara) waren am Hofe (im Hause) Pharaos, Daniel und seine Genossen am Hofe des babylonischen Herrschers, Esther am Hofe des Ahaschweros. Der Pharao bedrohte das Volk Israel, der Herrscher Babylons Daniel und seine Genossen, und Haman (am Hofe des Ahaschweros) das jüdische Volk.
    Ist nicht Hegels Weltgeist der ins Fleisch übersetzte Geist?
    Die RAF war ein schrecklicher Irrtum; aber war dieser Irrtum in einem Land, das seine eigene schreckliche Vergangenheit nie wirklich aufgearbeitet hat, nicht hoch determiniert?
    Hätte ein „Heide“ den Stern der Erlösung geschrieben, er wäre, weil er die Umkehr nicht kennt, in der Vorwelt stecken geblieben. Und hätte er nicht Heidegger geheißen? Wenn ein Christ den Stern der Erlösung schreiben würde, so würde es ein apokalyptisches Buch. Den Stern ins Christliche übersetzen: Das wäre der Hahnenschrei.
    Levinas‘ Satz, daß die Attribute Gottes nicht im Indikativ, sondern im Imperativ stehen, trennt die Theologie vom Fundamentalismus, ohne sie zu verraten.
    Vor der ersten Brotvermehrung hatte Jesus Mitleid mit dem Volk, bei der zweiten erbarmte er sich des Volkes (Mt 1414 und 1532). Beim Tod des Lazarus war er erschüttert (Joh 133ff).
    Im Körper der Sprache ist die Barmherzigkeit die Gebärmutter, sind die Juden der Augapfel.
    Das Lamm löst die Erstgeburt des Esels aus, die Taube die der Armen. Das Lamm ist das Symbol des Gottesknechts, die Taube das des Heiligen Geistes.
    Die Betriebswirtschaftslehre frißt die Nationalökonomie (und den Staat, ohne dessen Ordnung es keine rentabilitätsorientierte Ökonomie gäbe). Das hat die Bahn freigemacht für den Globalisierungsprozeß, der eigentlich ein Prozeß der Verwüstung ist. Ist der real existierende Sozialismus nicht an der Übermacht der betriebswirtschaftlichen Gesetze (der Rentabilitätsgesetze) gescheitert? Der Neoliberalismus ist der genaueste Ausdruck für die wachsende Ohnmacht der Nationalökonomie und für die fortschreitende Verrottung des Staates.

  • 21.08.1996

    Recht und Moral lassen sich eindeutig anhand ihrer Beziehung zur Gemeinheit unterscheiden: Gemeinheit zerstört die Moral, aber sie ist kein strafrechtlicher Tatbestand. Die Berufung auf das Gewaltmonopol des Staates, die diese Gewalt zum Maß der Wahrheit macht, ist die Leugnung der göttlichen Gewalt (die eins ist mit der sadduzäischen Leugnung der Idee des Auferstehung). Gilt nicht der Satz, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand schon für die Orthodoxie (den Dogmatisierungsprozeß) und für den Naturbegriff (die Naturwissenschaften)? Und sind nicht alle drei durch die konstitutive Beziehung der Logik der Verurteilung zum Objektivierungsprozeß verbunden? Die Logik des Inertialsystems (die Logik der Beziehung von Ding und Eigenschaften, die unseren durchs Inertialsystem definierten Naturbegriff beherrscht) ist die Logik der Verurteilung. Physis vs. natura: Im Kontext des Naturbegriffs wird das Ding bestimmt durch seine Eigenschaften; die Frage ist nur, ob die Eigenschaften durch Zeugung oder durch Geburt bestimmt worden sind (Ursprung der Vererbungslehren, des Rassismus). Begründen die beiden Naturbegriffe (physis und natura) nicht zwei verschiedene Raumvorstellungen? Die Differenz liegt im Begriff der Norm, der Orthogonalität; sie läßt am Problem der Norm sich demonstrieren. Die Norm symbolisiert die Zeugung und die Geburt zugleich, sie faßt sie in eine (in sich selbst widersprüchliche, nur für die Anschauung identische) Vorstellung zusammen. In diesem Kontext wäre es wichtig und notwendig, die Transformation genauer zu bestimmen, der die Philosophie (ihre Begriffe und deren Konstellation) unterworfen wurde, als sie aus dem Griechischen ins Lateinische übertragen wurde: Der Weg führt über die grundlegende Stoa (die Ataraxia, die Lösung des Problems des Selbstbewußtseins unter den Bedingungen des römischen Imperialismus), Tertullian (der die Sprache der lateinischen -postdogmatischen – Theologie geprägt hat) und Boethius (der den Aristoteles übertragen hat) zur Scholastik. Ist nicht der Confessor (dessen Prototyp Tertullian war) ein Produkt der Übertragung und Spiritualisierung des imperativen Charakters des Worts von der Schrift aufs Dogma (insbesondere auf den innertrinitarischen Prozeß, die „Zeugung“ des Sohnes durch den „Vater“)? Hat er nicht das Wort, daß die Auferstandenen wie die Engel sein werden (auf der Basis einer männlichen Engelvorstellung) so verstanden, daß nur Männer in den Himmel kommen (und Frauen, wenn sie denn in den Himmel kommen, zu Männern werden)? Reicht die Unterscheidung männlicher und weiblicher Heiligentypen nicht schon in die Märtyrerzeit zurück? Wann und unter welchen Bedingungen wurden Männer zu Märtyrern, und wann Frauen? Hat sich darin nicht schon die spätere Trennung in (männliche, politische) Confessores und (weibliche, „private“, auf den Kontext der Ehe, der männlichen Gewalt und der Sexualität bezogene) Virgines vorbereitet? Waren es nicht unterschiedliche historische Zeiten (und nicht nur Motive), die das Martyrium von Männern und Frauen unterscheiden? Unterscheiden sich Dornen und Disteln wie Welt und Natur? Stammt nicht das Gewaltmonopol des Staates aus der väterlichen Gewalt, ist nicht das Gewaltmonopol des Staates, das dem Recht zugrundeliegt, ein Monopol der Vergewaltigung (und wird nicht aus diesem Grunde gegen Frauen anders Recht gesprochen als gegen Männer)? Wer das Argument des Selbstmitleids gegen andere richtet, verwendet es wie der Vergewaltiger: Sie soll sich nicht so anstellen! So wird das Argument zur Rechtfertigung der Vergewaltigung, es mobilisiert und verstärkt den zwanghaften Trieb (zur Folter, zur Brutalität, vgl. hierzu die Bemerkungen Goldhagens zu der besonderen Grausamkeit und zum Demütigungstrieb, der die Antisemiten an ihre jüdischen Opfer band). Wer es für entscheidend hält, ob ein Urteil rechtskräftig ist, nicht aber ob es wahr ist, kann Recht und Vergewaltigung nicht mehr unterscheiden; für ihn wird das Gewaltmonopol des Staates zum Mittel der Vergewaltigung. Und wer den Angriff auf einen Staat, der „von der überwältigenden Mehrheit des Volkes“ getragen wird, für besonders unsittlich hält, spricht den Staat und mit ihm seine Diener) von jeder moralischen Verantwortung frei. Erst wenn auch in RAF-Prozessen die Ursachen der Taten frei reflektiert werden können, wenn diese Prozesse nicht mehr als Instrument der Diskriminierung von Staatskritik genutzt werden, darf man mit Recht auf eine befriedende Wirkung des Rechts wieder hoffen. Wird nicht die Anklage in dem Augenblick blasphemisch, in dem sie den Anspruch erhebt, ins Herz der Angeklagten zu sehen. Nur Gott sieht ins Herz der Menschen. Was der Ankläger dort zu sehen vermeint, ist in Wahrheit das Produkt seiner eigenen Projektion; hier gibt es zum Feindbild keine Alternative mehr, und das rückt den Anspruch in einen paranoiden Zusammenhang (dessen ansteckende Wirkung, wenn überhaupt, dann nur schwer wieder unter Kontrolle zu bekommen sind). Die personalisierenden Entgleisungen in den Plädoyers der Bundesanwälte (die sich gegen die Angeklagte, gegen ihre Verteidigung und auch gegen die Prozeßbesucher richten) sind rechtfertigungslogische Konsequenzen einer apagogischen Beweisführung, der es nicht mehr um die Stichhaltigkeit der Argumente, sondern nur noch um die Wirkung geht (alle dem Zweck der Anklage dienlichen Aussagen kommen von „glaubwürdigen“, alle anderen von „unglaubwürdigen“ Zeugen, die bei Bedarf ebenso hemmungslos diskriminiert werden wie die Angeklagte, ihre VerteidigerInnen und kritische Prozeßbeobachter). Wenn die Deutschen „normal“ werden wollen, wenn sie werden wollen wie die anderen Nationen, begründen sie eine Logik, die dann auch die anderen vergiftet, sie mit in den Bann des Faschismus hereinzieht (unterliegt nicht der selbstrechtfertigende Gebrauch des Philosemitismus einer ähnlichen Gefahr?). Die Deutschen halten sich für gottähnlich, wenn sie Schicksal spielen können: als Vollstrecker des Weltgerichts. Human wäre erst eine Menschheit, in der es keine unabwendbaren Schicksale mehr gibt.

  • 18.08.1996

    Natur ist ein Exkulpationsbegriff, der von der „Last“ des richtigen Lebens (der Barmherzigkeit) befreit. Mit dem Begriff der Natur (und hinter seinem Rücken: dem Bewußtsein nur durch Reflexion zugänglich) konstituieren und entfalten sich die im Weltbegriff zusammengefaßten Herrschaftsstrukturen. Deshalb ist die Geschichte der Naturerkenntnis ein Teil der Herrschaftsgeschichte, deren Erkenntnis sie zugleich ausblendet.
    Jede historische Gestalt der Naturerkenntnis war ein Mittel der Rechtfertigung des jeweils Bestehenden; mit dessen Änderung veraltet auch die ihm jeweils korrespondierende Gestalt der Naturerkenntnis. Der große Fisch und das Vieh im Buch Jona: sind das Leviatan und Behemot? Mit dem Begriff der Buße wurde das herrschaftskritische Element im Begriff der Umkehr ins Autoritäre zurückgebogen. Symbol und Typos konstituieren sich als Erkenntnisbegriffe nur durch die Kritik von Natur und Welt (durch die Kritik der historisierenden Vergegenständlichung) hindurch. Exemplarisch für diese kritische Beziehung zur Objektivität ist die symbolische Beziehung der Schlange zum Neutrum und die logische Beziehung des Namens der Hebräer zu dem der Barbaren. Verhält sich der Stier zum Naturbegriff wie die Schlange zum Neutrum?
    Indogermanisches: Die christianisierten Neutrum-Sprachen sind Sprachen im Bauch des Fisches (Jonas bekennt sich, bevor er ins Meer geworfen und vom Fisch verschlungen wird, als Hebräer). Haben die Christen den Namen der Hebräer nicht seit je als eine spezielle Anwendung (und antijüdische Radikalisierung) des Namens der Barbaren mißbraucht? Der Symbolbegriff bezieht sich auf die Natur, der des Typos auf Welt und Geschichte, und zwar beide als Mittel der kritischen Reflexion. Der Bekennende gibt sich zu erkennen, dieses Bekenntnis (dessen Paradigma das Schuldbekenntnis ist: Ausdruck der Wehrlosigkeit) wird durch die Bekenntnislogik ins Gegenteil verkehrt: die Bekenntnislogik macht das Bekenntnis zur Maske, den Bekennenden zur Person: sie macht die Welt zum Subjekt des Bekenntnisses (und wird so zu einem Instrument der Welt- und Objekt-Erkenntnis). Jesus hat die Bekenntnislogik in der Gestalt des Pharisäers zum Objekt der Kritik gemacht. Durch Historisierung der Pharisäer (wie auch der Propheten) hat das Christentum diese Kritik externalisiert und zu einem Instrument des Antijudaismus gemacht. Für die Christen waren die biblischen Pharisäer gleichsam Pharisäer von Natur, ihr Pharisäertum eine Natureigenschaft (hier liegt eine der Wurzeln des Rassismus), die Christen sind durch diese projektive Verschiebung nicht mehr nur zu Pharisäern, sondern zu Rassisten geworden. Die Logik des Satzes „Rich-tet nicht …“ läßt an dieser Konstellation sich demonstrieren; die Bekenntnislogik ist die Logik der Verurteilung. Sind die Wolken der Zeugen die Wolken des Himmels, auf denen der Menschensohn kommen wird? Das Herrengebet hat die Christen ins Leere, in die Wüste geschickt: Wie können sie den Namen heiligen, wenn sie ihn nicht kennen? So wurde aus der Heiligung des Gottesnamens das Verbot des Fluchens (das wahr wird, wenn man es moralisch, als Norm des Handelns, und nicht verbal versteht: als Herrschaftskritik und nicht als Verbot der Majestätsbeleidigung, der „Verunglimpfung“ von Herrschaftssymbolen). Jedes Verurteilen ist ein Fluchen; und dieses Fluchen konstituiert die Wege des Irrtums (den bacchantischen Taumel, in dem kein Glied nicht trunken ist). Hat die Erfindung der Schrift etwas mit dem Versuch der Rekonstruktion der Planetenbewegungen zu tun? Und verweist nicht das Planetensystem (wie auch der hebräische Name des Himmels) auf die Beziehung von Schrift und Wort? Am Ende wird sich der Himmel wie eine Buchrolle aufrollen. Die folgenreichste Wirkung der kopernikanischen Wende war, daß sie die Schrift dieses Buches gelöscht hat. Kohelet: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Deshalb ist des Bücherschreibens kein Ende. Ist nicht Kants Wort über den Sternenhimmel über mir und das moralische Gesetz in mir der Beweis, daß er mehr wußte als er sagen konnte? Kant = Jona: Die Kritik der reinen Vernunft ist der Bauch des Fisches, die Kritik der praktischen Vernunft das Gebet im Bauch des Fisches, und mit der Kritik der Urteilskraft hat der Fisch Jona an Land gespien (dort aber reichte sein Sprachvermögen nur bis zu dem Satz: In vierzig Tagen wird Ninive zerstört). Hitler war nicht der Antichrist, wohl aber die Generalprobe. Dazu eine Warnung: Der Messias wird in der gleichen Gestalt wiederkommen, nicht aber der Antichrist. Verhalten sich die hebräischen und die griechischen (indoeuropäischen) Deklinations- und Konjugationsformen zueinander wie die Wasser über und die Wasser unterhalb der Feste des Himmels (wie Name und Begriff, Wort und Schrift)? Ist nicht der Himmel das erste Geschöpf, dazu das einzige, das dann als Name Verwendung findet? Der Pharao, der Joseph nicht mehr kannte: Heißt das, daß, wer Joseph nicht mehr kennt, wie Pharao wird? Wenn der Herr sich als Urheber der Verstockung bekennt, ist das nicht der Herr, den Pharao nicht kennt (und ist das die Ursache der Verstockung)? Auch wenn Gott das Herz des Pharao verhärtet, verstockt Pharao sich selbst. Und ist nicht das Gottsuchen der einzige Weg, der aus der Verstockung herausführt? Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren: In der objektivierenden Anschauung des Andern erkenne ich meine eigene Nacktheit. Nur Gott sieht ins Herz der Menschen.
    Der „eliminatorische Antisemitismus“ war die Einübung ins Herrendenken, das nach dem Krieg (auf der Grundlage der kollektiven Verdrängung und im Prozeß der Metamorphosen des Feindbilds) als ausgesprochen karrierefördend sich erwiesen hat. Auschwitz steckt in den Fundamenten der Nachkriegsgesellschaft (nicht nur in Deutschland), diese Vergangenheit ist nicht nur vergangen.
    Adornos Bemerkung, daß heute jeder Katholik schon so schlau sei wie früher nur ein Kardinal, gehört in den gleichen Zusammenhang. Dem Antisemiten (ähnlich wie dem Folterer) beweist jede Lebensäußerung des Opfers (jeder Ausdruck der Qual, die der Folterer ihm zufügt) das Recht und die Notwendigkeit, es zu quälen. Das verleiht dem Antisemitismus (aber auch seinen Nachfolgekonstrukten) eine Beharrungskraft, eine inertiale Gewalt, die inzwischen die gesellschaftliche Bewegung insgesamt durchdringt, sie dem mechanischen Prozeß, mit dessen Logik sie seit ihrem Ursprung aufs engste verbunden ist, endgültig angleicht. Der apagogische Beweis (dessen Analyse noch aussteht) ist der Beweis durch Verdrängung. Und die Vorstellung des unendlichen Raumes, die keine ist (der unendliche Raum läßt sich nicht „vorstellen“), gewinnt ihre Überzeugungskraft und ihre logische Gewalt allein aus den Verdrängungsprozessen, die die Anpassung an die Welt (das Selbsterhaltungsprinzip) heute erzwingt. Hegels Kritik des apagogischen Beweises (Logik I, Ausgabe Meiner 1951, S. 231ff, insbesondere S. 236), die ihn nicht auflöst, sondern instrumentalisiert, ergreift (obwohl sein Text das Gegenteil suggerieren will) die Partei der Welt gegen das Subjekt. Verweisen nicht die Aporien des kopernikanischen Systems, in dem bei gleichmäßiger Verteilung der Materie im Universum nicht sich erklären läßt, – weshalb es nachts dunkel ist und – weshalb die Gravitationskräfte, die sich eigentlich akkumulieren müßten, nicht unendlich und chaotisch sind, auf einen inneren Zusammenhang von Gravitation und Licht, und ist es nicht in der Tat merkwürdig, daß Newton, der das allgemeine Gravitationsgesetz entdeckt hat, auch die Grundlagen für die physikalische Optik gelegt hat, und daß Einsteins Relativitätstheorien durch ihre Beziehung zum Licht und zur Gravitation sich unterscheiden? Ist das Inertialsystem die Feste des Himmels, die im Namen des Himmels die Einheit von Wasser und Feuer repräsentiert, und hat nicht Einsteins spezielle Relativitätstheorie den Zusammenhang beider erstmals notiert: das Wasser im Relativitätsprinzip und das Feuer im Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit (das konkret nur auf thermische <oder allgemein: mikrophysikalische>, nicht auf makrophysikalische Objekte und Prozesse sich bezieht; die Beziehung der speziellen Relativitätstheorie (des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit) zur Planckschen Strahlungsformel ist nicht nur eine zufällige, historische, sondern beide beziehen sich, in unterschiedlicher Perspektive, auf den gleichen logischen und empirischen Sachverhalt: auf die Wechselwirkung kinetischer und elektrodynamischer Prozesse)? Sintflut: War der Thalessche Satz „Alles ist Wasser“, der die Geschichte der Philosophie eröffnete, die erste Formulierung des Relativitätsprinzips?

  • 16.08.1996

    Zum Milgram-Experiment verweist Goldhagen auf eine Studie, die nachweist, daß es in diesem Experiment nicht um Gehorsam, sondern um „Vertrauen“ ging (Hitlers willige Vollstrecker, S. 665, Anm. 19). Heißt das gleiche Vertrauen in der christlichen Tradition nicht „Glaube“?
    Gründet die Logik dieses Glaubens nicht in der gleichen Konstellation, zu der auch der individualisierende Akt des Ursprungs des Charakters gehört (vgl. hierzu Rosenzweigs „Stern der Erlösung“), und verweist diese Konstellation nicht auf die Geschichte des Ursprungs des Weltbegriffs? Korrespondiert der Charakter nicht dem Gattungsbegriff im Tierreich und dessen Beziehung zum Weltbegriff, und ist er nicht (wie auch der Glaube) eine der Reflexbildungen des Weltbegriffs im Subjekt? Gibt es noch andere (wie es scheint, genau bestimmbare und abzählbare) Reflexbildungen des Weltbegriffs im Subjekt, und ist der Kern dieser Reflexbildungen in den subjektiven Formen der Anschauung verborgen, die durch ihre neutralisierende Gewalt zugleich als Instrument der Verblendung in ihnen sich erweisen? Gründet hierin das Problem der sieben unreinen Geister, von denen Maria Magdalena befreit wurde?
    Ist nicht jeder Götzendienst Sternendienst?
    Sh. die ungeheure Geschichte im Buch Jonas: Erst das Volk, dann der König, und der König ruft mit dem Volk dann auch das Vieh, „Rinder und Schafe“, zur Buße auf. Rinder und Schafe sind Opfertiere; Esel wurden nicht aufgerufen.
    Ist es nicht ein gemeinsamer Hang zum Populismus, der, indem er in vorauseilendem Gehorsam den kollektiven Rechtfertigungszwängen folgt, taz und Publik Forum immer mehr aus ihren kritischen Anfängen heraus- und in immer gefährlichere Zonen hineintreibt? Symbolfigur dieses Trends in Publik Forum ist mittlerweile wohl Eugen Drewermann, der sich seinen Mut an der heute ohnehin ohnmächtigen Kirche beweist, während er zugleich jede wirkliche Herrschaftskritik denunziert.
    In den dreißiger Jahren gab es eine Schallplatten-Reklame, die mit einem Bild warb, auf dem ein Hund aufmerksam einer Schallplatte lauscht; dazu der Slogan „die Stimme seines Herrn“. So hat das ganze Volk bei „Führer-Reden“ vorm Lautsprecher gesessen.
    Hat der Nationalsozialismus nicht das Instrumentarium gleich mitgeliefert, das den kollektiven Verdrängungsakt am Ende des Kriege ermöglichte? Die Verbrechen der Nazis waren mit ihrer „Weltanschauung“ nicht rational (durch Begründung), sondern nur durch die Bekenntnislogik (durch ein Verurteilungs- und Rechtfertigungssystem) verbunden, die es ermöglichte, die Verbrechen durch den kollektiven Bekenntniswechsel (durch ein anderes Verurteilungs- und Rechtfertigungssystem) gleich mit zu verdrängen. Seitdem hat – bis in die Theologie hinein – das Bewußtsein sich ausgebreitet, daß es auf den Inhalt einer Religion (eines „Bekenntnisses“) garnicht so sehr ankommt, sondern nur darauf, eine zu haben. Die Instrumentalisierung der Bekenntnislogik durch Nazis, die der Kern des „eliminatorischen Antisemitismus“ war, ist offensichtlich nicht mehr rückgängig zu machen.
    Naturwissenschaft: Selbstverblendung durch Erkenntnis.
    Gründen die drei evangelischen Räte in ihrer Beziehung zu den drei transzendentalen Formen der Logik:
    – die Armut in der Beziehung auf die durchs Tauschprinzip (durchs Geld) beherrschte Welt,
    – das Hören in der Beziehung auf die durchs Inertialsystem (durch die „subjektiven Formen der Anschauung“) beherrschte Natur und
    – die Keuschheit auf die Beziehung zu den durch die Bekenntnislogik von Selbstreflexion und Herrschaftskritik „befreiten“ Formen der Erkenntnis und des Wissens? – Ist die Bekenntnislogik der „Unzuchtsbecher“?
    Hat der „Dieb in der Nacht“ etwas mit der Tötung der Erstgeburt, die um Mitternacht erfolgte, zu tun?
    Jesus wußte sich zu den verlorenen Kindern Israels gesandt; Paulus hat begriffen, daß die Rettung Israels nur über die Völker (die „Heiden“) möglich ist; die Kirche hat daraus die Verwerfung Israels abgeleitet, anstatt in der Rettung Israels die eigene zu begreifen. Auschwitz ist der Greuel am heiligen Ort.
    Die Ängste, die während des Krieges insbesondere in der katholischen Kirche verbreitet waren: Heute die Juden, morgen sind wir dran, waren nur insoweit unbegründet, als sie nach der Niederlage der Nazis ihren Urheber verloren zu haben schienen. Aber hatten sie ihn wirklich verloren, hatte die Kirche, als sie vergaß, daß sie selbst mit zur Ursprungsgeschichte dieser „Urheberschaft“ gehörte, diese nicht schon so sehr verinnerlicht, daß sie für sie nur nicht mehr sichtbar (dafür aber umso gefährlicher geworden) war? Mit dem Verrat der Juden, deren Leiden sie nicht wahrzunehmen fähig war, hat die Kirche sich selbst verraten. Ausdruck dieses Verrats ist nicht zuletzt der Zustand der Theologie heute.
    Die Deutschen mögen Hitlers willige Vollstrecker gewesen sein (und sie waren es), aber war Hitler nicht der „willige Vollstrecker“ des Selbstverrats der Kirche? Der Antisemitismus hat kirchliche Wurzeln, Deutschland war nur das Treibhaus, in dem diese Pflanze zu ihrer vollen Pracht sich entfalten konnte.
    Kann es sein, daß das Hethitische, in dem das Neutrum durch den Verzicht auf die grammatische Geschlechtertrennung erkauft war, zur Ursprungsgeschichte der indoeuropäischen Sprachen gehört? Ist der Ursprung des Neutrum durch die sprachliche Verdrängung des Weiblichen vermittelt (das in der Folge dann nur in dritten Person wieder erscheint, während im Hebräischen die Geschlechtertrennung auch in der zweiten Person noch gilt)?
    Wenn Hitler in der „Masse“ eine weibliche Komponente erkannte, steckt darin nicht die merkwürdige sprachlogische Beziehung des Feminimum zum Plural im Deutschen? Beim bestimmten Artikel, wo das Femininum zur Grundlage des Plural geworden ist, erscheint im Genitiv und Dativ des femininen Artikels die Nominativform, beim Plural im Genitiv die Nominativ-, im Dativ die Akkusativform (!) des singularen maskulinen Artikels, in beiden Fällen sind Eigentum und Herrschaft sowie das Geben, Gewähren, auf einen männlichen Adressaten bezogen. Es ist davon auszugehen, daß diese sprachlichen Beziehungen nicht zufällig sind, daß es sich nicht nur um äquivoke Beziehungen handelt, sondern (wie auch im „Sein“, das sowohl den Infinitiv des Hilfsverbs wie auch das Possessivpronomen der dritten Person singular bezeichnet) sprachlogische Beziehung, die zu entschlüsseln wäre. Nicht auszuschließen, daß die Ontologisierung einer männlichen Possessivbeziehung im Namen des Seins den Schlüssel hierzu liefert.
    Der Rassismus blendet die Herrschaftskritik aus, er erspart sich die Reflexion dadurch, daß er einem sprachgeschichtlichen Sachverhalt einen biologischen substituiert. Die Logik dieser Substitution ist im Weltbegriff vorgebildet, durch den Weltbegriff determiniert. Im Grunde ist jede Sprachforschung, die die Geschichte der Sprache vom herrschaftsgeschichtlichen Prozeß trennt und an die Geschichte von Völkern und Stämmen bindet, immer noch rassistisch.
    Hat nicht die lateinische Sprache, und zwar unter einem großen sprachlogischen Zwang, das Evangelium durchs Dogma ersetzt?
    Der Satz, daß der Menschensohn Herr des Sabbath ist, hat etwas mit der Befreiung Maria Magdalenas von den sieben unreinen Geistern (die ebenso wie der Sabbath auf das antike moralisch-kosmologische Verständnis des Planetensystems, auf die Astrologie, verweist) zu tun.
    Wachet und betet: Ist das nicht die Aufforderung zur Erinnerungsarbeit? Der Nazi-Slogan „Deutschland erwache“, der eigentlich auf das vollständige Vergessen, auf die Unterdrückung des Eingedenkens, zielte, ist das Produkt einer schrecklichen Verschiebung. Dieses „Deutschland“, das seiner nicht spotten läßt, ist der Kern und der Inbegriff einer pathologischen Empfindlichkeit, der Energielieferant der antisemitischen Wut und Aggression. Im Kern dieses Namens steckt eine, wie es scheint, unheilbare Paranoia.
    Mit der Begründung seiner Entscheidung, Jude zu bleiben, hat Franz Rosenwzeig gleichzeitig Vorkehrungen getroffen gegen ein Mißverständnis des Sterns der Erlösung. Er hat jedes missionarische Verständnis dieses Buches im Vorhinein ausgeschlossen, er hat der Proselytenmacherei, aber auch einem etwaigen Wunsch eines Christen, nach der Lektüre dieses Buches zum Judentum zu konvertieren, einen Riegel vorgesetzt, der nicht mehr zu lösen ist. Aber war der Preis dieser Abgrenzung, die Bindung des Jüdischen ans Blut, nicht zu hoch?
    Das griechische physis ist männlich, das lateinische natura (wie die daraus abgeleitete Natur) feminin; darin spiegelt sich die unterschiedliche Sprachwurzel, die im Griechischen auf die Zeugung, im Lateinischen auf die Geburt verweist. kosmos und mundus sind beide männlich, die deutsche Welt ist feminin. Kann es sein (und hängt das hiermit zusammen), daß die Namen der Nationen im Deutschen (wie der Name mizrajim im Hebräischen – heißt deshalb der ägyptische König Pharao?) Kollektivnamen sind, während sie in den alten (und in den anderen europäischen) Sprachen sonst durch ein grammatisches Geschlecht bestimmte individuelle Begriffe sind? Liegt nicht die Schwierigkeit (und der Wendepunkt) darin, daß der logische Status der Namen der Nationen zusammen mit dem mittelalterlichen „Realismus“, der den Begriffen objektive Realität zuerkannte, in der Ursprungsgeschichte des den Nominalismus begründenden Inertialsystems obsolet geworden und untergegangen ist?
    Im Deutschen sind die Namen der Nationen Kollektivbegriffe und Totalitätsbegriffe zugleich, die wie die Gattungsnamen durch Gebrauch des (bestimmten oder unbestimmten) Artikels auf die „Exemplare“ der Nation (oder der Gattung) sich beziehen. Sie sind eigentlich hypostasierte Adjektive: sie drücken eine gemeinsame Eigenschaft unterschiedlicher Individuen aus. Nationen stehen wie Gattungen in Konkurrenz zum Weltbegriff …
    In welcher Beziehung stehen Nationennamen zu den Abstrakta, zur Hypostasierung von Eigenschaften, die in der Regel mit Suffixen wie -heit oder -keit gebildet werden? Welche sprachlogische Bedeutung haben die Bildungen auf -tum (wie Deutschtum, Judentum, Heidentum, aber auch Reichtum, Eigentum u.ä.)?
    Sind nicht das Gerundium, auch das Supinum (die nicht auf Ei-genschaften, sondern auf Tätigkeiten sich beziehen), lateinische Vorläufer dieser Abstrakta? In imperialen Zusammenhang werden die Abstrakta durch ihre Beziehung auf Eigenschaften (die zusammen mit dem Dingbegriff sich konstituieren) gerückt, die die Dinge beherrschbar machen (Zusammenhang mit dem Ursprung des Trägheitsprinzips).
    Sind die philosophischen Akzidentien nicht die ersten hypostasierten Adjektive?
    Der Unterschied zwischen physis und natura drückt in der Frage sich aus, ob Eigenschaften durch Zeugung oder durch Geburt vererbt werden. (Hat nicht die Trinitätslehre diese beiden Aspekte getrennt: der innertrinitarischen Zeugung ohne Geburt entsprach die homousia, der irdischen Geburt ohne Zeugung die Inkarnation, die Menschlichkeit des Gottessohns. Und wenn Paulus „Römer von Geburt“ war, war er dann nicht Römer „von Natur“, und konnte die Geburt nicht durch eine Adoption ersetzt werden?)
    Die Ware, die nur noch Exemplar eines Kollektivs ist, so daß die Exemplare nicht mehr von einander sich unterscheiden lassen (eines Kollektivs von Dingen mit identischen Eigenschaften, in denen das Wesen und die Qualität der Ware begründet ist), ist weiblich! Waren nicht Sklavinnen die ersten Waren? – Wie hängt der Name einer Nation mit dem eines Markenartikels zusammen, der ihn heute zu beerben scheint?
    Hängt die Ware mit dem Imperfekt von Sein („war“) zusammen wie das Possessivpronomen der dritten Person männlich mit dem Infinitiv Sein?
    War nicht der Name Edom („Roter“) der erste auf eine Eigenschaft gegründete Name (und Edom war der Name der ersten Königtümer, später der Deckname für Rom)? Im Lateinischen entspricht ihm der Name Rufus! (Simon von Cyrene war der Vater des Alexander und des Rufus: Klingen darin der Hellenismus und das Römische Reich an? – Paulus hatte mit Rufus eine gemeinsame Mutter?)
    Gehören das Symbol und der Typos zum Begriff einer Erkenntnis, die an der Idee der Auferstehung sich orientiert (die Idee der Auferstehung verändert die Erfahrung von Natur und Geschichte)? Die Idee der Auferstehung gilt nur den Andern, niemals dem, der sie hegt: Sie ist Teil der Hoffnung, die uns nur um der Hoffnungslosen willen gegeben ist.
    Das Harmloseste, das man von den Angriff auf Adorno, den Schmid-Noerr mit völlig unzureichenden Kategorien beschreibt, sagen kann, ist, daß hier zwei Welten auf einander geprallt sind. Aber sind nicht auch in Auschwitz zwei Welten auf einander geprallt? Ich befürchte, daß man nicht ausschließen kann, daß das Bewußtsein, daß Adorno Jude war, mit hereingespielt hat. Ich würde gerne wissen, was aus den jungen Frauen geworden ist.
    Das Konstrukt der Venus-Katastrophe war ein Mittel, historische Prozesse reflexionsfähig zu machen; es hat dann allerdings zugleich die so reflektierte Geschichte wieder historisiert (und zwar dadurch, daß man, nach dem gleichen Prinzip, das bereits den mythischen Kosmologien zugrundelag, einem Prozeß der zweiten Natur einen der ersten substituiert hat).
    Kann es sein, daß das Wort der drei Weisen aus dem Morgenland: Wir haben seinen Stern gesehen, auf ein politisches und nicht auf ein astronomisches Ereignis sich bezog?

  • 09.08.1996

    Rasenpflege: Der Historiker läßt über die Vergangenheit Gras wachsen.
    Die Frankfurter Schule hat es nie gegeben; was so heißt, ist die organisierte Selbstverleugnung der Frankfurter Schule.
    Historismus als Instrument der Entlastung: Darin gründete die Nähe der historischen Bibel-Kritik zum Antisemitismus.
    Hier gilt das Gleiche, das auch für Teile der Zeitgeschichtsforschung gilt, die automatisch: durch die Objektivierung und Historisierung des Geschehenen, zur Selbstentlastung beiträgt; das Entscheidende (das, was am Vergangenen nicht vergeht: das Objekt des Eingedenkens) ist nicht objektivierbar, fällt durch die Maschen.
    Karl Thieme hat einmal gegen von Ranke darauf hingewiesen, daß die Frage, „wie es denn eigentlich gewesen ist“, das „Was“ unterschlägt: Zum Es wird neutralisiert, worauf es ankommt: Zu erkennen, was geschehen ist? Wird nicht durchs Verfahren der Objektivierung die Geschichte auf die Geschichte der Sieger, auf Herrschaftsgeschichte reduziert, ist deshalb alle Geschichtsschreibung nationalistisch?
    Die unsägliche Diskussion, ob es zur „Endlösung der Judenfrage“ einen Befehl Hitlers gegeben habe, war schon von der Intention (vom Beweisanliegen) her obsolet. Die Alternative, unter der sie steht, war falsch: Entweder war Hitler der Verantwortliche (und alle anderen haben nur Befehle ausgeführt), oder es war ein automatischer Ablauf (und alle Beteiligten nur Rädchen in einer ohne ihr Wissen und ihren Willen ablaufenden Maschinerie).
    Zum Problem der „Identitätsbildung“, das Jörg Rüsen anspricht: Entzieht das Geschehene nicht diesem Problem generell den Boden? Wer nach Auschwitz noch davon ausgeht, daß Geschichte dazu beitragen könne, das Problem der nationalen Identität der Deutschen zu lösen, leugnet Auschwitz.
    Verhalten sich nicht die Kritiker Goldhagens wie die Eltern, die bestimmte Fragen ihrer Kinder nur noch als unverschämt empfinden? Und was die Kritiker an diesem Buch so ärgert, ist ihr wohl nicht unbegründeter Eindruck, daß es solche, von ihnen als unverschämt empfundene Fragen auslöst. Damit scheint der Eindruck des „Fürsorg-lichen“, Pädagogischen, um nicht zu sagen der Bevormundung, zusammenzuhängen, den der Tonfall bei fast allen Kritikern erweckt, so als müßten die kranken Leser vor schädlichen Einflüssen in Schutz genommen werden. Fast möchte es scheinen, als sei nicht der Autor, sondern als seien die Leser die Adressaten dieser Kritiken, die vor einer möglichen Ansteckung gewarnt werden sollen, und denen man vorsorglich einige Verhüterli anbietet.
    Gibt diese Art der Kritik nicht Anlaß, über das Problem der Metaphorik noch einmal nachzudenken? Es gibt eine Art der Metaphorik, die einer verdeckten Strategie gehorcht (der Rückschluß auf Rechtfertigungszwänge, von denen eine vergleichbare kommunikationslogische Wirkung ausgeht, ist naheliegend): Umgangssprachlich scheint das gemeint zu sein, wenn man sagt, daß einer „durch die Blume“ spricht. Hier ist die Sache, über die gesprochen wird, nicht die Sache, die gemeint ist, weil diese Sache nicht offen ausgesprochen werden kann. Wer das nicht durchschaut und meint, es ginge um die Sache, über die gesprochen wird, sitzt schon in der Falle drin.
    Kehrt hier nicht ein Rätsel der Theologie-Geschichte wieder, ein Rätsel, das aus der Dogmen-Geschichte, der Geschichte der „Widerlegung“ und Verurteilung der Häresien bekannt ist: Es gibt weite Bereiche, in denen es Theologen wie Historikern auf Genauigkeit gar nicht so sehr ankommt. Aber an welchen Punkten wird’s ungemütlich, wann und wo wird’s ernst, werden die Fragen und die Urteile rigide?
    Wem der Schrecken so in die Glieder gefahren ist, daß er davon nicht loskommt, kennt die Erfahrung, daß es Punkte gibt, an denen er auf Abwehr und Schweigen, wenn nicht auf Wut stößt. Das Problem der Historiker ist es, daß diese Vergangenheit nicht vergangen ist, sich nicht in die Objektivität der Vergangenheit bannen läßt (sind die Historiker die „Toten, die ihre Toten begraben“, und kann man diesem Satz in diesem Zusammenhang vielleicht doch noch einen positiven Sinn abgewinnen? Repräsentieren die Väter in den Evangelien die Geschichte? Ist der Satz nicht auch anwendbar auf die Kirche?).
    Gibt es nicht wirklich so etwas wie die Tücke oder die Rache des Objekts; und gehört nicht Hegels „Weltgericht“ – als Totalität der logisch durchorganisierten Rache des Objekts – in diesen Zusammenhang? Ist nicht Hegels Weltgericht ein spätes Echo der Gewalt, die die Schöpfung einleitet und das tohuwabohu und die Finsternis über dem Abgrund hervorruft? Und ist das Jesaja-Wort „Ich bin der Herr und keiner sonst, der ich das Licht bilde und die Finsternis schaffe, der ich Heil wirke und Unheil schaffe, ich bin’s, der Herr, der dies alles wirkt“ (457) ein Hinweis auf den Schöpfungs-Rhythmus von Katastrophe und Rettung? Und ist nicht die Bedingung der Rettung die Wahrnehmung der Katastrophe (vgl. Jürgen Ebachs Hinweis zu Lots Weib; gibt es hier nicht einen Zusammenhang mit der merkwürdigen Rolle der Väter in den Evangelien?). Unterscheidet sich nicht die Apokalypse von der Prophetie durch die „Wahrnehmung der Katastrophe“? – Die Zuschauer sind die Väter und die Richter, während Mütter die Mitleidenden, die Barmherzigen sind.
    Wäre es nicht sinnvoll gewesen, in die „Versuche, die RAF zu verstehen“ auch Texte der Mütter oder überhaupt einer Frau mit aufzunehmen? – Bemerkenswert, daß der Senat in keinem Falle etwas gegen Ausfälle von Seiten der Anklagevertreter gegen Prozeß-Besucher, gegen die Mutter der Angeklagten oder zuletzt gegen einen Zeugen eingegriffen hat, während er jeden Versuch, die Vorgänge in Bad Kleinen aufzuklären, rigoros unterbunden hat, und daß, obwohl er die Anklage gegen Birgit Hogefeld wegen Beteiligung am Mord an dem GSG-9-Beamten Newrzella trotz offenkundiger Widersinnigkeit zugelassen hat, eine Anklage, zu deren Hintergrund die Kenntnis des gesamten Vorgangs in Bad Kleinen gehört, nicht nur das isolierte Faktum eines bis heute nicht nachgewiesenen „Mords“ (die Tatsache, daß das Gericht sich diesen Mord sehr gut vorstellen kann, ist noch kein Beweis). Hätte dieser Senat nicht auch die Chance, sich auf die friedenstiftende Kraft des Rechts zu besinnen? Statt dessen hat er die Verhandlung in ein Kant-Seminar umfunktioniert: in eine praktische Übung zur Frage der Konstruktion synthetischer Urteile apriori, in deren Kontext schon Kant zufolge die Dinge, wie sie an sich sein mögen, nicht erkennbar sind. Auch die Philosophie hat nicht nur seit je den Tod verdrängt, sie hat auch das Mitleid, die Fähigkeit, in andere sich hineinzuversetzen, nie gekannt (der Kampf der Philosophie gegen das Vorurteil, war ein Kampf gegen die Vorurteile, die dem reibungslosen Ablauf des Geschäfts und dem Prinzip der Selbsterhaltung im Wege standen). Die Philosophie hat seit je das Urteil zum Maß der Wahrheit gemacht, sie hat von der Hemmung des Urteils durch das Mitleid und das verteidigende Denken seit je abstrahiert.
    Hat das „Laßt die Toten ihre Toten begraben“ etwas mit Adam, dem Staub und der Schlange zu tun?
    Kann es sein, daß das Symbol der Taube, die das Opfer der Armen war, auch in der Geschichte von der armen Witwe, die ihr letztes Scherflein in den Opferstock wirft, noch nachklingt? Ist nicht der Heilige Geist der Inbegriff und die letzte Verkörperung des Satzes „Barmherzigkeit, nicht Opfer“? Vgl hierzu noch einmal die Geschichte mit Zacharias: Er brachte das Rauchopfer dar (das die „Gebete der Heiligen“ symbolisiert), als der Engel Gabriel ihm die Geburt des Johannes ankündigte; und die andere Geschichte: Was geschah, als nach der Geburt Jesu die Tauben geopfert wurden (die Geschichten mit Simeon und Anna, der Tochter Penuels, aus dem Stamme Asser, „etwa 84 Jahre alt“)?
    Zur Rekonstruktion des Antisemitismus wäre es wichtig, den logischen Zusammenhang zu begreifen, der den modernen Nationalismus mit dem Rassismus verbindet. Der Nationalismus, selber ein Produkt des Weltbegriffs und der säkularisierten Bekenntnislogik, ist der Nährboden des Antisemitismus, die Umschlagstelle des Schuldverschubsystems, der das projektive Moment im rassistischen Antisemitismus logisch begründet.

  • 08.08.1996

    Erbauliche Theologie dient allein der Einübung des Geschwätzes. Biblische Personen und Erzählungen werden nur noch als Folie der Selbstbespiegelung wahrgenommen. Es gibt eine erbauende Kraft der Schrift, und in ihren Zusammenhang gehört das Wort vom Eckstein, den die Bauleute verworfen haben. Diese Verwerfung des Ecksteins führt direkt in die an sich blasphemische Erbaulichkeit. Die Erbaulichkeit orientiert sich an einer Idee der Unsterblichkeit der Seele, die vom Zustand der Welt abstrahiert, während das erbauende Denken am Zustand der Welt sich orientiert: Es findet seinen Grund in der Lehre von der Auferstehung der Toten.
    Das Gelübde ist auf der Grenze zwischen Tauschprinzip und Rechtsprechung angesiedelt, das Gelübde selbst als Angebot oder Anklage, das Eintreten seiner Erfüllungsbedingungen als Kauf oder Urteil. Und ist nicht das Tauschverhältnis die säkularisierte Gestalt eines Herrschaftsverhältnisses (mit dem Verkäufer als Knecht und dem Kunden als Herrn), oder genauer: Verwandelt das Tauschverhältnis nicht das Herrschaftsverhältnis in eine reversible Beziehung, ist es nicht das Instrument der Vergesellschaftung von Herrschaft (und der Verhärtung der Herzen)? Aber diese Reversibilität ist der Ursprung des Scheins: der Trennung des Bewußtseins vom Sein, der Ursprung des falschen Bewußtseins (Bedingung und Resultat der Verhärtung des Herzens).
    Die Reversibilität aller Richtungen im Raum gründet in der Orthogonalität, beide zusammen (und mit ihnen die Zwangsvorstellung des dreidimensionalen Raumes) gründen in der Irreversibilität der Zeit. Wäre das Inertialsystem mehr als ein metrisches Konstrukt, wäre es eine objektive Wesenheit, so würde das Zeitkontinuum gesprengt. Darin liegt die Wahrheit des Urknalls, in dem diese Sprengung sich reflektiert, und der am Ende, nicht am Anfang liegt. Auf dieses Ende zielt Heideggers (von Vernichtungsphantasien genährte und beherrschte) Frage: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?
    Die Lichtgeschwindigkeit (die durchs Inertialsystem vermittelte Außenseite des Lichts) rührt ans tohuwabohu und an die Finsternis über dem Abgrund.
    Das Recht und das Inertialsystem sind die vergeblichen, und deshalb unendlichen Versuche, den Bruch, der Natur und Welt scheidet, zu heilen, und ist es nicht dieser vergebliche Versuch, auf den sich das Wort von den Pforten der Hölle, die die Kirche nicht überwältigen werden, bezieht?
    Kann es sein, daß es in den USA deshalb nie eine linke Partei gegeben hat, weil der Rassismus den Klassenkampf unsichtbar gemacht hat? Die linke Theorie hat insofern recht, als der Rassismus dem Grunde nach auf ein gesellschaftliches Verhältnis, nicht auf ein biologisches sich bezieht. Aber erfahren wir dieses gesellschaftliche Verhältnis (auch den Klassenkampf) nicht in der Tat als Natur, und hat es für uns nicht die Gewalt der Natur, die der Staat und das Recht dann garantieren? Zu dieser Natur gehören dann – wie zur christlichen Welt die Hölle – die Knäste.
    Auto und Fernsehen: Freie Bahn für freie Bürger. Die andern enden vor der Glotze.
    Entspricht nicht der Bildschirm der Scheibe im Schaufenster, die die potentiellen Käufer von der Ware trennt; sind nicht Fernsehmoderatoren zum Leben erweckte Waren?
    Wort zum Sonntag und Morgenandacht: Das Fernsehen markiert das Ende, das Radio den Anfang vom Ende.
    Kohl hat sich durchgesetzt, weil er alles aussitzt: Ist er überhaupt ersetzbar?
    Als die SPD Lafontaine zum Parteivorsitzenden wählte, hat sie das Pfeifen im Walde mit den Trompeten von Jericho verwechselt.
    Wie unterscheidet sich das Erbarmen vom Mitleid (vgl. hierzu die Geschichten von den „wunderbaren Brotvermehrungen“: das eine Mal „ergriff ihn das Mitleid mit dem Volke“, das andere Mal „erbarmte ihn des Volkes“)? Unterscheidet sich nicht das Mitleid von der Barmherzigkeit durch das Bewußtsein der Ohnmacht? Und gilt das Erbarmen (der Impuls zu helfen) den Opfern, das Mitleid (die Erfahrung der Ohnmacht und der Schrecken angesichts der Frage: Wie können die das tun?) den Tätern? Hängt nicht Nietzsches Idee des Herrenmenschen (der „blonden Bestie“) mit der Abwehr des Mitleids (als „größte Gefahr“) zusammen, mit der Unfähigkeit, diese Ohnmacht zu ertragen? Anstatt das Bewußtsein der Ohnmacht im Mitleid zu reflektieren, schlägt er sich auf die Seite der Herren, die am Ende kein Mitleid mehr dulden.
    Das Fernsehen kann Mitleid erzeugen, niemals Barmherzigkeit. Gründet das Mitleid im Sehen, während die Barmherzigkeit das sprachlich reflektierte Sehen zur Grundlage hat? Das Mitleid gehört zur Logik der Schrift, die Barmherzigkeit gründet im Wort (das Objekt des Mitleids ist stumm, das der Barmherzigkeit schreit zum Himmel).
    Unterscheidet nicht schon die Schrift zwischen der Erfüllung der Schrift und der des Wortes? Ist diese innere Unterscheidung der Prophetie nicht in den Begriff der Prophetie mit hereinzunehmen, und ist nicht die Apokalypse (die Fortentwicklung der Prophetie unter den Bedingungen des Weltbegriffs, der in dieser Unterscheidung sich ausdrückt) der Ausdruck und die Entfaltung der Objektivität dieser Unterscheidung?
    Der Weltbegriff unterliegt einem organischen Prozeß: So enthält er in sich selbst die Ursachen seines Untergangs. Spenglers Kulturbegriff gründet in diesem Weltbegriff.
    Ist nicht der Urknall ein spätes Echo der creatio mundi ex nihilo? War nicht dieses theologische Konstrukt bereits ein Reflex des „Weltuntergangs“, die bloße Umkehrung des Endes? Als Schöpfer der Welt ist der Staat der Vollstrecker ihres Untergangs.
    Gibt es den Begriff der Verstockung (der Verhärtung des Herzens) schon vor der Exodus-Geschichte?
    Das Ding ist der Reflex der unendlichen Ausdehnung des Raumes (und der Zeit), während das Angesicht diese Unendlichkeit widerlegt. Die subjektiven Formen der Anschauung sind die realsymbolische Entsprechung des biblischen Kelchsymbols; ihre verdinglichende Gewalt korrespondiert dem „göttlichen Zorn und Grimm“.
    Der Hinweis auf die Verantwortung bleibt formal, ein Instrument der Selbstentlastung (und des Schuldverschubsystems), wenn ich nicht davor die Frage setze, ob ich sicher bin, daß ich, wenn ich an der Stelle des Andern gewesen wäre, anders hätte handeln könnte.
    Auch die Nazis waren Opfer. Das entlastet sie nicht von ihren Taten, aber vielleicht hilft dieser Satz, die Wiederholung dieser Taten, die über ihre bloße Verurteilung sich vorbereitet, zu verhindern.
    Die Ausgrenzung des Schreckens aus dem Begriff des Faschismus (durch das Instrument der Verurteilung) ist die Ausgrenzung derer, die ihn nicht loswerden.
    Hat nicht der Gebrauch der Verurteilungslogik, zu dem es keine Alternative mehr zu geben scheint, sehr viel mit den „sieben unreinen Geistern“ zu tun?
    Die einzige brauchbare Definition Gottes: Er ist es, der die Toten erweckt.
    Der Corpus Christi Mysticum schließt (nach der „Mysterientheologie“ Odo Casels) die Einbeziehung in das Leiden und den Tod Jesu mit ein.
    „Was sind das doch armselige Menschen …“ und „Was sind das doch für armselige Menschen …“: Dieses „für“ rückt den Satz aus dem Bereich des Erschreckens (und der Barmherzigkeit) in den der Verurteilung (des Gerichts). Die erste (ursprüngliche) Fassung des Satzes ist Ausdruck eines katholischen Selbstverständnisses, das es nicht mehr gibt. Die Kirche gibt keinen Halt mehr für den Widerstand gegen die Welt, sie hat die Mittel dieses Widerstands als Ballast abgeworfen. So findet sie sich als das steinerne Herz der Welt in deren leerem Zentrum wieder.
    Drückt sich nicht in dem „für“ die Verdrängung genau der Wahrnehmung aus, die in dem ersten Satz zum Ausdruck gebracht wurde?

  • 6.8.96

    Der Satz, daß Gott ein Gott der Lebenden, nicht der Toten sei, klingt nach in dem anderen: „Laßt die Toten ihre Toten begraben“, der sich auf die Väter bezieht. Welche Väter gibt es in den Evangelien (außer Joseph, Zacharias, Zebedäus u.a. auch den Simon von Cyrene <der das Kreuz getragen hat, und der nur dadurch näher bestimmt wird, daß er der Vater zweier Söhne, des Alexander und des Rufus, ist>, den Jairus, den römischen Offizier)? Der Rassismus ist das auf den Kopf gestellte, ins Biologische gewendete Symbol. Und der Antisemitismus ist der Kern des Rassismus, nicht nur eine seiner Anwendungen. Der Weltbegriff hat einen herrschaftslogischen Kern, der erst in der Geschichte sich gebildet hat. Der teleologische Ursprung der Metaphorik ist vermittelt durch den Primat der Kausalität, die selber unter dem Apriori der Selbsterhaltung steht. Real ist die Sprache der Kausalität und Selbsterhaltung, alles andere ist metaphorisch. Das Realitätsprinzip ist auf die Kausalität eingeschworen, ein Schwur, der sich selbst als Zeugen anruft: Modell der Beziehung der transzendentalen Logik zur transzendentalen Ästhetik. Die subjektiven Formen der Anschauung sind im wörtlichen Sinne Formen der Verschwörung (auf der Basis eines Schwurs, den jeder bei sich selbst schwört, wobei er die Welt zum stummen und falschen, aber unwiderlegbaren Zeugen, zum augenlosen Augenzeugen, macht – Parodie der Beziehung Jesu zum Vater.) Die Metaphorik ist das Residuum des Namens. Gehört nicht zum philosophischen Begriff der Autonomia die Ataraxia, die sich vom Mitleid nicht mehr hinreißen läßt? Aber dieser (bürgerliche) Begriff der Autonomie gründet in der finanziellen Unabhängigkeit, von der die Armen apriori ausgeschlossen sind. Die wahre Einsicht wäre eine, die sich unmittelbar mitteilt und deshalb nicht mehr erfragt zu werden braucht. Die Geschichte der Verklärung auf dem Berge Tabor wäre wahr, wenn sie sich Petrus, Jakobus und Johannes unmittelbar mitgeteilt hätte, wenn diese sie nicht nur gesehen hätten. Die mittelalterliche Eucharistieverehrung und -spekulation hat das Geheimnis des Worts an die Mathematik (das Hören ans Sehen) verraten. „Wer mein Jünger sein will, nehme sein Kreuz auf sich“: Wer das Kreuz auf sich nimmt, hat es nicht mehr vor Augen, kann es nicht mehr vergegenständlichen. Ist dieser Satz nicht die Widerlegung der Opfertheologie? Und sind die Evangelien nicht insgesamt ein Akt des Eingedenkens gegen die paulinische Objektivierung, die die Abstraktion überhaupt erst möglich macht, die dann im Credo sich ausdrückt (in dem das Leben Jesu zum „incarnatus est de Spiritu Sancto, ex Maria Virgine, et homo factus est; crucifixus etiam pro nobis, sub Pontio Pilato passus et sepultus est“ zusammenschnurrt)? Der Bruch zwischen Paulus und den Evangelien, den das Dogma zudeckt, wird thematisiert in der Apokalypse. Hat nicht der Faschismus auch die Sieger in seinen Strudel mit hereingezogen? Hängt das Problem, das um die Begriffe aioon, oder saeculum, aeternitas, sich herumrankt, nicht damit zusammen, daß die Herrschaftsgeschichte zum logischen Zentrum des Weltbegriffs geworden ist? Die Herrschaftsgeschichte hat das Überzeitliche vom Ewigen geschieden. Woher kommen und was bedeuten diese Worte, die die Idee des Ewigen umkreisen? Von der Botschaft der Sterne hat die Kirche nur die Boten, die Engel, zurückbehalten, wobei sie die dämonischen Ursprungs- und Elementarmächte der Einfachheit halber (und zur Legitimation der kirchlichen und weltlichen Hierarchien) mit zu den Engeln gezählt hat. Die Austreibung der sieben unreinen Geister steht noch aus (und ist nicht durch die Ersetzung des Sabbath durch die dies dominca schon erfüllt). Gehört nicht auch der Name des Barabbas zur evangelischen Geschichte der Verwerfung der Väter? Die Idee des Absoluten gründet im Rechtfertigungszwang und endet im Wiederholungszwang (deshalb ist der Staat die sterbliche Gestalt des Absoluten: es gibt keine andere). Das Ganze ist das Unwahre: Die Wege des Irrtums sind die Wege des in sich selbst zurückkehrenden Kreisens. Wenn die Metaphorik teleologischen Ursprungs ist, ist dann nicht das Geld ein metaphorisches Instrument? Oder: Wenn das Inertialsystem die Zukunft unter die Vergangenheit subsumiert, ist dann nicht das Geld die Umkehrung dieses Aktes, nämlich die Subsumtion der Vergangenheit unter eine Zukunft, die selber schon unter die Vergangenheit subsumiert ist? Das Geld ist das Instrument, mit dessen Hilfe das Subjekt (über die subjektive Form der inneren Anschauung) sich an das Ende der Zeitreihe setzt, um durch die Erhebung über die Zeit autonom zu werden. Unter dieser Prämisse wird das Bekenntnis zum flatus vocis, durch seine Trennung vom Namen wird es zur im Unendlichen verhallenden Stimme. Hängt es nicht mit der Verdrängung des Namens und des Angesichts zusammen, wenn der Name der Welt auch als Name für alle Menschen sich verwenden läßt? Der Andere wird zum bestimmten Anderen nur durch den Namen; für sich ist er nur ein Anderer für Andere. Der bestimmte Artikel ist nur der Repräsentant des Namens in der Sprache, während der unbestimmte Artikel das unter den Allgemeinbegriff fallende Objekt bezeichnet (ein Objekt unter vielen: an sich ein Kollektivum). War die Vätertheologie nicht erst möglich, nachdem aus dem Gesalbten, dem Messias Jesus, der Jesus Christus geworden ist, und der Name Christus zum Allgemeinbegriff, der alle Christen unter sich befaßt? War es nicht der Trick der homousia, daß sie den Sohn dem Vater gleichgesetzt hat? Laßt die Toten ihre Toten begraben: Liegt die logische Funktion dieses Tods der Väter nicht in der Beziehung der Väter zum Begriff, in ihrer „zeugenden“ (die Gattung begründenden) Funktion. Ist nicht der Rassismus die logische Konsequenz aus der Väterreligion (und der Antisemitismus sein Kern)? Der Zölibat ist die fundamentalistische Version eines logischen Sachverhalts. Bezeichnet nicht der Unzuchtsbecher, ähnlich wie der Taumelbecher und der Kelch des göttlichen Zorns und Grimms, ein logisches Problem (hat das Wissen mit dem Kelch, und haben Natur und Welt mit Grimm und Zorn zu tun, und liegt hier der Schlüssel zum „Unzuchtsbecher“)? Das Possessivpronomen ist das principium individuationis, und zwar sowohl für den Besitzer und Eigentümer wie für den Besitz und das Eigentum. Auf den beiden Seiten des Schaufensters, durchs Schaufenster getrennt, sind Ware und Käufer nur Exemplare einer Gattung, erst im Kauf (durch die Eigentumsbeziehung) gewinnen sie Individualität, Ununterscheidbarkeit. Erst der Fernsehmoderator, der sich selbst verkauft, gewinnt (als die Ware, zu der er sich macht) Individualität. Wer wissen will, wo der Filmstar der zwanziger Jahre geblieben ist, sollte sich den Fernsehmoderator ansehen (nicht den Darsteller der Fersehserie, der hinter seiner Rolle, die ihn zum Nachbarn aller macht, verschwindet: Derrick ist nicht Tappert, sondern Tappert ist Derrick; auf der Straße würde ich ihn als Derrick „erkennen“). Das Charisma ist eine Qualität, die in der Eigentumslogik gründet. Der Führer war die Verkörperung der sich selbst anpreisenden und verkaufenden Ware; deshalb war er auch die Verkörperung des Antisemitismus. Er war die Verkörperung einer Ware, die ihr Massendasein leugnete: die Uniform als signum individuationis. Er war nur die Matrix, das Modell einer Massenproduktion, mit dem Antisemitismus als Produktionsmittel. Der ungeheure Verdrängungsakt, der mit einem Schlage alle Deutschen von der Schuld befreit hat, hängt damit zusammen: Alle haben ihre Anschauungen (ihr Feindbild) wie ein Hemd gewechselt, ihre Verstrickung wie die Uniform abgelegt. Der Produktionsapparat ist erhalten geblieben, er wurde noch gebraucht.

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