Richard

  • 18.1.1997

    Konnotationen zu Fleisch: Sexualität, Opfer/Fleischessen, hierarchische Ordnung? Ist Venus der fleischliche Planet, mit den genannten „Dimensionen“?
    Nacktheit (und damit auch Keuschheit) ist eine logische, keine ästhetische Kategorie. Die Nacktheit ist das Objekt der Augenlust; zur Fleischeslust gehört die hierarchische Organisation der Welt (ihr Einheitsgesetz, ihr animalischer Kern, die Gewalt). Die Hoffahrt des Lebens ist der Grund und das Siegel der Augen- und Fleischeslust. Der Augenlust opponiert das Hören, der Fleischeslust die Keuschheit und der Hoffahrt des Lebens die Armut. Dem Inertialsystem opponiert die Barmherzigkeit.
    Es gibt einen metaphorischen Gebrauch des Begriffs des Sehens, von dem zu fragen ist, ob er nicht der originale Gebrauch ist, wenn man sagt, daß man etwas klarer sieht, daß einem etwas durchsichtig wird, daß man eine Sache durchschaut.
    Die Auslegung der Johannes-Apokalypse durch Pablo Richard leidet an einer leichten begrifflichen Verwirrung: an seinem unkritischen Gebrauch des Begriffs des Mythos, den er als Gegenbegriff auf den Begriff der Aufklärung anstatt auf die Idee der Offenbarung bezieht.
    Wir können das Licht, die Wärme, die Farben, die Töne, die Materialeigenschaften der Stoffe reproduzieren, wir können Bilder reproduzieren, nur eines läßt sich nicht reproduzieren: die Schwerkraft; wir können einen Vorgang in der Zeit reproduzieren, nicht aber etwas Vergangenes wiederherstellen, es in die Gegenwart zurückrufen. Wie hängt das zusammen mit dem Wittgensteinschen Satz, wonach die Welt alles ist, was der Fall ist?
    In der Schwerkraft gründet die Nicht-Umkehrbarkeit von Oben und Unten und spiegelt sich die Irreversibilität der Zeit.
    Das Reproduzierte (das, was der Fall ist) ist nicht das Original. Aber wird dieser Sachverhalt nicht dadurch verstellt, daß wir das Original bereits als Kopie seiner Kopie wahrnehmen? Ist nicht die ganze Natur die Kopie einer Kopie, die wir inzwischen für das Original halten, weil wir die Differenz nicht mehr erkennen?
    „Was du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein“: Gründet die Anwendung dieses Satzes auf die „Sündenvergebung“ im Sinne des Bußsakraments (und damit die ganze „Theologie hinter dem Rücken Gottes“) nicht in dieser Kopie-Kopie-Beziehung, zu der wir das Original nicht mehr kennen? Was ist das, was im Himmel zu lösen wäre?
    Hat die Struktur der Kopie-Kopie-Beziehung etwas mit dem Traum des Nebukadnezar, den Daniel, bevor er ihn deuten konnte, erst reproduzieren mußte, zu tun (oder mit der Beziehung des Mythos zur Idee der Offenbarung)?
    Wie hängt die Verklärung auf dem Berg Tabor, in die auch Moses und Elias mit einbezogen waren, mit der Dramatik der Apokalypse zusammen?

  • 17.1.1997

    Das Geld nimmt die Last der Arbeit aus den Waren.
    Hat Habermas‘ Konzept des „herrschaftsfreien Diskurses“ (des zwanglosen Zwangs des Arguments) etwas mit der Einstein’schen Relativitätstheorie zu tun?
    Gegen Pablo Richard ist daran festzuhalten, daß die sieben Gemeinden, die sieben Siegel, die sieben Posaunen (die sieben Donner) und die sieben Schalen sehr wohl zusammenhängen, aus einander sich entfalten. Mit der Lösung der sieben Siegel wurde der Weg freigemacht für Zeichen und Wunder (die Posaunen und die Schalen). Das Buch, das durch die sieben Siegel versiegelt ist, und dessen Öffnung eins ist mit der Lösung der sieben Siegel, ist der Himmel, der „wie eine Buchrolle“ sich aufrollt. Und haben die Posaunen und die Schalen nicht etwas mit dem Wasser und dem Feuer (dem Was und dem Wer), die im Namen des Himmels verborgen sind, zu tun? Der Thron, ist das nicht der gleiche Thron, von dem es heißt: Der Himmel ist sein Thron (und die Erde der Schemel seiner Füße)?
    Die Apokalypse ist antimystisch (sie verhält sich zur Mystik wie die Idee des Ewigen zum Überzeitlichen, oder wie Auferstehung der Toten zur Unsterblichkeit der Seele). Die Mystik ist die Bastion der Philosophie in der Theologie.
    Es gibt nur einen fallenden Fahrstuhl, aber müßte es nicht sieben fahrende Züge geben (oder sieben fallende Fahrstühle: die sieben Planeten; sind die Planetenbahnen, die Wege des Irrtums, nicht eigentlich Fallbewegungen, die nur durch ihr sinnloses Kreisen den Schein der Unendlichkeit erzeugen – vgl. die Bemerkung über Kopie und Original am 18.1.)?
    Die sieben Werke der Barmherzigkeit: Die innere Differenzierung der Zeit, die das Zeitkontinuum sprengt und das Rätsel der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit löst, gründet darin, daß die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit eine siebenfache ist. Damit ist auch die Beziehung von oben und unten eine siebenfache: die der Barmherzigkeit, die über das Gericht triumphiert.
    Nach der jüdischen Tradition gehört das Buch Daniel zu den Ketubim (den Hagiographien), ebenso wie das Buch Hiob und – innerhalb der fünf Rollen, die von den Büchern Hiob und Daniel eingerahmt werden – die Bücher Rut und Esther.
    Rut ist eine Tochter Moabs. Sie gehört zum Stammbaum Jesu (wie die Dirne Rahab, Tamar, die Schwiegertochter des Juda, und die „Frau des Urias“, die Matthäus ohne Namensnennung als Mutter Salomos mit aufführt). Hat Rut etwas mit der Sünde Bileams zu tun, Rahab mit dem gleichnamigen Meeresungeheuer und Tamar mit der am Problem der Levirats-Ehen exemplifizierten Idee der Auferstehung?

  • 10.10.1996

    Das Feindbild subsumiert die praktische Vernunft unter die transzendentale Logik, unter das System synthetischer Urteile apriori.
    In Deutschland ist nun mal das das Recht funktional, ohne inhaltliche Beziehung zur Idee der Gerechtigkeit. Durch den Titel Staatsanwalt ist hier der öffentliche Ankläger eine bloße Funktion: Anwalt des Staates. Nicht er erhebt und vertritt die Anklage, sondern durch ihn hindurch der Staat, der ihn zugleich von der moralischen Verantwortung entlastet, exkulpiert (das Organisationsprinzip der Eigentumsgesellschaft).
    Ist nicht die Kombination Petrus, Jakobus, Johannes wichtiger als die Kombination Petrus, Paulus, Johannes (die zur Konstruktion einer paulinischen Kirche führte, in der Reformation)? Blieb nicht auch der Protestantismus durch eine Art symbiotischer Feindschaft noch an die katholische Kirche gebunden? Etwas anderes ist die Kombination Rom, Jerusalem und Patmos.
    Wenn Jakobus an die zwölf Stämme in der Diaspora schreibt, nimmt er da nicht ausdrücklich Bezug auf die Zerstörung Jerusalems?
    Was haben die Träger gleicher Namen im Neuen Testament mit einander zu tun:
    – Johannes der Evangelist mit dem Täufer, auch mit Johannes Markus;
    – Jakobus der Sohn des Zebedäus mit dem „Herrenbruder“ (der ihm als Leiter der Gemeinde in Jerusalem folgte und dann zu den „drei Säulen“ gehörte);
    – Simon Petrus mit Simon von Cyrene und dem Namensgeber der Simonie;
    – der andere Judas (der Bruder des Jakobus, auch ein Herrenbruder?) mit dem Verräter?
    Haben die sieben Köpfe und zehn Hörner des Drachens und des Tieres etwas mit den siebzig Völkern zu tun?
    Zu dem Satz (auf der Rückseite des Buches von Pablo Richard): „Die Apokalypse entsteht in einer Zeit der Verfolgung“, bleibt zu fragen, ob nicht (und ggf. wie) die Verfolgungen mit dem Ereignis der Zerstörung Jerusalems zusammenhängen.
    Wäre nicht besser als das Beispiel des Lustmörders, auf das Horst-Eberhard Richter hinweist, das der Nazis, deren Taten eine Dimension erreichten, in der es möglich war, jeden öffentlichen Hinweis (auf Dinge, die ohnehin alle wußten) als Greuelpropaganda zu dementieren.
    Kann es sein, daß das Problem Birgit Hogefelds damit zusammenhängt, daß die eliminatorische Gewalt der Ächtung, der sie ausgesetzt ist, auf beiden Seiten aus der gleichen Quelle stammt: aus der „existentiellen“ Abwehr jeder Reflexion der deutschen Vergangenheit? Würde nicht diese Reflexion den symbiotischen Feindbild-Clinch, der für beide Seiten identitätsstiftend ist, von innen sprengen.
    Unterscheidet sich nicht dieser Prozeß von anderen RAF-Prozessen dadurch, daß hier erstmals (allerdings nur auf der Seite der Angeklagten und ihrer VerteidigerInnen) Ansätze zu erkennen sind, den Bann der Logik der Empörung (den Feindbild-Clinch) zu brechen?
    Wer blind und mechanisch den eigenen Rechtfertigungszwängen gehorcht, gleichsam sich selbst zu ihrem Objekt macht, betreibt, ohne es selbst zu merken, das Geschäft des Feindes: nicht nur, daß er unfähig wird, potentielle Verbündete vom wirklichen Feind (den er nicht mehr erkennt, da er ihn an seine reale Ohnmacht gemahnt, auf den er nur noch reagiert) zu unterscheiden. Er ernennt alle, die „gegen ihn“ sind, zu Feinden, um an ihnen dann (vor sich selbst und im Ghetto der Bekenntnisgemeinschaft, als deren Teil er sich begreift) gefahrlos seinen Mut unter Beweis stellen zu können. (Empörung macht blind. Der „Weltanschauungskrieg gegen den Bolschewismus“, der die Kirchen dem Faschismus als Verbündete zugeführt hat, war ein Vernichtungskrieg; er hat zugleich das Empörungs-Klima geschaffen, in dem die „Endlösung der Judenfrage“ in Angriff genommen werden konnte.)
    Das Feindbild begründet den dämonischen Geheimbereich, die zweideutige Beziehung der Politik zur Öffentlichkeit. In diesem Kontext wird das angebliche Nichtwissen der Nachkriegs-Deutschen, die die Nazizeit mit erlebt haben, verständlich. Vor allem: Es läßt sich nicht mehr damit begründen, die Nazis hätten ihre Verbrechen ja selber geheim gehalten. Diese Geheimhaltung war, was die Judenpolitik und die Konzentrationslager betraf, in jeder Hinsicht durchlässig, ein bewußt erzeugtes Klima des Gerüchts, das den doppelten Zweck verfolgte (und erfüllte): ein allgemeines Klima der Bedrohung zu schaffen, in dem jeder wußte, auf welche Seite er sich zu schlagen hatte, und so zugleich den Antisemitismus zu fördern. Es gab Dinge, die alle wußten, von der sie aber auch wußten: darüber darf man öffentlich nicht reden. Das Klima der allgemeinen Bedrohung war zugleich ein Klima der erzwungenen Komplizenschaft. – Hat das nicht die Nazizeit überlebt? Gibt es nicht auch heute wieder Dinge, die alle wissen, über die man aber nicht reden darf?
    Das Feindbild erfüllt diese entlastende Funktion: In den Feind braucht man sich nicht mehr hineinzuversetzen. Genau darin gründet seine identitäts- und gemeinschaftsstiftende Funktion. Es befreit von moralischen Hemmungen (von den Hemmungen des Gewissens), es begründet das pathologisch gute Gewissen, den gemeinsamen Wahn.
    Das identitäts- und gemeinschaftsstiftende Element des Feindbildes ist zugleich Teil einer symbiotischen Bindung an den Feind.
    Ist nicht die RAF zu sehr Ausdruck einer Krise, als daß sie schon als Teil ihrer Lösung sich begreifen ließe? Nur soviel ist wahr: Die Erkenntnis und Reflexion der Krise bedarf des Versuchs, die RAF zu verstehen, und das Feindbild RAF verschärft nur die Krise, anstatt zu ihrer Lösung beizutragen. Jedenfalls gehört der Versuch einer strafrechtlichen Lösung des RAF-Problems zu den Instrumenten der Krisen-Verschärfungs-Strategien.
    Hat nicht die Linke seit der Besetzung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung immer wieder die Neigung bewiesen, an den schwächsten Stellen der „Front“ den eigenen Mut zu erproben? Ist sie nicht freiwillig (oder auch im Bann einer Verblendung durch Empörung, die sie nicht mehr zu reflektieren vermochte) in die Diskriminierungsfallen hineingerannt?
    „Übervater“: Er hätte Freud lesen müssen („Totem und Tabu“): Der Vatermord vermag Brüderhorden zu begründen, Opfer- und Bekenntnisgemeinschaften, denen die blinde und bewußtlose Identifikation mit den verinnerlichten Vätern (Nationalismus als Sinnesimplikat jeder symbiotischen Feindbindung) als ihr Grundgesetz einbeschrieben ist, nicht aber den Akt der Befreiung.
    Skinhead-Logik: Wer aus jeder Kritik „den Feind“ heraushört, macht sich selbst blind, ohnmächtig und dumm und braucht dann zur Selbsterbauung Mutproben.
    „Es gibt nichts tierischeres als ein reines Gewissen“: Dieser Satz (der die Logik aller Opfer- und Bekenntnisgemeinschaften in ihrer Wurzel trifft) bezeugt die Sensibilität und Aktualität der Autorin, die ihn geschrieben hat: Er rechtfertigt nicht nur den Nobel-Preis, der ihr jetzt zuerkannt wurde; er ist ein Schlüssel zur Erkenntnis der Wurzeln des Faschismus.
    War das nicht der Fehler der 68er: daß sie die Schrecken des Faschismus (die Schrecken, die der Versuch, Faschisten zu verstehen, auslöste) mit Hilfe der „unbedingten Verurteilung“ (der Empörung, die dann das „reine Gewissen“ erzeugte) geglaubt hat, verdrängen zu können?
    Rührt nicht die Psychologie-Feindschaft daher, daß die hier geforderte Reflexion die geliebten Feindbilder zersetzt (Reflexion hat mit dem, was die Nazis „Wehrkraftzersetzung“ nannten, zu tun)?
    Es gibt so etwas wie einen logischen Feind-Clinch: Sie kommen (wie das Subjekt vom Objekt) von einander nicht mehr los. (Ist nicht das Identitätsproblem ein Problem der Einheit des Objekts und der Welt wie auch ein Problem des Feindbildes, das diese Einheit garantiert; und lag darin, in seiner gemeinschafts- und identitätsstiftenden und zugleich moralisch enthemmenden Funktion, nicht die zentrale Bedeutung des Antisemitismus für den deutschen Nationalsozialismus?)
    Wer bei H.-E. Richter nicht mehr hinhören kann – und da dürften sich in der Tat alle „Obrigkeiten“ mit den „Starrköpfen aus der RAF“ einig sein – will eigentlich garnicht wissen, was wirklich passiert ist, er wills nur entweder verurteilen oder rechtfertigen. Und genau diese Diskussion, die diese Alternative unterläuft, wäre notwendig. Dazu, scheint mir, liegen erste Ansätze sowohl in dem Beitrag von Birgit Hogefeld als auch in den Anmerkungen Horst-Eberhard Richters vor. Daß diese Diskussion vielleicht sogar zu allererst mit der Vergangenheit, die nicht vergehen will, zu tun hat, damit, daß Auschwitz, je weiter wir uns in der Zeit von ihm entfernen, uns immer näher rückt, …
    Kann es sein, daß die symbiotische Feindbindung einen für beide Seiten gemeinsamen Grund hat: die Vergangenheit nicht an sich heranzulassen?
    Hängt nicht die besondere Verführbarkeit des deutschen Volkes (zu der das Werk Daniel Jonah Goldhagens erneut einschlägiges Beweismaterial vorgelegt hat) mit einem auch hier in diesen Prozeß hineinwirkenden Staatsverständnis zusammen, ein Staatsverständnis, das unter anderem auch die Transformation einer Angeklagten zum Feind (und damit den Rückfall in die Logik des Vorurteils, die die Zumutung, in die Angeklagte sich hineinzuversetzen, apriori abwehrt und diesen grundhumanen Akt mit dem Stichwort Sympathisant grundsätzlich diskriminiert) zu erklären vermag?
    Feind/Sklave/Ausländer/Ware? Ist nicht der Feind (das Objekt der reflexionslosen Verurteilung) das Grundmodell des Objektbegriffs?
    Man muß begreifen, daß die „unbedingte Verurteilung“ (auch die des Faschismus) nicht nur ein Instrument gegen den Faschismus ist, sondern ebensosehr ein Erbe des Faschismus: Sie ist die Basis und der Kristallisationskern der deutschen Staatsmetaphysik.
    Es gibt nicht nur eine Psychologie des Vorurteils, es gibt auch eine Logik des Vorurteils; und wäre deren Analyse nicht vielleicht sogar wichtiger?
    Ein Luxus-Zug, der auf den Abgrund zurast:
    – Die Rechten verriegeln und bewachen die Türen (daß ja niemand hereinkommt) und schmeißen alle raus, die nicht hineingehören,
    – die Politiker und die Medien bemalen die Fenster und geben die Bilder als die Außenwelt aus, die sie unsichtbar machen,
    – die Gerichte leugnen die Bewegung des Zuges, die Außenwelt und den Abgrund und verurteilen jeden, der daran erinnert.
    Aber hat eigentlich wirklich jemand daran geglaubt, daß es helfen würde, in dem mit wachsender Geschwindigkeit dahinrasenden Kapitalismus-Express das Personal zu erschießen; käme es nicht vielmehr darauf an, seine Technik, die Beschleunigungsmechanismen (die nur als gemeinsame Mechanismen des Zuges und seiner Außenwelt sich begreifen lassen) zu studieren, um den Sturz in den Abgrund vielleicht doch im letzten Augenblick noch zu verhindern?
    Weshalb die Paranoia die Welt falsch abbildet: Dient nicht das Feindbild auch dazu, das Handeln des Feindes zur Rechtfertigung des eigenen Handelns zu mißbrauchen, zugleich aber die Folgen dieses Mißbrauchs (ihre Reflexion) auszublenden?

    Eine sprachlogische Anmerkung

    Es fällt auf, daß die Vertreter der Bundesanwaltschaft im Hogefeld-Prozeß den Begriff Bekennerschreiben konsequent vermeiden und durch „Selbstbezichtigungsschreiben“ ersetzen; mittlerweile hat dieser Begriff auch in der Berichterstattung der Presse Eingang gefunden. Es dürfte nicht uninteressant sein, die etwas wirre Logik dieser Sprachkonstruktion ein wenig genauer zu betrachten:
    – Im normalen Sprachgebrauch zeichnet sich der Begriff der Bezichtung durch seinen direkten, nach außen gerichteten Objektbezug aus: Bezichtigt wird immer ein anderer (im Falle der Verdächtigung, der Denunziation, der Anklage); hinzu kommt, daß bei einer bloßen Bezichtigung die Tatbeteiligung noch nicht feststeht, daß sie problematisch und noch nachzuweisen ist. Der reflexive Gebrauch des Begriffs findet sich eigentlich nur im Falle des begründeten Zweifels an der Wahrheit einer solchen „Selbstbezichtigung“ (z.B. wenn jemand sich selbst bezichtigt, um einen anderen zu decken): Bezichtigt wird einer, der die Tat leugnet, und das gilt auch für die „Selbstbezichtigung“, die stellvertretend für den wirklichen Täter dessen Tatbeteiligung leugnet.
    – Sprachlogisch ist der Begriff der Selbstbezichtigung auf den Fall des Bekenntnisses nicht anwendbar, ein „Selbstbezichtigungsschreiben“ ist kein Bekennerschreiben. – Teil der staatsanwaltlichen Logik, eines strategischen, instrumentalisierten Gebrauchs der Logik, erzwungen durch den Kontext des politischen Prozesses (in der Nazizeit reichte die Denunziation, eines Beweises bedurfte es dann nicht mehr)?
    – Adressat eines Bekennerschreibens ist die Öffentlichkeit, Adressat einer Selbstbezichtigung ist die Anklagebehörde; so wird die Tat durch die Sprache entpolitisiert und unter die Strafrechtslogik subsumiert (die Subsumtion unter die Strafrechtslogik wird mit Hilfe des Reflexionsverbots schon ins Vorfeld der Ermittlung und Anklage verlegt);
    – wer sich zu einer Tat bekennt, will die Gründe der Tat öffentlich machen; durch den Begriff der Selbstbezichtigung werden diese Gründe (und d.h. in diesem Falle: der politische Hintergrund und die politischen Motive der Tat) schon im vorhinein ausgeblendet;
    – Selbstbezichtigung ist so etwas wie eine Selbst-Denunziation, der Begriff bezieht den diskriminierenden Ton, der den kriminellen Charakter der Handlung ins Licht rückt, mit ein, er unterstellt als Absicht der Täter, was der Ankläger nur heraushört; die „Selbstbezichtigung“ macht die Tat noch verwerflicher, weil der sich selbst Bezichtigende sich zu etwas Verabscheuungswürdigem bekennt, damit aber sich selbst aus der Gemeinschaft der Verurteilenden ausschließt (nicht die Tat, sondern das Sich-Ausschließen aus dieser Gemeinschaft ist der zu sanktionierende Akt); oder auch: das Bekenntnis zu einer Tat greift die Rechtsordnung an, indem es intendiert, einer kriminellen Handlung den Schein des Normalen, des Erlaubten, einer ungestraft öffentlich zu machenden Handlung zu geben versucht (ein anderer, der nicht der Täter ist, würde dagegen durch die Denunziation ein öffentliches Interesse, deren Grenzen mittlerweile ohnehin die Staatsanwaltschaft definiert, wahrnehmen);
    – liegt es nicht in der Konsequenz dieser Logik, daß am Ende das Konstrukt der „Nestbeschmutzung“ (als ein Akt kollektiver „Selbstbezichtigung“) zu einem Strafrechtstatbestand und damit kriminalisiert wird?
    Ensteht hier nicht so etwas wie eine Schuldautomatik, die in der Logik der Verurteilung gründet? Es kommt nicht darauf an, daß man kein Unrecht tut, sondern allein darauf, daß man sich nicht dazu bekennt, sondern es unbedingt verurteilt und verabscheut; ob die, die es verurteilen, es möglicherweise selber tun, ist fast schon unerheblich.

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