Rosenstock-Huessy

  • 10.8.1995

    Die Welt konstituiert sich im Kontext von Herrschaft.
    Die Aufteilung der Welt durch die Logik der Medien in Fakten und Meinungen verwischt u.a. den Unterschied zwischen Skandal und Sensation, sie öffnet die Schleusen des Geschwätzes. Zugrunde liegt die Trennung von Ding und Sache, die am Ende dazu führt, daß die Sache aus dem Blick verschwindet.
    Der Weltbegriff läßt sich durch seine Kraft der Selbstlegitimation definieren. Vorausgesetzt ist die Neutralisierung des Subjekts zum abstrakten Selbst, zur abstrakten Identität: Diese Identität ist der Ort der Eins, an dem die Wasser sich sammeln, damit das Trockene sichtbar wird. Und dieses Sichtbarwerden des Trockenen ist die Selbstlegitimation, die Selbstbezeugung der Welt.
    Drückt das Bubersche „er rief“ (anstelle des sonst üblichen „er nannte“) nicht etwas von der katastrophischen Qualität des Schöpfungsberichts aus? Der Rufende ist der Einsame (der „Rufer in der Wüste“), das Rufen Ausdruck das des Verlangens nach einem, der antwortet.
    Die Opfertheologie leugnet die göttliche Barmherzigkeit, macht Gott zum Angeklagten. Nur im Kontext der Opfertheologie gibt es eine Theodizee.
    Der Verzicht auf die Reflexion der Form des Raumes löscht die Erinnerung an die Barmherzigkeit, sie entzieht der Reflexion von Herrschaft den Boden, sie ersetzt das Hören durch den Gehorsam: Sie zerstört den Grund der Sprache: den Gottesnamen. Ist nicht die ganze Geschichte des Christentums in diese Geschichte verstrickt?
    Zum theologischen Problem der Beweislogik: Die Theodizee macht Gott (durch das Mittel der Beweisumkehr) zu einem Objekt des Schuldverschubsystems (und die Reversibilität aller Richtungen im Raum macht die Form des Raumes zum Grund der Möglichkeit der Beweisumkehr: der „List der Vernunft“).
    Das Theodizeeproblem hat ebensowenig mit Gott zu tun wie der Antisemitismus mit den Juden.
    Die Idee der Wahrheit läßt sich ohne Erkenntniskritik nicht fassen: Sie schließt die Idee der Umkehr und den Begriff der Erlösung mit ein.
    Die Beweisumkehr versetzt den Ankläger in den Anklagezustand, sie macht das Recht zu einem Gnadenakt. Diese konformismuserzeugende Logik (die selbstlegitimatorische Logik des Weltbegriffs) liegt der Vertauschung von Genitiv und Dativ zugrunde.
    Die theophoren Namen im Hebräischen sind ein Hinweis darauf, daß die Sprache im Gottesnamen gründet. Erst die indoeuropäische Sprachlogik hat diesen Grund verstellt (blinder Fleck).
    Jesus hat nicht die Geldwechsler, sondern die Bänker aus dem Tempel vertrieben. Gehört nicht die Ezechiel-Geschichte über die Greuel im Tempel zur Vorgeschichte dieser neutestamentlichen Geschichte?
    Das Pfingstfest hat im Bilde der Feuerzungen das Feuer des Himmels mit der Sprache verbunden, sie zur Quelle der befreiten Sprache gemacht. Auf eine andere Beziehung der Zunge zum Feuer verweist der Jakobusbrief. (Die Beziehung des Feuers zum Raum ist ein Bild der Beziehung der Sprache zum Raum.)
    Der Kelch von Gethsemane: Ist er das Symbol für die Theologie (als Theologie hinter dem Rücken Gottes)? Und ist der Wille des Vaters die Theologie im Angesicht?
    Prophetie und Apokalypse – Buber und Scholem (Goodman-Thau: Zeitbruch, S. 161ff):
    – Prophetie wird durch den Weltbegriff zur Apokalypse;
    – Buber: Religion als Kuschelecke; Scholem: kein „Positivist“, sondern Wissenschaft als Schutz; mir waren die „rücksichtslosen“ Juden immer die liebsten (Rosenzweigs Briefwechsel mit Rosenstock-Huessey; Scholems Essay über Deutsche und Juden, seine Kritik des christlichen Erlösungsbegriffs);
    – Rosenzweig: Scholem ist dort, wo wir hinwollen (in einem Brief);
    – Thieme: Hitler war nicht der Antichrist, wohl aber die Generalprobe;
    – auch die Apokalypse steht unter Levinas‘ Bemerkung zum Indikativ (Gott korrigiert das Mißverständnis des Jonas);
    – nicht das Weltgericht Hegels ist das Jüngste Gericht, sondern das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht;
    – postapokalyptische Gestalten: Jonas (Tobias, in dem das Buch Jonas zurückgenommen wird, ist kein kanonisches Buch) und Maria Magdalena.
    Apokalypse kein Angstmacher, sondern ein Mittel der Angstbearbeitung.
    Zu Scholems Apokalyptik: Das „rabbinische“ Wort, wonach, wenn der Messias kommt, eine geringfügige Veränderung die Welt erlöst, stammt von Scholem.
    „Der Chassidismus ist das beste Beispiel dafür, daß das Leben die Lehre bestimmt, und nicht die Lehre das Leben, wie Scholem es wahrhaben will.“ (S. 168) – Ist das wirklich eine Alternative? Verhalten sich nicht Leben und Lehre wie Finsternis und Licht: Die Lehre bringt Licht ins Leben, aber das Leben ist die nach dem Licht verlangende, es insoweit definierende Finsternis („… der ich das Licht bilde und schaffe die Finsternis“ – Jes 457)? Der brennende Dornbusch ist das Paradigma meines Faschismus-Studiums: das brennende Innere der Profangeschichte ist der Ort der Selbstoffenbarung Gottes. Ist nicht das Licht, das in der Auseinandersetzung mit der Finsternis (mit der Welt) sich bildet, immer neu und zugleich das Medium der Tradition?
    Die Welt ist der Inbegriff des Seins für Andere und des Andersseins: Korrelat der Herrschaftsgeschichte, und so ist es der Inbegriff der Finsternis, der die Tradition immer neu abgewonnen werden muß.

  • 28.04.93

    Wenn die Mathematiker des 16. Jahrhunderts vom „natürlichen Licht“ des Verstandes sprechen, dann meinten sie das „Licht“ der Mathematik.
    Der Punkt ist die Grenze einer Geraden, die Gerade die Grenze einer Fläche und die Fläche die Grenze eines Körpers. Trennt der Körper das Innere vom Äußeren? Aber was ist dann das „Innere“?
    Der Nenner und das Gleichnamig-Machen: Zerstörung des Namens (der benennenden Kraft der Sprache) durch die Form der Anschauung, oder der gemeinsame mathematische Ursprung des Objektbegriffs und des Identitätsprinzips.
    Plus und Minus in der Mathematik: Die Null gibt es real (als Ergebnis) nur im Bereich der Addition und Subtraktion, dann (als Operator) wieder beim Potenzieren. Die Null ist in beiden Fällen die Grenze von Plus und Minus (ähnlich wie auch der Punkt, die Gerade, die Fläche und der Körper Grenzen sind).
    Sind nicht die imaginären Zahlen ein Produkt der analytischen Geometrie?
    Die Beziehung der Kopula (des „Seins“) zum Gleichheitszeichen ist der Grund der Beziehung des Begriffs zur Mathematik: der Usurpation der benennenden Kraft der Sprache durch die Funktion des Nenners (der Verschlingung der Finalursachen durchs Kausalprinzip und der Zerstörung der begründenden und argumentierenden Kraft der Sprache; Verhexung der Logik und Einlaß der Gewalt, letztlich des Gewaltmonopols des Staates, in die Sprache: Produkt der idealisierenden Gewalt des Raumes).
    „Unseren täglichen Hunger gib uns heute.“ (Anders, II, S. 16) Der anwachsende Reichtum ist eine Funktion der potenzierten Bedürfnisse, der Bedarfsgüter mit eigenen Bedürfnissen (bedürfniserzeugenden Bedürfnissen), wie Auto, Wohnung, Haus u.ä..
    Ist die dritte Leugnung die Sünde wider den Heiligen Geist (deshalb die Selbstverfluchung)? Beziehen sich die Sünden wider den Vater und den Sohn auf die erste und zweite Leugnung?
    Zur Rekonstruktion des Weltuntergangs: Vor hundert Jahren gab es den Geheimrat, heute gibt es den Geheimdienst.
    Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und der Sieg des Kapitalismus (der „freien Marktwirtschaft“) gründet nicht nur in Taten und Unterlassungen, sondern vorab im Prinzip des Nicht-erwischt-Werdens. Die Kompetenz des Kapitalismus bei der Verwertung der Ressource Feigenblatt war größer, sie ist durch die kostenlose Lieferung eines Sündenbocks, auf den man alles abwälzen kann, erheblich gesteigert worden. Ist hier wirklich eine Situation entstanden, der die Theorie nicht mehr gewachsen ist (Habermas: Neue Unübersichtlichkeit)?
    Christliche Zoologie: Seht, ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe; deshalb seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben.
    Hatte die Schelersche „Gesamtperson“ nicht doch etwas mit Behemot zu tun, dem „Gesamttier“?
    Wie verhalten sich die Begriffe Subjekt und Person: Das Subjekt ist das Korrelat des philosophischen, die Person das des politischen Weltbegriffs. Das Subjekt ist der Grund der Fähigkeit der Begriffsbildung, die Person Grund der Fähigkeit, die eigenen Taten zu verantworten.
    War nicht Sokrates der philosophisch neutralisierte Held, sein Tod das Opfer der Philosophie an die Polis, und so die Geburt der Person? Nicht zufällig entspringt hier die philosophische Unsterblichkeitslehre.
    Zur Geschichte der Scham: Heute ist die Welt, die einmal das Siegel des Ursprungs der Scham war, selber das letzte Objekt der Scham geworden. Subjekt-Objekt der Erkenntnis der Nackheit ist die Welt.
    Es genügt heute nicht mehr, nur über Bäume zu reden. Heute müssen wir über Astronomie und über den Stand der naturwissenschaftlichen Aufklärung insgesamt reden. Und wenn es dann wieder notwendig wird, über Bäume zu reden, dann über die Geschichte und die Geschichte der Beziehung des Baumes der Erkenntnis und des Baums des Lebens.
    Rosenzweigs Wort an die Adresse Eugen Rosenstocks: Vermanschen Sie die Symbole nicht, trifft heute die gesamte Theologie.
    Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet: Gilt das auch für das Richten eines Hauses?
    Ist Kanaan ein stammesgeschichtlicher, ein politischer oder ein gesellschaftlicher Name („Händler“)? Und wer waren die Philister?
    – Gen 918: Ham ist der Vater Kanaans.
    – 925: Und er sprach: Verflucht sei Kanaan. Der niedrigste Knecht sei er seinen Brüdern.
    – 106: Die Söhne Hams sind Kusch, Mizrajim, Put und Kanaan.
    – 1015ff: Kanaan zeugte Sidon, seinen Erstgeborenen, und Het, ferner die Jebusiter, die Amoriter, die Girgaschiter, die Hiwiter, die Arkiter, die Siniter, die Arwaditer, die Zemariter und die Hamatiter.
    Nach Gen 1014 zeugte Mizrajim (auch ein Sohn Hams) u.a. die Kasluhiter, von denen die Philister abstammen.

  • 09.01.93

    Hängt der Name des Pharao („das große Haus“?) mit dem gesellschaftlichen Begriffsfeld Haus (domus, dominus) zusammen; und gehört der Name des Sklavenhauses dazu?
    Zu Franz Rosenzweigs Bemerkung über Eugen Rosenstock: Ist nicht das Christentum generell die systematische Vermantschung der Symbole, notwendig im Kontext des projektiven Bibellesens, die den biblischen Text insgesamt zu einer erbaulichen Soße zusammenfließen läßt.
    Ist das Christentum nicht vorgebildet in der Geschichte Kains: mit dem zurückgewiesenen Opfer und dem daraus erfolgenden Brudermord am Anfang, dem „Bin ich denn der Hüter meines Bruders“, der anschließenden Stadtgründung und Kulturentwicklung, und schließlich mit Lamech am Ende. Welche Bedeutung haben hier die Parallelen und Differenzen der Geschlechterfolge Kains zu der des Set? Und was hat es mit dem Kainszeichen auf sich, und wer sind Ada und Zilla?
    Set ist nach Kain geboren (als Abel redivivus), aber Kenan, der den Stammbaum Kains im Stammbaum Sets eröffnet, ist sein Enkel (der Sohn seines Sohnes Enosch, Menschlein: Klein-Adams). Und Kain gründet eine Stadt, die er nach seinem Sohne Henoch nennt, Henoch aber, als Urenkel des Kenan (die Folge Henoch-Irad-Mehujael wird umgekehrt in Mahalalel-Jered-Henoch, danach kommen dann Metuschael/Metuschelach und Lamech), „war seinen Weg mit Gott gegangen, dann aber war er nicht mehr da; denn Gott hatte ihn aufgenommen“. Der kainitische Lamech nahm sich zwei Frauen, Ada und Zilla, und zeugte Jabal und Jubal, sowie Tubal-Kajin und Naama, der setische Lamech zeugte Noach.
    Ist nicht Metz‘ Theologie der Welt eine Konsequenz aus dem undurchschauten kainitischen Christentum (Folge der Verwechslung der göttlichen Verheißungen mit der Welt?
    Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit (Begriff der Kritik): Gibt es eine selbstreferentielle Anwendung des Urteils auf die Urteilsform? Das Schwert, das die Wunde schlägt, heilt sie auch?

  • 26.06.91

    Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: Franz Rosenzweig, Existenzielles Denken und gelebte Bewährung, Freiburg/München 1991:
    – „Existentielles Denken“ apriori falsch; aus der einen Bemerkung über Heidegger nach dem Davoser Gespräch läßt sich das nicht ableiten, ohne den Ernst des „Stern“ zu desavouieren, ihn dem Jargon der Eigentlichkeit unterzuordnen;
    – ebenso „gelebte Bewährung“: bei Franz Rosenzweig geht es um die Bewährung der Wahrheit, die den Weg ins Leben eröffnet; gelebte Bewährung: er hat sich bewährt, ihm wird die Reststrafe erlassen?
    Als ich den „Hinweis“ schrieb (mit dem ich überhaupt nicht zufrieden war), habe ich nur dunkel geahnt, worauf ich mich da eingelassen hatte. Mir war nur eines unzweifelhaft klar: hier war die einzige theistische Philosophie, die dem Anspruch des Stands der Aufklärung standhielt. Benjamins Wort über R., er habe es vermocht, „die Tradition auf dem eigenen Rücken zu befördern, anstatt sie seßhaft zu verwalten“, war mir schlicht einleuchtend. Aber es hat mir den Zugang zu diesem doch sehr spröden und unzugänglichen Werk nicht erleichtert. Hinzu kam, daß mir sehr früh klar war, daß eine unmittelbare Rezeption nach Auschwitz nicht mehr (und wahrscheinlich auch vorher nicht) möglich war. Dieses Buch war (schon vor dem Eintritt der Katastrophe) eine jüdische Antwort auf den Antisemitismus; es von der Opfer- auf die Täterseite herüberzubringen, erschien mir (auch angesichts meiner Erfahrungen mit der Theologie) zwingend notwendig, aber auch fast unmöglich. Den leichteren Weg der existentiellen Adaptation mochte und konnte ich nicht gehen (vor R. hatte ich Adorno gelesen, über den ich an Walter Benjamin und dann an R. geraten bin).
    Der Fall Rosenstock ist für mich eigentlich die rätselhafteste (wenn nicht die peinlichste) Geschichte in meiner Beziehung zu Rosenzweig: Ich habe Eugen Rosenstock-Huessy noch in Münster anläßlich einer Gastvorlesung in den fünfziger Jahren gehört, habe es dann aber, nach dem, was ich von ihm an wilden Spekulationen über Rosenzweig (so meine Erinnerung) zu hören bekam, vorgezogen, ihn nicht auf sein Verhältnis zu Rosenzweig anzusprechen. – Ich habe übrigens den Briefwechsel Rosenzweig-Rosenstock nie als einen Beitrag zum „jüdisch-christlichen Dialog“ verstanden, sondern, soweit er Rosenstocks Beitrag betrifft, als eine wenig interessante Privatangelegenheit.
    R.’s Sprachphilosophie ist Ergebnis, Resultat seiner Kritik der Philosophie des Begriffs, auf die seine Kritik des „All der Philosophie“ abzielt. Hier findet die Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Prophetie nach dem Ende der Geschichte der Philosophie erstmals ihre Stelle (unterschiedliche Stellung von Sprache und Begriff zum Objekt, Kritik des Wissens – vgl. hierzu Benjamins theologische Formulierung dieser Kritik im „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ -, unterschiedliche „Aggregatzustände“ der Erkenntnis).
    Was ist „unvordenkliche Existenz“ (S. 30)? – Wer Adorno gelesen hat, weiß, daß der Begriff der Existenz aus dem Idealismus nicht herausführt, vielmehr in ihm (sowohl bei Kant wie auch bei Hegel) seinen präzise bestimmbaren Stellenwert hat; Existenz ist eine idealistische Kategorie. Was Rosenzweig anspricht (ich mit Vor- und Zunamen, nicht das Ich mit seinem Palmenzweig), ist eigentlich nur im Rahmen seiner Sprachphilosophie, im Zusammenhang mit der erkenntniskritischen Rehabilitierung des Namens (der Name ist nicht Schall und Rauch) gegen den von der Philosophie sonst nicht abzutrennenden Bann des Begriffs (der Subsumtions- wie der dialektischen Logik) zu verstehen, d.h. eher vor dem Hintergrund von Benjamins erkenntniskritischer Vorrede zum „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, als im Kontext der Fundamentalontologie Heideggers, gegen die Rosenzweigs Hinweis auf die „verandernde Kraft des Seins“ (im „Neuen Denken“) immer noch das entscheidende Argument liefert.
    Das „ich mit Vor- und Zunamen“ ist übrigens nicht die „Person“, deren Begriff aus der lateinischen Theologie (Tertullian) stammt und heute zu einer verwaltungstechnischen Kategorie geworden ist. Die Differenz ist minimal, fast nicht mehr zu bestimmen, aber zugleich eine ums Ganze: Aufhebung der Differenz zwischen mir und den anderen, Resultat und Grund der Instrumentalisierung des Subjekts, Angleichung des Subjekts ans vergegenständlichte Objekt. Nicht zufällig definiert die Person das Subjekt der Schuld; Grund der Zurechenbarkeit. In der Theologie (zuerst in der Trinitätslehre) bezeichnet die Einführung des Personbegriffs den Ursprungspunkt des apologetischen Denkens, des Theodizee-Zwangs: Der Personbegriff setzt die Menschen und Gott unter Rechtfertigungszwang, gleichsam unter ständigen Anklagedruck. Er ist so nur mit einer Opfertheologie zu begründen, in der am Ende die Gottesidee selber untergeht.
    Kann man die Stellung des Islam aus dem R.schen System herauslösen (S. 36), ohne das System selbst zu zerstören? Wird es nicht so wieder zu dem, was es doch um keinen Preis sein will: zur Religionsphilosophie, zur Weltanschauung?
    Auf andere Weise ist dann freilich doch das „System zu zerstören“ – um es zu retten: Nach Auschwitz (und im Kontext einer Kritik des Herrendenkens in ihrem Kern: in der Geschichte der naturwissenschaftlichen Aufklärung) haben sich die elliptischen Zentren so verlagert, daß das System nur über eine Neukonstruktion zu retten ist. Die bloße Konservierung, die nützlich ist zum Verständnis, vergißt das Beste, trägt bei zur Zerstörung.
    Franz Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ ist auch ein Genie- und Gewaltstreich. Und genau von diesem Bann wäre es zu befreien. (Vgl. dazu auch die Bemerkungen Scholems zum Stern.)
    Bei Heidegger ist von der Philosophie nur der autoritäre Gestus übriggeblieben, und dessen Begründung und Erhaltung dient die gesamte Fundamentalontologie. Die strategische und taktische Absicherung dieses Gestus ist ihr einziger Inhalt.
    Meine Intention ist der des Historikers genau entgegengesetzt: mir geht es nicht um die Vergegenständlichung der Vergangenheit, sondern um ihre Entgegenständlichung: um das Eingedenken, um die Erinnerung, darum, auch in den fremdesten und chockierendsten Dingen noch meine eigene Geschichte zu erkennen. Was ich in mir selber aufarbeiten muß, steckt in dieser Vergangenheit.
    Der raf ins Album: Die terroristischen Aktionen haben die ihrer Absicht genau entgegengesetzten Wirkungen; sie exkulpieren die Strukturen und Handlungen, die sie angreifen. So, wie nach den Morden an der Startbahn alles, was vorher passiert ist, vergeben und vergessen war. D.h. mit in Rechnung zu stellen ist immer die antiaufklärerische Wirkung, die Tatsache, daß im Rahmen des Schuldverschubsystems die andere Seite am stärkeren Hebel sitzt. Der Terrorismus macht die Charaktermasken des Bestehenden zu Opfern, und damit unangreifbar.

  • 11.11.89

    Zur Unsterblichkeit der Seele:
    – Rosenstock-Huessy macht darauf aufmerksam, daß Zeit und Raum sich dadurch unterscheiden, daß, während beim Raum zuerst das Ganze wahrgenommen werde, bei der Zeit nur der jeweils einzelne Moment; es gibt keine Anschauung der Zeit im ganzen.
    – Das Ganze des Raums ist aber zeitlich affiziert (durch den Zusammenhang mit dem Trägheitsgesetz an die Vergangenheitsform gebunden); d.h. soweit der Raum als Form der sinnlichen Anschauung verstanden werden muß, versetzt er die ganze sinnliche Welt ins Vergangene, abstrahiert er von der sinnlichen Welt. Der Raum als Grund und Medium der Vergegenständlichung, Entfremdung (die in ihm selbst im Verhältnis der Dimensionen sich ausdrückt) ist vom Ursprung her bereits jene hegemoniale Gewalt, die auch die eigenen Konstituentien nicht unberührt läßt: sie verändert und entfremdet. Der Raum entspringt in der Trennung von Raum und Zeit, die selbst nur möglich ist durch Verräumlichung der Zeit.
    – Das Subjekt (für das die Vergangenheit Vergangenheit ist), steht gleichsam über der Vergangenheit; auch die Erinnerung hebt die Vergangenheit nicht auf.
    – Aber wenn es eine Unsterblichkeit der Seele gibt (und das wäre mehr als nur eine Unsterblichkeit der Seele), ist ihr Subjekt nicht das transzendentale, die Wissenschaft begründende Subjekt, sondern umgekehrt: das Subjekt des Wissens ist – wie das Wissen selbst – endlich und sterblich. Erst einer Erkenntnis, die die ganze Last der Schuld (die heute unendlich scheint wie der unendliche Raum) auf sich nimmt, sie umzuwälzen vermag (Nachfolge), gilt das Versprechen der Unsterblichkeit.
    – Alles Wissen ist kraft seiner Beziehung zu Vergangenem von jenem Bereich grundsätzlich getrennt, in dem Unsterblichkeit überhaupt sich denken läßt. Erst die Umkehrung dieser Beziehung (erst Versöhnung, der die Erinnerung nur vorarbeitet) rührt an den Grund der Unsterblichkeit. („Richtet nicht …“, „Was ihr dem Geringsten …“)
    – Es gibt keine Erbsünde (diese Vorstellung gehört zu den Gründen des Rassismus und ist im Rahmen einer Theologie nach Auschwitz aufzuarbeiten), wohl eine Erbschuld (die sich dann allerdings jeder einzelne als Erbsünde zurechnen lassen muß); und deren Last, die auf den Schultern aller ruht, wird immer größer; sie wächst im historischen Prozeß, in der Geschichte der Auseinandersetzung mit der Natur (das Telos des „Sündenfalls“ ist heute absehbar, es liegt greifbar vor Augen). Heute gibt es nichts mehr, für das uns nicht die Verantwortung zugewachsen wäre. Und jedes Bewußtsein, das dieser Verantwortung sich nicht stellt (oder sich ihr entzieht), ist Ideologie, vergrößert die Last der Schuld. – Das – und nicht die Opfertheologie, nicht die Lehre vom stellvertretenden Leiden, die eine blasphemische Gottesvorstellung als Grundlage und zur Folge hat – ist die Wahrheit der Idee einer Nachfolge Christi. Von hier aus wäre die ganze Sakramentenlehre (die genau das einmal ausdrückte) zu überprüfen.
    Wer die Lehre von der Nachfolge für unerträglich hält, braucht einen Sündenbock.

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