Scheler

  • 17.09.92

    Alles war wüst und leer, Finsternis über dem Abgrund, der Geist Gottes über den Wassern: Ist das nicht der Zustand, in den das Inertialsystem das Geschaffene zurücktransformiert? Und war der Anfang eine angesichtslose Katastrophe, in der das Licht des ersten Schöpfungstages den Beginn und die Erweckung des Antlitzes bezeichnet?
    Ist die Übersetzung „Sende aus deinen Geist, und du wirst das Antlitz der Erde erneuern“ korrekt; worauf bezieht sich dann das „Erneuern“?
    Ist nicht der Ausdruck „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ deshalb unverständlich geworden (vgl. Goody, S. 81), weil die Christen nur die andere Seite dieses Satzes interessiert und verstehen: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“
    Der Kulturfortschritt liegt in der Linie des Kain, allerdings mit dem Ergebnis, daß am Ende Lamech nicht mehr siebenfach, sondern siebenundsiebzigfach sich rächt (wogegen Jesus die siebenundsiebzigfache Vergebung setzt). In welcher Beziehung steht dann der Stammbaum Sets zu dem des Kain?
    Kain 1 Set 0912 Jahre
    Henoch 2 Enosch 0815 Jahre
    Irad 3 Kenan 1905 Jahre
    Mehujael 4 Mahalalel 4910 Jahre
    Metuschael 5 Jered 3895 Jahre
    Lamech 6 Henoch 2962 Jahre
    Jubal/Tubal-Kajin 7 Metuschelach 5969 Jahre
    Lamech 6 777 Jahre
    Noach 7
    Welche Verschiebung würde sich beim Vergleich mit dem Sechstagewerk ergeben (ein Tag wie tausend Jahre)?
    Ist nicht Schelers Frage „Was ist der Mensch“ obszön? Vor allem aber: Warum hat das niemand bemerkt?
    Drückt nicht im heute sogenannten Umweltbewußtsein, in den Umweltproblemen, eine konkretistische Variante der Wahrheit sich aus: der unbegriffene Weltbegriff? Ursprung des Weltbegriffs: „Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren, und sie schämten sich“. Das der Scham zugrundeliegende Bewußtsein, die Selbsterfahrung im Blick der anderen, ist der Kern des Weltbegriffs.
    Mit der subjektiven Form der äußeren Anschauung ist die Identifikation mit dem Aggressor (mit dem Blick des anderen) mitgesetzt; deshalb ist die kantische Philosophie keine Schulphilosophie mehr, sondern eine Weltphilosophie (wie dann wieder die Hegelsche). Seitdem gibt es keine Alternative mehr zum intenionalen Akt, zum Objektbegriff und zum historischen Objektivationsprozeß, ist der Begriff der Umkehr gegenstandslos geworden. So ist die Welt alternativlos zu allem, was der Fall ist, geworden.
    „Er ging hinaus und weinte bitterlich“: Das ist sehr viel ernster, eingreifender und erschüternder, als es klingt. Der Schutzpanzer, mit dem wir glauben, uns die Erfahrung vom Leibe halten zu können, ist so sehr mit Objektivität insgesamt verwachsen, daß es fast unmöglich geworden ist, ihn abzulegen; er ist zum Nessushemd zu geworden, in dem wir ersticken.
    Ich glaube, soviel Sündenböcke, wie wir bald brauchen werden, gibt’s garnicht.

  • 01.06.92

    Das Verhältnis von Begriff und Objekt läßt sich nicht ohne Umkehr auf das Verhältnis von Seele und Leib beziehen. Diese Beziehung (von Begriff und Objekt zu Seele und Leib) entspricht dem von Begriff und Namen.
    Gen 67: „Wegwischen will ich vom Antlitz des Ackers den Menschen, den ich schuf, vom Menschen bis zum Tier, bis zum Kriechgerege und bis zum Vogel des Himmels, denn mich leidet, daß ich sie machte.“ (Buber-Übersetzung) Kann es nicht sein, daß hier die erste Stufe des Objektivationsprozesses benannt wird: daß die Sintflut den Acker erst neutralisiert hat, daß mit den Menschen und den Tieren auch „das Antlitz des Ackers“ weggewischt wird? Vgl. auch Gen 723 und 817. Und wie verhält sich das Opfer Noahs (820) zum Opfer Abels? Und was ist mit 92: „Eure Furcht und euer Schrecken sei auf allem Wildlebenden der Erde und allem Vogel des Himmels, allem was auf dem Acker sich regt und allen Fischen des Meeres, in eure Hand sind sie gegeben.“
    Gehören Ps 10430 und Gen 67 zusammen? Ist die Erneuerung des Antlitzes der Erde die eschatologische Antwort auf die Sintflut? Vgl. hierzu auch den noachidischen Ursprung (und Zusammenhang) des neuen Herrschaftsbegriffs: des Fleischessens und der hierarchischen Strukturen in der Gesellschaft.
    1 Kön 1411 (zu Jerobeam), 164 (zu Bascha) und 2124 (zu Ahab): Die Leichen in der Stadt werden von den Hunden gefessen, die auf dem freien Feld von den Vögeln des Himmels.
    Neue Jerusalemer Bibel, Anmerkung zu Gen 66: Da reute es den Herrn. Dieses merkwürdige Verlangen katholischer Theologen seit Augustinus, sich Gott so vorzustellen, daß ihn niemals etwas gereut (hier siegt die Philosophie über die Prophetie: das Buch Jonas gibt die Antwort der Schrift darauf). Wer Reue nur als Ausdruck der Schwäche ansieht, als Eingeständnis, etwas falsch gemacht zu haben, macht die Unbekehrbarkeit zu einer Eigenschaft Gottes und wird selber unbekehrbar. Vgl. hierzu auch das Schicksal der Maria Magdalena in der kirchlichen Tradition (wer büßt, muß es schlimm getrieben haben; so wird die Umkehr diskriminiert). Wer die Reue von Gott ausschließt, schließt die Umkehr von Gott aus (und damit die Idee der Erlösung selber). So wurde die Theologie autoritär und paranoid, ein aus verstockter Subjektivität sich herleitender Denkzwang zur Eigenschaft Gottes.
    In der Geschichte von den Talenten, die der Herr den Knechten übergeben hat: ist die Kirche nicht zu jenem Knecht geworden, der sein Talent (im Dogma) nur vergraben hat (anstatt damit zu arbeiten)?
    Ist nicht schon der augustinische Hinweis, daß man das Wort, daß alles Fleisch Gott schauen wird, nicht wörtlich auffassen dürfe, antisemitisch? (Genesis-Kommentar, Band 2, S. 142)
    S. 145: Was hat der Raum mit dem Ungehorsam (mit der Ursünde des Ungehorsams) zu tun? Entscheidet sich die Frage über den Zusammenhang realer und gesellschaftlicher Naturkatastrophen nicht vielleicht doch zusammen mit der Frage nach Subjektivität und Objektivität des Raumes?
    Ebd.: Auch Augustinus kennt schon die Erinnerungsarbeit.
    S. 164: Christus war (gegen Augustinus) nicht nur „im Fleisch“ leidensfähig (welche andere Bedeutung hat sonst die „Übernahme der Sünde der Welt“ und die Angst in Gethsemane), aber er war (wegen der „Übernahme der Sünde der Welt“) nicht pathologisch.
    Liegt es nicht in der Konsequenz der augustinischen Lehre, daß der „freie Wille“ eigentlich nur einmal tätig war, in der Ursünde Adams? Ist das nicht der Preis für eine monarchisch instrumentierte Theologie, die alles zugleich exkulpieren und absolut schuldig sprechen muß? Keim der Selbstverfluchung: die augustinische Gnadenlehre.
    Die augustinische Dämonisierung der Lust präludiert die Subjektivierung der Empfindungen im Kontext der modernen Naturwissenschaften. Sie hat dem Herrendenken die Bahn frei gemacht. Ist nicht in dieser Geschichte der Subjektivierung (und Dämonisierung) der Lust die Geschichte der Inquisition, der Scheiterhaufen, der Hexenverfolgung vorgezeichnet; und gehört nicht auch die grandiose objektive Ironie hier herein, die in der pornokratischen Phase der Papstgeschichte und der pornographischen Phase der Moralgeschichte (in den Kompendien der kasuistischen Moraltheologie des Barock) sich manifestiert?
    Die Tatsache, daß Scheler heute fast vergessen ist, daß er nur noch als merkwürdig veraltet wahrgenommen wird (während alle Welt wie Scheler spricht), hängt zusammen mit dem theologischen Kern des Unaufgearbeiteten in unserer Beziehung zur Vergangenheit. Sie hängt zusammen mit jener ebenso merkwürdigen wie ebenfalls unaufgearbeiteten Beziehung der Phänomenologie insgesamt zum Katholizismus, sowohl was die Husserl-Tradition betrifft, als auch, was die Aktualität Schelers in der vorfaschistischen und die Heideggers in der nachfaschistischen Ära betrifft.

  • 22.05.92

    Wird nicht die Theologie des Augustinus erst dann durchsichtig, wenn man sein Konzept aus dem Referenzsystem der bürgerlichen Konkurrenz und Selbsterhaltung herausnimmt und auf das Problem der objektiven Erlösung der Welt bezieht, oder: wenn man die Gottesfurcht mit hereinnimmt, dazu dann allerdings auch den letzten Satz des Buches Jona. Ist nicht die Untersuchung über die Gnadenlehre von 397 ein nur leicht entstellter Traktat über die Gottesfurcht (Ausgangspunkt, daß man sich der Gnade nicht rühmen darf, mit der besonderen Problematik, daß das Thema an einen Bereich rührt, der einer „objektiven“ Darstellung nicht fähig ist)?
    Dämonische Züge gewinnt dieses augustinische Konzept aus den Prämissen, die eigentlich erst nach ihm sich durchgesetzt und verstärkt haben: aus dem Gemisch von Ohnmacht, Selbstmitleid, Konsumentenhaltung oder aus dem gleichen Grund, den Adorno einmal so zutreffend beschrieben hat: „Heute fühlen sich alle ungeliebt, weil keiner mehr zu lieben in der Lage ist“. Dieser Habitus der Ohnmacht im Entscheidenden, der zusammenhängt mit der Enttäuschung der Parusieerwartung, die Martin Werner als eine der Ursachen des Dogmatisierungsprozesses nachgewiesen hat. Er rührt her aus der Welterfahrung unter den Prämissen des Römischen Reiches. Zu untersuchen wäre generell, in welcher Gestalt und auf welchen Wegen der Weltbegriff in die Theologie sich einschmuggelt und zu welchen Folgen in der Theologie das geführt hat. Es ist die gleiche Ohnmacht, die im Weltbegriff sich vergegenständlicht und der die gleiche minimale Verschiebung sich verdankt, die dann die christliche Sexualmoral begründet und geformt hat, und zwar im Kontext jenes Problems, das in Begriffen wie iustificatio (Rechtfertigung oder Gerechtmachung?) und confessio (Problem der Bekenntnislogik) sich anzeigt.
    Am Ende wäre dann auch noch auf den postapokalyptischen Jonas zu verweisen, insbesondere auf den letzten Satzes des Buches Jona („Wie sollte ich mich nicht erbarmen …“). Und ist nicht in der Tat Jona die Kirche:
    – die von Anfang an sich geweigert hat, ihren prophetischen Auftrag an Ninive, „die große Stadt“, anzunehmen,
    – die nach Tarschisch fliehen wollte, ins Meer geworfen und vom Fisch gefressen wurde, in dessen Bauch sie ihren Lobgesang anstimmt, wieder ausgespien wird, nach erneutem Auftrag eine Tagesreise nach Ninive hereingeht und dort verkündet: „In vierzig Tagen wird Ninive zerstört“.
    Und dann kommt die ganze Nachgeschichte, Gottes Erbarmen und der Hader Jona’s mit Gott, den Gott mit seinem Hinweis auf sein Erbarmen beendet.
    Es geht beim Augustinus nicht um die Synthese von Gnade und Freiheit, und wer auf den manifesten Sinn der augustinischen Erörterungen sich einläßt, ist schon verloren.
    Sind nicht die Erörterungen des Augustinus in erster Linie Erörterungen zum Problem der Gottesfurcht, und werden sie nicht zwangsläufig mißverstanden, wenn man sie unter dem Stichwort Gnadenlehre liest?
    Das Problem des Augustinus scheint mir darin zu liegen, über das Nichtrühmen das „Richtet nicht …“ in die Gnadenlehre hereinzubringen.
    Kommt nicht das Problem auch dadurch, daß A. ein typologisches mit einem historischen Problem (oder ein prophetisches mit einem philosophischen) verwechselt?
    Die Ethik ist eine Richtschnur des Handelns; zu einem Element der Erkenntnis wird sie in dem Augenblick, in dem sie als Grund des moralischen Urteils nicht mehr verwendbar ist, d.h. wenn sie reflektiert und bewußt aufhört, Wertethik zu sein.
    Ich bin zweimal beim Versuch, eine Dissertation zu schreiben, gescheitert:
    – das erstemal an Max Schelers Wertethik, deren obszöne und blasphemische Strukturen herauszuarbeiten gewesen wären;
    – das zweitemal an einer Arbeit über Hume, an dessen radikalem Empirismus ich die Probleme des kantischen und hegelschen Erkenntnisbegriff noch einmal aufarbeiten wollte (Zusammenhang von Ich-Identität und Dingbegriff).
    An beiden bin ich gescheitert.
    Hat dieser Begriff des Scheiterns etwas mit dem Scheiterhaufen zu tun? Jedenfalls verdanke ich es Karl Jaspers, wenn ich das Scheitern nicht nur als etwas Negatives erfahren habe, wenngleich ich den gleichen Horror vor der jasperschen Heroisierung des Scheiterns habe. Mir scheint es käme eher darauf an, eine Theorie des Feuers aus dem Begriff des Scheiterns zu entwickeln, in dem Sinne, in dem Franz von Baader einmal die hegelsche Philosophie das Autodafe der bisherigen Philosophie genannt hat.
    Die Theorie des Feuers als Entfaltung einer Theorie der rettenden Kritik: Diese Theorie fände sich dann in der Theologie als Lehre vom Heiligen Geist wieder. Eines ihrer ersten Objekte wäre die verdinglichte Feuerlehre der vergangenen Theologie: die Lehre von der Hölle und vom Fegefeuer (vgl. Le Goff)
    Erinnerung an Karl Kraus, an „Die letzten Tage der Menschheit“, in denen er das Wiener Cafehaus zugleich als Logenplatz des Weltuntergangs und Produktionsstätte der Phrase, die die Welt in Brand gesetzt hat, vor Augen führt. Dieses Cafehaus definiert letztmals die Grenze von Fegefeuer und Hölle und markiert genau ihren historischen Ort. Und sind nicht „Die letzten Tage der Menschheit“ die Probe aufs Exempel jener Stelle im Jakobusbrief, die von der menschlichen Zunge handelt, und sind diese Zungen nicht wieder ein Exempel für die Feuerzungen im Pfingstereignis der Apostelgeschichte? Dazu das Jesus-Wort „Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu bringen, und ich wollte, es brennte schon“.
    Die Logik des Schreckens ist die Logik des Bekenntnisbegriffes. Sie hängt zusammen mit der Beziehung von Lachen und Schrecken, und das wäre zu entfalten.
    Das Bilderverbot richtet sich gegen die Trägheit des Vorstellens, somit auch gegen die Mathematik: Läßt sich deren Beziehung zur Sprache vielleicht einer Theorie des Feuers bestimmen?
    Ursprung und Folgen der Sexualmoral: Verwechseln heut nicht alle den Kampf mit den Windmühlen mit dem Kampf gegen den Drachen?

  • 09.04.92

    Wasser: das flüssige, unbestimmbare, objektlose Element (oder das reine Objekt), ein Objekt aus reiner, dingloser Eigenschaft.
    Das Benennen gibt es nur zusammen mit dem Scheiden, wobei das eine Mal das Getrennte, das Geschiedene benannt wird: Gott schied das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht, während das andere Mal das Instrument der Scheidung benannt: Gott machte eine Feste zur Scheidung der Wasser oberhalb der Feste von dem Wasser unterhalb der Feste, und Gott nannte die Feste Himmel. Das Wasser ist demnach das Nicht-Benannte, vielleicht Unbenennbare, das Element, in dem das Ungleichnamige gleichnamig gemacht werden kann, nur unterschieden nach oben und unten.
    Das Wasser ist das reine Schwere, das Maß des Gewichtes.
    Naturgrund von Herrschaft: Kann es sein, daß es gesellschaftliche Prozesse (gesellschaftliche Gesteinsverschiebungen) gibt, die an den Grund der Natur rühren?
    Wo ist die Stelle: Wenn sie schweigen würden, würden die Steine schreien?
    Ist nicht die Israel-Theologie (Marquardt u.a.) selber in Gefahr, zu einem Teil des Schuldverschubsystems zu werden? Und zwar durch den Versuch, am Privileg des Opfers teilzuhaben? Denn genau das ist uns als Deutschen und als Christen (als Tätern) untersagt. Wird nicht die Israel-Theologie so zu einem Teil der gleichen Exkulpations-Magie, die in die Katastrophe geführt hat? Oder ist die Israel-Theologie ein unmöglicher Versuch, der Wiedergutmachungspolitik gleichsam theologischen Rang zu verleihen, der ihr nicht zusteht (ohne daß dadurch ihre Notwendigkeit berührt würde). Das reale Votum für Israel ist sehr viel pragmatischer zu begründen (durch unsere Verstrickung in den Schuldzusammenhang, aus dem diese Situation entstanden ist). Nach dem, was wir getan haben, haben wir keine andere Möglichkeit.
    Das pragmatische Votum für Israel ist das Eine, das Andere aber wäre das, was Franz Rosenzweig einmal mit seiner Übersetzung der Schriftstelle „Zeit ist’s …“ ausgedrückt hat. Die Existenz Israels und die Gefahr der „Zernichtung der Lehre“ hängen möglicherweise zusammen, aber das kann nicht Gegenstand theologischer Spekulation sein.
    Man kann den Vorgang, dessen Zeitgenossen wir heute sind, als einen der Entgründung der Erde beschreiben: Eines seiner auffälligen Produkte ist der Zerfall des argumentativen Denkens, der Kraft der Begründung. Das rührt ans Antlitz der Erde, die Gott „gegründet“ hat (als er den Himmel „aufspannte“). Von dieser „gründenden“ Kraft ist, wie es scheint, nur der Abgrund übriggeblieben, als der die Welt sich manifestiert. Der Zerfall des argumentativen Denkens ist selber begründet in der Gewalt des logischen Zerfalls des Weltbegriffs. Diese entgründende Gewalt des Weltbegriffs produziert die Bekenntnissucht, den Grund der Exkulpationsmagie. Nicht Rechtfertigung, sondern Gerechtmachung; und wenn das heute aussichtslos ist, so drückt sich in diesem Sachverhalt präzise der Grund dessen aus, was in der Schrift Gottesfurcht heißt.
    Rationalität selber gründet heute in einer Beziehung zur Schuld, die auf den Komfort der Rechtfertigung verzichtet. Hoffnung drückt sich nur noch in den beiden Petrus-Stellen aus: in dem „er weinte bitterlich“ nach der dritten Leugnung und in der Übertragung der Vollmacht zu binden und zu lösen.
    Maria Magdalena, die von den sieben unreinen Geistern Befreite, ist die einzige, die die Grenze überschritten hat.
    Wie hängt der Bekenntnisbegriff mit der Verfälschung des achten Gebots zusammen? Ist nicht das formalisierte Bekenntnis, die Confessio, die tiefste Verletzung des achten Gebots?
    Die Unmöglichkeit der Hexen, gegenüber der Inquisition ihre Unschuld zu beweisen, entspricht der Etablierung des Trägheitsbegriffs in den Naturwissenschaften.
    Theologie heute ist vergleichbar der Archäologie: Unter den Trümmern der Geschichte die Hoffnungen der Toten wiedererwecken.
    Es hilft kein Hinausreden auf die Natur mehr: Wir selbst sind für unsern Charakter und für unser Gesicht verantwortlich. Ob wir dieser Verantwortung gerecht werden können, ist eine andere Frage.
    Zum Naturbegriff: Er enthält ein Stück säkularisierte Christologie. Die Natur nimmt die „Sünde der Welt“ auf sich, sie ist das vergöttlichte Opfer, sie spricht uns frei von Schuld, nimmt uns die Verantwortung ab. Eben damit aber hängt es zusammen, daß der Naturbegriff der christologischen Logik unterliegt, den dogmatischen Christus ersetzt. Ähnlich ist auch der Weltbegriff Produkt der Säkularisation einer theologischen Kategorie (so erscheint er dann auch bei Hegel), nämlich der des Gerichts. Durch Anpassung an die Welt werden wir zu Richtern über andere, das ist ihr „zivilisatorischer“ Effekt: die verworfenste Gestalt der Säkularisation. Hier ist der Punkt, an dem sich aufs genaueste zeigen läßt, was es mit dem Wort des Täufers „Sehet das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt auf sich nimmt“ auf sich hat. Und es ist gerade jener exkulpationsmagische Teil der theologischen Tradition des Christentums (jener Teil, aus dem der Bewußtseinskomfort sich herleitet, den wir nicht mehr missen möchten, auch wenn die Welt darüber zugrunde geht), der in diese Verworfenheit hineinführt. Die Heideggersche Philosophie ist der genaueste Ausdruck dieser Verworfenheit.
    Jedes Urteil hat durch die Kopula Anteil an der „verandernden Kraft des Seins“ (Rosenzweig).
    Schelers Rangordnung der Werte ist gleichsam Produkt einer fleischfressenden Philosophie, einer Philosophie, die am Opfer festhält und es zugleich verdrängt. Daher rührte die Nähe Schelers zum Katholizismus. Auch bei Heidegger sind die katholischen Ursprünge unverkennbar. Nur daß bei ihm der Grund der Verworfenheit als bewußtlose Selbstverfluchung dann erscheint. Es ist die Selbstverfluchung, die von der dritten Leugnung nicht zu trennen ist. Und darin liegt die besondere Bedeutung der französischen Heidegger-Rezeption: es ist die des gallischen Hahns (vgl. hierzu das geradzu prophetische Wort Heines).
    Wertphilosophie und Fundamentalontologie sind die Indizes der beiden Weltkriege, der Phasen der Selbstzerstörung der Welt. Wir leben in dem Trümmerfeld, das sie hinterlassen haben.
    Man wird davor warnen müssen, den Antisemitismus als eine Gesinnungsfrage zu behandeln. Es ist eine Strukturfrage, provozierend ausgedrückt: eine Frage der Logik. Kriterium ist die Fähigkeit der Reflexion der „Schuld der Welt“.
    Sind nicht in der Tat die Farben die Widerlegung der Vorstellung des unendlichen Raumes (und die letzte Erinnerung an die Lehre von der Auferstehung der Toten)? Farben als Taten und Leiden des Lichts: Es gibt morgendliche und abendliche Farben (Licht über Finsternis, Finsternis über Licht: Gelb und Blau). Und es gibt die Mischung dieser Farben (Grün) und die Konträrfarbe dazu (Rot, die Farbe des Gerichts, der Linken; das Blut, das zum Himmel schreit).
    Man muß einmal bemerkt haben, welche Katastrophen es auslösen kann, wenn Kinder erfahren, daß hinter ihrem Rücken über sie gerdet worden ist.
    Kephas, Petrus: Was ist hebräisch, griechisch oder Latein? – Haben Kephas und Kaiphas etwas miteinander zu tun?

  • 11.02.92

    Unterscheidung zwischen Ethik und Moral: Während die Ethik vor allem auf die Beurteilung (Bewertung) einer Handlung durch andere abstellt (vgl. Schelers Wertethik, in dessen Kontext das Subjekt nur als Objekt erscheint, und das nicht zufällig durch den Wertbegriff auf die „Person“ ähnlich wie das Schicksal auf sein Objekt bezieht), gründet die Moral in der Idee der Verantwortung, der Idee des selbstverantwortlichen moralischen Subjekts, der Autonomie. Damit hängt es zusammen, wenn die Sexualität und die Politik sich als die Brennpunkte der Moral erweisen (beiden ist die Maxime gemeinsam, daß ein Handeln nur als moralisch gelten darf, das sich auf andere niemals als nur als bloße Mittel, sondern immmer zugleich auch als Endzweck bezieht: das Intimste, Gegenstand der Scham, ist zugleich das Öffentlichste, das nicht zufällig seine eigene Geheimsphäre hat: den gesamten Bereich der Gewalt; hier konvergieren in der Tat Sexualität und Politik).
    In welchem Sinne im Personbegriff die Maske noch enthalten und wirksam ist, wird deutlich an der Schwierigkeit, die Identität der „drei Personen“ (der ersten, zweiten und dritten Person: Ich, Du und Es) zu bestimmen. Diese Identität ist nur durch das Reflexionsgesetz zu gewinnen (das Ich ist für das Du ein Du: und damit eigentlich ein Es, das sich, wie bei Heidegger die Uneigentlichkeit zur Eigentlichkeit, zum Ich aufspreizt), und d.h durch ein Gesetz, das das Ich von der Unterdrückung des Ich, von seiner Auslöschung, nicht mehr unterscheidet.

  • 20.01.91

    Die Übernahme der Schuld der Welt: das war das antiimperialistische Moment und zugleich das Moment des göttlichen Selbstbewußtseins im Leiden Jesu. Wie konnte das in eine christliche Reichsreligion integriert werden?
    Die historische Auseinandersetzung mit der Natur und der Kampf mit dem (gefesselten) Drachen: Überschreiten nicht Chemie und Atomphysik mutwillig eine Grenze? Woher kommt die St. Georgs-Legende? Wie hängt sie mit dem Michaels-Mythos zusammen?
    Hängen die Rätsel, die der Islam uns stellt, mit seinen nomadischen Wurzeln zusammen: vergleichbar ist die Fremdheit der Roma und Sinti. Gibt es auf dieser Stufe schon den Unterschied zwischen Händler und Dieb; gibt es hier das institutionalisierte Tauschprinzip und den „gerechten Lohn“ oder den „gerechten Preis“, die Äquivalenz von Lohnarbeit und Ware; ist der Islam in einem strukturellen Sinne (kraft theologischer Bindungen) vorkapitalistisch? Zusammenhang mit der Weigerung, in den Objektivationsprozeß einzutreten (aus einer Welt, die durch den Anblick Gottes definiert ist, herauszutreten, sie von außen – von hinten – zu betrachten)? Spielt in den latenten Haß auf den Islam (wie auch auf die „Zigeuner“) der Haß auf jene mit herein, die sich weigern, wie wir (die bürgerlichen Christen) schuldig zu werden?
    Die Attraktivität des Islam scheint aus der „Ergebung“ und der Schicksalsgläubigkeit herzurühren: sie enthebt das Subjekt der realen Verantwortung, exkulpiert es dadurch, daß, was es auch immer tut, vorherbestimmt ist und in jedem Falle dem Willen Gottes entspricht. Hier ist das pathologisch gute Gewissen vorgebildet, daß dann (nach Rezeption des islamischen Religionsverständnisses) unter christlichen Voraussetzungen erst vollends böse geworden ist.
    Der Islam kommt über den Widerspruch nicht hinweg, kann ihn nicht auflösen, daß die Ergebung in den Willen Gottes einen instrumentalisierten Gott zur Grundlage hat: Die Ergebung ist die falsche Konsequenz aus einer Religiosität, die glaubt, sich ganz im Angesicht Gottes zu bewegen, in Wahrheit jedoch auf einen vergegenständlichten Gott sich bezieht, dessen Vorstellung und Begriff gleichsam hinter seinem Rücken gebildet wurde. Der Islam ist eine Seins-Religion, eine Philosphie-Religion, sozusagen die Fundamentalontologie als Religion. Allahu akbar: Der einzige Allah ist in der Tat nur der Größte. Alle übrigen Bestimmungen stehen unverbunden nebeneinander.
    Kennt der Islam eigentlich das Opfer, die Versöhnung oder Erlösung, den Kult, oder nur die kultische Pilgerschaft und das rituelle Gebet? Fällt der Islam ohne Rest unter die Dialektik der Aufklärung?
    Im Elektromagnetismus und in den mikrophysikalischen Erscheinungen drückt sich die Gewalt des Inertialsystems aus; sie sind nicht einfach im Inertialsystem „gegeben“, sondern durch das Inertialsystem produziert. Wer das Geheimnis dieser Gewalt, das Geheimnis der Funktion und Bedeutung des Inertialsystems (im Zusammenhang mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit) löst, wird die Welt mit anderen Augen sehen. Er wird insbesondere begreifen, was es bedeutet, wenn es heißt, daß ihnen (sc. den ersten Menschen nach dem Sündenfall) die „Augen aufgingen“, und sie sahen, daß sie nackt waren (Nackheit als Folge des Falls).
    Schelers Konzept einer Rangordnung der Werte hing zusammen mit den hierarchischen Strukturen in den Verwaltungen und den Gehaltsstufen in den Angestellten-Tarifverträgen (letztlich an der militärischen Hierarchie); wie überhaupt der Wertbegriff das Moment der Masse im physikalischen Objekt widerspiegelt.
    Adornos Satz „das Ganze ist das Unwahre“ wird konkret in der Kritik des Natur- und des Weltbegriffs: er führt mitten in die Theolgoie.

  • 19.01.91

    Öffentlichkeit und Instrumentalisierung: Die Medien sind an einen Wahrheitsbegriff gebunden, der sich am Tatsachenbegriff orientiert; sie liefern nicht nur Material zur Urteilsbildung (d.h. Material für eine parteiische Sicht der Dinge), sondern formieren die Realität derart, daß eine andere als parteiische, urteilsbezogene Sicht der Dinge nicht mehr möglich ist. Das VIP-Prinzip ist den Medien nicht äußerlich. Letztlich läuft es darauf hinaus zu erkennen, wofür oder wogegen eine Meldung spricht, für welche Seite sie sich im Meinungskampf verwerten läßt; Meinungen aber sind an Personen (reale oder institutionelle, nach Scheler Gesamtpersonen) gebunden; die Personalisierung ist eine logische Konsequenz der Instrumentalisierung. Grundlage und inneres Gesetz der Öffentlichkeit ist das Freund-Feind-Denken, das insbesondere in Krisenzeiten (Ausnahmezustand) hervortritt (Zusammenhang von „Geschlossenheit“ und „Feindbild“). Öffentlichkeit ist zugleich die Voraussetzung und der Nährboden für die Wirksamkeit der Vorurteilsmechanismen; der Antisemitismus erweist sich hierbei als das Paradigma aller Vorurteile.
    Der Personbegriff leugnet das Göttliche, die beiden innerweltlichen Hypostasen der Gottesidee: den Armen, Fremden (im Anderen) und den Helfenden, den Verteidiger (in mir): das Gericht über die Welt (das Gericht über das Weltgericht, das der Arme für die Welt – und für mich – repräsentiert) und das Erbarmen. Der Personbegriff bezeichnet das apriorische Subjekt-Objekt der Welt, des Weltgerichts. Allah ist vor allem Person, die durch Schmeichelei und Unterwerfung vor der Paranoia geschützt werden soll, in die sie dadurch gerade hineingetrieben wird (nominalistischer Gottesbegriff Folge der Rezeption des islamischen Philosophie- und Wissenschaftsbegriffs, wie vorher der realistische eine Folge der Rezeption der griechischen Philosophie; beide vermittelt durch jüdische Verarbeitung: Philo und Maimonides).
    Wahrheit ist eine Kategorie der Praxis, nicht der Theorie:
    – Die reine Theorie, nämlich das Bild, ist das kurzgeschlossene Urteil, eigentlich das Todesurteil (Begründung des Bilderverbots, geschichtsphilosophischer Stellenwert des Porträts, Bedeutung der Gottes-, Welt- und Menschenbilder, Funktion des Fernsehens).
    – Aber die theoretische Kraft der (verändernden, umwälzenden) Praxis ist erst wiederzugewinnen, nachdem die praktische Dechiffrierung der Theorie gelungen ist. Wer an der Vorstellung einer Revolution festhält, ohne gleichzeitig die einer von der Praxis getrennten (unaufgeklärten) Theorie zu kritisieren, verrät beide.
    Theologisches Denken ist Denken mit den Ohren: Hier liegt die Gefahr der Verwechslung mit der Hörigkeit. Theologie ist jedoch hörendes, nicht höriges Denken.
    Mt. 1016: (Ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe, deshalb) seid klug wie die Schlangen (der Drache) und sanft wie die Tauben (der Heilige Geist): Erlösung des Chaos-Drachen durch den über den Wassern schwebenden (das Weltei ausbrütenden) Geist? Beziehung zur Schöpfungslehre?

  • 10.01.91

    Die Person ist Gegenstand von (Wert-)Urteilen: darin ist der Zusammenhang der Wertphilosophie mit dem Personalismus bei Scheler begründet. Als Urteilsobjekt aber kann die Person nicht „ich“ sagen (erst die – logisch nicht haltbare – Hypostase des „Ich“ kann zum Gegenstand gemacht werden: das idealistische Absolute).
    Ich und Du: Im Liebesbekenntnis wird der Geliebte als göttliches Du angesprochen; darauf antwortet er mit dem Schuldbekenntnis: Ich bin nur ein Mensch. So wird der Schuldzusammenhang aufgelöst: durch Ausbreitung dieser Liebe. – Das Christentum hat dieses Verhältnis auf die Beziehung zu Jesus tendentiell eingeschränkt und so dogmatisch verdinglicht (im christlichen Bekenntnis, in dem die Spuren dieses Verhältnisses noch zu erkennen sind: insbesondere in der Lehre von den zwei Naturen in Christus; das verdinglichte Bekenntnis ist dann zum Modell des politischen Zwangsbekenntnisses geworden – um den Preis der falschen Vergöttlichung des Staates (des falschen Gottessohns), der Hypostasierung des Staates als Prinzip der Anklage, der Stabilisierung des Herrendenkens und des ihm korrespondierenden Verhältnisses des Bewußtseins zur Objektivität, der Erhaltung des so unauflösbar gewordenen Schuldzusammenhangs). Die Ausbreitung durch Nachfolge (in der das Verhältnis von Liebes- und Schuldbekenntnis erlösende Kraft gewinnt) ist von den Kirchen seit je unterbunden worden. – Hierauf beziehen sich die Sätze Adornos: „Heute fühlen sich alle ungeliebt, weil keiner mehr zu lieben fähig ist“, und: „der Ankläger hat immer Unrecht“.
    Vor diesem Hintergrund ist die Physik ein Teil der Staatsphilosophie, und ihre Kritik ist ein notwendiges Moment der Kritik an der Selbsterhöhung des Subjekts (der „Empörung“), die stabilisiert und der Reflexion entzogen wird durch eine gleichsam mystische Partizipation an der richtenden Gewalt des Staates. Die Geschichte dieser „Empörung“ läßt sich ablesen an der Geschichte des Natur- und des Weltbegriffs (oder der Herrschaft des Trägheits- und des Tauschprinzips).
    Gibt es außer dem Natur- und Weltbegriff noch eine dritte Hypostase des Rosenzweigschen Begriffs des Alls (neben der Neutralisierung des Schöpfungs- und Erlösungsbegriffs durch den Natur- und Weltbegriff die des Offenbarungsbegriffs durch den Begriff der Wissenschaft)?
    Raum und Zeit werden nicht von außen an die Dinge herangetragen (oder die Dinge von außen in sie hereingebracht), sondern haften den Dingen an wie das Schneckenhaus der Schnecke. Jedenfalls ist das die mit dem Relativitätsprinzip verbundene Vorstellung. Das einzige Objekt, dessen Beziehung zu Raum und Zeit sich nicht unter diese Vorstellung bringen läßt, ist das Licht (Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit: niemand kann über seinen eigenen Schatten springen). Was bedeuten eigentlich das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit und die Identität von träger und schwerer Masse für den Stellenwert des Inertialsystems?
    Kabarett, Satire, Empörung oder der Genuß, Recht zu behalten: daher die Wirkungslosigkeit des Kabaretts? Lachen als Identifikation mit dem Aggressor (Lachen und Konstituierung des Inertialsystems)?
    Alle Religionen tragen heute museale Züge, sind anachronistisch. Gleichwohl gibt es keine Religionskriege mehr. Wenn Kriege so bezeichnet werden (vom Nordirland-Konflikt bis zur Golf-Krise), dann hat das real nur die Bedeutung, daß auch obsolet gewordene Religionen Stellungen des Bewußtseins zur Objektivität repräsentieren und damit Verhaltensweisen stabilisieren, die rationale Konfliktlösungen zumindest erschweren, wenn nicht ausschließen. Die Eröffnung und Begründung von Friedensmöglichkeiten muß die Selbstreflektion der durch religiöse Traditionen bedingten Blockaden von Konfliktlösungsstrategien mit einschließen (im Golf-Konlikt die kritische Selbstreflektion der drei Buch-Religionen).
    Ontologie, Wissenschaft und Sprachzerstörung, die „verandernde Kraft des Seins“: das Sein (die Kopula, der indikativische Satz, das apodiktische Urteil) nagelt das Objekt fest, macht es überhaupt erst zum Objekt: setzt es – durch Verwandlung in ein Objekt des Wissens – unter Narkose, durch Subsumtion unter die Vergangenheit (gewußt wird nur das Vergangene, und die Natur nur insoweit, als sie unter die Vergangenheitsform sich bringen läßt). Das Sein ist das sprachliche Äquivalent des Inertialsystems und des Tauschprinzips in der Wissenschaft: Es macht wie diese das Ungleichnamige gleichnamig, es zerstört die Sprache.
    Das heutige naturwissenschaftliche „Weltbild“ (das gegenständliche Korrelat eines an Reproduzierbarkeit und Intersubjektivität gebundenen Wahrheitsbegriffs, in dem das Subjekt nicht mehr vorkommt) zieht seine Teilhaber zwangsläufig in den Bann des Vergangenen mit herein. Insoweit ist es ebenso zwangsläufig atheistisch (und jeder Versuch, mit naturwissenschaftlicher Begründung eine Rehabilitierung der Religion zu betreiben, schändet die Religion). Grundlage einer Kritik der Naturwissenschaften ist die Idee des seligen Lebens, ihr Modell die Lehre von der Auferstehung der Toten, nicht die von der Unsterblichkeit der Seele: d.h. die Kritik der Naturwissenschaften verknüpft die Idee einer Resurrektion der Natur (aus dem Totenreich des Inertialsystems) mit der einer Resurrektion des Subjekts (der Befreiung, Erlösung vom Inbegriff und von der Hypostasierung der Selbsterhaltung: vom Bann der Identität und von der Idee des transzendentalen Subjekts).
    „Die Ablösung der Herrschaft über Menschen durch die gemeinschaftliche Verwaltung von Sachen“ wäre nur möglich, wenn sich beides wirklich voneinander trennen ließe (vgl. P. Bulthaup: Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften, S. 139). Die Vorstellung, beides ließe sich trennen, fällt hinter die Dialektik der Aufklärung zurück; sie resultiert aus dem undurchschauten Stellenwert der Naturwissenschaften, aus der unbegriffenen Stellung des naturwissenschaftlichen Bewußtseins zur Objektivität. Dazu paßt es, wenn P.B. in seinen Bemerkungen über die Offenbarungsreligion (S. 120ff) unbewußt in antisemitische Konstrukte hineingerät (er hätte vielleicht doch einmal die Propheten und Hermann Cohen lesen sollen).

  • 28.12.90

    Das Bekenntnissyndrom vollendet sich in der Wertphilosophie und im damit verbundenen Personalismus. Nicht zufällig ist Scheler einmal katholisch geworden, hat seine Philosophie in der Zeit zwischen den Weltkriegen eine bestimmte Form der philosophischen Adaptation des Katholizismus geprägt. Hier wurde die Spitze der Remythisiserung erreicht: der Punkt, an dem die Umkehr hätte erfolgen müssen. Die versäumte Umkehr fand dann ihren präzisesten Ausdruck im fundamentalontologischen Höllensturz, in dem insbesondere der Personalismus sich als nicht haltbar erwies und völlig einbrach (Geworfenheit des Daseins, seine Verfallenheit an das Man).
    Nach Scheler ist der Mensch als Person Gegenstand der Ethik. Seine „aktiv transzendenten Akte (Gesinnung, Wille, Handlung)“ unterliegen dem Werturteil: Deshalb ist die Person „Wertträger“ (vgl. N. Hartmann: Ethik, S. 227ff). Diesen objektiven Zusammenhang (der Werturteile) denunziert Heidegger später als den des Geredes. Als Person begreift das Subjekt sich selbst (und andere) als Objekt des Urteils anderer, es sieht sich selbst durch die Augen der anderen (als Gegenstand des Geredes). Im Zusammenbruch der Wertethik trat die Gemeinheit dann offen zutage, die die Wertethik (als Theorie der Urteile, die hinter dem Rücken der Betroffenen über sie gefällt werden) noch scheinbar harmlos vorbereitet und verbreitet hat. Die Instrumentalisierung der Wertethik ist der Faschismus (Vermeidung des offenen Gesprächs, Denunziation, Informationen und Urteile als Mittel der Intrige etc.: Inbegriff/System der Gemeinheit, in deren Konsequenz der Mord liegt). Person ist das vorbezeichnete Objekt des Rechts und der Verwaltung: bis hin zur Liquidierung.
    Person, Bekenntnis, Antisemitismus: Jedes Bekenntnis bekommt Gewicht erst dadurch, daß sich gleichsam die Person selbst in die Waagschale wirft; mit dem dohenden Hinweis: wer das Bekenntnis angreift, greift mich, die Person, an („Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“). So wird das Bekenntnis unwiderlegbar, aber um den Preis der Unbelehrbarkeit (vgl. Sartres Portrait eines Antisemiten).

  • 11.10.90

    Ein Situation beenden, in der die Menschen nur Zuschauer oder Opfer der Welt und ihrer eigenen Geschichte sind (die Opfer sind das Gericht über die Zuschauenden).

    Die Forderung, daß Denken, Handeln und Fühlen mit einander übereinstimmen müssen, daß glaubwürdig nur ist, wer selbst so handelt, wie er es als allgemeinverbindlich in Diskussionen und Gesprächen vertritt, ist nicht zu halten.

    Das Argument Max Schelers, daß auch der Wegweiser den Weg nicht geht, den er weist, greift sicher zu kurz und ist zynisch. Umgekehrt ist’s richtig: Die absolute Forderung ist zumindest im Bewußtsein zu halten. Wenn man sie nicht erfüllt und sogar in wesentlichen Punkten nicht erfüllen kann, so ist das selbstverständlich Grund des schlechten Gewissens, und das darf man nicht verdrängen; mit diesem schlechten Gewissen, mit dieser Schuld muß man leben; das Unvermögen, das Nicht-Können ist keine Entschuldigung: Das ist der Realgrund dessen, was in der Bibel Gottesfurcht heißt.

    Die andere Möglichkeit, die absolute Forderung zu ermäßigen, da man sie doch nicht erfüllen und mit dem daraus folgenden schlechten Gewissen nicht leben kann, führt mit Sicherheit in die Katastrophe. Sie ist keine. Wer das Bewußtsein von Schuld nicht erträgt, dem bleibt nur das des pathologisch gute Gewissen.

    Kosmologie, Angelologie und Eschatologie (Apokalyptik) sind Teile eines Ganzen, aus dem man kein Stück herausbrechen kann, ohne das Ganze zu zerstören; nach der kopernikanischen Wende wäre schon aus diesem Grunde eine Überarbeitung und Revision der christlichen Theologie notwendig gewesen. So tun, als ob man alles übrige beibehalten könnte, wenn die Elemente des eschatologisch-apokalyptischen Konstrukts nicht mehr zu halten sind, verrät nur, wie wenig ernst man die eigene Tradition, von der man zu leben vorgibt, nimmt. Die Kirchen verdanken ihr Überleben nur der von den Oberen geschickt genutzten Massenträgheit ihrer Anhänger, deren Bremsweg länger ist als die Bremskraft der Kritik, der Gewissensprüfung, der theologischen Selbstverständigung.

    Das Bekenntnis der andern fordert der, der den Bekenntnisinhalt selbst nicht glaubt, aber zur eigenen Absicherung (um es selbst glauben zu können) die Zustimmung möglichst aller fordert. Der Nichtzustimmende gilt als Ketzer, ihn trifft die volle Wut, die eigentlich dem eigenen Verrat an der Wahrheit, der Selbstvergewaltigung dessen gilt, der zur Absicherung des eigenen Unglaubens das Bekenntnis fordert.

    Der Rosenkranz als Bekenntnis-Gebet; nur in rein katholischen Gegenden (nur hier funktioniert der kollektive Zwang); Wiederholung notwendig; Meditation als kollektiver Kitt, politischer Rosenkranz; Rosenkranz und Ontologie (Om Om, Gebetsmühle: Hegels Logik!); Fundamentalontologie und die Rosenkranz-Geheimnisse; Rosenkranz als Medium des Tauschs (Gelübde, Wallfahrten, Wunder). Rückführung auf Dominikus (Ketzer-Abgrenzung, Inquisition, Hexenverfolgung, Marienverehrung), realer Ursprung im 14. Jhdt., Zusammenhang mit Monstranz und Fronleichnam (Ursprung der Demonstration).

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie