Schlenker

  • 1.5.1995

    Die Erkenntnis des Guten und Bösen, die daran sich orientiert, wofür oder wogegen einer ist, orientiert sich damit am Prinzip der Selbsterhaltung.
    Erinnerungsarbeit heißt nicht sich dessen erinnern, was man einmal empfunden hat, sondern in die Erinnerung zurückrufen, was man von der Sache her hätte empfinden müssen und auch empfunden hätte, wäre das Wahrnehmungsvermögen nicht durch Rechtfertigungszwänge blockiert gewesen. Ziel der Erinnerungsarbeit ist nicht die Bewahrung der Identität, sondern ihre Sprengung: Wo Es war, soll Ich werden. Identitäten gibt es nur im Bann des Feind-Denkens.
    Die 68er Bewegung läßt sich daran erkennen, daß sie für ihre Eltern (für ihr Versagen unterm Faschismus) sich schämte. Aber blieb nicht die Scham in den Schatten dessen, wofür sie sich schämte, gebannt: den Schatten des Faschismus?
    Die Beziehung des ersten zum zweiten Teil des Stern der Erlösung ist das Modell einer Umkehr, die auch die Natur vom Bann der Naturwissenschaften zu befreien vermöchte. Das Christentum hat seit seinem Ursprung die Umkehr mit der Bekehrung verwechselt: Dadurch ist es zu einem Teil der Geschichte der Aufklärung geworden. Der Begriff der Bekehrung gehört zur Ursprungsgeschichte des modernen Objektivationsprozesses, der an den Bekehrten zuerst erprobt worden ist. Unter dem Bann dieser Konstellation steht die christliche Theologie (als Bekenntnistheologie) seit ihrem Ursprung. Das Bekenntnis bezieht sich in ähnlicher Weise auf die Wahrheit wie die Bekehrung auf die Umkehr: nämlich als Form ihrer Instrumentalisierung; beide sind Teil der Herrschaftsgeschichte, der Geschichte der Naturbeherrschung, in die das Christentum verstrickt ist.
    Zur Konstruktion der Mechanik und zum Bild der Stoßprozesse, die nicht zufällig am Verhalten von Billardkugeln demonstriert werden, gehört das Bild einer ebenen und glatten Fläche: die Realabstraktion vom Einfluß und von den Wirkungen der Gravitation, die Eliminierung der Fallbewegung. Das so Eliminierte kehrte dann als vergegenständlichtes Gesetz im Gravitationsgesetz, das zu den Konstituentien des Inertialsystems gehört, wieder.
    Entspricht nicht die Abstraktion vom Fall im Konzept des Inertialsystems in der Gesellschaft die Abstraktion von der Arbeit im Prozeß ihrer Subsumtion unters Tauschprinzip? Ist nicht die Logik, die das Geld aus dem Tauschverhältnis (statt aus der Institution der Schuldknechtschaft) herleitet, ein Teil der Logik, die das Inertialsystem als naturgegeben hinnimmt und von dem Abstraktionsprozeß, in dem es entspringt, abstrahiert? Den gleichen konstitutiven Abstraktionsschnitt (der dann in den Antinomien der reinen Vernunft reflektiert wird) vollzieht in der Transzendentalphilosophie Kants das Konstrukt der subjektiven Formen der Anschauung.
    Die Geschichte der Erfindung von Instrumenten (der Verdinglichung der Objekte) setzt historisch und genetisch die Entdeckung des Feuers voraus: Prometheus hat die Menschen den Gebrauch des Feuers gelehrt. Gibt es zu diesem Mythos eine Parallele in der Tradition der Bibel?
    Zu Metz‘ Bemerkung, daß man auch nach Auschwitz noch beten könne, weil auch in Auschwitz gebetet worden sei, wäre zunächst zu fragen, ob die Frage Adornos, ob man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben könne, auf das Gebet überhaupt sich übertragen läßt. Müßte im Falle des Gebets die Frage nicht heißen, wie man nach Auschwitz noch beten kann (ohne die Opfer zu verraten), nicht aber, ob man nach Auschwitz noch beten kann (diese Frage wäre zu erledigen mit dem Hinweis, daß, wer nach Auschwitz nicht betet, die Opfer nochmals verrät). Zu ergänzen wäre einzig, daß nur die Beantwortung der ersten Frage die Bejahung der zweiten zu begründen vermag.
    Lag nicht die Frage, wie man nach Auschwitz noch beten kann, unbewußt schon der Problemlage, aus der die „liturgischen Bewegung“ hervorgegangen ist, zugrunde; wobei die „Liturgiereform“ nur nur als Ausdruck dieses Problems, nicht als dessen Lösung sich erwiesen hat. Die Frage nach der Möglichkeit der öffentlichen Repräsentanz des Gebets nach Auschwitz, scheint mir, ist noch unbeantwortet. Ist diese Frage nicht eine Frage an die Theologie, die in der These sich zusammenfassen läßt:
    Die christliche Theologie ist seit den Kirchenvätern eine Theologie hinter dem Rücken Gottes,
    es käme aber darauf an, endlich Theologie im Angesicht Gottes zu treiben.
    Hierzu einige Erläuterungen:
    – Im Angesicht und Hinter dem Rücken, Beispiel: Kinder in der Familie („machen wir Gott autistisch?“),
    – Cohen/Levinas: Die Attribute (der Gegenstand der Gotteserkenntnis) sind Attribute des Handelns, nicht des Seins, sie haben den Charakter des Gebots (Der Satz: Gott ist barmherzig, heißt: Seid auch ihr barmherzig),
    – Sehen und Hören: Begriff und Name (Rosenzweig und Ernst Schlenker oder die Heiligung des Gottesnamens),
    – Theologie und Naturwissenschaften (Objektivation und Instrumentalisierung),
    – Apologetik, Rechtfertigung und parakletisches Denken,
    – das Gebet als Erinnerungsarbeit (die Vergangenheit offenhalten),
    – Camilo Torres: Revolution, Opfer und Gebet (Mt 522f, Mk 1125; vgl. Elena Hochman und Heinz Rudolf Sonntag: Christentum und politische Praxis: Camilo Torres, Frankfurt 1969, S. 92ff u. 108),
    – Reinhold Schneider: Allein den Betern kann es noch gelingen …,
    – Joh 129 und die sieben Siegel der Apokalypse,
    – der Weltbegriff.
    Zu Mt 1619 und 1818: Hat nicht die Kirche bis heute nur gebunden, nicht gelöst?
    Gunnar Heinsohn hat kürzlich auf die „Methode der parallelen Rätselkumulation“ aufmerksam gemacht: „Sie besagt, daß ein Einzelrätsel leichter zu lösen ist, wenn man es mit benachbarten Rätseln gleichzeitig angeht und einen gemeinsamen Grund für alle sucht.“ („Parallele Rätselkumulation – ‚Warum Auschwitz?’“, Zeitensprünge 1/95, S. 56f) Heinsohn verweist auf mehrere Beispiele, bei denen die Lösung eines Rätsels durch den direkten Zugriff nur erschwert, wenn nicht blockiert wurde, während sie durch Häufung paralleler Rätsel aus deren wechselseitiger Beziehung sich gleichsam von selbst ergab. Alle Beispiele, die er hierbei anführt, beziehen sich auf „Rätsel“, die selber wieder in einer merkwürdigen wechselseitigen Beziehung stehen und auf ein gemeinsames Zentrum zu verweisen scheinen. Und die Vermutung ist vielleicht nicht ganz unbegründet, daß die „Lösungs“-Methode selber auf einen gemeinsamen logisch-systematischen Grund zurückweist.

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