Schoeps

  • 18.06.93

    Kann es sein, daß, wenn auch die Gottesfurcht, die Umkehr und das Nachfolgegebot beim Paulus nicht vorkommen, sie aber dennoch die Grundlage seiner Theologie sind und diese anders nur mißverstanden werden kann? Aber ist dann dieses Mißverständnis nicht die Grundlage der kirchlichen, dogmatischen Bekenntnis-Theologie?
    Hat die augustinische Vorstellung, daß zum Glück der Seligen im Himmel der Anblick des Leidens der Verdammten dazugehört, etwas mit dem Hegelschen Satz, daß die bürgerliche Gesellschaft bei all ihrem Reichtum nicht reich genug ist, der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern, zu tun? Und weist das nicht darauf hin, daß die Rezeption der paulinischen Theologie von Anfang an durchs Tauschprinzip verhext war? Ist nicht das entsetzliche Mißverständnis der paulinischen Theologie noch eine Schicht tiefer anzusetzen, als Hans-Joachim Schoeps es tut, nämlich als die Verfälschung eines völlig unverständlich gewordenen symbolischen Konstrukts durch den Tauschprinzip-Realismus. Das wäre insbesondere anhand der Christologie und der Opfertheologie zu demonstrieren. Es käme vor allem darauf an, endlich die Kelch- und Blut-Symbolik genauer herauszupräparieren, sie aus der „Metzger-Theologie“ herauszulösen, und endlich von den kannibalischen Aspekten der Eucharistie-Lehre loszukommen.
    Zu dem Satz „Ein Fluch Gottes ist der Gepfählte“ gehört auch das Wort vom Zornesbecher und Taumelkelch. Beides hängt mit dem Problem der Scham (der Schande), dem „Hinter dem Rücken“ und der Übernahme der Sünden der Welt zusammen.
    Die wirklich gefährlichen Sätze, wonach Sühne nur durch das Blut geleistet werden kann, und daß Erlösung die Reinwaschung durch das Blut einschließt, daß Erlösung (nur?) auf die Vergebung der Sünden abziele (anstatt auf die Rettung der Welt), begründen die ungeheuerlichen Mißverständnisse, von denen die Kirche und ihre Lehre seitdem nicht mehr losgekommen ist.
    Durch den Tauschprinzip-Realismus ist das Erlösungskonzept, das etwas ganz anderes meinte: nicht die Erlösung von der „entsühnten“ Welt, sondern die Rettung der Menschen mit der Welt, in ein Herrschaftsinstrument umgewandelt worden.
    Der von Schoeps zitierte Satz aus der rabbinischen Tradition, wonach „die Tore der Umkehr … niemals geschlossen“ sein werden (S. 313), ist die jüdische Entsprechung zum dem christlichen „Die Pforten der Hölle werden sie nie überwältigen“.
    Die Mathematik erinnert an die Geschichte von Hase und Igel: Die Mathematik ist der Igel, der, wo der Hase auch hinrennt, rufen kann: Ick bün all do. Und der Hase rennt sich die Seele aus dem Leibe. Aber sollten wir nicht doch endlich die Partei des Hasen und nicht die des Igels ergreifen?
    Nach Wahlen gab es immer die „Elefanten-Runden“, welche Bezeichnung den Sachverhalt sehr genau traf: Sind nicht Elefanten dickfellig, empfindlich und nachtragend? Aber verstärkt sich heute nicht der zusätzliche Eindruck, daß Kohl immer mehr dazu neigt, sich mit Elefanten-Babys zu umgeben? Eine physiognomische Beurteilung des männlichen Teils des Kabinetts Kohl (die FDP-Minister eingeschlossen) wäre zweifellos vernichtend. Man weiß eigentlich nicht mehr, mit welchen Organen diese Politiker hören (genau so, wie es immer unerfindlicher wird, weshalb Bundestagsdebatten in den Medien übertragen werden).
    Der Fehler des Julian Jaynes („Ursprung des Bewußtseins“) liegt darin, daß er das Produkt des entfremdeten Bewußtseins, das Unbewußte, in den Ursprung des Bewußtseins hineinprojiziert, eine Rückkoppelung vornimmt, die so nicht zulässig ist.
    Ist nicht das apokalyptische Tier, sind nicht die verschiedenen Gestalten des apokalyptischen Tieres aus sprachlichen Sachverhalten zu rekonstruieren, und zwar genauer aus den Mechanismen der Vergesellschaftung und Instrumentalisierung der Sprache, mit der Mathematik im Kern? Ihr Platzhalter im Subjekt sind die kantischen subjektiven Formen der Anschauung. Die subjektiven Formen der Anschauung gewinnen diese Funktion erst durch die Trennung des Anschauens vom Licht, nach dem Herauspräparieren des Angeschautwerdens aus dem Anschauen, nach dem Herauspräparieren der Scham und der Schuld und deren gegenständliche Neutralisierung im Begriff der Materie: durch die Zerstörung des Angesichts; bezieht sich hierauf nicht das biblische Symbol des Blutes? Das Verbot des Blutvergießens und das des Genießens von Blut meint eigentlich das Verbot, sich jener Paranoia zu überantworten, aus der der Materiebegriff entspringt (Zusammenhang mit dem Naturbegriff und mit dem Gebrauch des Namens der Barbaren). Wer Blut genießt, trinkt vom Taumelbecher des göttlichen Zorns. Hier liegt die Lösung des Rätsels der Genesis der Mordlust. Was der neue Katechismus „bedauerliche Vorkommnisse“ nennt, sind die Folgen davon, daß die Kirche den Kelch getrunken hat.
    Der Tauschprinzip-Realismus ist transzendentallogisch in den subjektiven Formen der Anschauung begründet, verstärkt durch die These, daß diese der kritischen Reflexion sich entziehen. Er läuft auf die dann ebenfalls nicht mehr reflektierbare Konsequenz hinaus, daß Umkehr nicht möglich sei, und auf die Leugnung des Satzes, daß die Pforten der Hölle sie (die Kirche) nicht überwältigen werden. Unter dem Gesetz dieses Tauschprinzip-Realismus steht schon das augustinische „ad litteram“. Es steht schon unter dem Gesetz des Nominalismus, der Zerstörung der benennenden Kraft der Sprache.
    Wer vor der Gottesfurcht flieht, kann sich aus der Unschuldsfalle nicht mehr retten. Zu Paulus und zur dogmatischen Tradition der Christologie und Opfertheologie: Zu klären wären ihre Beziehungen zur Gottesfurcht, zur Umkehr und zum Nachfolge-Gebot.

  • 17.06.93

    Zu Schoeps, S. 271: Ist Auschwitz das Werk der Engel Elohims?
    Es sollte auch in der Kirche endlich zur Kenntnis genommen werden, daß die Kirche in den materiellen Lebensprozeß der Gesellschaft verflochten und nicht darüber erhaben ist (Grundlage dieser Kenntnisnahme ist die Kritik des Weltbegriffs).
    Ist die Trinitätslehre, wie sie zuletzt im neuen Katechismus der Kirche wieder vorgestellt wird, nicht eine logische Konsequenz aus der Lehre von der creatio mundi ex nihilo? Die mit der Trinitätslehre verbundene, biblisch jedoch völlig unbegründete Vorstellung eines „innertrinitarischen Prozesses“ als eines „seligen Lebens Gottes in sich selber“ ist Produkt einer zwangsläufigen (vom affirmativen Gebrauch des Weltbegriffs nicht abzulösenden) Ästhetisierung der Theologie (Instrumentalisierung der Gottesidee zum „Gottesbild“), und trägt die damit verbundene Vorstellung der seligen Anschauung Gottes (als Teilnahme und Einbeziehung in diesen „innertrinitarischen Prozeß“) nicht voyeurhafte Züge? Liegt hier die früheste Antizipation des Fernsehens und des Sports: des gegenständlichen Korrelats einer von Schuld und Verantwortung befreiten, dafür nur noch identitätssüchtigen Gesellschaft von Zuschauern, von Massen-Voyeuren? Davon sind die Instrumentalisierung der Sprache und das Geschwätz, deren Zusammenhang mit dem Voyeurhaften (der Fixierung an das Aufdecken der Blöße und der Verstrickung in die Knechtsgesinnung) offenkundig ist, nicht mehr trennen.
    Die moderne Astronomie hat uns zu Voyeuren des Kosmos gemacht (Modell der Entpolitisierung der Gesellschaft).
    Tauschprinzip und Inertialsystem: Das erste ist tatsächlich ein aktiv an die Dinge herangetragenes Prinzip, das zweite ein System, das sich hinter dem Rücken dieser Tat bildet (und den Täter in seine Verstrickungen mit einbezieht). Beide sind aufeinander bezogen wie das „Richtet nicht“ und das „damit ihr nicht gerichtet werdet“. Das Tauschprinzip war der verborgene Motor der Naturerkenntnis, in deren Rücken sich (mit Beginn der Zivilisation) der Weltbegriff gebildet hat.
    Hat die Form des Raumes die Trinitätsspekulationen abgelöst (und neutralisiert)? berith und diatheke sind beides Rechtsbegriffe; der eine begründet die Partnerschaft, der andere die Erbschaft. Hiermit hängen die Differenzen der jüdischen und der christlichen Theologie (und die zentrale Bedeutung der Vater-Sohn-Beziehung in der christlichen Theologie) zusammen. Ist die Testamentsbeziehung (und in ihrem Konstext die Vater-Sohn-Theologie) nicht im Weltbegriff begründet, der selber auf den Begriff des Erbes zurückweist? Die Trinitätslehre (deren Funktion dann die mathematische Form des Raumes übernimmt, die Kant als subjektive Form der Anschauung der transzendentalen Logik insgesamt zugrunde legt) konstituiert die Identität der Welt. Hinweis: Die Form des Raumes, das Geld und das Bekenntnis begründen die Subjekt-Objekt-Identität, sie neutralisieren das Herr-Knecht-Verhältnis und machen sie zu logischen Zentren des Objektivationsprozesses: der Feind-, Verräter- und Patriarchats-Logik.
    Die Fähigkeit zur Schuldreflexion und ihre Einbeziehung in den Begriff der Erkenntnis begründet den Aktualitätsbezug, der jede wirkliche theologische Erkenntnis definiert (und u.a. Adornos Begriff einer „eingreifenden Erkenntnis“ begründet).
    Auch wenn man das Urteil über die Bedeutung der paulinischen Theologie für den Ursprung und die Geschichte der Kirche offenläßt, bleibt doch festzuhalten, daß die dogmatisch verdinglichte Lehre von der Göttlichkeit Jesu, die aus Paulus herausgelesen worden ist, die wirkliche Erkenntnis und die ungeheure Bedeutung dessen, was hier sich zugetragen hat, eher versperrt.

  • 14.06.93

    Hans-Joachim Schoeps hat „die ganze Theologie“ des Paulus auf die Auferstehung Jesu zurückgeführt; sie sei „zunächst nichts anderes als ein Umdenken aller überkommenen Vorstellungen und Begriffe auf dieses Ereignis hin“ (Paulus, S. 177). Nicht zufällig erinnert das an Metz‘ Bemerkung über die Theologie nach Auschwitz (ein bis heute nicht eingelöster Hinweis). Durch seinen Tod und seine Auferstehung ist „Christus des Gesetzes Ende“ (Röm 104): Denn „das Gesetz ist Herr über den Menschen, solange er lebt“ (Röm 71). Durch die sakramentale Teilnahme an Tod und Auferstehung Jesu, durch Taufe und Eucharistie, sind die Christen dem alten Äon abgestorben und frei vom Gesetz. Die ungeheure Zweideutigkeit der paulinischen Theologie gründet darin, daß das Gesetz mit der Thora identifiziert wird; übersehen wird dabei, daß das Gesetz ein Form- und Strukturelement des Weltbegriffs ist, und die Identifikation der Thora mit dem „Gesetz“ selber schon Folge seiner Verweltlichung (und Instrumentalisierung) ist, daß diese Identifikation mit dem Weltbegriff gemeinsam entspringt und mit ihm fortbesteht, und daß u.a. die rabbinische Theologie ein Versuch war, die Thora aus dieser Verstrickung (des Hellenismus) zu lösen. Als Teil des Rechts ist das Gesetz ein Strukturelement der staatlich organisierten Gesellschaft von Privateigentümern; es ist das gleiche Recht, das im Römischen Reich nur für Römische Bürger gilt, zu denen auch Paulus gehört (der auch Gebrauch davon macht). An die Stelle der Welt, zu deren Konstituentien das Gesetz gehört, hat Paulus die Thora gesetzt (und in diese Falle ist dann die Gnosis hineingetappt). Die Zweideutigkeit der paulinischen Theologie rührt nicht zuletzt daher, daß die Identifikation von Thora und Gesetz wie der Ursprung der Philosophie (des Begriffs) projektive Züge trägt und der Umwandlung des Christentums in eine „Welt-“ (und damit in eine römische Staats-) Religion vorgearbeitet hat. Eher als an der Thora ließe sich heute der Zusammenhang von Tod, Entfremdung (Objektivation und Instrumentalisierung) und Gesetz an den Naturwissenschaften demonstrieren, zu deren historisch-genetischen Voraussetzungen die paulinisch instrumentierte Theologie, insbesondere die Opfertheologie, gehört. Paulus und seine Theologie leben von der damals schon fatalen „Gnade der späten Geburt“: für beide sind das Leben und die Lehre Jesu (die konsequenterweise seitdem im Dogma und im Bekenntnis nicht mehr vorkommen) vergangen, seine Auferstehung hat im Kontext dieser Theologie mit der Bergpredigt, mit Feindesliebe und der Arglosigkeit der Tauben, nichts mehr zu tun. Paulus hat
    – die „Übernahme der Sünden der Welt“ durch die Lehre vom Sühneopfer in eine Hinwegnahme („Entsühnung“ der Welt) und
    – den (objektiven) parakletischen Begriff der Barmherzigkeit durch die (subjektivistische) Gnadenlehre
    verfälscht, damit die Unterscheidung von Rechts und Links (Jon 411) aufgehoben und der Gottesfurcht, der Umkehr und der Nachfolge den Grund entzogen.
    Aber gab es eine Alternative hierzu? Hat Paulus nicht die Möglichkeit des Überwinterns der zum Dogma verdinglichten Lehre in einer sich verfinsternden Welt geschaffen?
    Paulus, der Verzicht auf Herrschaftskritik, die Spiritualisierung des Christentums und das Inertialsystem (was hat es eigentlich mit den Präfixen in den Begriffen Ge-setz, Be-griff, Er-scheinung auf sich?).
    Ist die Opfertheologie als Instrumentalisierung des Kreuzestodes bei Paulus nicht ein Produkt der projektiven Verarbeitung seiner eigenen Vergangenheit (seiner Beteiligung an der Steinigung des Stephanus)? Und hat Paulus nicht sein eigenes Erlösungs- und Rechtfertigungsbedürfnis in das Christentum hineinprojiziert? War nicht sein Christentum in der Tat eines für Heiden, die es dann auch bleiben konnten?
    Weder die Gottesfurcht, noch die Umkehr, noch die Nachfolge kommt bei Paulus vor; zugleich hat er die Weichen so gestellt, daß mit der Verdrängung der Herrschaftskritik zwangsläufig die Sexualmoral ins Zentrum der christlichen Ethik gerückt wurde.
    Ist nicht die Glossolalie, zu der das Pfingstwunder bei Paulus wird (verkommt), eher eine Widerlegung der paulinischen Theologie? Die Glossolalie verhält sich zum Pfingstwunder wie der Begriff der Barbaren zum Namen der Hebräer.
    Ist nicht die Abtreibungsdiskussion eine Folge des ungelösten Paulus-Problems (bezeichnet er sich selbst nicht einmal als eine Fehl-/Mißgeburt und mit welchem griechischen Wort)?

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