Scholem

  • 26.7.96

    Das Ende des Messianismus manifestiert sich im Werk des Paulus, nicht bei den Evangelisten (TuK 70).
    Ist die paulinische „Rechtfertigung durch Glauben“ nicht der Ausdruck einer tiefen Verzweiflung darüber, daß das Wort und das Handeln (die Thora, das Gesetz und das Tun) nicht mehr zusammenzubringen sind?
    Waren die Evangelien nicht u.a. deshalb notwendig, weil nach Paulus das Christentum – aufgrund der Abstraktion von der Lehre Jesu – zu einer magischen Religion (zu einer Opfer- oder Mysterienreligion) zu werden drohte?
    Ist nicht das Wort von dem einen Sünder, über dessen Bekehrung im Himmel mehr Freude herrscht als über 99 Gerechte, ein antipaulinisches Wort: Ist nicht dieser eine Sünder der, der über das Gesetz und die Thora, über das Bewußtsein der Sünde, zur Gottesfurcht gelangt ist, die Paulus, der einigemale auf sein „ruhiges Gewissen“ verweist, auch den Christen ersparen möchte?
    Das Fleisch, oder die Gewalt der Sünde über mich, ist nur durch Reflexion und Umkehr, nicht durch Verurteilung und durch Verdrängung, nicht durch Tabuisierung, zu brechen.
    Kommt der Name der Barmherzigkeit bei Paulus überhaupt vor, und verdeckt nicht die Rechtfertigungslehre genau diese Lücke? Gibt es eine Stelle, die der im Jakobusbrief, daß die Barmherzigkeit über das Gericht triumphiert, entspricht?
    Hat Paulus nicht das Christentum zu einer Schutzhütte vor den Unbilden des Römischen Reiches gemacht? Hier ist der Messianismus gestorben und begraben worden, ist das Christentum zu einer magischen Religion geworden.
    Während die Synoptiker nur die leeren Stellen der paulinischen Theologie auffüllen, ist das Johannes-Evangelium antipaulinisch: der Kampf gegen die Komplizenschaft der Herrschenden (deren V-Mann Paulus war, als er noch Saulus hieß) mit den Römern. In der Konsequenz dieser johanneischen Intention liegt die Apokalypse (kann es sein, daß das „Tier vom Lande“, das „zwei Hörner (hat) wie ein Lamm“, aber „spricht wie ein Drache“, vielleicht doch an Paulus erinnert?). Dieser Johannes schreibt immerhin unter dem Namen des „Donnersohns“, des gleichen Jüngers, den „der Herr liebhat“.
    Wenn man im Römerbrief die „Beschneidung“ als Bekenntnis liest, kommt man der Wahrheit näher.
    Der Antisemitismus und vor ihm der kirchliche „Antijudaismus“ gründen in Vorurteilsstrukturen, die durchsichtig werden, wenn man auf das projektive Element in ihnen aufmerksam wird, auf die Mechanismen der Selbstentlastung durch Schuldverschiebung. Beide, der Antisemitismus und der Antijudaismus, sagen nichts über die Juden, aber sehr viel über die Antisemiten und die antjüdischen Christen. Der „eliminatorische Antisemitismus“, auf den Daniel Goldhagen verweist, dessen Buch bereits soviel Hühnerhof-Aufregung verursacht hat, bevor es in Deutschland überhaupt erschienen ist, gründet in genau diesem Mechanismus. Und, bei allen Mängeln, die das Buch haben mag, beweist nicht diese Reaktion, daß es einen Nerv getroffen hat?
    Zu den großen Partien bei Paulus gehört der Satz, daß die ganze Schöpfung auf die Freiheit der Kinder Gottes wartet; dazu gehören die Elementarmächte; dazu gehört nicht zuletzt sein Begriff des Glaubens, wenn man ihn als Asyl des Messianismus begreift. Unerträglich hingegen ist der apologetische Grundton fast aller paulinischen Briefe (sein „Theologisieren“).
    Ist nicht der Hierarchie-Begriff eine zwangsläufige Folge der Subsumtionslogik (in der der Begriff, der die Dinge unter sich begreift, selber in einer Subsumtionsbeziehung zu „höheren“ Begriffen sich wiederfindet)? Läßt er nicht aus der neuplatonischen Emanationslehre sich herleiten, in der Elemente der Licht- und der Herrschaftsmetaphysik trübe sich mischen, und die selber zu den kosmologischen Konsequenzen der Rezeption der Sündenfall-Theologie zu gehören scheint? Hierarchische Strukturen sind Konstrukte der Selbstreproduktion der Subsumtionslogik des Begriffs, die in der Moderne in den subjektiven Formen der Anschauung auf ihren Grund in der Subjektivität zurückgeführt werden; aufzulösen sind sie allein durch die logische Kraft des Namens.
    Die subjektiven Formen der Anschauung sind das logische Äquivalent der Finsternis über dem Abgrund: Unter ihrem Zwang erkenne ich nur noch, was ich in die Dinge hineinlege, nicht mehr, was sie an sich selbst sein mögen. Es hilft nichts, den kantischen Agnostizismus zu kritisieren; hier wird sehr präzise und konkret die vorletzte der ägyptischen Plagen, die allgemeine Finsternis, aufgedeckt.
    Am ersten Schöpfungstag hat Gott nicht die Finsternis durch das Licht vertrieben, sondern eine Hilfe geschaffen, einen realsymbolischen Hinweis darauf, daß die Finsternis nicht alles ist.
    Quoad nos ist die Finsternis das Erste. Aber sind die Christen nicht „das Licht der Welt“ (und zwar nicht durch Restauration irgendwelcher Vergangenheiten, sondern durch Errettung der vergangenen Hoffnung)?
    Verwechseln wir nicht die Heiligen mit den Helden? (Auf diese Verwechslung bin ich bei meiner Erstkommunion gestoßen worden, durch ein Buch, das ich geschenkt erhielt, und das mir durch die Enttäuschung, die es mir beim Lesen bereitete, die Augen geöffnet hat: „Helden und Heilige“. Ich hatte vorher Märtyrer-Geschichten gelesen, aus denen ich gelernt hatte, daß Christsein nicht am Triumph und Sieg der Helden, an ihrem Nachruhm, sondern allein an der Bereitschaft der Heiligen, Leiden und Niederlagen auf sich zu nehmen, auch wenn außer Gott keiner es sieht und anerkennt, sich messen läßt. Das hat mich vorbereitet auf den Vers von Reinhold Schneider.)
    Wer die Gewissenserforschung nur tief genug treibt, wird an einen Punkt kommen, an dem er zum Propheten wird.
    Kann es sein, daß ich an den „Kern der Sache“ nicht herankomme, weil ich ihn nur vor Augen, nicht im Ohr habe?
    Vor dem Gesetz: Hat nicht Kafkas Erzählung einen Mangel; sind es anstatt des einen nicht mindestens sieben Tore, die uns den Weg zum Gesetz verstellen?
    Was heute zur Verzweiflung treibt, ist genau das, was die Verzweiflung vertreiben soll: daß das Leben vor der Glotze endet.
    Ist nicht die chronologische Verwirrung und die Verwirrung der Namen (von Personen und Völkern), die beide zusammenhängen, eine zwangsläufige Folge des Positivismus im neunzehnten Jahrhundert, nach dem Zerfall der idealistischen Systeme? Sie wurde vorbereitet im kopernikanischen System, das, nach seiner dynamischen Begründung durch Newton, durchs Gravitationsgesetz, den Zusammenhang von Sprache und Erinnerung durch Verdinglichung der Erinnerung zum astronomischen Gesetz zerrissen, den Sprachgrund in den Sachen neutralisiert, das Ungleichnamige gleichnamig gemacht hat.
    Trägt nicht die Formulierung (Ton Veerkamp): „Kommt der Messias nicht (bald), hat Paulus ein Problem, ein unlösbares Problem“ (TuK 70, S. 24), die Züge einer Projektion? Nicht Paulus, sondern die gesamte christliche Theologie hat in der Geschichte der Moderne „ein Problem, ein unlösbares Problem“ bekommen. Und heißt dieser Paulus nicht eigentlich Luther?
    War es nicht Paulus, der den Sündenfall zum Absoluten gemacht (und das Christentum zweitausend Jahre vor die Wand gejagt) hat (und hat das nicht die paulinische Tradition begründet)? Als Paulus die Erlösung zur reinen Gnade machte, hat der den Satz vom Binden und Lösen geleugnet, eine Tradition begründet, in der die Kirche als hierarchische Verwaltungsorganisation und die Theologie als Theologie hinter dem Rücken Gottes nur noch binden, nicht mehr lösen konnten.
    War nicht Bubers Übersetzung von Gnade mit „Huld“ eine sehr schlimme christliche Übersetzung, die endgültige Verdrängung dessen, woran die scholastische Lehre von der „heiligmachenden Gnade“ letztmals erinnerte, Ausdruck der Regression der Gnadenlehre durch Einbindung in einen autoritären Kontext? Eine Gnade, die bloß rechtfertigt, nicht gerecht („heilig“) macht, ist ein Palliativ.
    Kommt es nicht im Ernst darauf an, den Begriff der Heiligkeit aus der Tabuzone der Eigentums- und Herrschaftssicherung, aus den Verstrickungen seines nationalen Mißbrauchs, zu befreien?
    Die Idee der Auferstehung lebt von dem ungeheuerlichen Gedanken, daß es ein Leben gibt, das vom Tod (von den Strukturen und Institutionen, die ihn verkörpern) im Kern nicht berührt wird. Nur Gott sieht ins Herz der Menschen, während der Tod sein gegenständliches Korrelat im Staat hat. Der Staat ist in der Tat der Statthalter des Gerichts in der Welt; aber „die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht“ (Jak 213). Ist das nicht der zentrale Einspruch des Jakobus gegen die paulinische Theologie (und gehört dieser Einspruch nicht auch zur Kontroverse um die Beschneidung)?
    Vielleicht hätte es, wenn es Paulus nicht gegeben hätte, das Christentum nicht gegeben. Und vielleicht war nur über diesen „Irrweg“ (Jak 520) eine Tradition zu retten, die anders untergegangen wäre?
    Der Glaube ist die Gestalt, in der die Wahrheit den Weltlauf überlebt. Dieser Glaube aber hat unter dem Bann der Rechtfertigungslogik sich als Keim einer Logik entwickelt, die zur Logik des Vorurteils geworden ist (bezieht sich hierauf das Symbol des Tieres vom Lande, das zwei Hörner hat wie ein Lamm, aber spricht wie ein Drache?).
    Bezeichnen nicht alle antisemitischen Stereotype, vom Hostienfrevel über die Brunnenvergiftung zum Ritualmord (der Wiederholung des Gottesmords) Tatbestände, die den Antisemiten kennzeichnen:
    – der Hostienfrevel die Verdinglichung, die Logik des Fundamentalismus,
    – die Brunnenvergiftung die Bekenntnislogik als Wurzel des Nationalismus und
    – der Ritualmord (der Gottesmord) die Instrumentalisierung des Kreuzestodes in der Opfertheologie?
    Rührt Auschwitz nicht an die Idee der Auferstehung, stellt Auschwitz nicht Ostern in Frage?
    Muß nicht, wer heute noch glaubt, Christ sein zu können, entweder sehr viel verdrängen, oder aber die Kirchengeschichte und die Theologie gegen den Strich bürsten, auf jeden Fall endgültig Verzicht leisten auf jede Form der Apologetik? War es nicht immer schon leichter, aber auch verhängnisvoller, Ereignisse wie Kreuz und Auferstehung auf die eigene Seele zu beziehen anstatt auf den Zustand der Welt?
    Ist nicht Helmut Gollwitzer, als er glaubte, gegen Gerschom Scholems Bemerkungen über den christlichen „Messianismus“ sich verteidigen zu müssen, in eine offene Falle hineingelaufen? Und sind nicht auch die Reflexionen von F.W. Marquardt, denen ich den Hinweis verdanke, daß es Helmut Gollwitzer war, an den der Brief Gerschom Scholems gerichtet war, noch sehr hilflos; können wir uns, kann irgend ein Christ sich freisprechen von dem, was Scholem zu Recht so scharf anspricht? – Müßten nicht in jede Reflexion über den Messianismus dieser Text von Scholem, aber auch seine übrigen Untersuchungen zum Thema (insbesondere über die Geschichte des Sabbatai Zwi, die auch eine Untersuchung über Paulus und das Christentum ist), mit einbezogen werden? Gehorcht nicht auch noch das Verschweigen dieser (im Kern mit Auschwitz zusammenhängenden) Untersuchungen den Rechtfertigungszwängen, die Auschwitz hinterlassen hat, und aus denen Gollwitzer wie auch Marquardt nicht herausgekommen sind (und hat nicht Auschwitz vom Grunde her das Problem der Rechtfertigung in dem Sinne selber neu gestellt, daß der Holocaust dieses Problem theologisch gegenstandslos gemacht hat)?
    Wie kommt es, daß bis heute kein Theologe das Blasphemische, das z.B. an den Kriegsgräberstätten (die die Toten nochmals schänden) sich wahrnehmen läßt, beim Namen genannt hat? Sind nicht diese „Gedenkstätten“, die die Toten instrumentalisieren und mißbrauchen, Gedenkstätten eines Nationalismus, den die Toten, die er produziert hat, überhaupt nicht interessieren, außer als Mittel zur Reproduktion der Logik, der der Nationalismus sich vedankt. Nur die Lüge, sie seien „für die Nation“ (für Führer, Volk und Vaterland, so hieß es damals) gestorben, während sie in Wahrheit für ihnen fremde Zwecke verheizt worden und elend verreckt sind, soll erhalten bleiben: fürs nächste Mal? Aber sind diese Gedenkstätten nicht eigentlich Gedenkstätten einer Opfertheologie, deren säkularisiertes Ritual sie zelebrieren? Die Symbolik, die diesem Ritual zugrundeliegt, ist eine Blutsymbolik: danach heiligt das Blut, das hier verströmt ist, den Zweck, für den es vergossen ist: die Nation, das „heilige Vaterland“, das zwar keiner mehr so zu nennen wagt, das aber der Sache nach weiter besteht.
    Vor diesem Hintergrund kann ich mit der anderen Blutsymbolik, daß wir durch das Blut des am Kreuz geopferten Gottessohns von Sünden rein gewaschen werden, nichts mehr anfangen. Ich meine, die Reflexion dieser Symbolik dürfe nicht länger mehr verdrängt werden. Ich weiß nicht, welche Folgen es haben wird, wenn wir das Paradigma einer Versöhnung durch Blut weiterhin akzeptieren. Vielleicht hilft der Hinweis auf den Satz Jesu, daß er von diesem Weinstock erst im Reiche Gottes wieder trinken wird. Hat nicht die Blutsymbolik etwas mit dem schrecklichen Verdrängungsakt, den das Kriegsende für die Deutschen bedeutete, die danach im Ernst überzeugt waren, nichts gewußt zu haben, zu tun? (Und was passiert, wenn an diese Verdrängung gerührt wird?)
    Schweigen die Götter wirklich in einer Welt, in der, soweit ich sehe, bis heute kein Theologe Anstoß daran genommen hat, daß die „Kriegsgräberfürsorge“ auch nach dem zweiten Weltkrieg nicht nur nicht beendet wurde, sondern zu einer endlosen Geschichte zu werden droht? (Welche Rolle spielt eigentlich der Israel-Nationalismus einiger Theologen bei der Restauration des deutschen Nationalismus?)
    Ideologie ist Rechtfertigung: Beide stehen unter dem Bann der Schuld, den sie nicht zu sprengen vermögen. Die Rechtfertigung reagiert ex post, während die Gotteserkenntnis an das ante, an den Geist der Weissagung heranzukommen trachtet.
    Gehört nicht die Identifizierung des Fleisches mit der Beschneidung in den Scholem-/Gollwitzer-/Marquardt-Komplex?
    Vor einem Schaufenster, in dem u.a. Objekte archaischer „Kunst“ angeboten werden, überfällt mich der Gedanke: „Da halte ich mich lieber ans Original“, und denke an Klee. – Ist der Gedanke nicht ungeheuerlich, daß ein Bild von Klee das Orginal und die archaischen Objekte bloße Nachahmungen sind?

  • 4.6.96

    Der Begriff der Geltung gehört zu den Konstituentien des Weltbegriffs, er fällt unter das Paradigma Rind und Esel, er ist ein Teil des Jochs, das wir andern auferlegen. Geltung ist Geltung für andere, und nur insofern auch für mich. Er gehört zum Begriff einer Welt, in der prima facie nur ich lebe und alle anderen (und damit auch ich selbst) für mich anorganische Materie sind.
    „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, als Gottes Ebenbild schuf er ihn.“ Auf wen bezieht sich im ersten Teil des Satzes das das Possessivpronomen „sein“, auf Gott oder auf den Menschen (und auf wen das Personalpronomen im zweiten Teil des Satzes)?
    Gershom Scholem hat darauf hingewiesen, daß das Konstrukt einer creatio mundi ex nihilo in der Schrift keinen Anhaltspunkt findet und erst recht spät in der Theologie auftaucht. Ist das nihil nicht das nihil der Barmherzigkeit, und ist das Konstrukt nicht Ausdruck eines Schöpfungsbegriffs, der vollständig im Zeichen des strengen Gerichts steht? Das jedenfalls scheint sich in der Diskussion dieses Topos, auch in der Kabbala bis hin zu Isaak Luria, eindeutig nachweisen zu lassen. Ist das Zimzum nicht ein Akt der Scheidung des strengen Gerichts von der Barmherzigkeit?
    Liegt nicht das Problem des Schöpfungsbegriffs darin, daß sich, seit der Entfaltung der Weltreiche, zuletzt der Herrschaft Roms, und seit dem Ursprung des Weltbegriffs, der Staat in den Begriff der Schöpfung trübe sich eingemischt hat (der theologische Begriff der „Entsühnung der Welt“ durch den Opfertod Jesu exkulpiert gleichsam apriori den Staat)?
    Adorno und Rosenzweig versöhnen heißt, das Eingedenken der Natur im Subjekt durch die Kritik des Historismus zu ergänzen, zu berichtigen und zu erfüllen.

  • 3.6.96

    Zu Lk 117: Worauf bezieht sich das Wort von der Bekehrung der Herzen der Väter? Heißt es im Dekalog: Du sollst Vater und Mutter lieben, auf daß du lange lebest auf Erden (so der Sohn von Martin Heidegger in der FR von heute), oder: Du sollst Vater und Mutter ehren, …? Erlaubt diese Formulierung nicht die Frage, ob man seine Eltern überhaupt lieben kann, und ob nicht die Beziehung, die Kinder zu ihren Eltern herzustellen haben, auf einer anderen Ebene liegt als beispielsweise die Nächsten- oder auch die Feindesliebe? Und hat diese Frage nicht auch etwas mit der der Sündenvergebung zu tun, die (gegen die Auslassungen des Bormann-Sohnes) ohne die Versöhnung mit den Opfern nicht zu erlangen ist, und die – auch nach einem Jesus-Wort – nicht auf die Beziehung von Seele und Gott (auf den Bereich der Innerlichkeit) sich eingrenzen läßt. Gehört es nicht zur Würde des vierten Gebots, daß es die Beziehung zu den Eltern mit dem Wort „ehren“ benennt, das den Blick auf Öffentlichkeit und aufs Handeln mit einschließt, damit aber über die Privatsphäre hinaus aufs Politische verweist?
    Das vierte Gebot gebietet nicht die Elternliebe, vor deren Gefahren: der symbiotischen Beziehung und der Verstrickung in Rechtfertigungszwänge, es vielmehr durch des Wort „ehren“ schützt. Das vierte Gebot macht das Über-Ich reflexionsfähig. Die Reflexion des Über-Ich entzieht dem Glauben an die Magie des Urteils den Boden.
    Du sollst Vater und Mutter ehren: In welchem Kontext kommt dieses „ehren“ sonst noch vor?
    Nur die Eltern, die es mit sich selbst nicht aushalten, wollen von ihren Kindern geliebt werden.
    Steht das Wort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“ nicht in der Tradition des vierten Gebots: „Du sollst Vater und Mutter ehren“? Lieben sollst du nur Gott und den Nächsten.
    Der Weltbegriff bezeichnet eine kollektive symbiotische Beziehung, deshalb ist er der logische Grund des Nationalismus. Die Form dieser symbiotischen Beziehung ist die Bekenntnislogik (die in der Schuldumkehr gründet).
    Auch der universale Weltbegriff (die Universalität des Weltbegriffs) gründet in Voraussetzungen, die erst mit dem Staat entspringen (und d.h. nicht universal sind). Zur Universalität dieses Weltbegriffs gehört der Ausschluß der Barbaren, der Fremden, der Wilden, auch der Juden.
    Ist die Trinitätslehre nicht ein Produkt der Überhöhung des dynastischen Prinzips: der Hypostasierung des Erbens (das zu den die Identität des Weltbegriffs stiftenden Kräften gehört).
    Nach jesuitischen Wahrheitsverständnis sind Notlügen erlaubt. Ist dieses Wahrheitsverständnis nicht ein politisches: Werden nicht sämtliche Wahlkämpfe, wird nicht die Selbstdarstellung der Politik insgesamt mit Notlügen bestritten?
    Die Kirche ist längst zur Versammlung der 99 Gerechten geworden.
    Ursprung der Opfertheologie: Die Männer, die bei der Kreuzigung Jesu davongelaufen sind, haben post festum das Kreuz zum Symbol der Erlösung gemacht.
    Haben der Baal und die Ascherim (und im Hintergrund der hieros gamos) nicht auch astrologische Bedeutung?
    Ist das Denken des Denkens des Aristoteles (die Selbstobjektivierung des Denkens, die Hereinnahme des Denkens des Andern ins eigene Denken: die Reflexion) selber ein Reflex der Orthogonalität, die die Unterschiede zwischen den Richtungen im Raum neutralisiert, „aufhebt“; und hängt über die noesis noeseos, die dann in der „Trinitätslehre“ sich entfaltet, die Orthodoxie mit der Orthogonalität zusammen (rühren das „Zeugen“ und das „Hervorgehen“, die das Verhältnis der Personen im trinitarischen Dogma definieren, an die in der „subjektiven Form der Anschauung“ verdrängten inneren Differenzen der Richtungen im Raum)?
    Kann es sein, daß die Kabbala und das christliche Dogma als zwei Seiten ein und derselben Sache sich begreifen lassen? Daß das En-soph (und die Sefiroth) und die Trinitätslehre auf einen gemeinsamen Ursprung in der noesis noeseos, im Denken des Denkens, genauer: in dem damit bezeichneten objektiven begriffs- und herrschaftsgeschichtlichen Problem, zurückweisen (vgl. hierzu Gershom Scholem, „Über einige Grundbegriffe des Judentums“, 1970, S. 28ff)?

  • 1.6.96

    Gehört nicht zum Kaiser-Problem (warum es im Märchen keinen Kaiser gibt) neben dem Satz „Gebt des Kaiser, was des Kaisers ist, …“ und „…, so bist du kein Freund des Kaisers mehr“ auch die Geschichte vom Beelzebub und der Einheit des Reiches? Es ist das Reich des Beelzebub, das zerfällt, wenn es mit sich uneins wird (steckt hier nicht der Kern der Rom-Kritik Jesu?), während „in meines Vaters Haus (und das heißt doch wohl: im Gottesreich, H.H.) viele Wohnungen“ sind. Dieses Einheitsverständnis ist caesarisch: sensibilitätszerstörend und empfindlichkeitsbegründend zugleich.
    War nicht die Reaktion von Gollwitzer und dann auch von Marquardt auf Scholems Aufsatz über die messianische Idee im Judentum ein erneuter Beleg dafür, daß es nicht auf die Empfindlichkeit, sondern allein auf Sensibilität ankommt? Dabei hat Scholem selbst die Stelle bezeichnet, an der ein Dialog möglich gewesen wäre: „Was den alten Propheten als ein Wissen zukam, das gar nicht laut und öffentlich genug verkündet werden konnte, wird in den Apokalypsen zum Geheimnis. Es gehört zu den Rätseln der jüdischen Religionsgeschichte, die von keinem der vielen Erklärungsversuche befriedigend beantwortet worden sind, was eigentlich der wahre Grund dieser Metamorphose ist, die das Wissen um das messianische Ende, wo es den prophetischen Rahmen der biblischen Texte überschreitet, zum esoterischen Wissen macht.“ (Scholem, Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt 1970, S. 128f) Wodurch die Apokalypse von der Prophetie sich unterscheidet, ist der Ursprung des Weltbegriffs, die neue Gestalt der Welt und des Bewußtseins, die damit bezeichnet ist.
    Steht nicht auch die „Israel-Theologie“ in der Gefahr, ihrem Adressaten vorzuschreiben, wie er den eigentlich zu sein hätte, und ihn mit kontrafaktischen Urteilen zu belästigen?
    Was meint Marquardt mit der „Rechtfertigung Gottes“ (vorausgesetzt, daß die Rezension seines neuen Buches im neuen Heft der Jungen Kirche ihn richtig zitiert)?
    Die Unsterblichkeit der Seele, die eben damit verletztbar und empfindlich wird, ist die Unsterblichkeit des pharaonischen oder caesarischen Reichs, dessen Symbole beleidigungsfähig sind, „verunglimpft“ werden können. Das Himmelreich und das Reich Gottes stehen in Opposition zu diesem Reich.
    Zu Martin Bormann und Hermann Heidegger (die sich beide nach der FR von heute zur Schuld ihrer Vätern geäußert haben): Ihre Exkulpationsversuche gründen in der christlichen Tradition, wonach Gott Sünden vergeben kann, ohne daß es dazu einer Versöhnung mit den Opfern bedarf. Diese Vorstellung mag zu den Konstituentien staatlichen Rechts (des „Rechtsfriedens“, der ohne staatliche Gewalt nicht zu sichern ist) gehören; durch ihre Hereinnahme in das kirchliche Bußverständnis und die kirchliche Bußpraxis ist sie zur Quelle der Unsensibilität und des autoritären Wirklichkeitsverständnisses geworden. Deshalb hören wir aus dem Namen der Buße nur noch die Strafpraxis und die Diskriminierung des Sünders heraus, nicht mehr die Umkehr. Das Wort von der Versöhnung mit dem Bruder, das vor dem Opfer steht, ist längst vergessen und verdrängt. Und das Opfer ist durch Verinnerlichung zum Opfer der Vernunft geworden.
    Im Dingbegriff ist die ganze Herrschaftsgeschichte enthalten.
    Gibt es einen Zusammenhang der Possessivpronomina Mein, Dein, Sein (und damit auch des Infinitivs Sein) mit dem unbestimmten Artikel Ein? Drückt nicht in den Anfangskonsonanten (M, D, S) die Besitzergreifung dessen sich aus, was durch den unbestimmten Artikel als eigentumsfähiges herrenloses Gut (als Vorhandenes) sich präsentiert? Und verweist nicht insbesondere das M (der verschlossene Mund) auf die Analogie der Besitzergreifung zur Einverleibung, zum Essen, zur Kommunion (vgl. die Bedeutung der Eucharistieverehrung für die thomistischen Theologie), während das Sein zum Ausdruck der kollektiven Besitzergreifung (der Besitzergreifung durch die unbestimmte dritte Person, die die unvermittelte Besitzergreifung durch den Einzelnen ausschließt, die Grenze zwischen mir und den Anderen in die Dinge verlegt) in der urteilenden Erkenntnis geworden ist?
    In welcher Beziehung steht der bestimmte Artikel zum Eigentum und zum Tausch, und welche sprachlogische Bedeutung hat dann die Deklinierbarkeit des bestimmten Artikels im Griechischen und im Deutschen? – Im Hebräischen durfte der Eigenname nicht mit dem bestimmten Artikel versehen werden.
    Die Alternative ist nicht Sein und Haben (diese bezeichnet nur die Grenze zwischen mir und den andern), sondern Sein und Handeln (die Grenze zwischen Ontologie und Ethik, Natur und Übernatur). Die Verführung der Ontologie (in der das Inertialsystem Gewalt über die Sprache gewinnt) liegt darin, daß sie dem Handeln (und seiner Wahrnehmungskraft: der Sensibilität) den Weg verstellt, statt dessen den Quell (eigentlich den Abgrund: das schwarze Loch) des in seine Ohnmacht eingesperrten Selbstmitleids (der Verletzbarkeit, der Empfindlichkeit) eröffnet.
    Indogermanisch oder der Rock aus Fellen: Wäre es nicht an der Zeit, das Problem der Beziehung von Biologie und Sprache (das Problem des Gattungsbegriffs, aber auch des Rassismus) neu in Angriff zu nehmen? Beide gehören der gleichen logischen Ebene an, bezeichnen gleichsam nur deren zwei Seiten, deren Beziehung zueinander (als das Verhältnis zweier Seiten) zu bestimmen wäre.
    Männlich und weiblich schuf er sie: Ist nicht der Unzuchtsbecher das Produkt der Instrumentalisierung des Zeugens und ein Symbol der caesarischen Logik (ein Attribut der Hure Babylon)? Gehört in diesen Kontext nicht das „dynastische Prinzip“, das die Nachfolge durch Geburt regelt, seine Funktion in Hegels Rechtsphilosophie (in der zu den Aufgaben des Monarchen das Zeugen eines Erben gehört) wie auch in der Trinitätslehre (in der der Vater den Sohn „gezeugt, nicht geschaffen“ hat)? Sind nicht Verwandschaftsbeziehungen (und in ihrem Kern die „Geschlechtsbeziehungen“) die Modelle logischer (begrifflicher und hierarchischer) Beziehungen?
    In einer Sprache ohne Neutrum färben die Geschlechts- und Verwandschaftsbeziehungen auch die kosmischen und historischen Vorstellungen (die Patriarchen, das „ganze Geschlecht“ der Landnahme und die Könige, „gehen“, „legen sich“ oder werden, wenn sie sterben, „zu den Vätern“ versammelt, wogegen Jesus zu einem, der seinen Vater begraben wollte, sagt: „Laß die Toten ihre Toten begraben“).
    Ist das Neutrum, der Ursprungsbegriff der Säkularisierung (der Konstellation von Herrschaft, Objektivierung und Instrumentalisierung), in der Sprache die Schlange, im Bereich des Handelns (in Religion und Politik) hingegen der Unzuchtsbecher, der Inbegriff der Hurerei, der Greuel am heiligen Ort?

  • 31.5.96

    Die kantisch-hegelsche Definition der Wahrheit als „Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand“, die unterstellt, daß Wahrheit ohne Versöhnung möglich sei, ist unerfüllbar.
    Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt/M. 1972:
    – Nach kabbalistischer Anschauung ist es der Hahnenschrei, der die Macht des strengen Gerichts, die am Abend die Welt beherrscht, bricht; danach werden die Geister und Dämonen keine Gewalt mehr haben. (S. 195, vgl. auch Anm. 48, S. 277)
    – Magie ist nach der Kabbala ein erst im Sündenfall Adams, des ersten Menschen, sich eröffnendes Vermögen; magisches Wissen ist ein Wissen um die Blätter vom Baum der Erkenntnis (die gleichen Blätter, mit denen die ersten Menschen ihre Blöße verhüllten); „erst in der Nacktheit Adams … bricht die Magie als ein Wissen ein, das diese Nacktheit verhüllen kann“. (S. 228) Ist das formalisierte Bekenntnis die rationalisierte Gestalt der Magie?
    – Gershom Scholem zitiert eine (bei Hieronymus zitierte) Stelle aus Origenes, wonach der Rock aus Fellen („die Gewänder aus Haut“) die Materialisierung des Leibes symbolisiert. „Diese These findet sich auch öfters in der kabbalistischen Literatur.“ (Vgl. Anm. 37, S. 283) Bezieht sich diese „Materialisierung des Leibes“ auf die der Willkür entzogenen vegetativen Prozesse des lebendigen Organismus?
    – An anderer Stelle verweist Scholem auf die im christlichen Hexen-Wahn wiederkehrende Vorstellung von dämonischen Wesen, in denen reine Geistigkeit und Sexualität eine dämonische (diese Form der Dämonie konstituierende) Verbindung eingehen (succubi und incubi, vgl. S. 203). Reflektiert diese Vorstellung nicht eine Phase im Objektivierungsprozeß, in der Geschichte des Begriffs (und der Sprachlogik): die Konstituierung des gegen die Sprache sich verselbständigenden Objektbegriffs, die Trennung von Ding und Sache, den Ursprung und die Rezeption des Dingbegriffs, schließlich den Ursprung des modernen Naturbegriffs (das Korrelat des apokalyptischen „Unzuchtsbechers“)?
    Ende der Prophetie: Der Objektbegriff ist der ins Sehen transformierte (der der Sprache entkleidete, zum Verstummen gebrachte) Gottesname.
    Es stimmt nicht ganz, daß der Kaiser im Märchen nicht vorkommt: Er wird durch die Figur des Teufels repräsentiert, aus der er nur mit Hilfe des Antisemitismus herausgebracht, getilgt werden konnte (durch die Identifizierung von Teufel und Jude, die schon in der Gnosis, in der projektiven Identifizierung des Demiurgen, der eigentlich den Kaiser und die Form der staatlichen Institutionen, die er repräsentiert, bezeichnet, mit dem jüdischen Schöpfergott, aufs deutlichste hervortritt).
    Kaiser, Teufel und Objektbegriff (Dingbegriff) bilden eine (sprach- und bewußtseinslogische) Konstellation. (Die Krisen der römischen Kaisergeschichte spiegeln die Unfähigkeit wider, Sache und Ding zu trennen. Das ist erst dem mittelalterlichen Christentum auf der Basis der Eucharistieverehrung gelungen.)
    Ist die Trinitätslehre der Inbegriff der drei ersten ägyptischen Plagen als Dauerplage (was die Reduzierung auf die sieben Plagen der Apokalypse, auf das „Lösen der sieben Siegel“, erklären würde)? Ist die Kirche das instantisierte Pantheon (und so zum Bekenntnisgrund der imperialen Weltverfassung geworden)?
    Beitrag zur Kritik der Physik: Die Feuer der Hölle, das sind die Feuer der Empörung, die im entzündeten Ich auflodern und an dessen Ohnmacht (an der Ich-Schwäche) sich nähren.
    Haben nicht die Ableger der 68er Bewegung, von der raf bis zu den Grünen, sich in den Verstrickungen einer Logik verfangen, die die Realität zum Betonblock gerinnen läßt, einer Logik, die seitdem die Öffentlichkeit beherrscht, sie gegen jede kritische Reflexion der Wirklichkeit und gegen Selbstreflexion abschirmt? Antje Vollmer hat ebenso wenig begriffen, was im Hogefeld-Prozeß abläuft, wie Birgit Hogefeld selber.

  • 10.8.1995

    Die Welt konstituiert sich im Kontext von Herrschaft.
    Die Aufteilung der Welt durch die Logik der Medien in Fakten und Meinungen verwischt u.a. den Unterschied zwischen Skandal und Sensation, sie öffnet die Schleusen des Geschwätzes. Zugrunde liegt die Trennung von Ding und Sache, die am Ende dazu führt, daß die Sache aus dem Blick verschwindet.
    Der Weltbegriff läßt sich durch seine Kraft der Selbstlegitimation definieren. Vorausgesetzt ist die Neutralisierung des Subjekts zum abstrakten Selbst, zur abstrakten Identität: Diese Identität ist der Ort der Eins, an dem die Wasser sich sammeln, damit das Trockene sichtbar wird. Und dieses Sichtbarwerden des Trockenen ist die Selbstlegitimation, die Selbstbezeugung der Welt.
    Drückt das Bubersche „er rief“ (anstelle des sonst üblichen „er nannte“) nicht etwas von der katastrophischen Qualität des Schöpfungsberichts aus? Der Rufende ist der Einsame (der „Rufer in der Wüste“), das Rufen Ausdruck das des Verlangens nach einem, der antwortet.
    Die Opfertheologie leugnet die göttliche Barmherzigkeit, macht Gott zum Angeklagten. Nur im Kontext der Opfertheologie gibt es eine Theodizee.
    Der Verzicht auf die Reflexion der Form des Raumes löscht die Erinnerung an die Barmherzigkeit, sie entzieht der Reflexion von Herrschaft den Boden, sie ersetzt das Hören durch den Gehorsam: Sie zerstört den Grund der Sprache: den Gottesnamen. Ist nicht die ganze Geschichte des Christentums in diese Geschichte verstrickt?
    Zum theologischen Problem der Beweislogik: Die Theodizee macht Gott (durch das Mittel der Beweisumkehr) zu einem Objekt des Schuldverschubsystems (und die Reversibilität aller Richtungen im Raum macht die Form des Raumes zum Grund der Möglichkeit der Beweisumkehr: der „List der Vernunft“).
    Das Theodizeeproblem hat ebensowenig mit Gott zu tun wie der Antisemitismus mit den Juden.
    Die Idee der Wahrheit läßt sich ohne Erkenntniskritik nicht fassen: Sie schließt die Idee der Umkehr und den Begriff der Erlösung mit ein.
    Die Beweisumkehr versetzt den Ankläger in den Anklagezustand, sie macht das Recht zu einem Gnadenakt. Diese konformismuserzeugende Logik (die selbstlegitimatorische Logik des Weltbegriffs) liegt der Vertauschung von Genitiv und Dativ zugrunde.
    Die theophoren Namen im Hebräischen sind ein Hinweis darauf, daß die Sprache im Gottesnamen gründet. Erst die indoeuropäische Sprachlogik hat diesen Grund verstellt (blinder Fleck).
    Jesus hat nicht die Geldwechsler, sondern die Bänker aus dem Tempel vertrieben. Gehört nicht die Ezechiel-Geschichte über die Greuel im Tempel zur Vorgeschichte dieser neutestamentlichen Geschichte?
    Das Pfingstfest hat im Bilde der Feuerzungen das Feuer des Himmels mit der Sprache verbunden, sie zur Quelle der befreiten Sprache gemacht. Auf eine andere Beziehung der Zunge zum Feuer verweist der Jakobusbrief. (Die Beziehung des Feuers zum Raum ist ein Bild der Beziehung der Sprache zum Raum.)
    Der Kelch von Gethsemane: Ist er das Symbol für die Theologie (als Theologie hinter dem Rücken Gottes)? Und ist der Wille des Vaters die Theologie im Angesicht?
    Prophetie und Apokalypse – Buber und Scholem (Goodman-Thau: Zeitbruch, S. 161ff):
    – Prophetie wird durch den Weltbegriff zur Apokalypse;
    – Buber: Religion als Kuschelecke; Scholem: kein „Positivist“, sondern Wissenschaft als Schutz; mir waren die „rücksichtslosen“ Juden immer die liebsten (Rosenzweigs Briefwechsel mit Rosenstock-Huessey; Scholems Essay über Deutsche und Juden, seine Kritik des christlichen Erlösungsbegriffs);
    – Rosenzweig: Scholem ist dort, wo wir hinwollen (in einem Brief);
    – Thieme: Hitler war nicht der Antichrist, wohl aber die Generalprobe;
    – auch die Apokalypse steht unter Levinas‘ Bemerkung zum Indikativ (Gott korrigiert das Mißverständnis des Jonas);
    – nicht das Weltgericht Hegels ist das Jüngste Gericht, sondern das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht;
    – postapokalyptische Gestalten: Jonas (Tobias, in dem das Buch Jonas zurückgenommen wird, ist kein kanonisches Buch) und Maria Magdalena.
    Apokalypse kein Angstmacher, sondern ein Mittel der Angstbearbeitung.
    Zu Scholems Apokalyptik: Das „rabbinische“ Wort, wonach, wenn der Messias kommt, eine geringfügige Veränderung die Welt erlöst, stammt von Scholem.
    „Der Chassidismus ist das beste Beispiel dafür, daß das Leben die Lehre bestimmt, und nicht die Lehre das Leben, wie Scholem es wahrhaben will.“ (S. 168) – Ist das wirklich eine Alternative? Verhalten sich nicht Leben und Lehre wie Finsternis und Licht: Die Lehre bringt Licht ins Leben, aber das Leben ist die nach dem Licht verlangende, es insoweit definierende Finsternis („… der ich das Licht bilde und schaffe die Finsternis“ – Jes 457)? Der brennende Dornbusch ist das Paradigma meines Faschismus-Studiums: das brennende Innere der Profangeschichte ist der Ort der Selbstoffenbarung Gottes. Ist nicht das Licht, das in der Auseinandersetzung mit der Finsternis (mit der Welt) sich bildet, immer neu und zugleich das Medium der Tradition?
    Die Welt ist der Inbegriff des Seins für Andere und des Andersseins: Korrelat der Herrschaftsgeschichte, und so ist es der Inbegriff der Finsternis, der die Tradition immer neu abgewonnen werden muß.

  • 14.2.1995

    Das „Mein ist dein und dein ist dein“ (Scholem, S. 101) bezieht sich auf den gleichen Sachverhalt, den Levinas Geiselhaft nennt. Dieses Echo der Bergpredigt im deutschen Chassidismus mag nicht praktisch sein, aber die Gottesfurcht, in die es hineinführt, ist der Anfang der Weisheit. In den gleichen Zusammenhang gehören die Sätze „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ und „Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist“.
    „Wenn die Welt euch haßt“: Haßt die Welt heute nicht den, der sich nicht symbiotisch vereinnahmen läßt?
    Gotteserkenntnis ist die reinste Gestalt der Autonomie (Jer 3134).
    Das Herniederfahren Gottes und die Verwirrung der Sprache: Bezeichnat das nicht den Ursprung des Mythos und die teleologische Antizipation des Inertialsystems?
    Im deutschen Chassidismus ist das Verhältnis von zweiter und dritter Person singular als Modell von Offenbarstem und Verborgenem, von Nächstem und Fernstem begriffen worden (Scholem, S. 117). Mit dem Ursprung des Neutrum wird die Beziehung der dritten zur zweiten Person gelöscht. Im Neutrum gibt es keine zweite Person (und in der vom Neutrum beherrschten Sprache keine geschlechtsspezifische Gestaltung der zweiten Person). Das Neutrum in der ersten Person ist das Sich-Verstecken Adams unter den Bäumen des Gartens: die Persönlichkeit, das verweltlichte Subjekt. Das Neutrum ist das Medium und die Basis des Schuldverschubsystems: Die Schlange kann die Schuld nicht weiter verschieben. Das Ich des deutschen Idealismus ist das Subjekt des spekulativ entfalteten Neutrum: Bindeglied zwischen Hegels Absolutem und der Schlange (die das klügste aller Tiere war).
    Liegt der tiefste Schmerz im Buche Hiob nicht darin, daß dem Hiob am Ende zwar neue Söhne und Töchter geboren, die toten aber nicht auferweckt werden? Ihr Tod war nicht für sie, sondern nur als Prüfung Hiobs wichtig.
    Die Binde, die nach mittelalterlicher Symbolik auf den Augen der Synagoge liegt, ist eine Projektion der Kirche. Ist der Vorhang des Tempels, der beim Tod Jesu entzweiriß, das nicht die Decke, die bis heute auf der Schrift liegt, sie bis heute fundamentalistisch verhext (Symbol der Logik der Schrift)?
    Der Satz, daß das Vergangene nicht nur vergangen ist (den die Logik der Schrift leugnet), ist zu ergänzen durch den andern Satz, daß es in dieser Welt keine Unschuld mehr gibt. Der Unschuldstrieb, den das Christentum mit der Sexualmoral in die Welt gebracht hat, wird denunziert durch die Geschichten
    – von der Ehebrecherin (wer von euch ohne Schuld ist, …),
    – von der Samaritanerin (vier Männer hattest du, und der fünfte ist nicht dein Mann) und
    – von Maria Magdalena (die von den sieben unreinen Geistern befreit wurde).
    Die Sexualmoral ist das Instrument und die Erscheinung (das Produkt) der Verinnerlichung der Scham (Zusammenhang mit dem Unschuldstrieb, dem Rechtfertigungszwang und der projektiven Struktur der Erkenntnis, dem Schuld-, Herrschafts- und Verblendungszusammenhang).
    Ist nicht die Kirche das Planetensystem, dessen antipodisches Zentralfeuer die jüdische Tradition ist?
    Ein Regenbogen, in dem die Farben – von außen nach innen – von rot, orange, gelb über grün, blau bis violett erscheinen.
    Die Kritik und Rekonstruktion der Theologie darf den Schein der Blasphemie nicht fürchten. Dieses Blasphemische wäre nur die Schmerzgrenze der Subjektivität, im Kontext des Weltbegriffs allerdings etwas sehr Objektives, ebenso objektiv wie die Astrologie. Ist diese Schmerzgrenze nicht zugleich die Scham- und die Todesgrenze? Das Inertialsystem ist diese Schmerz-, Scham- und Todesgrenze, die die Dinge von der Sprache trennt; zu deren subjektiven Voraussetzungen gehört die Verinnerlichung der Scham. Diese Grenze gehört zu den Voraussetzungen der projektiven Erkenntnis (des Natur- und Materiebegriffs).
    Hat nicht der Geheimnisbereich des Staates, der heute gleichsam explodiert, etwas mit der Astrologie zu tun?
    Bemerkung zur Sexualmoral: Dem Begriff der Tatsache liegen der Unschuldstrieb und der Rechtfertigungszwang (die Abwehr der Gottesfurcht) zugrunde: Die „Tatsache“ gründet in einer Tat, die zugleich geleugnet wird (die aber erst seit dem Ursprung des Inertialsystems geleugnet werden kann): Je nackter die Tatsachen, umso unschuldssüchtiger das Bewußtsein, umso stärker der Rechtfertigungszwang und umso tiefer das projektive Strafbedürfnis. Nackt (entkleidet) werden die Tatsachen durch ihre Objektivation, ihre Subsumtion unter die Vergangenheit: d.h. fürs Herrendenken. Nackte Tatsachen sind für die Barmherzigkeit unerreichbar, es sei denn, unter dem Symbol der Auferstehung der Toten.
    Dr Begriff ist hamitisch: Er weigert sich, das trunkene und nackte Objekt zuzudecken, macht vielmehr seine Trunkenheit und Nacktheit (über die subjektiven Formen der Anschauung) öffentlich. Das Wahre ist nach Hegel der bacchantische Taumel, in dem kein Glied nicht trunken ist.
    Reklame ist das modische Kleid der Waren.

  • 13.2.1995

    Gemeinheit ist ein projektives Verhalten; sie gehört zu den (Ab-) Gründen des Wissens.
    Das „Liebet eure Feinde“ ist ebensosehr ein ethisches wie ein erkenntniskritisches Gebot.
    Die Doppelbedeutung des Wortes Geschichte hängt damit zusammen, daß Geschichte nur für uns: gewußte Geschichte ist (und daß die Objektivierung die Geschichte wie das Inertialsystem die Natur verändert); mit der Taufe der Vergangenheit, mit ihrer Konstituierung durchs Wissen wird sie gleichsam überdeterminiert. In dieser Überdeterminierung gründet das kontrafaktische Urteil, das vergebliche Wenn-Dann. Durch ihre Objektivation wird die Geschichte aus dem Kontext herausgelöst, in dem ihre Beziehung zur Wahrheit gründet: ihr prophetisches Verhältnis zur Gegenwart, zur Aktualität.
    Genesis: Durch den prophetischen Erkenntnisbegriff wird der Anfang ins Allernächste gerückt.
    Kelle: Steht nicht unser Schöpfungsbegriff unter dem Apriori des Kelchs (des Bechers, der Schüssel, des Topfs)?
    Die Gravitation steht im Zeichen der Gewalt des Unteren über das Obere (oder des Abimelech), die Optik und die Elektrodynamik (das objektivierte Licht) im Zeichen der Gewalt der Linken über die Rechte (der linkshändigen Benjaminiten). In der Mechanik gewinnt das von Hinten Gewalt über das Vorne. Nur durchs Inertialsystem bezieht sich jedes Moment auf das Ganze, das es nicht gibt.
    Sind nicht die göttlichen Verheißungen allesamt Gebote, und erst im Tun erfüllen sie sich als Verheißungen?
    Die Grammatik ist die Logik der Sprache; in ihr ist die Vergangenheit präsent, die so lange Macht über uns haben wird, wie wir vergessen, sie zu reflektieren. Es müßte eigentlich möglich sein, den Begriff der Barbaren aus der Logik der griechischen Sprache, aus ihrer Grammatik, abzuleiten: Im Zentrum stünde hierbei das Problem des Neutrum. Nicht zufällig gehört zu den Konnotationen des Begriffs der Barbaren der Stammelnde.
    „Mein ist dein, und dein ist dein“ (Scholem, Hauptströmungen, S. 101): Ist das nicht eine Erläuterung des Namens der Barmherzigkeit (der im Namen der Gebärmutter wurzelt), und wirft es nicht zugleich ein Licht auf das Wort „hysterische Panikmache“? Löst nicht die Idee der Barmherzigkeit unterm Bann der Selbsterhaltung in der Tat panische Existenzängste aus?
    Der philosophische Existenzbegriff notiert und suggeriert, daß es zur Selbsterhaltung keine Alternative mehr gibt, daß die ihm korrespondierende Welt eine Wolfswelt ist, und daß man dann, wenn schon nicht ein edler, so doch ein geadelter Wolf sein möchte (darauf verweist der Begriff der Eigentlichkeit, der dem Existenzbegriff Patina verleiht).
    Eigentlichkeit: Man möchte vom Gott geliebt sein, aber von dem in dieser Liebe sich manifestierenden Gebot sich zugleich dispensiert wissen.
    Durch die Logik, die der Religion im Säkularisationsprozeß zugewachsen ist, durch die Bekenntnislogik, ist die Religion zu einem Herrschaftsmittel geworden, ist sie von innen blasphemisiert worden.
    Die urzeitliche Katastrophe, von der der Dialektik der Aufklärung zufolge die Tiere zeugen, ergreift heute die Menschheit: Darauf beziehen sich das apokalyptische Bild des Tieres und sein Gegenbild, das des Menschensohns. Hat nicht der Ursprung des Weltbegriffs (im Kontext der Geschichte des Ursprungs des Staates und der Philosophie) mit jener urzeitlichen Katastrophe zu tun?
    Auf die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, die den Begriff konstituiert, antwortet die Theologie mit der Errettung der vergangenen Hoffnung, die an den Namen sich heftet.
    (Der deutsche Adler hat sich geteilt in die Bundestagshenne und den Ämtergeier.)

  • 4.2.1995

    Gethsemane: Die Rechtfertigungslogik und die Verdrängung des Todes machen den Kelch zum Kelch: sie gehören zu den Konstituentien der subjektiven Formen der Anschauung. Der Tod begründet die subjektiven Formen der Anschauung, die die Vergangenheit abschließen; so schließt er den Kelch, macht ihn „inhalts“-fähig. Deshalb gehört die Reflexion des Todes (bis hin zu seinen objektiven Manifestationen und Verzweigungen in den Formen der begrifflichen, der „intentionalen“ Erkenntnis) zu den Bedingungen der Rekonstituierung des Angesichts. Theologie im Angesicht Gottes hat Gethsemane als Ausgangspunkt. Rabbi Akiba, „von dem der Talmud sagt, daß er das Paradies der mystischen Spekulation heil betrat und heil verließ“ (Scholem, Hauptströmungen, S. 20), bezeugt damit die Todesgrenze, die nach biblischer Tradition überschreitet, wer Gott von Angesicht zu Angesicht sieht. Darauf bezieht sich der Satz: Stark wie der Tod ist die Liebe, der Rosenzweig zufolge die Offenbarung begründet. Deshalb gibt es (vgl. Büchners „Lenz“) keine Theologie ohne Kritik der Naturwissenschaften. Die Versuche, Theologie und Naturwissenschaft zu harmonisieren, zerstören beide.
    Heute sind die Naturwissenchaften zum Opfer ihrer eigenen Prämissen geworden.
    Die Verdrängung des Todes, seine Objektivierung und Instrumentalisierung, und die Logik projektiver Erkenntnis gehören zu den Grundlagen des Herrendenkens; deshalb gehören Magie und Mythos zur Geschichte der Äufklärung.
    Das altchristliche Symbolum war noch Mysterium, ein Sakrament. Erst als Confessio, als Bekenntnis ist es (als Korrelat der Verinnerlichung des Opfers) öffentlich geworden, wurde es vergegenständlicht und instrumentalisiert: der Logik der Schrift unterworfen. Als Bekenntnis wurde es zum Instrument der Verinnerlichung von Herrschaft.
    Kennt Hegel den Begriff der Hysterie? Im Register der Suhrkampschen Werkausgabe kommt der Begriff nicht vor.
    In den „Hauptströmungen der jüdischen Mystik“ verweist Scholem auf den männlichen Charakter der jüdischen Mystik, die „von Männern für Männer gemacht ist“ (S. 40). Er bemerkt dazu u.a., daß so einerseits die jüdische Mystik „von der gefährlichen Neigung zu hysterischen Extravaganzen verhältnismäßig frei geblieben“ sei, während auf der andern Seite der „Verzicht auf das Weibliche teuer bezahlt“ worden sei, nämlich „mit einer besonders stark hervortretenden Dämonisierung gerade des weiblichen Elements im Kosmos“ (ebd.). Im kabbalistischen Symbolismus bedeutet „das Weibliche nicht, wie man erwarten möchte, das Zarte …, sondern das Strenge und Richtende“ (S. 41). Läßt sich hieraus nicht der Stellenwert und die Grenze der Kabbala (ihre Beziehung zur Geschichte des Weltbegriffs und zur Herrschaftsgeschichte) herleiten?

  • 30.1.1995

    Haben das unreflektierte Anschauen und die Reflexion des Gegenblicks etwas mit der Unterscheidung von kurzem und langem Gesicht (se’ir anpin und arich anpin, der Ungeduldige und der Langmütige, der streng Richtende und der Barmherzige, vgl. Scholem, Hauptströmungen, S. 296) in der Kabbala zu tun? Dann wären die Formen der Anschauung Instrument und Symbol der Ungeduld und des strengen Gerichts.
    Die subjektiven Formen der Anschauung sind das Äquivalent der Logik der Schrift im Subjekt. Die transzendentale Logik ist die logische Entfaltung dieser Formen.
    Zur Ursprungsgeschichte des Neutrums: Das Neutrum (zusammen mit den es absichernden Formen der Konjugation) ist der Boden, aus dem der Objektbegriff erwächst (die erste sprachliche Gestalt der subjektiven Formen der Anschauung). Die am Präsens orientierten Formen der Konjugation sind das Modell und die Ursprungsgestalt der transzendentalen Logik.
    In den sogenannten Staatsschutzprozessen wird der Grundsatz „in dubio pro reo“ so angewandt, als wäre der Staat der Angeklagte, von dessen Unschuld im Zweifelsfalle auszugehen ist. Alle Verfahren laufen so, als ob im Grunde alle wüßten, daß der Staat schuldig ist, während jedoch zugleich das Recht als Instrument eingesetzt wird, dieses Wissen in sich selbst und in den Andern zu unterdrücken. Nur in diesem Zusammenhang macht der Titel „Staatsanwalt“ Sinn. Zugleich wird der Zweck der Robe deutlich: Die Robe, das sind die Bäume, unter denen Adam, nachdem er erkannt hatte, daß er nackt war, sich versteckte; ohne Robe wären Ankläger und Richter nackt.
    Auf die Frage, ob sie bei der Eidesleistung von der religiösen Eidesformel Gebrauch machen wolle, fragte heute eine Zeugin den Richter: „Wie ist es denn hier üblich?“
    Daß die Justiz auf dem rechten Auge blind ist, ist nicht (personalisierend) als Gesinnung zu kritisieren, sondern aus ihrer Wurzel abzuleiten: aus der Bindung der Justiz an eine Staatsmetaphysik, in der am Ende die Gewalt des anklagenden Prinzips auf ihren Urheber zurückschlägt. Der zugrunde liegende Sachverhalt drückt sich in dem Titel Staatsanwalt aus. Ist nicht der Staatsanwalt der Verteidiger des Staats, und gehört nicht zur Vorgeschichte des Staatsanwalts das kirchliche Institut der Inquisition, deren Aufgabe es war, die Kirche gegen die Angriffe der Ketzer zu verteidigen?
    Wenn die Generalbundesanwaltschaft die objektivste Behörde der Welt ist, dann ist die Deutsche Bundesbank die vom Eigeninteresse freieste. Die Geschichte des Rechts und des Staates ist in der Tat von der Geschichte des Geldes und der Banken nicht zu trennen.
    Je weniger die Politik in der Lage ist, Konflikte zu lösen, umso mehr muß sie nach außen den Eindruck erwecken, sie allein täte es. Das Gewaltmonopol des Staates löscht die benennende Kraft der politischen Sprache: Es ersetzt die Notwendigkeit der konkreten Begründung politischen Handelns durch Reklame, Geschwätz.

  • 25.7.1994

    Wird der Kelch des göttlichen Zornes, der Taumelbecher, erst in der Apokalypse (im Kontext des Weltbegriffs, durch den das Christentum von der jüdischen Vorgeschichte sich unterscheidet) zum Becher der Unzucht?
    Das Taumeln gehorcht der inneren Logik der intentio recta. Deshalb ist „das Wahre der bacchantische Taumel, bei dem kein Glied nicht trunken ist“. Die intentio recta ist der logische Kern der Urteilsform, sie begründet die Form der Beziehung von Objekt und Begriff (die Logik der Schrift und den Tod des Namens). Ist nicht die Raumvorstellung eine gigantische Veranstaltung zur Absicherung der intentio recta?
    Ursprung des Neutrums: eine Folge der Logik der Schrift. Deshalb ist die hebräische Sprache und Schrift die hebräische (die Prophetie als Blitz aus den Wolken der Logik der Schrift).
    Doppelter Aspekt von Joh 129: Ist das Auf-sich-Nehmen der Sünde der Welt die Geschichte des Christentums?
    Die Kasuistik übersieht, daß es Situationen gibt, die dem moralischen Urteil der Menschen sich entziehen (weil sie allein dem Gericht Gottes unterliegen). Sie ist ein Produkt der Hybris des Absoluten (der Abstraktion von der Idee des göttlichen Angesichts).
    Die raum-zeitliche Welt ist die gefallene Welt (der Fall ist ein Vorgang in der Sprache).
    Die Vorstellung, daß die Sprache etwas Subjektives sei, und die Realität draußen sich äußerlich zur Sprache verhält, ist vermittelt durch die Urteilsform. Sie gilt nur im Bannkreis des Begriffs, der Herrschaft des Begriffs, während die erkennende Kraft der Sprache auch die Objektivität selber umgreift. Hier gründet das, was man den Sprachleib nennen könnte; auf ihn beziehen sich die symbolischen Elemente der Sprache, bezieht sich ihre erkennende und benennende Kraft (im Sprachleib bezeichnet die Gebärmutter die Barmherzigkeit und die Hysterie).
    Historische Dinge sind nicht nur Dinge in Raum und Zeit, sondern auch Dinge in der Sprache.
    Der Aktualitätsbezug (durch den die Prophetie von der Philosophie sich unterscheidet) ist ein Konstituens der erkennenden und benennenden Kraft der Sprache; ihr (sic, B.H.) Verhältnis zur Sprache, die nur auf Raum-Zeitliches sich bezieht, gründet in der Idee der Umkehr. Der Unterschied von Rechts und Links, Vorn und Hinten, Oben und Unten, ist ein sprachlicher, kein physikalischer Unterschied; er ist in der aufgeklärten Welt gegenstandslos geworden, mit ihm aber auch der Grund, aus dem die Sprache erwächst und sich nährt. Mit dieser Verdrängung des Sprachgrundes ist die Kraft des Eingedenkens, die Fähigkeit, die Vergangenheit zu reflektieren, verschwunden.
    Nur die Fähigkeit zur Schuldreflexion (die Sündenvergebung) dringt durch die Grenze, die Begriff und Name, die raumzeitliche und die symbolische Erkenntnis, trennt.
    Die verfaulenden Reste des Staates leben fort in der Bekenntnisreligion (seit die Menschen nicht mehr wissen, was sie tun, haben sie einen übermächtigen Rechtfertigungsbedarf: Grund der Bekenntnislogik).
    Merkwürdig, daß der jeremianische Begriff der Welt (tewel: ein Weltbegriff vor der Trennung von Welt und Natur) in der Wendung der kabbalistischen Tradition zum Nihilismus wieder erscheint (vgl. Scholem, Judaica 4).
    Hängt die Idee (das Symbol) der messianischen Wehen mit dem Ursprung des Weltbegriffs zusammen; ist sie in ihrer Substanz christlich?
    Wenn ich ein Buch lese, betreibe ich Erinnerungsarbeit: Es ist ein Anlaß der Selbstverständigung, der Überprüfung der eigenen Erinnerung (Grund meiner Unfähigkeit zum vergegenständlichenden Lesen).
    Wird die Sintflut nicht verständlicher im Kontext des symbolischen Verständnisses der Erde als Sprache und des Himmels als Logik der Schrift? Liegt hier nicht der Grund (oder zumindest ein Grund) des Christentums (hat das historische Christentum den Jesus nicht ins majim zurückgestaut, anstatt ihn als das esch zu begreifen)? Die Sintflut begründet (zusammen mit dem noachidischen Bund) „die Welt“, das Christentum beendet sie (Joh 129).
    Die Sekten instrumentalisieren vorhandene apokalyptische Ängste und beuten sie aus; wirkliches apokalyptisches Denken wäre es, in den apokalyptischen Symbolen den Grund der Angst zu begreifen: ein Schritt in Richtung der Befreiung von Angst, ein Vesuch, den Kopf oben zu behalten: Immunisierung gegen die Opferrolle (in der auch die Kirchen ihre Gläubigen gefangen hält).
    Bezeichnet das Kreuz im Nachfolgegebot das Joch des Jeremias?
    Priesterreligion ist Religion für andere, deshalb gehorcht sie der Bekenntnislogik (und fällt in die Geschichte der drei Leugnungen).
    Haben die Gottlosen, Sünder und Spötter in Psalm 1 etwas mit der Geschichte der drei Leugnungen (mit der Geschichte der Theologie hinter dem Rücken Gottes) zu tun?
    Das Christentum hat seit je die Buße mit der Strafe verwechselt; das war die Folge der Trennung der Umkehr von den göttlichen Verheißungen, der Versuch, die Umkehr in autoritärem Kontext (im Kontext des Weltbegriffs) zu reformulieren (Ersetzung des Hörens durch den Gehorsam).
    Zum Buch Daniel: Nebukadnezzar hatte einen Traum, aber er hat ihn vergessen.
    War das Dogma nicht der erste Versuch einer „Endlösung“?
    Erinnerungsarbeit ist reflektierte Prophetie.

  • 9.4.1994

    Haben die zwölf Stämme Israels (und die zwölf Apostel) etwas mit dem Tierkreis zu tun (und die sieben Schöpfungstage sowie die sieben Diakone etwas mit dem Planetensystem)? Hängt das Wort an Abraham, seine Nachkommenschaft werde zahlreich wie die Sterne sein, damit zusammen (und die hierarchische Organisation des kirchlichen Christentums mit dem Diakonat)? Sind die Zwölf und die Sieben nicht beide Totalitätssymbole, die den Totalitätsbegriffen Welt und Natur korrespondieren: die Zwölf bezeichnet den räumlich-weltlichen (Tierkreis, die Stämme Israels, die Apostel), die Sieben den zeitlich-naturhaften Aspekt (Planeten, das Schöpfungswerk, die sieben Diakone, die sieben Siegel). Gibt es eigentlich eine Beziehung der sieben kanaanäischen Völker zu den Planeten (oder zu den sieben Siegeln)? Kanaan als Grund oder das Allgemeine dieser Völker bezeichnet auch die Händler: Ist der Merkur der Grundplanet? Die Differenz zwischen Theologie und Herrschaftsmystik liegt in der Idee der Auferstehung. Die Mystik, zu deren historischen Voraussetzungen in der Tat die Philosophie gehört, fällt in die Geschichte der drei Leugnungen: Insbesondere die zweite Leugnung, in der die Magd mit den Umstehenden über Petrus redet, bezeichnet eine Stufe, in der jeder für sich die Welt ist, die dann alle bewußtlos, unreflektiert unter sich begreift. In der dritten Leugnung, in der die Umstehenden von der Magd sich emanzipiert haben und auf Petrus eindringen, wird das Objekt in das Subjekt mit hereingenommen; das Medium der Mystik kontrahiert sich zum Absoluten (zum Inertialsystem): das Modell dieser dritten Leugnung, die Subjektivierung des Objekts und die Vergesellschaftung der Erkenntnis und des Wissens (in der der Begriff der Welt sich in sich selbst konstituiert), ist die transzendentale Logik, die kantische Philosophie ihre erste Reflexionsgestalt. Nur die Kirche kennt kanonisierte Heilige (und das Institut der Heiligsprechung): sie sind die Nachfahren der Helden, und die Legenden Rückbildungen des Epos in den Mythos. Durch die Welt (durch die Absperrung von der benennenden Kraft der Sprache) wird der Mensch zum Tier: Nicht durchs Denken, sondern durch die davon noch unterschiedene Sprache unterscheidet sich der Mensch vom Tier (während er durch die subjektiven Formen der Anschauung wieder in den Bann der Animalität: der Selbsterhaltung hereingezogen wird). Im Indizienbeweis (sowie generell im juristischen wie im wissenschaftlichen Beweisverfahren) wird versucht, eine Lücke zu schließen, deren Offenhaltung das Grundinteresse der Theologie ist (hierauf bezieht sich das Wort, daß „die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen werden“). Diese Lücke wird im einsteinschen Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit offengehalten, während die Kopenhagener Schule in ihrer Interpretation der Mikrophysik (Unbestimmtheitsrelation, Komplementarität, Korpuskel-Welle-Dualismus) sie zu wieder zu schließen versucht (und die Spur dieses Versuchs, die sich nicht verwischen läßt, der falschen Theorie als Prestige gutschreibt): Die Physik hat sich durch ihre selbstgesetzten Prämissen (durchs Inertialsystem) gegen die sinnlich-übersinnliche Welt verschlossen. Und die Fundamentalontologie ist die Selbstreflexion dieses Status. Ist nicht die Rehabilitierung der unio mystica (Grözinger gegen Scholem, sowie in der Sache auch gegen Rosenzweig, Benjamin, Bloch, Horkheimer und Adorno) der Versuch einer Abschirmung der Mystik gegen ihre gesellschaftliche Selbstreflexion, deren Ansätze in der Kabbala, aber auch bei Jakob Böhme, Baader und Molitor doch eigentlich unübersehbar sind? Ziel dieser Mystik war nicht die unio mystica, sondern die Heiligung des Namens. Sie war determiniert durch das Bewußtsein, daß die unio mystica das Keuschheitsgebot (das in der christlichen Tradition, unter dem Zwang der Logik des Weltbegriffs jedoch auch in den anderen „Weltreligionen“, anstatt im genaueren Sinne theologisch immer nur sexualmoralisch verdinglicht angewandt worden ist) verletzt.

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