Scholem

  • 13.05.93

    Ist nicht das „Wachet und betet“ in Getsemane auf die beiden Augen (den Unterschied des rechten und linken Auges) bezogen (vgl. Sohar, S. 77)?
    „Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch.“ (Ez 3626)
    Zur Theologie Jes 287: Priester und Propheten schwanken vom Bier, sind überwältigt vom Wein.
    Zur Politik Jes 2814ff: Darum hört das Wort des Herrn, ihr Spötter, ihr Sprüchemacher bei diesem Volk in Jerusalem. Ihr habt gesagt: Wir haben mit dem Tod ein Bündnis geschlossen, wir haben mit der Unterwelt einen Vertrag gemacht. Wenn die Flut heranbraust, erreicht sie uns nicht; denn wir haben unsere Zuflucht zur Lüge genommen und uns hinter der Täuschung versteckt. …
    Den Anfang des Stern der Erlösung (die Todesfurcht) anstatt auf die Erfahrung des ersten Weltkriegs auf Getsemane beziehen.
    Warum hat eigentlich niemand aus der Nazi-Parole Blut und Boden das hakeldama, den Blutacker, herausgehört?
    Ist nicht der Begriff der Rasse ein Versuch, die in der Schrift noch unterschiedenen Begriffe Stämme, Völker, Sprachen und Nationen gleichnamig zu machen, in einem Objekt zusammenzuziehen? Und bietet sich da nicht das Deutsche als gleichsam natürlicher Bezugsrahmen an?
    Vaterland und Muttersprache, oder die Schuld der Väter und die Sünden der Mütter.
    Ist nicht die Biologisierung der Sprachgeschichte durch den Rassebegriff eine Verschiebung: Verdrängt sie nicht die Erinnerung an den Sprachleib?
    War das peri physeos der Vorsokratiker nicht eine Abwehrwaffe gegen die Schrecken der Mächte der Vergangenheit?
    … Hier gilt: Wer sein Leben erhalten will, wird es verlieren.
    Ist nicht das Inertialsystem ein Spinnennetz; und gibt es nicht Spinnen, bei denen das Weibchen das Männchen nach der Begattung frißt?
    Die Bemerkung im Sohar, „daß es das Ich ist, welches die Flut bringt“ (S. 119) wird durch den Satz des Tales: „Alles ist Wasser“ bestätigt: Die Hegelsche Philosophie ist die Sintflut (die vom Ich überschwemmte Welt).
    Idee einer Gestalt der Erkenntnis, die dadurch frei ist, daß sie den Rechtfertigungszwängen (der normativen Gewalt des Begriffs des Wissens) entronnen ist: Sie konvergiert mit dem Begriff einer Erkenntnis, die sich die Idee des seligen Lebens nicht ausreden läßt. Bangemachen gilt nicht.
    Als Walter Benjamin (und nach ihm auch Ernst Bloch) einmal den „berühmten Rabbi“ zitierten, als welcher sich dann später Gerschom Scholem bekannt hat, haben sie da nicht den Hahn und den Messias verwechselt. Die geringfügige Änderung, die alles zurechtrückt, betrifft den Gebrauch des Weltbegriffs.
    Das Dogma ist die versteinerte Wahrheit, und durch das Dogma zum steinernen Herzen der Welt geworden. Bezieht sich darauf nicht die Geschichte vom Hahn?
    Zum Hinter dem Rücken gehört Benjamins Wort über Franz Rosenzweig, er habe es vermocht, die Tradition auf dem eigenen Rücken weiterzubefördern, und die Übernahme der Last: der Sünden der Welt. Nicht nur stellvertretend die Schuld der Welt auf sich nehmen, sondern real, durch das Bekenntnis „ich war’s“: die Sünden der Welt. Aber das ist schwierig, fast unmöglich, in einer Welt, die vom Schuldverschubsystem lebt, sich vom Drachenfutter nährt.
    Das Problem der Beziehung von Philosophie und Prophetie ist das Problem der Beziehung von Name und Begriff, von Im Angesicht und Hinter dem Rücken und von Sünde und Umkehr.
    Im Symbolum wurde das Bekenntnis noch als ein Metaphorikum begriffen.
    Ist die feministische Theologie heute nicht in der Situation der Martha (oder war es Maria?), die angesichts des toten Lazarus zu Jesus sagte: Herr, er riecht schon? Über das tote Mädchen sagte Jesus: Sie ist nicht tot, sie schläft nur.
    In Büchners „Lenz“ gibt es die Szene, in der der verwirrte Lenz ein verstorbenes Kind ins Leben zurückzurufen versucht („Sehen Sie, Herr Pfarrer, wenn ich Gott wäre, ich würde retten, retten“). Dem folgt die Stelle, an der Lenz real begreift, daß der Mond nur eine Steinwüste ist, und „in diesem Moment griff mit einem entsetzlichen Lachen der Atheismus in ihm Platz“. Dieses Lachen begreift mehr von der Physik und vom „naturwissenschaftlichen Weltbild“ als alle theologischen Harmonisierungsversuche. Und nach diesem Lachen (als Mimesis ans Subjektlose), meine ich, reicht die Wahrnehmung, daß Jesus in den Evangelien nie lacht, wohl aber die Dämonen austreibt, sehr nahe an den Wahrheitsgehalt der Evangelien heran.
    Im autoritären Denken (im Konkretismus und in der Personalisierung) präokkupiert der Herr die Stelle der Armen und Fremden. Hier liegt der Grund des Gebrauchs der projektiven Begriffe Barbaren, Natur und Materie, von dem das autoritäre Syndrom (Zusammenhang mit der Struktur der „indogermanischen“ Sprachen?) nicht abzulösen ist.

  • 05.05.93

    Nach dem Sohar (Diederichs-Ausgabe, S. 232) ist Brot Symbol der Rechten (der Gnade) und Wein Symbol der Linken (des Gerichts, der Strenge). Vgl. hierzu Melchisedech, die Geschichte Josephs im Gefängnis (mit dem Weinschenk und dem Bäcker des Pharao), aber auch die Geschichte vom Abendmahl, die eine andere Bedeutung gewinnt, als die Kirche ihr in der Transsubstantiationslehre zugesprochen hat. In Emmaus hat Jesus nur das Brot gebrochen (daran haben die Jünger ihn erkannt), während er beim Abendmahl den Wein sich aufbehalten hat bis zur Wiederkunft. Löst sich hier das gräßliche Entsühnungskonzept auf (bis hin zu den Stellen im Hebräerbrief)?
    „Denn wäre das Salz nicht, so könnte die Welt das Bittere nicht ertragen“ (ebd., S. 233). Dazu: Ihr seid das Salz der Erde.
    Ist das Gewölk die Schechina (Sohar, Ausgabe Scholem, S. 83)? -Der Menschensohn wird „auf den Wolken des Himmels“ wiederkommen.
    Beachte den Zusammenhang von Waw, et und ata (sechs, und, du).
    Der Weltbegriff bezeichnet nicht nur die Zivilisationsschwelle, sondern an ihm scheidet sich der Begriff der Erkenntnis in der Theologie. Die Kritik des Weltbegriffs ist der Kern der Dogmenkritik, und zwar als Beginn einer Scheidung im Dogma selber: der Befreiung der Wahrheit.
    Die Ich-Schwäche bedarf des Bekenntnisses, und das Bekenntnis stabilisiert die Ich-Schwäche (durch Hypostasierung der Welt). Im Fremdenhaß kulminiert und explodiert die Bekenntnislogik.
    War die Vätertheologie ein Produkt der Hellenisierung, so war die Scholastik ein Produkt der Islamisierung des Christentums.
    Jesus hat den drei Versuchungen widerstanden, die Kirche ist ihnen in der Folge der drei Leugnungen erlegen, bis hin zur Selbstverfluchung:
    – Die Herrschaftsversuchung (Konstantin und die Entwicklung des Dogmas),
    – die Versuchung, Steine in Brot zu verwandeln (die sakramentale, insbesondere die eucharistische Versuchung),
    – die letzte Versuchung, sich von der Zinne des Tempels zu stürzen (die babylonische Versuchung).
    Im Gegensatz zur Empfindlichkeit ist Sensibilität nur noch im Kontext der Gottesfurcht rekonstruierbar.
    Das Kapitel aus der Phänomenologie des Geistes über Herr und Knecht paßt nur auf das Verhältnis des Bürgertums zum Feudalismus, nicht auf die Beziehung des Proletariats zum Kapitalismus.
    Ist das Proletariat die Arbeiterschaft, wird hier nicht der Begriff gleichsam positivistisch eingeschränkt. Sind nicht alle Nicht-Eigentümer Proletarier, und deshalb der sich durchsetzende Kapitalismus die Hypertrophie der herrenlosen Knechtsgesinnung (oder die Vergesellschaftung des Herrendenkens)?
    Die Welt ist es, die kreuzigt, und die Natur ihr Opfer, aber ohne Ausblick auf eine Auferstehung. Hat eigentlich je schon jemand an die Auferstehung geglaubt?
    Erst mit ihrer Entkonfessionalisierung wird die Wahrheit aus der Lähmung durch den autoritären Bann befreit.
    Armut, Gehorsam und Keuschheit, sind das nicht Aufforderungen, den Ursprung des Geldes, der Schrift und des Staates endlich zu begreifen?
    Das Prinzip der Neutrumsbildung (und damit des Ursprungs des Weltbegriffs und der indogermanischen Sprachen) ist der Staat.

  • 03.12.92

    „Der Glaube, den ein Mensch nach außen hin bekennt, kann keinesfalls sein wahrer Glaube sein.“ (Scholem: Erlösung durch Sünde, S. 60) Problem des „nach außen hin“, des Begriffs der Öffentlichkeit, des Rechts und der Beweislogik (Gemeinheit ist kein strafrechtlicher Tatbestand), Kritik der Naurwissenschaften, Dialektik der Aufklärung (Begriff Produkt der Verinnerlichung des Schicksals, Konstruktion der Idee des Schicksals), die „verandernde Kraft des Seins“ (Rosenzweig), Adornos Atheismus.
    Aber: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.
    In Illustrationen zur Prähistorie werden die „Steinzeitmenschen“ generell mit Tierfellen bekleidet dargestellt. Ist das nicht ein Relikt unverstandener Bibellektüre? Was es wirklich mit den „Röcken aus Fellen“, die Gott „machte“ und Adam und Eva nach dem Sündenfall gab, um ihre Blöße zu bedecken (Gen 321), auf sich hat, ist – wie mir scheint – völlig offen. Kann es nicht sein, daß es mit den Fellen, die die Feigenblätter ersetzen, eine ganz andere Bewandnis hat: daß nämlich gleichsam die Feigenblätter zu Fellen mutieren und dann aus den Fellen, von außen nach innen, sich das apokalyptische Tier bildet?
    Unterscheidet auch die Bibel zwischen Häuten und Fellen (haben Schweine und Pferde Felle; aber Hunde und Katzen, d.h. Raubtiere haben Felle)? Aus Häuten werden Lederwaren hergestellt. Häute assoziieren die Vorstellung der Nacktheit. Ist die Unterscheidung von Häuten und Fellen kompatibel zu der von Hufen und Pfoten? Gibt es Tiere mit Pfoten, die auch Hörner haben? Schafe und Ziegen haben Fell, Hufe und Hörner.
    Wie hängen Scham und Kälte mit einander zusammen? Das Fell bedeckt nicht nur die Blöße, sondern schützt auch vor der Kälte. Sind Wärme und Kälte nicht auch Attribute des Blicks (und somit auf die Scham bezogen)? Ist nicht die Scham auch ein Frieren (und die Kälte eine Art neutralisierter Scham)? Und ist die Hitze, das Fieber, die Entzündung, eine Art Schamreaktion (ich werde rot und mich überläuft’s heiß)?
    Die merkwürdigen Phänomene wie Horn und Schwanz: Der Schwanz ist ein Teil des Fells, die Hörner hängen mit den Krallen Fuß- und Zehennägeln, den Hufen, sowie mit den Haaren zusammen. Welches Tier hat außer dem Elefanten und dem Eber noch Stoßzähne? Ist das Horn des Nashorns ein Stoßzahn?
    Ist das Widderhorn eines der ersten Blasinstrumente? War die Vorstellung vom gehörnten Moses nur eine Fehlübersetzung? Kommen die Schnäbel der Vögel vom Zahn oder vom Horn?
    Gibt es eine Beziehung zwischen der Hörnerbildung bei Säugetieren und den korrespondierenden Erscheinungen bei Insekten, bei Käfern?
    Die Evolutionstheorie wäre unter diesem Aspekt einmal zu untersuchen.
    Haben sich die Tiere durch Sintflut und das Überleben in der Arche verändert? Verweist darauf nicht u.a. das erst nach der Sintflut ergangene veränderte Nahrungsgebot, das auch das Fleischessen erlaubt? Hängt das alles wiederum zusammen mit dem Weinanbau und der Bildung des Regenbogens? Weist die Sintflutgeschichte nicht prophetisch voraus auf den Ursprung der Philosophie (Thales: Alles ist Wasser)? Und verweist die Sintflutgeschichte nicht auch auf das realmythische Wesen der Tiere (Ver-körperungen der der Natur selber immanenten mythischen Kräfte)? Und hängt dieses realmythische Wesen der Tiere nicht zusammen mit dem apokalyptischen Realsymbol des Tieres und dem prophetischen Bild des Tierfriedens (der Löwe mit dem Kalb, der Wolf mit dem Lamm. die Natter mit dem Kind)? Sind nicht die Engelwesen, insbesondere in der Merkaba-Vision des Hesekiel, aber auch die paulinischen Archonten, außer auf die Planeten auch auf die Tierwelt bezogen? Und was hat es dann zu bedeuten, wenn neben dem (Erzmärtyrer) Stephanos neben Prochoros, Nikanor und Timon, Parmenas und Nikolaos, einem Proselyten aus Antiochia, auch ein Philippos (der in Samaria aus vielen Besessenen unreine Geister vertrieb, Simon den Zauberer bekehrte, dann dem Eunuchen aus Äthiopien die Schrift auslegte und ihn taufte, und zuletzt mit seinen vier Töchtern, die Prophetinnen waren, in Caesaraea lebte) zu den Sieben gehörte? Wer sind Prochoros, Nikanor und Timon, Parmenas und Nikolaos (was bedeuten diese Namen, haben die Nikoaliten aus der Geh.Off. etwas mit diesem Nikolaos zu tun)?
    Wurde mit der Wahl und Einsetzung der Sieben, insbesondere mit dem Martyrium des Stephanos, der den Himmel offen und Jesus zur Rechten Gottes sah, die Parusie ad kalendas graecas verschoben? Und liegt nicht hier der Grund für die Berufung des Paulus (ist die Kirche die Fortsetzung der Diakonie, und nicht des Apostolats: Nach den Taufen des Philippos in Samaria kommen Petrus und Johannes und „legten ihnen die Hände auf, und sie empfingen den Heiligen Geist“)?
    Merkwürdige Geschichte mit den Kleidern: Beim Tode Jesu haben die Soldaten seine Kleider unter sich aufgeteilt; beim Tod des Stephanos legten die falschen Zeugen vor der durch sie eröffneten Steinigung ihre Kleider dem Saulus zu Füßen.
    Zur Farbe der Materie: Nachts sind alle Katzen grau.
    Mit den Ne-Utrum wird die Sprache von den Wurzeln ihrer benennenden Kraft abgeschnitten.
    In welchen Sprachen wird „eu“ wie „oi“ ausgesprochen? Oder: Seit wann heißt Zeus Zois und deutsch doitsch? Und hieß es nicht im Lateinischen tatsächlich ne-utrum, ähnlich wie de-us?
    Ist die Lehre von der Auferstehung der Toten ein Teil der Lehre von der Versöhnung, oder ist die Lehre der Versöhnung ein Teil der Lehre von der Auferstehung der Toten? Die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten gründet in der Intention, daß der Kampf derer, die gegen das Unrecht und die schlechten Verhältnisse angekämpft haben, mit ihrem Tod nicht zu Ende sein darf. Die vergangenen Hoffnungen sind mit dem Tod derer, die für sie gestorben sind, nicht abgegolten.
    „… wie ein leuchtender Stern zwischen den Wolken“ (Sir 1613)
    Sind nicht die Medien nach ihrer Professionalisierung zu Verkörperungen des falschen Zeugnisses geworden? BILD und HEUTE sind Beweise dafür, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand ist.

  • 03.11.92

    Konstruktionsfehler der Welt, oder die Welt als Inbegriff der Selbstzerstörung:
    – Die Ökonomie kann die Armut,
    – das Recht die Gemeinheit und die Gewalttat,
    – die Theologie den Atheismus,
    – die Medien können die Lüge,
    – die Naturwissenschaften den Tod der Sinnlichkeit (Physik) und die Zerstörung des Lebens (Chemie)
    nicht nur nicht mehr ausschließen: sie produzieren sie. Die Welt ist die Institutionaliserung des Hinter dem Rücken und der Inbegriff der Leugnung des Antlitzes, die Sünde wider den Heiligen Geist. Gibt es überhaupt noch eine Alternative zur Übernahme der Sünden der Welt?
    Die Welt: das ist die Trennung des Sehens vom Gesehenwerden, und damit die Zerstörung des Angesichts. Die nur noch der mathematischen Logik gehorchende Vorstellung des Raumes ist das Zentrum und das Einheitsprinzip der zerstörenden Gewalt der Welt (Ersetzung der Gegenwart durchs Gesetz der Gleichzeitigkeit). Aber hier wird dann die Frage interessant: Welche Richtung gehört zur Lichtgeschwindigkeit? Ich vermute, es ist die, die vom Objekt des Sehens ausgeht: die Provokation des Täters durch das Opfer (der „Lichtreiz“ im Auge des Sehenden, auch wenn sich daraus das Sehen überhaupt nicht mehr herleiten läßt). Oder: die Lichtgeschwindigkeit gehört zu einem System, in dem das Opfer (das Objekt) schuldig ist, und nicht der Schuldige bestraft wird, sondern die Strafe den Schuldigen provoziert.
    Im Recht ist die Sünde vor der Schuld, theologisch die Schuld vor der Sünde (vgl. die paulinische Theologie, die hier immer antisemitisch mißverstanden wurde, und das „Antlitz des Hundes“: Was schaust du mich so an: Du kriegst gleich einen in die Fresse).
    Der Begriff der Persönlichkeit drückt die individuelle (der der Person die allgemeine) Anerkennung durch die Welt aus, der Begriff des Antlitzes die Anerkennung durch Gott.
    Der Begriff der Natur faßt die Schöpfung an ihrer schwächsten Stelle.
    Wenn die Kirche zum steinernen Herzen der Welt wird, dann wird es Zeit, auf das Schreien der Steine zu hören.
    Zu Benjamins Wort über die Opfer der Vergangenheit in den geschichtsphilosophischen Thesen: Erst wenn wir aufhören, die Auferstehung nur für uns zu erhoffen und verdrängen, daß sie alle Opfer der Vergangenheit betrifft; erst wenn wir diese Verdrängung aufheben, wird die Vergangenheit für uns durchsichtig und mit ihr der Schuldzusammenhang, der das Böse dem Wiederholungszwang unterwirft. Erst wenn wir das Entsetzen, die Qualen und die Schmerzen der vergangenen Opfer in unsere Gebete mit aufnehmen.
    Wenn die Kirche Maria Magdalena die Büßerin nennt und bei der Befreiung von den sieben unreinen Geistern mit fasziniertem Entsetzen nur daran denkt, wie schlimm sie es wohl getrieben haben muß, so sagt das mehr über die Kirche als über Maria Magdalena.
    Die Übersetzung des ho airon mit „Hinwegnehmen“ kann nur auf die Zukunft sich beziehen; für die Vergangenheit kann es nur als „Auf-sich-Nehmen“ verstanden werden, und dieses Auf-sich-Nehmen fällt unters Nachfolgegebot. Dazu gibt es keine Alternative mehr. Das ho airon im Sinne von Hinwegnehmen als eine vollendete Tat auffassen: das ist die Sünde wider den Heiligen Geist.
    Ist die Trinitätslehre vielleicht auch ein Versuch, die Genealogien vom Wiederholungszwang zu befreien?
    Nach den ersten Anschlägen der raf (z.B. nach dem Kaufhaus-Brand in Frankfurt) sahen die Politiker keinen Anlaß, über die Probleme des Vietnam-Krieges und das Verhältnis der Industrie-Nationen zur Dritten Welt zu diskutieren, während nach den Pogromen der letzten Monate alle Welt nur noch über das Asylantenproblem spricht. Das unterscheidet das Verhältnis der Politik zum rechten von dem zum linken Extremismus: Diesmal sitzen die Sympathisanten und die Mescaleros in der Regierung. Wenn die Taten der Rechten von der Linken kämen, wir hätten längst wieder Krisensitzungen der Regierung und Sympathisantenhetze in den Medien.
    „Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren. Und sie schämten sich.“ Ist nicht das Nacktsein ein anderer Ausdruck fürs Schuldigsein? Nur das begründet die Scham. Heißt das aber nicht, daß sie schon vorher schuldig waren, und die Sünde diese Schuld nur aufgedeckt, sie bewußt gemacht hat? Diese Umkehrung der Beziehung von Sünde und Schuld wird durch das felix culpa ein wenig verstellt, das hiernach in der Tat felix peccatum heißen müßte. Die das Recht und die Urteilsmoral (Sexualmoral) begründende Kausalverknüpfung von Sünde und Schuld ist ein Ingrediens der Exkulpierungsstrategien und des Schuldverschubsystems, die durch den Weltbegriff sich konstituieren und stabilisieren. Es ist nicht ohne Bedeutung, wenn im Psalm 109 zuerst die Schuld der Väter und dann die Sünden der Mütter genannt werden. Vgl. hierzu den Gesamtzusammenhang, von Morgenstern, Venus, Jesus und Luzifer.
    Franz von Baader hat einmal – in den Fermenta cognitionis – die Hegelsche Philosophie „das Auto da Fe der bisherigen Philosophie“ genannt (Schriften Franz von Baaders, ausgewählt und herausgegeben von Max Pulver, Leipzig 1921, S. 84). Hat Hegel nicht in der Tat das Feuer vom Himmel geholt, aber es brennt noch nicht. Die Erfahrung dieses Brennens, für die das Bild vom brennenden Dornbusch steht (vgl. hierzu das von Gerschom Scholem zitierte Wort des Eleasar von Worms), ist der Kern der theologischen Erfahrung. Kritik der Welt als Fähigkeit zur Schuldreflexion ist der Anfang der Erfahrung dieses Brennens. Und die zur Zeit in Deutschland grassierende Xenophobie, dieses entsetzliche faschistische Potential, das hier hochkommt: man sollte es einmal vor dem Hintergrund von Sodom, Jericho und Gibea sehen.
    Lot: involutus, colligatus (ins Dunkel gehüllt; zusammengelesen, aufgesammelt),
    Moab (Sohn der älteren Tochter Lots): de patre (vom Vater),
    Ben-Ammi/Ammon (Sohn der jüngeren Tochter Lots): Sohn meines Verwandten/populus ejus (sein Volk).
    Lots Weib und Lots Töchter sind namenlos.
    In der Hexenverfolgung rächen sich die Väter für die ebenso unerträglich wie undurchsichtig gewordene eigenen Schuld an den Sünden der Mutter. Lassen sich nicht in den Projektionen der Verfolger die verdrängten Probleme in der Geschichte des Ursprungs der Naturwissenschaften erkennen? Die Schreie der Opfer müssen als Schrei der Steine endlich ins Ohr dringen. Nur so läßt sich das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen.

  • 07.10.92

    Zu den sieben Siegeln der Apokalypse: Welche Funktion hatten in jener Zeit die Siegel (Zeichen der Teilhabe an der Macht des Königs, persönliche Bekräftigung der Geltung eines Vertrages, eines Dokuments), lag sie nicht zwischen Unterschrift und Personalausweis? In welcher Beziehung standen sie zum Eigennamen? Haben die Öffnung (das Brechen) des Siegels und die Lösung eines Knotens (eines Problems, eines Rätsels) etwas miteinander zu tun? Ist nicht der Begriff des Begriffs und sind die damit zusammenhängenden, davon abgeleiteten Begriffe wie Raum und Zeit, Welt, Natur, Materie, Person, Bekenntnis nicht alle Siegel (die die Wahrheit versiegeln)?
    Es gibt keine Erklärung der Gemeinheit ohne Zuhilfenahme der Antisemitismus-Analyse.
    Ist nicht auch das Marquardtsche Votum für Israel, das Leute wie Micha Brumlik und Edna Brocke so anspricht, zwar wahr, aber zugleich konkretistisch entstellt (etwas, woran man sich halten kann)?
    Ich bin garnicht so ganz sicher, ob die Natur die Menschen überlebt, ob das nicht ein Schein ist, den die Natur selber erzeugt (der gleiche Schein, aus dem in der Hegelschen Logik das Wesen hervorgeht). Welt und Natur sind Momente in der Generationenbeziehung, sind Momente im Kontext der Genealogien (auch der Schöpfungsbericht gehört zu den toledot). Das auf eine Formel gebracht zu haben, ist die Bedeutung der Trinitätslehre. In ihrer dogmatischen Gestalt ist die Trinitätslehre das Siegel, mit dem die Schöpfung zu Welt und Natur verschlossen wurden. Von innen begriffen, und d.h. von ihrer dogmatischen Umhüllung befreit, wäre die Trinitätslehre der Beginn des Kommens der zukünftigen Welt.
    Die jüdische Mystik, die Kabbalah, ist Schöpfungsmystik, die christliche müßte Auferstehungsmystik sein.
    Israel ist der Augapfel Gottes, Teil seines Angesichts, sein verletzlichstes Teil. Aber die Kirche bewacht und hütet das versteinerte Herz der Welt.
    Die Patriarchen: Marx, Freud und Einstein; die Sühne Jakobs: Cohen, Rosenzweig, Lukacz, Bloch, Benjamin, Scholem, Horkheimer, Adorno, Kafka, Kraus, Schönberg (wer fehlt noch?).
    Die Instrumentalisierung des Opfers in der christlichen Opfertheologie, die Verdrängung der Täufer-Theologie (durch die falsche Übersetzung des tollere): der Versuch, die Wunde ohne den Schmerz zu haben, Ursprung der Anästhesie.
    Die subjektiven Formen der Anschauung, Raum und Zeit, sind Abkömmlinge und Repräsentanten der invisible hand in unserem eigenen Innern. Die Umkehrbarkeit der Richtungen im Raum gehört zu den Prämissen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, die dann aber am Ende zu Protest gehen, nämlich mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Und das Licht, das Werk des ersten Schöpfungstages, ist auch die erste Manifestation der Umkehr und der Beginn der Erschaffung des Angesichts, das am sechsten Tage mit dem Menschen im Bilde Gottes, als sein Ebenbild, als Mann und Frau erschaffen wird.
    Die Naturwissenschaft gehorcht dem Prinzip des Von allen Seiten hinter dem Rücken, sie ist der Inbegriff der Ausweglosigkeit.

  • 12.03.92

    Heinsohn, S. 120f: Geld = zu verzinsende Schuld (Differenz ums Ganze bei Schuldner und Gläubiger). Freie Verkaufbarkeit von Boden und Arbeitskraft gehören zusammen; Grundlage der Ausbreitung der Geldwirtschaft, Konstituierung des Weltbegriffs. Nach Heinsohn ist das Geld die Ursache, nicht die Wirkung der Arbeitsteilung (paßt das nicht zur Theorie Sohn-Rethels wie die Vorderseite eines Blattes zu seiner Rückseite?).
    Bestimmen nicht die alten Funktionen und Leistungen der Priester in den Tempeln/Depositenbanken immer noch das Priesterwesen, nur daß an die Stelle der realen Bankfunktionen deren symbolische Vergeistigung, Verinnerlichung getreten ist (bis hinein in die Opfertheologie. in die Logik, die Funktion und den Stellenwert des Bekenntnisbegriffs: das Symbolum war einmal der Kaufvertrag; und in den alten Tempeln wurden die Kaufverträge beglaubigt und deponiert; und schließlich: war nicht das Geld ein Instrument der Rationalisierung von Kaufverträgen)? – Notwendigkeit einer Geschichte der Banken für das Verständnis der Theologie.
    Behemoth: Hängt der Name mit pecunia, mit Vieh als Wertmaß, zusammen?
    Das „Joch des Ochsen und die Last des Esels“ (Scholem, S. 91 und einige Seiten später nochmal): Trägt der Ochs das Joch der Herrschaft, der Esel die Last der Schuld?
    Leute, die „nicht zwischen ihrer rechten und linken Hand unterscheiden können und im Finstern gehen“ (S. 96). Dazu (zu Rechts und Links und den beiden Gestalten des Endes der Tage) siehe auch S. 107.
    Anwendung des Satzes „Laßt die Toten ihre Toten begraben“ (Mt 9/10, einschließlich Kontext) auf die Erkenntniskritik.
    Hängt der Begriff des Himmelreichs, der nur bei Matthäus vorkommt, mit einer leichten astrologischen Tendenz bei ihm zusammen (vgl. die Magier, die „seinen Stern“ gesehen haben)?

  • 01.12.91

    Bemerkung zu Ferdinand Ebner: Indem das Ich vor dem Du sich verschließt, öffnet sich der Raum ins Unendliche, verschwindet die sinnliche Welt (Beziehung der sinnlichen Wahrnehmung zur Sprache; Sprache, Wahrnehmung und Selbsterhaltung).
    Franz Rosenzweig: Gott hat die Welt und nicht die Religion erschaffen. Gershom Scholem: Die Religion, der man angehört, ist ohnehin die falsche (in einer Vorlesung über die Dönme-Sekte). -Und warum kann man dann nur einer Religion oder Konfession angehören (genauso: warum gibt es in Deutschland nur die Möglichkeit einer Einzelstaatsangehörigkeit)? Die Kritik des Bekenntnisses trifft nicht nur die Konfessionen, sondern auch den Staat. Die Entkonfessionalisierung der Kirchen entzieht der Staatsmetaphysik (dem Prinzip Staatsanwalt) den Boden.

  • 25.11.91

    An der Mundpartie erkennt der in die Geheimnisse der Zivilisation Eingeweihte, ob der andere bereit ist mitzulachen (ob er Person ist: vgl. das Augurenlächeln und den Eicherschen Begriff der „Augurenreligion“ – Michael Weinrich in Einwürfe 4, S. 140). Wer hat angefangen, sich zu rasieren, und seit wann? Die Philister und die Ägypter waren bartlos. Für die Griechen sind die Barbaren sowohl die Bärtigen als auch die Stammelnden.
    Hat das Rasieren etwas mit der Herstellung des poker-face zu tun? Und ist das poker-face nicht das Gesicht dessen, der selbst den Witz erzählt und nicht darüber lachen darf?
    Das diabolein beginnt mit der Erkenntnis des Guten und Bösen und endet mit der Unfähigkeit, rechts und links zu unterscheiden.
    Diabolos (oder die entsetzliche theologische Verwirrung im Katholizismus; vgl. die Versuchungen Jesu – Mt 41-11, Mk 112-13, Lk 41-13): Wer andere „durcheinanderwirbelt“, verwirrt den Orientierungssinn. Der Verwirrte kann rechts und links (sowie vorn und hinten) nicht mehr unterscheiden. Er kennt nur noch oben und unten, aber in einer Weise, die es ihm verwehrt, sich oben zu halten. Unsere Theologie müßte auf den Stand gebracht werden, auf dem die Dichtung seit Goethes „Faust“ (vgl. auch Thomas Manns „Doktor Faustus“) und die Philosophie seit Hegels „Phänomenologie des Geistes“ bereits ist. Mit der Etablierung des Raumes (i.e. des Inertialsystems) gegen die Natur und mit der Zurichtung der Ökonomie zum System (durch die Subsumtion der Arbeit unters Tauschprinzip und durch dessen unversale Ausbreitung: die Zerstörung aller „naturwüchsigen“ Verhältnisse) wurde die Orientierungskraft der Offenbarung (ihre erhabene Anthropozentrik) zerstört.
    Das Wort Satan hat nach Gershom Scholem im Hebräischen die Bedeutung „Ankläger“, die Bezeichnung Diabolos ist griechisch und bedeutet „Verwirrer“. Die hebräische Bezeichnung stammt aus dem Rechtsbereich, die griechische aus dem räumlich-logischen.
    Der Ankläger ist der Verführer: er verführt zur Empörung oder zur Rechtfertigung. Maßgebend ist ist der projektive Umgang mit der Schuld.
    Was uns das Festeste zu sein scheint, der Raum, das Geld, das dogmatisierte Bekenntnis (die Orthogonalität, die Stabilität und die Orthodoxie) ist gerade die Quelle und der Ursprung der Verwirrung.
    Unterm Zwang des Systems ist die Moral (vgl. die Konstruktion der Wertethik: Moral als anklagende, urteilende, richtende Instanz; Zusammenhang mit dem akkusatorischen Objektivationsprozeß; die Wertethik kennt kein Pardon) zu einem Instrument im Schuldverschubsystem geworden: mit der Nutzung des Scheins der exkulpatorischen Kraft des moralischen Besserwissens (des moralischen Urteils und des vergesellschafteten Bekenntnisses, deren innere Triebkraft die Empörung ist) ist sie zu einem Instrument des hemmungslosen Projektierens geworden, das sowohl dem Gebot der Feindesliebe als auch dem Nachfolgegebot widerspricht (dem Gebot, die Schuld der Welt auf sich zu nehmen, anstatt sie -sich selbst exkulpierend – in den anderen dingfest zu machen).
    Omne ens inquantum est ens est bonum: dieser Satz enthält einen utopischen Begriff des „Seienden“.

  • 26.06.91

    Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: Franz Rosenzweig, Existenzielles Denken und gelebte Bewährung, Freiburg/München 1991:
    – „Existentielles Denken“ apriori falsch; aus der einen Bemerkung über Heidegger nach dem Davoser Gespräch läßt sich das nicht ableiten, ohne den Ernst des „Stern“ zu desavouieren, ihn dem Jargon der Eigentlichkeit unterzuordnen;
    – ebenso „gelebte Bewährung“: bei Franz Rosenzweig geht es um die Bewährung der Wahrheit, die den Weg ins Leben eröffnet; gelebte Bewährung: er hat sich bewährt, ihm wird die Reststrafe erlassen?
    Als ich den „Hinweis“ schrieb (mit dem ich überhaupt nicht zufrieden war), habe ich nur dunkel geahnt, worauf ich mich da eingelassen hatte. Mir war nur eines unzweifelhaft klar: hier war die einzige theistische Philosophie, die dem Anspruch des Stands der Aufklärung standhielt. Benjamins Wort über R., er habe es vermocht, „die Tradition auf dem eigenen Rücken zu befördern, anstatt sie seßhaft zu verwalten“, war mir schlicht einleuchtend. Aber es hat mir den Zugang zu diesem doch sehr spröden und unzugänglichen Werk nicht erleichtert. Hinzu kam, daß mir sehr früh klar war, daß eine unmittelbare Rezeption nach Auschwitz nicht mehr (und wahrscheinlich auch vorher nicht) möglich war. Dieses Buch war (schon vor dem Eintritt der Katastrophe) eine jüdische Antwort auf den Antisemitismus; es von der Opfer- auf die Täterseite herüberzubringen, erschien mir (auch angesichts meiner Erfahrungen mit der Theologie) zwingend notwendig, aber auch fast unmöglich. Den leichteren Weg der existentiellen Adaptation mochte und konnte ich nicht gehen (vor R. hatte ich Adorno gelesen, über den ich an Walter Benjamin und dann an R. geraten bin).
    Der Fall Rosenstock ist für mich eigentlich die rätselhafteste (wenn nicht die peinlichste) Geschichte in meiner Beziehung zu Rosenzweig: Ich habe Eugen Rosenstock-Huessy noch in Münster anläßlich einer Gastvorlesung in den fünfziger Jahren gehört, habe es dann aber, nach dem, was ich von ihm an wilden Spekulationen über Rosenzweig (so meine Erinnerung) zu hören bekam, vorgezogen, ihn nicht auf sein Verhältnis zu Rosenzweig anzusprechen. – Ich habe übrigens den Briefwechsel Rosenzweig-Rosenstock nie als einen Beitrag zum „jüdisch-christlichen Dialog“ verstanden, sondern, soweit er Rosenstocks Beitrag betrifft, als eine wenig interessante Privatangelegenheit.
    R.’s Sprachphilosophie ist Ergebnis, Resultat seiner Kritik der Philosophie des Begriffs, auf die seine Kritik des „All der Philosophie“ abzielt. Hier findet die Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Prophetie nach dem Ende der Geschichte der Philosophie erstmals ihre Stelle (unterschiedliche Stellung von Sprache und Begriff zum Objekt, Kritik des Wissens – vgl. hierzu Benjamins theologische Formulierung dieser Kritik im „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ -, unterschiedliche „Aggregatzustände“ der Erkenntnis).
    Was ist „unvordenkliche Existenz“ (S. 30)? – Wer Adorno gelesen hat, weiß, daß der Begriff der Existenz aus dem Idealismus nicht herausführt, vielmehr in ihm (sowohl bei Kant wie auch bei Hegel) seinen präzise bestimmbaren Stellenwert hat; Existenz ist eine idealistische Kategorie. Was Rosenzweig anspricht (ich mit Vor- und Zunamen, nicht das Ich mit seinem Palmenzweig), ist eigentlich nur im Rahmen seiner Sprachphilosophie, im Zusammenhang mit der erkenntniskritischen Rehabilitierung des Namens (der Name ist nicht Schall und Rauch) gegen den von der Philosophie sonst nicht abzutrennenden Bann des Begriffs (der Subsumtions- wie der dialektischen Logik) zu verstehen, d.h. eher vor dem Hintergrund von Benjamins erkenntniskritischer Vorrede zum „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, als im Kontext der Fundamentalontologie Heideggers, gegen die Rosenzweigs Hinweis auf die „verandernde Kraft des Seins“ (im „Neuen Denken“) immer noch das entscheidende Argument liefert.
    Das „ich mit Vor- und Zunamen“ ist übrigens nicht die „Person“, deren Begriff aus der lateinischen Theologie (Tertullian) stammt und heute zu einer verwaltungstechnischen Kategorie geworden ist. Die Differenz ist minimal, fast nicht mehr zu bestimmen, aber zugleich eine ums Ganze: Aufhebung der Differenz zwischen mir und den anderen, Resultat und Grund der Instrumentalisierung des Subjekts, Angleichung des Subjekts ans vergegenständlichte Objekt. Nicht zufällig definiert die Person das Subjekt der Schuld; Grund der Zurechenbarkeit. In der Theologie (zuerst in der Trinitätslehre) bezeichnet die Einführung des Personbegriffs den Ursprungspunkt des apologetischen Denkens, des Theodizee-Zwangs: Der Personbegriff setzt die Menschen und Gott unter Rechtfertigungszwang, gleichsam unter ständigen Anklagedruck. Er ist so nur mit einer Opfertheologie zu begründen, in der am Ende die Gottesidee selber untergeht.
    Kann man die Stellung des Islam aus dem R.schen System herauslösen (S. 36), ohne das System selbst zu zerstören? Wird es nicht so wieder zu dem, was es doch um keinen Preis sein will: zur Religionsphilosophie, zur Weltanschauung?
    Auf andere Weise ist dann freilich doch das „System zu zerstören“ – um es zu retten: Nach Auschwitz (und im Kontext einer Kritik des Herrendenkens in ihrem Kern: in der Geschichte der naturwissenschaftlichen Aufklärung) haben sich die elliptischen Zentren so verlagert, daß das System nur über eine Neukonstruktion zu retten ist. Die bloße Konservierung, die nützlich ist zum Verständnis, vergißt das Beste, trägt bei zur Zerstörung.
    Franz Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ ist auch ein Genie- und Gewaltstreich. Und genau von diesem Bann wäre es zu befreien. (Vgl. dazu auch die Bemerkungen Scholems zum Stern.)
    Bei Heidegger ist von der Philosophie nur der autoritäre Gestus übriggeblieben, und dessen Begründung und Erhaltung dient die gesamte Fundamentalontologie. Die strategische und taktische Absicherung dieses Gestus ist ihr einziger Inhalt.
    Meine Intention ist der des Historikers genau entgegengesetzt: mir geht es nicht um die Vergegenständlichung der Vergangenheit, sondern um ihre Entgegenständlichung: um das Eingedenken, um die Erinnerung, darum, auch in den fremdesten und chockierendsten Dingen noch meine eigene Geschichte zu erkennen. Was ich in mir selber aufarbeiten muß, steckt in dieser Vergangenheit.
    Der raf ins Album: Die terroristischen Aktionen haben die ihrer Absicht genau entgegengesetzten Wirkungen; sie exkulpieren die Strukturen und Handlungen, die sie angreifen. So, wie nach den Morden an der Startbahn alles, was vorher passiert ist, vergeben und vergessen war. D.h. mit in Rechnung zu stellen ist immer die antiaufklärerische Wirkung, die Tatsache, daß im Rahmen des Schuldverschubsystems die andere Seite am stärkeren Hebel sitzt. Der Terrorismus macht die Charaktermasken des Bestehenden zu Opfern, und damit unangreifbar.

  • 16.05.90

    Walter Benjamin in einem Brief an Scholem vom 05.08.37: er wolle der Jungschen Archetypenlehre, die er für „echtes und rechtes Teufelswerk“ hielt, „mit weißer Magie zu Leibe rücken“. (Briefwechsel S. 247; vgl. Carlo Ginzburg: Hexensabbat, S. 244 und Anm. Nr. 112 dazu) – Nochmal die Geschichte von der Hexe von En Dor lesen.

    Ist das Sexualtabu ein Teil des Tabus über den Totenkult? (Genesis/Sündenfall, Ursprungsgeschichte der Sexualmoral, Zusammenhang mit politischer Theologie)

    Ginzburgs Hexensabbat: Gibt das Buch nicht auch Hinweise und Kriterien zur Beurteilung des Gesamtkomplexes der Terroristenverfolgung? Gibt es nicht gemeinsame oder auch nur vergleichbare Vorurteile (begründet in der Absicht der Stabilisierung von Herrschaftsstrukturen)? Insbesondere: Ist die Paranoia, die in beide hereinspielt, ein Nebeneffekt der Verdrängung des eigenen Schuldanteils an dem Konflikt, Blockade der Analyse dessen, was sich wirklich abspielt?

    Die merkwürdige Haßbindung der Rechten an die Toten (Grabschändungen, Schmierereien auf Friedhöfen, an Grabsteinen u.ä.): Die Gefahr der Linken ist die Instrumentalisierung des Todes, die der Rechten seine Magisierung. Man wird es sich nach Art einer Mutprobe (als Teil eines Initiationsritus) vorstellen müssen: die, die die Gräber schänden, scheinen auch von der Erwartung motiviert zu sein, daß nicht auszuschließen ist, daß die Gräber sich öffnen und die Toten hervorkommen (um sich an den Überlebenden zu rächen). Nicht zufällig ist der Werwolf (überhaupt der Wolf) eine faschistische Identifikationsfigur. Zum Werwolf wird, wer den „inneren Schweinehund“ in sich besiegt hat; den inneren Schweinehund besiegt man mit Mutproben, die die moralische Identität untergraben sollen (die Toten kommen nicht heraus, der liebe Gott greift nicht ein). Die erwünschte Befreiung ist eine Befreiung von den Tabus der Moral, vom Über-Ich. Ein weiterer Nebeneffekt: diese Mutproben haben eine gewaltige Bindungskraft: die der Komplizenschaft. Elemente davon sind nicht zufällig bei Polizeieinsätzen anläßlich linker Demonstrationen zu erkennen, die dann regelmäßig das Lob der Politiker nach sich ziehen. Der rein technische Aspekt dieses Verfahrens, durch projektive Kriminalisierung den politischen Grund der Sache zu verdrängen, sich die politische Auseinandersetzung zu ersparen, hat die Vorurteilsstrukturen, die er zugleich produziert und ausbeutet, zur Voraussetzung.

    Drewermann: „Es ist der in unserem Zusammenhang vielleicht wichtigste Satz der ganzen Angsttheorie der Psa, wenn Freud sagt: „Leben ist … für das Ich (Hervorhebung H.H.) gleichbedeutend mit Geliebtwerden, vom Über-Ich geliebt werden …“ (Drewermann II, S. 155; vgl Freud: Das Ich und das Es, XIII 288) – Anstatt dieses Zitat kritisch zu begreifen (Struktur und Genese des Idealismus anhand der Struktur des Ich) rezipiert er es affirmativ: als Beweis für den (zutreffenden, aber theologisch irrelevanten) Konnex von Ich und Geliebtwerden. Die Position Drewermanns bezeichnet genau den Punkt, den sie dann auch beschreibt: den Abfall von Gott (er beschreibt, ohne es zu wissen, seine eigene Position). – Drewermanns Begriff des Bösen ist ein infantiler Begriff: So verstehen Kinder sich selbst als böse (das Ich, das sich als Nein konstituiert, als apriori schuldig, das ebendeshalb des Geliebtwerdens bedarf, weil es selbst der Liebe nicht fähig ist), nachdem es die Eltern, aus deren Bannkreis sie nicht herauskommen, ihnen einsuggeriert haben. Das Schlimme ist, daß dieser infantile Begriff des Bösen der in der Gesellschaft immer noch herrschende ist; er ist der Nährboden insbesondere für die neue Welle des Nationalismus, für die Weigerung, den gesellschaftlichen Schuldzusammenhang (und das Ich als Moment darin) zur Kenntnis zu nehmen. Es steckt die Weigerung mit drin, erwachsen zu werden, die Verantwortung für sich und für die Welt, in der man lebt, zu übernehmen (Grund sind die Angst und die Panik, die Kritik an den Eltern immer noch auslöst; Deutschland: das sind die Toten – die toten Helden – der Vergangenheit, von denen man nicht loskommt – vgl. Bitburg und Kohls „Versöhnung über Gräbern“).

    Drewermanns Haltung erinnert an die um Umkreis der Psychoanalyse nicht seltene Geste der Heilung durch Abwehr von Schuldgefühlen, der Unfähigkeit zu realer Schuldbearbeitung (Trauer- und Erinnerungsarbeit), die nach Auschwitz das erste Erfordernis einer theologischen Rezeption der Psychoanalyse sein sollte.

    Verantwortung übernehmen ist etwas anderes, als zur Verantwortung gezogen zu werden, d.h. sich schon im vorhinein gegen eine apriorische Anklage, einen apriorischen Verdacht rechtfertigen zu müssen und dadurch in das Gravitationsfeld der Autorität hereingezogen zu werden (in den Bannkreis der Eltern).

    Gott ist nicht beleidigungsfähig; jede andere Vorstellung ist (subjektiv wie objektiv) pathologisch und blasphemisch.

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