Schreber

  • 6.11.1996

    Nach diesem Urteil wäre es nur noch zynisch, wenn das Angehörigen-Info immer noch nicht bereit wäre, sich zur Ausgrenzung Birgit Hogefelds, zur Aufkündigung der Solidaritat, zu erklären.
    Bezeichnend, daß dieses Urteil die mehrfachen selbstkritischen Erklärungen Birgit Hogefelds völlig verschweigt, umgekehrt Teile ihrer Erklärungen, in denen sie sich selbstkritisch auf die Handlungen sich bezieht, deretwegen sie verurteilt worden ist, gegen sie wendet, als habe sie genau das Gegenteil gesagt. Ein ein solcher Zitatenklau ist so etwas wie „einem das Wort im Munde umdrehen“.
    Der Freispruch zu dem Anklagepunkt „Beteiligung an einem Mord“ (in Bad Kleinen) beruft sich insgesamt auf Fakten und Beweise, die auch zur Zeit der Anklage schon bekannt waren und, wenn man diesen Freispruch ernst nimmt, eigentlich schon damals zur Zurückweisung dieses Anklagepunkts hätten führen müssen. Heißt das nicht, daß der Verdacht nicht unbegründet ist, dieser Anklagepunkt habe von vornherein nur instrumentelle Bedeutung gehabt, nämlich einen Sachverhalt juristisch festzuschreiben, was nur mit Hilfe dieses Anklagepunktes möglich war? Und ergreift dieser Verdacht dann nicht das Verfahren insgesamt?
    Wenn Birgit Hogefeld die Taten, deretwegen sie verurteilt worden ist, nicht begangen hat, wenn sie aber gleichzeitig auch grundsätzlich nicht denunzieren wollte, ist dann die Erklärung, die sie dafür gegeben hat, daß sie keine Unschuldserklärung abgibt, nicht verständlich? Und gewinnen dann ihre öffentlichen selbstkritischen Reflexionen zur RAF nicht eine noch größere Überzeugungskraft (nur eben nicht für die Komplizenschaft aus BAW und Senat)?
    Dieses Urteil hat mit der Angeklagten fast nichts mehr zu tun, sein Adressat sind die Sympathisanten und Unterstützer der BAW.
    Wer diesen Prozeß mit Bewußtsein verfolgt hat, hat in einen Abgrund geschaut (allerdings nicht in den, den Anklage und Urteil sich bemüht haben zu auszumalen). Merkwürdigerweise haben u.a. die das Bild von dem in den Abgrund rasenden Zug nicht verstanden, die glaubten, von den Prozeß-Erklärungen Birgit Hogefelds (mit dem Hinweis auf „politische Differenzen“) sich distanzieren zu müssen.
    War nicht Schreber, der Verfasser der „Denkwürdigkeiten“, auch ein Senatspräsident?
    Soll mich das seit einigen Tagen regelmäßige Aufwachen und Nicht-wieder-Einschlafen etwa um 5.30 Uhr morgens an den Hahn erinnern, an seine Pflicht zu krähen?
    Verweist nicht die Halbierung des Malachias-Wortes, den Lukas dem Engel Gabriel in den Mund legt, auf die Grenze, die das Christentum von der Prophetie trennt, und auf den wirklichen Sinn des Wortes von der Erfüllung der Prophetie?
    Ist nicht das „Kinder in die Welt Setzen“ etwas ähnliches wie „Kinder aussetzen“? Das wirft ein Licht auf die Abtreibungskampagnen der Kirchen: Käme es nicht vielmehr darauf an, die Welt, in die wir die Kinder „setzen“, menschlicher zu machen, als die Kinder dieser Welt in der sie keine Chance auf ein menschenwürdiges Leben mehr haben, auszusetzen?
    Was sich gegenüber Hiob verändert hat: Heute sind die Christen die Ankläger, die alle Hiobs weltweit auf die Probe stellen. Deshalb ist die Anwendung des Hiobbildes nur noch auf andere zulässig, jede Selbstanwendung führt in die Versuchungen des Selbstmitleids und damit in Verstrickungen, in denen ein anderes als fundamentalistisches Religionsverständnis (das das Religionsverständnis der Ankläger ist) nicht mehr möglich ist. Dieses Religionsverständnis ist es, das heute die Besten aus dem Christentum vertreibt.
    Die Versuchungen des Selbstmitleids: Sind sie nicht der Grund des kaum noch zu entwirrenden erbaulichen Schriftverständnisses, dem in den Kirchen fast keiner mehr sich entziehen kann?
    Gibt es nicht einen Zusammenhang zwischen diesen Versuchungen des Selbstmitleids und der Gewalt der subjektiven Formen der Anschauung, die der Barmherzigkeit den Weg verstellen: der Unfähigkeit, rechts und links zu unterscheiden, von der am Ende des Buches Jona die Rede ist?
    Die Unfähigkeit, rechts und links zu unterscheiden, ist die Unfähigkeit, sich in sie hineinversetzen, die Unfähigkeit, zu begreifen, daß es für auch die Andern ein Angesicht und und ein Hinter dem Rücken, das für mich (für den „Seitenblick“) ein Rechts und Links ist, gibt. Und diese Unfähigkeit wird durch die Hypostasierung der subjektiven Formen der Anschauung dogmatisiert.
    Erscheint die Unfähigkeit, rechts und links zu unterscheiden, nicht bei Jürgen Ebach wieder, wenn er den hebräischen Namen der Barmherzigkeit auf den „Unterleib“ bezieht, ihn geschlechtslos macht: Ist sie nicht auf den weiblichen „Unterleib“, auf den Mutterschoß, die Gebärmutter bezogen (das gleiche Organ übrigens, das auch dem Namen der Hysterie und in ihm dem ersten erfolgreichen Versuch, die Barmherzigkeit zu neutralisieren, zugrundeliegt – vgl. die Reflexionen zur Hysterie in Christina von Braun: Nicht-Ich)?
    Anmerkung dazu: Ist der Versuch so abwegig, im (männlichen) Sexismus wie auch in allen Erektionsphantasien ein Bild der Hypertrophie des „strengen Gerichts“ zu erkennen? Und hängt hiermit nicht auch die merkwürdige Rolle der Väter in den Evangelien wie auch das Bild der Jungfrauengeburt (und das der Berufung der Propheten im Mutterschoß) zusammen?
    Kann es sein, daß der messianische Titel Gottessohn ein Titel ist, der nur im Munde der Männer (und der Dämonen) zu finden ist, kommt er im Munde von Frauen überhaupt vor? Maria Magdalena nennt ihn bei der Begegnung im Garten nach der Auferstehung Rabbuni, und eine andere Frau preist den Schoß, der ihn geboren, und die Brust, die genährt hat. Und dann sind da die klagenden und weinenden Frauen in Jerusalem, denen er sagt: Weint nicht um mich, sondern um euch und eure Kinder.
    Das Selbstmitleid ist der Greuel am heiligen Ort: Es erstickt die Barmherzigkeit.
    November: Die Bäume verlieren ihre Farbe, der Wald wird grau wie der Himmel.
    Auch ein Beitrag zur Kritik der Naturwissenschaften: Wer immer schon im Voraus weiß, daß etwas schief ausgehen wird, und dabei auf seine „Erfahrung“ sich beruft, wendet damit eigentlich nur das Prinzip an, das dem Inertialsystem zugrundeliegt: Er subsumiert die Zukunft unter die Vergangenheit, er macht sie zu etwas „Perfektem“, schon Abgeschlossenen, weil er das Offensein der Zukunft nicht erträgt. Außerdem hat der den Vorteil, wenn die Sache tatsächlich so ausgeht, es schon im Voraus gewußt zu haben; wenn es dagegen gut ausgeht, ist seine „Prophetie“ ohnehin vergessen.
    Aber haben sich für ihn die „Pforten der Hölle“ (die die Pforten der Unterwelt, des Totenreichs, sind) damit nicht schon geschlossen, wird ihm nicht die Welt zu einer, in der es ein Glück, das anderes als der Zufall wäre, nicht mehr gibt?
    Das Adjektiv „politisch“ scheint heute nur noch das Prinzip Beelzebub zu bezeichnen: die Vorstellung einer Gemeinschaft, die auf keinen Fall in sich uneins sein darf. Was aber „schweißt“ eine Gemeinschaft mehr „zusammen“ als ein gemeinsamer Feind?
    Hat der Insektenstaat etwas mit den Mücken, dem Geziefer und den Heuschrecken zu tun?
    Zum Bild des fallenden Fahrstuhls: Der fahrende Zug, an dem das spezielle Relativitätsprinzip sich demonstrieren läßt, abstrahiert von der Realität der (durch äußere Bedingungen wie Gravitationsfeld und Luftwiderstand beeinflußten) Bewegung, während der fallende Fahrstuhl, das Demonstrationsobjekt der Allgemeinen Relativitätstheorie, zusätzlich auch von der Schwere abstrahiert. (Ist der dunkle Hohlraum, auf den das Plancksche Strahlungsgesetz sich bezieht, das Innere dieses Fahrstuhls ?) Leicht und schwerelos aber ist nur die Kunst. Deshalb gehören die subjektiven Formen der Anschauung zur transzendentalen Ästhetik; die Formen der Anschauung machen Erfahrungen reproduzierbar, indem sie sie in Vorstellungen transformieren, sie zu Gegenständen unserer Vorstellungskraft machen. Die Vorstellung eines materiellen Objekts aber ist selber kein materielles Objekt. Das reine Inertialsystem, das erst im Innern des fallenden Fahrstuhls sich herstellt, ist die Bühne der zum Schauspiel vergegenständlichten Natur. Die Objekte der Naturwissenschaften sind ästhetische Objekte, für die die Theologie nicht gilt: Sie sind weder geschaffen, noch Empfänger der Offenbarung, und sie haben (nach ihrer Trennung von der Sprache, die sie nicht erreicht) keinen Anteil an der Erlösung.
    Was passiert, wenn man einen Schacht durchs Zentrum der Erde baut, in den der fallende Fahrstuhl dann fällt; was geschieht im Innern des fallenden Fahrstuhls, wenn der Fahrstuhl das Zentrum passiert, an dem die Richtung der Schwerkraft sich umkehrt? Der Fahrstuhl selbst würde (wie die Planeten auf ihrer elliptischen Bahn, wenn sie von der Sonne sich entfernen) den retardierenden Kräften eines seiner Bewegungsrichtung entgegengesetzten Gravitationsfeldes ausgesetzt und in der weiteren Folge in eine Art Pendelbewegung übergehen. Würden diese retardierenden Kräften im Innern des Fahrstuhls nicht wie ein plötzlich mit Gewalt auf alle Bewegungszustände im Innern einwirkendes neues Gravitationsfeld, und d.h. als gewaltiger Aufprall erfahren? Die Rhythmik der Pendelbewegung des Fahrstuhls würde nicht nur in den äußeren Bewegungsabläufen, sondern auch in den Zuständen im Innern des Fahrstuhls sich ausdrücken.
    Ist die Situation in dem fallenden Fahrstuhl in dem Augenblick, in dem er das Erdzentrum passiert, nicht vergleichbar der Situation, in der die Juden am Ende des Krieges sich vorfanden, oder auch der Situation, die entsteht, wenn das Urteil am Ende eines Prozesses den Hoffnungen, die vorher noch bestanden haben mögen, ein Ende macht? Diese Erfahrung, so scheint es, war nicht mitteilbar, und sieht es nicht so aus, als hätten die Schüler der Frankfurter Schule diese Ursprungssituation der Philosophie, die sie „zu vertreten“ glauben, nie begriffen, als stünden sie unter einem Zwang, diese Erfahrung zu harmonisieren.
    Heute ist es die Verweigerung der Reflexion, die die Beschleunigungskräfte, denen der fallende Fahrstuhl sich ausgesetzt sieht, verstärkt. Oder anders: Die Kräfte des freien Marktes sind die Beschleunigungskräfte des Falls.
    Der Faschismus insgesamt beschreibt genau die Effekte an dem Punkt, an dem der Fahrstuhl das Zentrum durchläuft. War nicht 68 die Peripherie der Pendelbewegung erreicht, und bewegen wir uns im Augenblick nicht erneut aufs Zentrum zu?
    Haben die besonderen Haftbedingungen der Gefangenen der RAF nicht auch das Ziel, den Gefangenen jede Chance der Reflexion, jede Möglichkeit, über ihre Situation sich Klarheit zu veschaffen, zu nehmen? Und gehört nicht das Angehörigen-Info inzwischen zu den Kräften, die diese Absperrung, ohne es zu wissen oder gar zu wollen, auf eine schreckliche Weise fördern? Und das, weil sie einem Politikbegriff verfallen sind, der dem Bann der Feindbild-Logik nicht mehr sich zu entziehen vermag. Diese Feindbildlogik ist wahr, weil sie die Logik ihrer realen Situation ist; sie ist unwahr, weil sie die Distanzierung dieser Situation durch Reflexion und damit ihre Erkenntnis unmöglich macht.

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