Selbstmitleid

  • 14.05.90

    Dogma und Welt: Das Dogma ist ein wesentliches Moment in der Geschichte der Verweltlichung der Religion, der Verweltlichung des Christentums. Der Zusammenhang mit der Herrschaftsgeschichte spielt hier mit herein. Wenn die Umkehr eine erkenntnistheoretische Kategorie ist, dann ist sie auch aufs Dogma anzuwenden; nur so kann man es vermeiden, daß Theologie zur bloßen Ausschmückung des Dogmas wird, anstatt endlich deren Wahrheit zu realisieren, die nur durch die Umkehr zu realisieren ist. Alle Versuche der Modernisierung, der bloßen Anpassung des Dogmas an veränderte Welt- und Erkenntnisbedingungen verfehlen das Ziel theologischer Erkenntnis; verschoben wird die Relation von Maß und Gemessenem. Nicht die moderne Welt ist Maßstab für das, was am Dogma noch wahr ist, sondern das Dogma ist Maß dessen, was an der modernen Welt falsch ist. So sagen es zwar alle kirchlichen Lehrämter auch, und die Gefahr, mißverstanden zu werden, ist sicherlich groß. Aber wer der Gefahr des Mißverständnisses entgehen will, verstellt sich selbst den Zugang zur Wahrheit.

    Zu Drewermann: Seine Adaptation der Psychoanalyse leidet daran, daß es ihm nicht gelingt, den Bann des Psychologismus zu sprengen. Bezeichnend seine Rezeption des Begriffs des Unbewußten, der der Innerlichkeit des Subjekts verhaftet bleibt. Eine objektive Anwendung der Psychoanalyse ist wahrscheinlich erst möglich, wenn es gelingt, den Begriff des Unbewußten statt bloß formal, nämlich gegen das Bewußtsein, in Abgrenzung vom Bewußtsein zu definieren, ins Objektive zu wenden und inhaltlich zu bestimmen, d.h. darauf abzustellen, was in der Objektivität das Bewußtsein nicht mehr erreicht, welche Bereiche der Objektivität vom Bewußtsein ausgeblendet werden, und die besondere Rolle, die der moderne Säkularisationsprozeß darin spielt. Verdrängungsprozesse wären heute nicht mehr in erster Linie in der Privatsphäre, im Bereich der Sexualität, zu studieren, sondern in der Öffentlichkeit, in einem Bereich, der durch Diskriminierung, Ausgrenzung, neue Formen der politischen Gewalt von der Atombombe bis hin zu Polizeigewalt, die qualitativ neue Formen angenommen hat; hier geht es in erster Linie um Verdrängungsprozesse und eines der wesentlichen Instrumente ist hier die Produktion des pathologisch guten Gewissens. Hier haben die Studies in Prejudice, die Untersuchungen über das Vorurteil ganz erhebliche Vorarbeit bereits geleistet.

    Der Hinweis Jesu, daß man das Opfer nicht feiern soll, bevor sich nicht mit seinem Bruder versöhnt hat, ist heute das schlagendste Argument gegen die weitere Teilnahme an der Feier der Opfers. Würden die Christen dieses Wort ernst nehmen, die Kirchen wären leer. Die Sache ist nicht harmlos. Der historische Prozeß, in den auch die Geschichte der Sakramente verflochten ist, hat uns deren Gebrauch entfremdet, er hat uns mehr noch die Sakramente entwendet, und zwar entwendet in einem sehr wörtlichen Sinne: Ihr Inhalt ist so verkehrt worden, daß sie uns gleichsam nur noch die Rückseite zukehren, für uns unkenntlich geworden sind. Übrig geblieben ist eine barbarische Ästhetik.

    Zweifellos krankt Drewermanns Buch über die Kleriker daran, daß auch er hier das Problem von der falschen Seite anfaßt. Es ist keine Frage der Psychologie, die an die Lösung des Rätsels führt, sondern es ist eine Frage des historischen Prozesses. Und berührt wird nicht die Frage des Klerikertums, sondern betroffen ist die Frage des Priestertums im Kern. Und genau das hätte das eigentlich Objekt von Drewermann sein müssen, das er aber nicht wahrgenommen hat. Und genau das ist es, woran die Priester für alle sichtbar so intensiv leiden, nur sie selber merken es nicht mehr.

    Habe ich bei dem Hinweis auf Esther und Judith die Ruth vergessen? Es erscheint mir bemerkenswert, daß diese drei Frauengestalten im „Alten Testament“ die Beziehung der Juden, des jüdischen Volkes zur Außenwelt widerspiegeln, von den Heiden über die Machthaber bis hin zu den Tyrannen. Zu überprüfen wäre, wie sich Hiob, der Leidende, die Propheten zu dieser Außenwelt verhalten, wie verhält sich die Apokalypse hierzu. Propheten und Apokalyptiker scheinen doch zu sehr in die Innerlichkeit des erwählten Volkes versponnen zu sein, bis zum Exzeß versponnen, und die Außenwelt nur noch wahrzunehmen als Gegenstand der Verurteilung, des Banns. Und wohin gehört in diesem Zusammenhang das Hohe Lied der Liebe?

    Fällt in der säkularisierten Welt die Theologie insgesamt unter das Bilderverbot?

    Das Wesentliche an dem „Hexensabbat“ von Carlo Ginzburg scheint mir zu sein, daß es einen Blick auf eines der wichtigsten Motive der Hexenverfolgung wirft, nämlich auf die Verdrängung der Erinnerung an die Toten. Diese zugleich verdrängte Beziehung zu den Totenheeren scheint mir der Schlüssel zu sein. Verdrängt wurde hier mit der bedrängenden und möglicherweise falschen Erinnerung an die Toten der Grund für die Lehre von der Auferstehung.

    Was das Christentum nie geschafft hat, war der gelassene Umgang mit den Häresien. Grund dafür war die Komplizenschaft mit der Herrschaft. Erst das Staatschristentum kennt den Häretiker (wie zuvor der heidnische Staat das Christentum) als den zu eliminierenden Feind. Das Christentum ist in der Geschichte seiner Komplizenschaft mit der Herrschaft bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden, aber es ist darin nicht aufgegangen; ein Rest ist geblieben, der möglicherweise heute fähig wäre, seine rettende Kraft zu entfalten. Erst wenn das Bewußtsein seine Härte ablegt, sich selbst als offene Wunde begreift, erst dann ist Theologie wider möglich. Hier ist das Leiden und der Schmerz nichts, worauf einer sich berufen kann, woraus er Ansprüche herleiten könnte; sie bleiben Leiden und Schmerz. Sie finden keinen Trost. Wer aber in diesem Leiden, in diesem Schmerz sich selbst und seinen Gott zu finden und zu bewahren sucht, der … Selbstmitleid, das Verlangen, geliebt zu werden, ist der Tod der Theologie.

    Franz Rosenzweig hat den Streit zwischen Realismus und Nominalismus nicht geschlichtet, sondern auf eine Ebene gehoben, auf der er dann aufgehoben wird. Zentraler Punkt ist seine Lehre vom Namen. Der Name ist nicht Schall und Rauch. Der Name ist das Zentrum seiner Philosophie, deren Intention es ist, die Dinge beim Namen zu nennen oder auch – das ist die andere Seite der Sache – sie zum Sprechen zu bringen. Der kirchliche Zug, den Gershom Scholem an F.R. bemerkt hat, hängt offensichtlich zusammen damit, daß bei ihm keine Apokalypse gibt. Die Apokalypse war zu nah, zu brennend, zu direkt, als daß er sie hätte mit aufnehmen können. Auschwitz kam nach Rosenzweig.

    Wenn die Theologie nur dazu dient, die Vorstellung, durch Handeln ließe sich etwas ändern, zunächst einmal beiseite zu stellen, und die ganze Schwere und die den Umfang der Negativität ins Auge zu fassen, jede Illusion darüber beiseite zu lassen, und damit die Gefahr zu meiden, Räuber- und Gendarm-Spiel mit Revolution zu verwechseln, dann hat sie schon einiges erreicht. Aber der Schock der Radikalität ist nicht zu vermeiden. Vor allem dann nicht, wenn man kein Zyniker werden möchte.

    Die Hexen haben in der Auseinandersetzung mit der Natur auf der falschen Seite gestanden.

    Ein Schmerz, der nicht beleidigt, ein Schmerz, der keine Empörung wachruft, sondern nur Trauer. Es gibt keine Empörung mehr ohne Projektion. Zumindest auf der Seite der Täter. Wir haben kein Recht mehr beleidigt zu sein. Mehr noch, das Beleidigtsein ist Teil des pathologisch guten Gewissens.

  • 12./13.05.90

    „Überzeugen ist unfruchtbar“: und zwar aus sprachlichen Gründen. Zusammenhang mit Rechtfertigung (Ich-Stütze in der vom Schuldzusammenhang bestimmten Gesellschaft, wird vom Adressaten als Angriff, als Schuldvorwurf erfahren) und mit dem Rechtsurteil (das seine Überzeugungskraft aus dem Gewaltmonopol des Staates, das ihm zugrundeliegt, gewinnt; Grund der Remythisierung). Folgen für die Konstruktion einer Lehre, die keine Dogmen und keine Sprechblasen produziert und nicht an den demütigenden Bekenntniszwang gebunden ist: die Lehre einer entkonfessionalisierten Politik und Religion.

    „Nie wieder Deutschland“: Bezeichnend die Medienreaktion; falsche Teilnehmerzahlen, verwischende und falsche Angaben über die „gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei“. Apriorisches Feindbild der Polizei, die offensichtlich (nach entsprechender Vorbereitung in den Medien vor der Demo und Realisierung des eigenen strategischen Konzepts während der Demo) ihren Fernsehauftritt gesucht (und am Ende auf dem Römerberg auch herbeigeführt) hat. Die Politik hat die Bearbeitung ihrer eigenen Widersprüche der Polizei übertragen: Das ist genau der Ursprung des Polizeistaats. der nachträglich das „Nie wieder Deutschland“ begründet und rechtfertigt, wie unangemessen, unausgegoren und unreif die Beiträge der Initiatoren der Demo dann auch immer waren.

    Esther und Judith prophetische Bücher (aber antiimperialistische)? Kritik und Ergänzung der – patriarchalischen – apokalyptischen Tradition (nach dem Einbruch des babylonisch-römischen Imperialismus und dem Ende jüdischer Nationalpolitik, jüdischer Königsgeschichte)? – Bedeutung feministischer Theologie (Magdalena und Messias-Salbung)?

    Die Siebener-Perioden binden die Apokalypse an die Schöpfung? Was würde eine Synopse der 7er-Perioden bringen (Gemeinden, Engel, Posaunen, Plagen, Schalen des Zorns, Siegel)?

    Der moderne Nationalismus (insbesondere der deutsche) ist der demokratisierte alte (römische) Kaiserkult. Der nationalsozialistische Arier-Rassismus (und die Ausländerfeindschaft von heute) bringen das auf den zeitgenössischen Begriff; Grundlage und zwangslogischer Kontext ist das pathologisch gute Gewissen (in dem das falsche Bewußtsein zu sich selbst gebracht, auf seinen eigenen Grund zurückgeführt wird), Reflex der realen Komplizenschaft. Sartre hat die Person des Antisemiten genau gezeichnet. Vgl. auch W.B.: Der Kleinbürger ist Teufel und arme Seele zugleich (d.h. er ist Teufel als arme Seele, durch Selbstmitleid).

    „Die radikale Linke“: Genügt eigentlich noch der Nachweis der Notwendigkeit linker Politik (Rosa Luxemburgs Theorie der Selbstzerstörung des Kapitalismus durch den zwangsläufig, aus seiner eigenen Entwicklungstendenz folgenden Imperialismus), wäre nicht zumindest ebenso wichtig die Reflexion auf die Notwendigkeit des Scheiterns des real existierenden Sozialismus (die nicht nur Folge der Unzulänglichkeit von Personen ist, sondern vor allem der Unvereinbarkeit von Sozialismus und Herrschaftssystem)?

  • 08.04.90

    Ist das Heideggersche „Dasein“, sind die „Eigentlichkeit“, „Entschlossenheit“, das heroische „Vorlaufen in den Tod“ nicht männliche Kategorien; kommen Frauen in Heideggers Philosophie (wie in den Texten zu Theweleits „Männerphantasien“) überhaupt vor (außer als andächtige Hörer)? Ist die Fundamentalontologie ein Prototyp oder gar das genaue Strukturgesetz der Männerphantasien und derart insgesamt sexistisch (und das Selbstmitleid und die genetische Struktur für das „pathologisch gute Gewissen“ ein notwendiges Pendant dazu)?

    Heidegger hat das Modewort der 60er Jahre „Identität“, gegen das auch Adornos Einsichten nicht geholfen haben, im Begriff der „Eigentlichkeit“ vorweggenommen, zugleich aber das Dezisionistische daran (das heute Adorno-Schüler wiederum gegen die Postmoderne glauben verteidigen zu müssen) protokolliert. Dieser Dezisionismus (Reflex des unreflektierten Schuldmoments am Subjekt) ist es, der sich über Projektionen, Vorurteile den Schein der logischen Notwendigkeit geben muß.

    Unter dem Oberbegriff der Identität (dem Rest oder dem Widerschein der Einheit des Dings, des Objekts: der Schuld) ist die Idee der Wahrheit nicht zu retten; daraus zieht der Sexismus (als Grundvorurteil) seine zerstörerische Gewalt (vgl. auch die lange akademische Tradition dieses „Grundvorurteils“; Belege bei Christine de Pizan; Wahrheitsmoment der Sexualmoral).

    Die Idee der Wahrheit ist ohne die (identitäts- und schuldauflösende) Idee des Gottsuchens nicht zu halten. Der materialistische Kern der Wahrheitsidee (ihr brennender Dornbusch) ist die Theologie.

    Transzendentale Logik/ Unerkennbarkeit der Dinge an sich/ Bedeutung der Kantischen Formen der Anschauung/ Inertialsystem und Relativitätsprinzip: Zusammenhang mit dem Ursprung der Reflexionsbegriffe. Der Ursprung des Inertialsystems repräsentiert die falsche (männliche) Einheit von Subjekt und Objekt (Maßstab und Gemessenem), Herrschaft und Beherrschten, die Unwahrheit des richtenden Prinzips, das Formgesetz und den Ursprung des Schuldzusammenhangs.

  • 09.01.90

    Das Problem der kontrafaktischen Urteile stellt sich in der Geschichte ebenso wie in der individuellen Biographie: Kontrafaktische Urteile drücken im Verhältnis zur eigenen Vergangenheit zwar eine Kritik der Gegenwart aus, lenken aber zugleich ab vom Prinzip Verantwortung, von der an sich notwendigen Erforschung der Änderungsmöglichkeiten hic et nunc; sie bleiben in die Haltung des Zuschauers gebannt, dessen Unschuld sie erhalten sollen durch Verschiebung der Schuld in die Vergangenheit, die jedoch eben dadurch unaufhebbar wird; sie sind Funktionen der eingebildeten Ohnmacht, des Selbstmitleids (Heideggers „Seinsvergessenheit“ ist ein kontrafaktisches Urteil, dem er sich nur zum Schein selbst unterwirft; die „Seinsfrage“ ist das endgültige Verdammungsurteil). Kontrafaktische Urteile werden bösartig und gemein, wenn sie (im allgemeinen im Interesse der Selbstrechtfertigung, der Entlastung von Schuldgefühlen: im Kontext des pathologisch guten Gewissens) auf andere bezogen, auf die Vergangenheit anderer angewandt werden.

    Der Begriff des dreidimensionalen Raums ist eine Funktion der Verräumlichung der Zeit (der Subsumtion der Zeit unter die Vergangenheitsform). Rätsel der Lichtgeschwindigkeit. Ist der Blick zum „Sternenhimmel“ ein Blick in die Vergangenheit? Ist alles Gesehene ein Vergangenes, nicht mehr Erreichbares? Ist die Physik insgesamt ein kontrafaktisches Urteil (Zusammenhang mit Projektion und Paranoia?), und dessen kritische Auflösung die heute notwendige Gestalt einer parakletischen Naturphilosophie?

    Was bedeutet es, wenn (auch christliche) Politiker Ereignisse und Taten dem „Urteil der Geschichte“ anstatt dem göttlichen Urteil unterstellen? – Der faschistische Schicksalsglaube ist noch lebendig.

    Spenglers Begriff der Sorge (Madonna als Muttersorge; der Staat die Sorge des Mannes, UdA, S. 178): Hat Heidegger Spengler gekannt?

    Weltanschauung als Droge.

    Wie begründet Heidegger seine Behauptung über die besondere Affinität der deutschen (wie früher der griechischen) Sprache zur Philosophie, und welche Schlüsse lassen sich aus dieser Begründung ziehen (Vgl. Ulrich Sonnemanns Hinweis hierzu)?

  • 06.01.90

    Der Faschismus hat sich aus dem Zentrum der Macht in die Peripherie, in die Individuen und in die abhängigen Länder der Dritten Welt, verlagert. Grund ist nicht zuletzt die Entwicklung der Rüstung, deren abschreckende Wirkung den unmittelbaren Terror überflüssig macht. Politik wird zureichend erst begriffen, wenn dieser verinnerlichte (und zugleich externalisierte) Faschismus begriffen wird: die Gemeinheit, das pathologische gute Gewissen und die Techniken der Exkulpation, das Selbstmitleid, die projektive zweite Schuld (insgesamt das Äquivalent des übermächtigen Gewalt- und Zerstörungspotentials in den Seelen der Menschen), insgesamt das System der Selbstausbeutung.

  • 03.01.90

    Ursprung und Modell der Reflexionsbegriffe beschreibt Hegel in der Phänomenologie des Geistes anhand der deiktischen Begriffe „hier“ und „jetzt“. „Das Eine ist das Andere des Anderen“: Dieser Satz ist nach dem Modell gebildet: „Das Übermorgen von gestern ist das Morgen von Heute“; entfaltet wird dieser Zusammenhang in der Mathematik; seine Grundlage hat er im futurum perfectum, in der zukünftigen Vergangenheit.

    Das Klima in deutschen Straßenbahnen, das von Unansprechbarkeit bis Aggressivität reicht, mit einer signifikanten Tendenz zu faschistischen Sprüchen, rührt her von der Verfassung der Menschen in den Straßenbahnen, von ihrer Zukunftslosigkeit und – als subjektiver Reflex davon – von ihren Sorgen (Verhältnis zum Selbstmitleid?). Hier kommen subjektive und objektive Gründe zusammen: Straßenbahnfahrer nutzen ein Verkehrsmittel, auf dessen Ziel und Geschwindigkeit sie keinen Einfluß haben; sie haben kein Gaspedal, das ihnen das Gefühl der Eigentätigkeit und Selbstbestimmung vermittelt. Die Straßenbahn verhält sich zum Auto wie die Mietwohnung zum Eigenheim. Straßenbahnfahrer sind Berufstätige, Frauen und Kinder, d.h. im allgemeinen Abhängige, Fremdbestimmte. Für sie ist die Zukunft eine Zukunft für andere, nicht für sie; was sie vor Augen sehen, allem voran die Reklame, ist der Lobpreis einer Welt, von der sie ausgeschlossen sind; ihr „In-der-Welt-Sein“ ist reines Objektsein, entbehrt jeglicher Spontaneität, die sie sich nicht leisten können. Heideggers Fundamentalontologie sperrt die Menschen in diesen Zustand ein und betrügt sie zugleich um das Recht des Bewußtseins davon.

  • 25.12.89

    Problem des menschlichen (göttlichen) Gesichts: Humboldts Hinweis zu Lavater, daß das Problem der Physiognomik ein Sprachproblem sei, führt auf das Begründungsproblem jeglicher Psychologie: Verzerrung ihres Gegenstands durch den Objektivationsprozeß; Sprengung der Charaktermaske; durch physiognomische Erkenntnis hindurch zum Ursprung der Ansprechbarkeit, Physiognomie als Inbegriff der kritischen Erkenntnis und als Durchdringung der Mauer der Nicht-Ansprechbarkeit. – Rosenzweigs Konstruktion des menschlichen (göttlichen?) Antlitzes im „Stern“ (Differenzierung des „Blicks“, Strenge und Empathie; Gericht und Verteidigung; Weltgericht und Paraklet).

    Die Instrumentalisierung der Welt (übrigens ein Pleonasmus: die Welt ist das Produkt ihrer Instrumentalisierung, die sich als Welt in dem Maße ausbildet und auskristallisiert, wie die Menschen in ihr und gegen sie ihre Zwecke verfolgen) hat zur Folge, daß objektive von subjektiven Zwecken sich nicht mehr unterscheiden lassen und jede Begründung (auch der objektiven Zwecke: Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit) das Stigma der Subjektivität (Verwandlung von Begründung in Rechtfertigung) an sich trägt und als Ideologie erfahren wird. Unschuld und Güte lassen sich nicht verteidigen. Ebenso kann man einer Kränkung nicht mehr ansehen, ob sie eine Verletzung der Ideen, für die jemand einsteht, oder nur des Subjekts als Ursache hat („Majestätsbeleidigung“ und deren Pendant: das Selbstmitleid). Das Leiden am Zustand der Welt und die gekränkte Eitelkeit sind fast ununterscheidbar geworden. An dieser Zweideutigkeit, die das Dogma dingfest und am Ende fast unauflösbar gemacht hat, ist die Theologie zugrunde gegangen.

  • 24.12.89

    So verhindert die Kritik der Religion als Kritik des Wunschdenkens zugleich auch das (dringend notwendige) reflektierte Wunschdenken. Erst auf dieser Basis wäre eine produktive Kritik der Postmoderne denkbar.

    Es ist im übrigen ein Unterschied ums Ganze, ob das kritisierte Wunschdenken die eigenen (Luxus-)Bedürfnisse oder die Existenzbedürfnisse der Zukurzgekommenen (den Ausbeutungsbereich in Natur und Gesellschaft) als Grundlage hat. Die Differenz wird verwischt durch den strategischen Gebrauch der Reflexionsbegriffe: durch den Ersatz der Empathie durch Selbstmitleid („no pity for the poor“), m.a.W. durch Schuldverschiebung, Projektion. Hier konstituiert sich ein Bereich (der nicht zufällig dem des mythischen Schicksals sich angleicht), in dem eine neutrale, objektive (im Sinne von reflexionsfreie) Untersuchung zwangsläufig in die Irre führt (in die „große Irre“, die Heidegger zufolge dem „groß Denken“ folgt). Anwendung auf die Heideggersche Philosophie: Die „Eigentlichkeit“ soll den Bannkreis des „man“ sprengen, führt jedoch genau in die Verstrickung hinein (Fundamentalontologie als Schuldverschubsystem). – Zum Vergleich ist auf das in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eingeübte und dann vor allem im sogenannten Terroristenbereich hemmungslos angewandte Verfahren hinzuweisen: die Schuld des Objekts wird als Anlaß genutzt, den eigenen Schuldanteil zu verdrängen; die öffentliche Erörterung reizt zu pogromähnlichen Aggressionen (Nutzung als öffentliche Abwehr- und Tabumechanismen, mit dem Nebeneffekt der Erzeugung des „pathologisch guten Gewissens“; das pathologisch gute Gewissen ist das notwendige Pendant der unreflektierten Anwendung des Weltbegriffs (u.a. des bis heute nicht aufgeklärten Trägheits-/Relatitivitätsprinzips)).

    Zum Begriff der Herrschaft (Herrschaft als Reflexionsbegriff, oder Herrschaft und Subjektivität): Auch Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit sollen herrschen?

    Peter von Matts Interpretation des Kafkaschen Trompetenbläsers („… fertig ist das Angesicht“, Ffm. 1989, S. 25f) scheitert an der Unkenntnis des „Stern“.

  • 26.11.89

    Der nachchristliche Zynismus ist eine Folge des christlichen Selbstmitleids (Leidensmystik).

    Wir produzieren heute das Chaos, aus dem die Welt zu erschaffen wäre. – Das zusammendenken mit: Nach dem Weltuntergang ist Rettung nur noch über das „Abgestiegen zur Hölle“ (die heute einzig angemessene Form der Nachfolge) möglich.

  • 06.08.89

    Auschwitz ist Anlaß, den theologischen Stellenwert des Martyriums (und der Opfertheologie) zu überprüfen. Falsch ist die Vorstellung, daß das Leiden schon für sich Erlösungsgrund ist (Gott ist kein Kannibale); das so erzeugte masochistische Religionsverständnis (diese Form der Leidensmystik) hat

    – die Religion zu einem Herrschaftsmittel instrumentalisiert und

    – (durch die vom Masochismus nicht zu trennende sadistische Komponente) die Bahn frei gemacht für die Schreckensgeschichte, die das Christentum für andere dann geworden ist.

    Das Selbstmitleid, das der „Aufmerksamkeit“, der Wahrnehmung, was man selbst draußen anrichtet, den Boden entzieht, hat hier seinen Ursprung. Insofern ist Heideggers Fundamentalontologie christlichen Ursprungs. (Vgl. hierzu Elaine Pagels: Versuchung durch Erkenntnis, Kap. IV.)

    Das Glaubensbekenntnis enthält weder die Lehre Jesu, (die Bergpredigt: Nächsten-/Feindesliebe), noch gehorcht es ihren Grundsätzen („Richtet nicht, …“), sie ist bereits Produkt der Neutralisierung und Instrumentalisierung, die (wie jedes Bekenntnis) die Wahrheit zur Unkenntlichkeit entstellt und so für die Heuchelei brauchbar macht. Diese Tradition hat sich neben der anderen, befreienden (und mit ihr verbunden) in der Geschichte der christlichen Religion und Theologie erhalten.

    Innen und Außen: „Glücklich ist, wer seiner selbst ohne Schrecken inne wird“ (W. Benjamin). Wer kann seiner selbst ohne Schrecken inne werden, wenn Menschen im Knast sitzen, als „Penner“ nicht wissen, wie sie den nächsten Tag überstehen, als Huren sich prostituieren müssen, um zu überleben; wenn in der Dritten Welt Kinder verhungern, weil wir im Wohlstand leben; wenn die Erinnerung an Auschwitz (wie nach alter religiöser Vorstellung Gott) allgegenwärtig ist (übrigens mit besonderer Eindringlichkeit in den Dingen, die einmal konzipiert waren als Verdrängungshilfe: dem Erscheinungsbild des deutschen „Wiederaufbaus“: unserer Städte).

    Gott suchen im eigenen Selbst: das ist wahr nur, wenn man weiß, daß das Selbst die Beziehung zum Zustand der Welt mit einschließt: wenn der Verdrängungsberg abgetragen ist (der Glaube diesen Berg versetzt hat).

  • 26.07.89

    Tauschprinzip und Trägheitsgesetz polarisieren ihre Objekte nach Herrschaftsgesetzen; die „anorganische Materie“ (träge Masse) ist das Modell für Herrschaftsobjekte in der Gesellschaft (Objektivation, Verdinglichung, Verwandlung in bloße Mittel); diese Herrschaftsstrukturen ergreifen auch das „Leben“, das keineswegs davon ausgenommen, geschweige denn etwas „Höheres“ ist; auch hier – durch Subsumtion der Zwecke unter die Mittel (der Arbeit unters Tauschprinzip) – die generelle Verdinglichung; der „organische“ Charakter kapitalistischer Systeme sollte vor der Hypostasierung des Organischen warnen.

    Die „Welt“ ist die Sünde wider den Heiligen Geist (vgl. den Weltbegriff bei Johannes, auch in der christlichen Mönchsbewegung).

    Nicht: Wer sich geliebt weiß, liebt, sondern umgekehrt: Wer liebt, weiß sich geliebt. – Kann es sein, daß in jedem das Bedürfnis, geliebt zu werden, nur die Oberfläche, die Außenseite des tieferen Bedürfnisses zu lieben ist, das heute alle sich versagen müssen; nur wer liebt, wer Gebrauch von diesem außerordentlichen Privileg machen kann, erreicht jenen Punkt, an dem das Bedürfnis, geliebt zu werden, sich auflöst, verschwindet. Aber wer liebt: Kann er dem Anblick dessen, was er sieht, noch standhalten? Verzehrt (verbrennt) die Liebe nicht den Liebenden? (Beziehung zum Symbol des brennenden Dornbuschs?) Sind das unermeßliche Unglück und Leid, die Last der Verantwortung und Schuld, der er sich nicht entziehen kann, ohne die Liebe zu verraten, überhaupt zu ertragen? Eine Welt, in der es Gefängnisse, Obdachlose, Huren gibt, macht es der Liebe nicht leicht. Und eine Welt, in der es Auschwitz gibt, macht Liebe unmöglich. Wer diese Welt für richtig befindet, kann das nur zusammen mit dem Bedürfnis, geliebt zu werden (Grund des Selbstmitleids).

    Glücklich ist man nicht für sich, sondern nur mit anderen (zwei Begriffe des Allgemeinen: der eine, substantielle, leitet sich aus der Idee des Glücks her, der andere aus dem grundsätzlich uneinlösbaren Anspruch des Begriffs – der Macht).

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie