Sexismus

  • 04.06.90

    „… Illusionen, deren Trugbild dem ungetrübten Auge eines Kindes verborgen bleiben sollte.“ (S. 476)

    „… verzehrte rasch und gewaltsam wie ein Steppenbrand die kleinen Reste an spärlichem Grün in den Niederungen und Tälern des irdischen Lebens.“ (S. 472) – Solche Sprachbilder verraten mehr, als der unmittelbare Wortlaut des Textes wahrhaben will.

    So verdienstvoll die Gesamtdarstellung des Klerikers ist, es bleibt ein Verdacht, daß hier eine katholische Assimilation (wie im letzten Jahrhundert die jüdische) auch den Schatten des Selbsthasses (eines verinnerlichten Antiklerikalismus) nach sich zieht. Ausgeblendet wird der Hintergrund (der Symptomenkomplex der zweiten Schuld) in Deutschland; die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird nur soweit mit vollzogen, wie sie sich in die Kritik an der Kirche mit einbeziehen läßt. Die Psychologie des Klerikers wird sicher überhaupt erst durchsichtig, sobald sie die Reflexion auf den welthistorischen Zustand der Dinge mit einbezieht: das gesamtgesellschaftliche Verhältnis von Es, Ich und Über-Ich, von dem das kirchliche nur ein ohnmächtiger Reflex ist. Der Verdacht bleibt, daß D. die Vorteile der Assimilation und des Schutzes der kirchlichen Institution zugleich haben möchte; den Widerspruch, der daraus notgedrungen folgt, hat er nicht aufgearbeitet (den Widerspruch des antiautoritären Autoritarismus).

    D.’s Antisemitismus? (S. 493ff: die „Religion des Alten Testamentes“)

    Das Christentum und das Erbe Ägyptens (S. 496): Verrat des Exodus.

    Zusammenhang der umfassenden Adaptation mythischer Motive mit der zentralen Verdrängung des politischen Teils der Idee des seligen Lebens. (Bedeutung Ägyptens für D.: Kein Gedanke an die Realität des Pharaonischen Reichs; Entpolitisierung, Psychologisierung der Befreiungstat Moses, des Mordes an dem Sklaven-Aufseher).

    2 Fragen:

    – Mit dem sozialen Hintergrund blendet D. auch das Faktum aus, daß sein Thema, insbesondere Keuschheit und Sexualität jetzt, infolge einiger genau bestimmbarer gesellschaftlicher Veränderungen, zum „Problem“ wird, an dem auch die Kleriker selbst nicht mehr vorbei kommen (Zusammenhang mit dem Ursprung der Psychoanalyse).

    – Ausgeblendet wird bei der Darstellung der Probleme der Keuschheit eigentlich vollständig das Problem, wie es aus dem Blickwinkel der Frau sich darstellt, der sehr wohl Vorbehalte gegen die freie Verfügbarkeit für männliche Begierden mit einschließt.

    M.a.W. verkürzt wird das gesamte Problem um den Problemkern, der vielleicht doch (freilich mit ganz anderen Konsequenzen, als aus der Sicht des Sexismus, des klerikalen Herrendenkens) in der kirchlichen Tradition steckt.

    „… der Haß auf die eigene Männlichkeit … übersetzt sich jetzt in eine Fülle reiner Gedanken zur Rettung der Welt“ (S. 556): D.h. wer über Auschwitz den Verstand verliert, und ernst macht mit der Maxime, daß das nicht wieder eintreten darf, tut es aus „Haß auf die eigene Männlichkeit“? Umgekehrt: Birgt nicht das Bestreben, den „Haß auf die eigene Männlichkeit“ zu vermeiden, gerade die Gefahr des Sexismus in sich? – Unfreiwilliger Hinweis auf den Zusammenhang von Empathie und parakletischem Denken?

    D.s Konzept stimmt nur unter der Voraussetzung, daß wir in einer heilen Welt leben, die nur von der Kirche angeschwärzt wird. Nur so läßt sich der Eindruck vermitteln: Wenn ihr aus den Fängen des Klerikalismus euch befreit, ist alles in Ordnung. Statt dessen käme es darauf an, diesen Zustand des Klerikalismus als selbst vermittelt (objektiv im Zustand der Welt, subjektiv in der Unfähigkeit, den Wahrheitskern der theologischen Tradition zu realisieren) zu begreifen. Und die begriffene Vermittlung könnte sehr wohl ein Moment der Realisierung der Wahrheit der theologischen Tradition sein.

  • 21.05.90

    Zu Hitler als Generalprobe des Antichrist vgl. Karl Thieme: „Biblische Religion Heute“; sh. ebd. und in „Kirche und Synagoge“ die Hinweise zu Amalek.

    Hirtenbrief der Bischofskonferenzen zum Verhältnis von Christen und Juden (20.10.88):

    – apologetisch

    – Unterscheidung von kirchlichem Antijudaismus und modernem Antisemitismus (Verdrängung der Ursprungsgeschichte; Rassismus nicht einziger Grund des Antisemitismus)

    – Schuld und Projektion (Hinweis auf Abtreibungsproblem: ohne Empathie; bloße Empörung/Verurteilung = Schuldlosigkeit des Urteilenden; schuldig ist der andere; Vorteil der privaten, individuellen Schuldzuweisung, während Antisemitismus und Judenmord kollektive und öffentliche Ursachen hat)

    – Verschweigen der durch die politische Ökonomie verursachten Hunger-Massentode in der Dritten Welt (hier müßten andere angeprangert werden, Mächtige)

    – Abwehr der Instrumentalisierung des Schuldvorwurfs, aber nur, soweit er sich gegen die Kirche richten könnte! – Ist der mit der Abtreibungsfrage verbundene Schuldvorwurf nicht auch instrumental?

    – Unfähigkeit, das, was eigene Gedankenlosigkeit und eigenes Vorurteil anrichten, überhaupt noch wahrzunehmen; Unfähigkeit zu begreifen, welches Gesicht die Kirche selber zeigt; Pflege des pathologisch guten Gewissens

    – Faschismus eine christliche Häresie?

    – Frauenfeindschaft = Ursprung und Paradigma der Sünde wider den Heiligen Geist?

    – Unfähigkeit zur Umkehr; zu parakletischem, verteidigendem Denken

    – Entkonfessionalisierung des Christentums = Abkehr vom Herrendenken = einzige Möglichkeit der Ökumene und der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit

    – Völlig unterschlagen wird das Versöhnungskonzept, das die Schrift selbst vorgibt (Unversöhntes: Knast, Isolationshaft, des Elend in der Dritten Welt, Nichtseßhafte, Sexismus, „no pity for the poor“, Herrschaft und Gericht/Problem des Rechtsstaats, Verwechslung von Recht und Moral, Recht und Gerechtigkeit); Versöhnung = Voraussetzung des Opfers (nicht Folge!)

  • 15.04.90

    „Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren“: Beginnt hier die Welterkenntnis, ist das erste Gebot „Ihr sollt euch kein Bildnis machen“ nicht ein spätes und genaues Echo darauf; hängt das „Richtet nicht …“ nicht mit dem Bilderverbot zusammen; und ist theologisches (parakletisches) Denken nicht aus eben diesem Grunde Sprachdenken und Kritik der Anschauung (des Bilderdenkens, der transzendentalen Logik und des apodiktischen Urteils)? (Zusammenhang mit Nacktheit, Scham; Ursprung von Schuld und Materialität; Ökonomie, Politik und Sexualität; zum Begriff des Sexismus und des Obszönen vgl. Rosemary Radford Ruether)

    Die Materie hat etwas zu verbergen; sie ist das gegenständliche Pendant der Scham, diese der Grund jeglicher Projektion und der Ursprung der Mathematik (der Verdoppelung). Am meisten zu verbergen hat der Pomp (vom Dogma bis zu den Ritualen und Uniformen/Gewändern aller hierarchischen Organisationen).

    Vgl. auch Walter Benjamins Sprachphilosophie: Erkenntnis des Guten und Bösen als Geschwätz, sowie seine Theologie des Wissens im „Ursprung des deutschen Trauerspiels“.

    Zum Bekenntnis: Jedes wirkliche Bekenntnis ist Schuldbekenntnis; der Erlöste, wäre er es wirklich, bedürfte des Bekenntnisses nicht mehr; jedes falsche Bekenntnis (als Rechtfertigung) ist Ideologie, verstrickt in den Schuldzusammenhang. Und Konfession ist Schuldgemeinschaft. Das Bekenntnis, als Zeichen der Zugehörigkeit zur Schuldgemeinschaft, löst die Schuld nicht auf, sondern macht sie unsichtbar für die Betroffenen und verstärkt sie zugleich durch Komplizenschaft (Aufnahme in die Gemeinschaft: Genesis des pathologisch guten Gewissens – das Confiteor/Confiteri kennt nur die passivische Konstruktion).

    Zur j Urgeschichte (E.D.): Liegt die Schuld, das Böse, denn wirklich nur im Ungehorsam, in der Übertretung des Gebots: Von diesem Baum dürft ihr nicht essen? Gibt es keine inhaltliche Begründung für das Verbot, nur die autoritäre Drohung mit der Todesstrafe? Besteht die Sünde nur in der Trennung von Gott? Müßte Gott diese Trennung nicht eigentlich sogar wollen? Kommt diese Interpretation nicht letztlich doch dem konfessionellen Schuldzusammenhang und der falschen kirchlichen Bindung der Gläubigen zugute?

    Wichtiger als die Entstehung der Strukturen des Bösen in der j Urgeschichte wäre deren Geschichte selbst, die Geschichte des gesellschaftlichen Schuldzusammenhangs, die dann vielleicht am Ende ein völlig neues Licht auf seine Genesis werfen könnte. Denn nur so läßt sich die Distanz ermessen, die uns heute von dieser Urgeschichte trennt, und deren Kenntnis zum Verständnis der j Urgeschichte essentiell dazugehört. So bleibt die Darstellung in einem entsetzlichen Sinne nur erbaulich.

    Kann es sein, daß das „kreisende Feuerschwert“, das das Paradies nach dem Sündenfall gegen die Rückkehr des Menschen schützt, etwas mit dem Planetensystem zu tun hat und die „Flucht gen Osten“ der aus dem Paradies Vertriebenen mit dem Tag-/Nacht-Wechsel und mit der Erddrehung? Die Erklärung der Cherube mit alten Tiergöttern (die die Tradition der Engellehre völlig außer acht läßt) greift mit Sicherheit zu kurz (Abwehr der Naturphilosophie?).

  • 13.04.90

    Am Ende kommt es heraus: Das Christentum war seit Beginn seiner Instrumentalisierung auch eine blasphemische Bild-Religion (der Bildersturm – und in anderer Beziehung auch der Islam – ein ohnmächtiges, weil den Ursprung und den Kontext nicht begreifendes Aufbegehren dagegen). Bild und Dogma sind zwei Seiten der gleichen Sache: ihr Zusammenhang rührt her von der Verdrängung der gleichen Schuld, deren Reflexion die eigentliche Quelle theologischer Inspiration wäre (das Dogma verstößt gegen das Bilderverbot).
    Aus dem gleichen Grunde ist die christliche Sexualmoral erwachsen: Ihr Ursprung ist zu begreifen aus dem Zusammenhang von Entfremdung, Lust und Macht. Die Verteufelung der Sexuallust meint bewußt-unbewußt (mit bewußter Ambivalenz jedenfalls) eigentlich die politische Macht, die Lustverführung der Macht, deren letzter Abkömmling das pathologisch gute Gewissen ehemaliger Nazis ist. Das technologisch (durch die neueren Verhütungstechniken, nicht im Kontext realer Befreiung) begründete Tabu auf der Lustkritik verstärkt den politischen Schuldzusammenhang durch Stabilisierung des Konsumzwangs als Phantasmagorie der Befreiung. Insbesondere: Die Reduzierung der Moral auf ein Anklage- und Urteils-System (unter Verletzung des Gebots: „Richtet nicht …“), verstellt mit dem Verlust der Bereitschaft und der Fähigkeit zur Empathie (dem Grund des parakletischen Denkens) den spekulativen Kern und die theologische Wahrheit der patristischen Sexualtheorie. Die Sexualmoral ist verinnerlichte und deshalb verhexte politische Philosophie.
    Vor diesem Hintergrund wäre das Verhältnis von Psychoanalyse, Religion und Politik zu überprüfen. Die falschen Harmonisierungen von Jung bis Drewermann unterschlagen und neutralisieren, was Freud in „Totem und Tabu“, „Die Zukunft einer Illusion“ und „Der Mann Moses“ hierzu mit großem Ernst erarbeitet hat; sie verfallen der (politisch und moralisch reaktionären) Lust am Urteil (im übrigen nach dem gleichen Schema, dem die Sexualmoral sich verdankt). Der entscheidende Punkt dürfte in der Einsicht liegen, daß Verdrängung nicht allein ein innerlicher, psychologischer Vorgang ist, sondern primär ein objektiver, gesellschaftlicher. Die Objektivität der Verdrängung ist der gesellschaftliche Schuldzusammenhang, im Kern der Sexismus: Hier hängen politische und Sexualmoral zusammen, mehr noch: sind sie eins.
    Hinzu kommt, daß die Verinnerlichung und Psychologisierung selber begründet sind in der Objektivierung der Subjektivität: in der Geschichte der Naturwissenschaft (die die Entstehung des Schuldzusammenhangs in der Gesellschaft ebensosehr voraussetzt und begleitet wie begründet).
    Die Theologie droht heute zu verschwinden, weil die Einsicht in diese Zusammenhänge zu nahe gerückt ist. Kann es sein, daß dieses Verschwinden der Theologie die einzige Möglichkeit ihrer Rettung wäre?

  • 08.04.90

    Ist das Heideggersche „Dasein“, sind die „Eigentlichkeit“, „Entschlossenheit“, das heroische „Vorlaufen in den Tod“ nicht männliche Kategorien; kommen Frauen in Heideggers Philosophie (wie in den Texten zu Theweleits „Männerphantasien“) überhaupt vor (außer als andächtige Hörer)? Ist die Fundamentalontologie ein Prototyp oder gar das genaue Strukturgesetz der Männerphantasien und derart insgesamt sexistisch (und das Selbstmitleid und die genetische Struktur für das „pathologisch gute Gewissen“ ein notwendiges Pendant dazu)?

    Heidegger hat das Modewort der 60er Jahre „Identität“, gegen das auch Adornos Einsichten nicht geholfen haben, im Begriff der „Eigentlichkeit“ vorweggenommen, zugleich aber das Dezisionistische daran (das heute Adorno-Schüler wiederum gegen die Postmoderne glauben verteidigen zu müssen) protokolliert. Dieser Dezisionismus (Reflex des unreflektierten Schuldmoments am Subjekt) ist es, der sich über Projektionen, Vorurteile den Schein der logischen Notwendigkeit geben muß.

    Unter dem Oberbegriff der Identität (dem Rest oder dem Widerschein der Einheit des Dings, des Objekts: der Schuld) ist die Idee der Wahrheit nicht zu retten; daraus zieht der Sexismus (als Grundvorurteil) seine zerstörerische Gewalt (vgl. auch die lange akademische Tradition dieses „Grundvorurteils“; Belege bei Christine de Pizan; Wahrheitsmoment der Sexualmoral).

    Die Idee der Wahrheit ist ohne die (identitäts- und schuldauflösende) Idee des Gottsuchens nicht zu halten. Der materialistische Kern der Wahrheitsidee (ihr brennender Dornbusch) ist die Theologie.

    Transzendentale Logik/ Unerkennbarkeit der Dinge an sich/ Bedeutung der Kantischen Formen der Anschauung/ Inertialsystem und Relativitätsprinzip: Zusammenhang mit dem Ursprung der Reflexionsbegriffe. Der Ursprung des Inertialsystems repräsentiert die falsche (männliche) Einheit von Subjekt und Objekt (Maßstab und Gemessenem), Herrschaft und Beherrschten, die Unwahrheit des richtenden Prinzips, das Formgesetz und den Ursprung des Schuldzusammenhangs.

  • 02.09.89

    Ebenso wie Ketzerverfolgung und Frauenfeindschaft ist auch der Antisemitismus nicht wirklich überwunden, sondern nur teilweise neutralisiert; er lebt fort auf eine weit gefährlichere Weise: als selbst- und weltzerstörerisches Potential. Der Schatten des Absoluten ist das einzige, was von der Religion geblieben ist.

    Was not tut, ist nicht die Religion, wohl aber ihr einziger Inhalt: das Gott-Suchen und das Verlangen nach Gerechtigkeit. Das aber ist ohne ein Zerbrechen der Institutionen, ohne radikale Entkonfessionalisierung des Christentums, ohne einen Kirchenbegriff, der durch Umkehr begründet wird und den Antisemitismus, die Ketzerausgrenzung und die Frauenfeindschaft (den Sexismus) ausschließt, nicht mehr möglich.

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