Sexualmoral

  • 4.10.1994

    Übersehen wir nicht zu leicht, daß die Steigerung der Lebenserwartungen bei uns mit dem Kindersterben in der Dritten Welt zusammenhängt? Und sehen wir nicht allzu leicht davon ab, daß unsere Exportüberschüsse die Kehrseite der wachsenden Verschuldung der armen Länder sind? Sind die Banken nicht in der Tat zu hocheffektiven Verschuldungsmaschinen geworden? Wehe denen, die in ihre Mühlen hineingeraten.
    Die Liebe unterscheidet sich von der Barmherzigkeit durch ihre Folgenlosigkeit.
    Der Satz, daß Heidegger den Geburtsfehler der Philosophie zu ihrem einzigen Inhalt gemacht hat, drückt einen allgemeinen Sachverhalt aus: Heute rücken fast alle gesellschaftlichen Prozesse und Entwicklungen in den Sog einer vergleichbaren Konstellation (von der Geschichte der Religionen über die der Banken, des Staats, des Privateigentums, der Sprache und der Schrift, bis hin zu den Naturwissenschaften). Das gilt für alle Emanationen der Herrschaftsgeschichte, als deren Innenseite die Geschichte der Verinnerlichung der Scham sich erweist.
    Verweist nicht das Problem der Beziehung von Einzelnem und Allgemeinen, das am sprachlichen Verhältnis des Femininum zum Plural sich demonstrieren läßt, auf die Struktur und das Problem der Scham? Ist nicht die Scham (das Sich-durch-die-Augen-der-anderen-Sehen) die Grenze zwischen dem Im Angesicht und dem Hinter dem Rücken? Nacktheit ist die Überformung des Angesichts durch das Hinter dem Rücken (die Fotographie ist nackt). Hier gründet die Logik, die nach theologischer Tradition den Sündenfall mit dem Ursprung von Tod und Krankheit verbindet.
    Aber ist die Scham nicht auch das Element, in dem der logische Zusammenhang von Sexualität und Politik gründet (als Urteilsmoral ist die Sexualmoral ein Bestandteil der autoritären Politik). Die Fähigkeit zur Reflexion der Scham ist die Bedingung der Möglichkeit von Sensibilität. Der Weltbegriff ist der Inbegriff der Schamlosigkeit, der Grund des verdinglichenden Denkens, das apriori schamlos ist. Schamlosigkeit ist der Grund des Begriffs der trägen Masse (die „aufgedeckte Blöße“), und Schamlosigkeit macht blind und lahm.
    Als das Christentum sich aus dem Bereich der prophetischen Herrschaftskritik herausgeschlichen hat, hat es die Erfüllung des Wortes mit der Erfüllung der Schrift (die Frucht des Feigenbaums mit dem Feigenblatt) verwechselt.
    Die Instrumentalisierung des Kreuzestodes durch die Opfertheologie (und in seiner Folge die Verinnerlichung der Scham) ist der Quellpunkt der Geschichte der modernen Aufklärung. Durch diese Konstellation unterscheidet sich die moderne Aufklärung von ihrem griechischen Ursprung.
    Die Differenz zwischen 666 und 618 ist 48 (4 x 12). Das Tier aus dem Wasser ist eine Emanation des Drachen, mit dem es die Zahl der Hörner und der Köpfe gemeinsam hat, während das Tier vom Lande, das zwei Hörner hat wie ein Lamm, aber redet wie ein Drache, aus der Differenz zwischen der Erfüllung der Schrift und der des Wortes erwächst. Im Kontext der Logik der Schrift wird das homologein zum Bekenntnis (dem Emmanuel Levinas Schamlosigkeit attestiert), während es eigentlich die Erfüllung des Wortes (das „Bekenntnis des Namens“: die Nachfolge) meint.

  • 22.9.1994

    Das Oberlandesgericht Frankfurt hat das Verfahren gegen den 38-jährigen Siegfried Nonne „mit Rücksicht auf die Kronzeugenregelung“ eingestellt. Siegfried Nonne hatte Anfang 1992 ein „Geständnis“ über eine angebliche Beteiligung an dem Mord an Alfred Herrhausen abgelegt, und hierbei Namen von Leuten genannt, die die Tat begangen haben sollen. Später hat er dieses „Geständnis“ öffentlich (u.a. in der ARD-Sendung „Brennpunkt“) mit dem Hinweis widerrufen, er sei „von hessischen Verfassungsschützern gezwungen“ worden. Das Oberlandesgericht unterstellt, daß das erste Geständnis stimmte. Wer wurde damit freigesprochen: Siegfried Nonne, der Generalbundesanwalt oder der hessische Verfassungsschutz? Und außerdem: Liegt diese Entscheidung nicht in der Linie der Konsequenz aus dem dezisionischen Souveränitäts-Begriff Carl Schmitts, der immer mehr und immer deutlicher aus dem politischen in die juristische Ebene sich verlagert? Souverän ist nicht mehr das Staatsoberhaupt („Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“), sondern die Justiz, die im Verfassungs- und im Staatsschutzbereich immer mehr politische Kompetenzen übernimmt. Grund ist ein Rechtsstaatsverständnis, das die Lücke im Recht durch eine gnadenlose und in ihrer Konsequenz selbstmörderische Staatsmetaphysik zu schließen versucht (hier liegt der systemische Grund für den Titel Staatsanwalt).
    Liegt in den Sätzen des Hiob und des Jeremias, in denen sie wünschen, schon vor ihrer Geburt gestorben zu sein, nicht die Geburt der modernen Naturwissenschaft: der Ursprung der der Vorstellung einer homogenen Zeit, die, indem sie die Zukunft unter die Vergangenheit subsumiert, den Tod vor die Geburt verlegt (Zusammenhang mit der Reichsidee und dem babylonischen Caesarismus)?
    Wie hängen die Hiob- und die Jeremias-Stelle mit der anderen Stelle bei Jeremias (15: Noch ehe ich dich bildete im Mutterleib, habe ich dich erwählt) zusammen? Und hat diese Konstellation etwas mit dem Ursprung des Weltbegriffs (und seiner Vorankündigung bei Jeremias) zu tun? Die Verfluchung der eigenen Geburt und das Motiv des Schreckens um und um sind die Innenansicht der Verzeitlichung der Konjugation und des Ursprungs des Neutrum, beide sind durch die Geschichte der Reichsbildung vermittelt. Herrschafts- und sprachgeschichtlich gehört das zusammen wie Nebukadnezar und der Turmbau von Babel. Die babylonische Sprachverwirrung gehört zur Ursprungsgeschichte der Zivilisation: die Bibel hält die Erinnerung an die Schreckenserfahrung fest, die die Zivilisationsgeschichte (unterm Vorzeichen der Philosophie) in der Sprache selber (durch ihr ihre eingeschriebene Logik und Struktur) verdrängt. Diese Erfahrung wird durch den Weltbegriff neutralisiert.
    Bezieht sich Deut 2210 „Du sollst nicht Ochse und Esel zusammen vor den Pflug spannen“ (wie auch die damit zusammenhängenden Gebote der Vermischung) auf die „Vermischung“ von Vergangenheit und Zukunft in der Vorstellung einer homogenen Zeit (auf die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit)? Hat diese Stelle (das Verbot, Joch und Last gleichzusetzen: die Diskriminierung des mechanischen Materiebegriffs) etwas mit dem gordischen Knoten (der Joch und und Deichsel verbindet) zu tun?
    Gibt es in der Bibel das Gebot: Du sollst nicht lügen? Vgl. Lev 1911: „Ihr sollt nicht stehlen und nicht ableugnen und nicht einer den andern betrügen“ (Zürcher Bibel)/ „Ihr sollt nicht stehlen, nicht täuschen und einander nicht betrügen“ (Einheitsübersetzung).
    Nicht aufs Ansehen (auf den Ruf), sondern aufs Tun kommt’s an.
    Ist der Katholizismus heute nicht endgültig zur Weltreligion geworden (und geht er daran nicht zugrunde)?
    Die Zukunft aus der Herrschaft der Vergangenheit befreien (die Zukunft freischaufeln), das kann niemand allein. Deshalb kann niemand alleine Christ sein.
    Die Personalisierung des Teufels hat (wie jede Verteufelung seitdem) nur zur Stabilisierung von Herrschaft beigetragen (Verteufelung als Blitzableiter der Herrschaftskritik). Besser als hinter seiner Personalisierung konnte sich der Teufel nicht verstecken. Aber das funktionierte nur solange, wie das Bild des Teufels aus der Sexualmoral sich nährte. Die Schrecken der Hölle waren nur solange wirksam, wie es möglich war, die Schrecken der Herrschaft in der Phantasie noch zu steigern.
    Die Opfertheologie ist das Produkt der Theologisierung der Logik der Ausbeutung.
    Hegels Philosophie heult mit den Wölfen (und das Weltgericht ist das Heulen der Wölfe). – Wie hängt die Klugheit der Schlange mit dem Heulen der Wölfe zusammen?
    Hat das Gebot, den hebräischen Sklaven nach dem sechsten Jahr freizulassen, etwas mit der Geschichte der hebräischen Schrift (mit der Geschichte der Logik der Schrift als Grund und Spiegel der Herrschaftsgeschichte) zu tun?
    Mit der kopernikanischen Wende ist die Erde ein zur kapitalistischen Aneignung freigegebenes „herrenloses Gut“ geworden. Darin liegt die theologische Bedeutung des Konzepts eines unendlichen Raumes. Insofern gehören Kopernikus und die „Entdeckung Amerikas“ (als Paradigma der Kolonialisierung der Welt) zusammen.
    „Spruch des Herrn“: Ist das nicht der Versuch, die Logik der Schrift von ihrem Fluch, an die Adresse des Allgemeinen gefesselt zu sein, zu befreien? Rosenzweigs Kritik des „All“ wäre durch die Kritik der Gemeinheit (die Kritik der Logik der Schrift) zu ergänzen (und als Kritik des Allgemeinen, des Weltbegriffs zu entfalten).
    Die Allgemeinheit des schriftlich fixierten Rechts hat zum Grund die Souveränität dessen, der das Gesetz erlassen hat (nach Heinsohn des gleichen, der auch als erster in seinem Namen Geld geprägt hat: Hammurabi = Darius).
    Hat der Rekurs der Heinsohn-Gruppe auf eine Naturkatastrophe (die Venus-Katastrophe) nicht seine eigene Logik in der Konsequenz, die ihn mit seinem historistischen Ansatz verbindet? Hier wird gleichsam ein zweitesmal die Zukunft unter die Vergangenheit subsumiert.
    Handelt nicht der „Sündenfall“ von der Geschichte, in der die Sprache (auf dem Wege von Jerusalem nach Jericho) unter die Räuber (unter die Logik der Schrift) gefallen ist („die zogen ihn aus und schlugen ihn und gingen davon und ließen ihn halbtot liegen“)? Der Priester und der Levit sahen ihn und gingen vorüber.
    Der Weltbegriff ist der Ursprung, das Instrument und das Produkt der Identifikation mit dem Aggressor.
    Die kopernikanische Wende hat die Verinnerlichung der Schicksalsidee zur Verinnerlichung der Scham weitergetrieben, ein Prozeß, in dem die Scham gegen das Subjekt selber sich wendet, es tendentiell auslöscht.
    Nur die deutsche Sprache hat die kopernikanische Wende in ihre Sprachlogik mit aufgenommen, während die anderen modernen Sprachen, insbesondere die romanischen Sprachen, in der Logik der Islamisierung der Sprache steckengeblieben sind. (Ist nicht die gesamte osteuropäische Orthodoxie insofern ein Archaismus, als sie die Lehre in einem vorislamischen Stand konserviert?).
    Sünde wider den Heiligen Geist: Das Inertialsystem hat mit der Natur gemacht, was die Schrift mit der Sprache (und die Bekenntnislogik mit der Theologie) gemacht hat.
    Gott und Teufel, Feindbild und Opfertheologie: Zur Bekenntnislogik gehört das Feindbild wie das Idol zum Götzendienst; über die Bekenntnislogik gleicht deren Subjekt dem Bild seines Feindes ebenso sich an wie umgekehrt das Feindbild auch als Projektion dessen, was das Subjekt in sich selber verdrängen muß, begriffen werden muß. Über das Feindbild stellt eine Reflexionsbeziehung sich her, die den Inhalt des Bekenntnisses mit bestimmt. In seiner entfalteten Form leistet die Bekenntnislogik
    – die Sicherung der Verdrängungsleistung (durch Projektion des Verdrängten auf den Feind),
    – den Schein der Schuldfreiheit (Befreiung durch Bestrafung des Feindes als Sündenbock) und
    – die Abfuhr der Aggression, deren Ursprung ins Objekt verlegt wird, die dem Täter gleichsam nur objektiv und schicksalshaft widerfährt: Schuldig ist das Opfer, dessen stellvertretendes Leiden den Täter von der Schuld befreit.
    Dieser Mechanismus hat über die Opfertheologie (den transzendentallogischen Kern der Bekenntnislogik) den Weltbegriff nicht nur begründet, sondern zugleich „entsühnt“, den herrschaftslogischen Kern des Weltbegriffs (die poltische Theologie der Staatsmetaphysik) unsichtbar und unangreifbar gemacht.
    Die Tatsache, daß Jesus ein Jude war, wird sich erst dann produktiv in der Reflexion und Auflösung des Antijudaismus verwenden lassen, wenn sie als Teil der Kritik der Bekenntnislogik (und als Grundlage der Rekonstruktion eines prophetischen Erkenntnisbegriffs) begriffen wird.

  • 15.9.1994

    Carl Schmitt, der Weltbegriff, die Bekenntnislogik und der Begriff der politischen Theologie.
    Die politische Theologie ist das Objekt der vorletzten Bitte des Herrengebets: et ne nos inducas in tentationem.
    Der Caesarismus ist die logische Konsequenz der Philosophie (des Weltbegriffs). Er gründet im Problem der Souveränität: er ist ein Versuch, das Problem des politischen Handelns unter den Bedingungen der Ontologie zu lösen; dieser Versuch mündet zwangsläufig im Dezisionismus.
    Ist nicht das, was wir heute den Rechtsstaat nennen, die Verlagerung des Problems der Souveränität in die Verwaltung, in die Person des Richters (vgl. die Entwicklung zur Politisierung des Bundesverfassungsgerichts) und in die Institutionen staatlicher Gewalt (Milität und Polizei)? Insgesamt scheint es nur noch um die Destruktion der Verantwortung zu gehen. So läßt sich der heutige Stand des Problems der Souveränität am Anwachsen der Verwaltung, an der wachsenden Stummheit der Politik und an der generellen Tendenzen zu Militärdiktatur und Polizeistaat ablesen. Vgl. hierzu Carl Schmitt, Politische Theologie, S. 37: „Daß es die zuständige Stelle war, die eine Entscheidung fällt, macht die Entscheidung relativ, unter Umständen auch absolut, unabhängig von der Richtigkeit ihres Inhalts und schneidet die weitere Diskussion darüber, ob noch Zweifel bestehen können, ab.“
    Carl Schmitt zieht die politischen Konsequenzen daraus, daß die Kirche spätestens seit der Privatisierung der Sexualmoral die Erbsünde unter das Schuldverschubsystem subsumiert hat.
    Joh 1915: „Wir haben keinen König außer dem Kaiser.“ Dieser Satz der Hohepriester vor Pilatus ist ein Schlüsselsatz zum Verständnis des Johannes-Evangeliums; außer dem „Antijudaismus“ des Johannes-Evangeliums begründet er, weshalb die Sadduzäer nicht an die Auferstehung glaubten. Im unmittelbaren Anschluß an diesen Satz heißt es: „Darauf lieferte er (Pilatus) ihn an sie aus, damit er gekreuzigt würde.“

  • 13.9.1994

    Luise Schottroff weist nach, daß das „lineare Zeitdenken … blind (macht) für die Leiden der Gegenwart“ (Lydias ungeduldige Schwestern, S. 254). Deutlicher läßt sich die Beziehung der Philosophie (und in ihrer Folge der Wissenschaften) zur Prophetie nicht bestimmen. Das „lineare Zeitdenken“ verdankt sich der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit; nur im Geltungsbereich dieser Subsumtion, die den prophetischen Kern der Erkenntnis sprengt, lassen die Dinge (als Erscheinungen im Sinne Kants) sich erkennen. Wahrheit gibt es nur im Kontext der „Leiden der Gegenwart“.
    Das lineare Zeitdenken macht nicht nur blind; es lähmt: Es ist der Grund des Trägheitsgesetzes nicht nur in der Natur. Das unter die Vergangenheit Subsumierte ist tot. Die „tote Natur“ ist es nicht „von Natur aus“, sondern als Reflex des Gesetzes, dem sie unterworfen ist: Produkt des Inertialsystems.
    Auch die Natur steht unter einem Wiederholungszwang, der zu sprengen ist, wenn der Bann unter dem die Natur steht, endlich gelöst werden soll. (Schreibt Paulus nicht immer dann, wenn er auf die Natur sich beruft, dummes Zeug? Dieser Naturbegriff ist determiniert durch den Stand der Herrschaftsgeschichte, der auch seine Beziehung zum Martyrium des Stephanus und seinen Namenswechsel zu berühren scheint.)
    Liegt nicht in dem Satz des Jeremias im Anblick der babylonischen Herrschaft (die als Ursprung und als Modell der römischen Herrschaft sich begreifen läßt): Betet für das Wohl der Stadt, die Wurzel der Beziehung des Christentums zu den Völkern (auch der paulinischen „Heidenmission“)? (Prophetisches Zwischenglied Sacharja 823?) Wird nicht dieser Paradigmenwechsel in seiner Kontraktion im Weltbegriff und in seiner Bedeutung für den Ursprung des Christentums analysierbar und bestimmbar? Weist nicht das erste Auftauchen eines Weltbegriffs (der den der Natur noch ungeschieden in sich mit begreift) bei Jeremias schon auf diesen Sachverhalt?
    Auch Schelling steht noch unter dem Bann des gleichen Naturbegriffs, den er zu durchdringen und zu begreifen sucht, wenn er im Anfang der „Weltalter“ schreibt, daß die Zukunft „geahndet“ wird (meinte er „geahnt“, oder hat er wirklich die Zukunft als Schuld verstanden?): Im Kontext der Kritik des Naturbegriffs müßte es heißen „erinnert“: Durch den Weltbegriff ist die Zukunft zu einem Gegenstand der Erinnerung geworden.
    Der Begriff der Zurechnungsfähigkeit gehört zur Definition der Person. Zurechnungsfähig ist, wer für seine Handlungen rechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Läßt die Tatsache, daß die Richter des Dritten Reiches niemals zur Verantwortung gezogen werden konnten, Rückschlüsse auf die Zurechnungsfähigkeit von Richtern zu?
    Wie hängt der Ursprung und die Geschichte des bestimmten Artikels (articulus: Gelenk, Knöchel, Knoten bei Gliedmaßen und Pflanzen) mit dem Ursprung und der Geschichte der Urteilsform (des „Seins“) und des Neutrums (oder auch der Orthogonalität) zusammen?
    Zu den Tätigkeiten der Sklavin Photis (bei Apulejus, Metamorphosen) gehört, daß sie neben den übrigen Diensten auch mit dem Gast schläft (Schottroff, S. 300). Liegt hierin der Hinweis auf den Zusammenhang von Herrschaft und Sexualität, gehört zum Herrenrecht auch das Recht auf die Sexualität des Beherrschten? Nur so läßt sich das kirchliche Votum zum Abtreibungsrecht erklären: Hier geht es um die letzte Stütze des Patriarchats.
    Hat das Martyrium des Stephanus (und die Rolle, die Saulus/Paulus hierbei spielt) etwas mit dem „Amt“ des Diakons: mit der Bedeutung des diakonein für das Selbstverständnis der frühen Kirche (mit der Rolle der „Hellenen“ und der Frauen in der frühen Kirche), zu tun? Waren nicht auch die Hörer der Pfingstpredigt des Petrus „Hellenen“?
    Gründet die Theologisierung des Vaternamens in der Zeitstruktur der Genealogie: Ist der Name des Vaters der Name der vergangenen Zukunft (Begründung des vierten Gebots, wobei das Gebot, die Eltern zu ehren, aus seinem patriarchalischen Bann zu lösen ist; nur so erweist es sich als ein Teil der Befreiung der Zukunft aus der Vergangenheit, die sie in Banden gefesselt hält)?
    An Hegels Diskussion des hic et nunc (des aristotelischen Quellpunkts der Philosophie) ist direkt nachzuvollziehen, daß und in welcher Form die Philosophie und der Begriff des Wissens dem linearen Zeitdenken und der Verdrängung des prophetischen Kerns der Erkenntnis sich verdanken (Ursprung des Inertialsystems). Im Inertialsystem gibt es das hic et nunc nur als mathematischen Punkt, als Korrelat des Relativitätsprinzips (als Stellvertreter des realen Objekts und als Produkt seiner Abstraktion vom Objekt).
    Wenn Luise Schottroff den Namen des Menschensohns durch den des „Menschlichen“ ersetzt, entschärft und entradikalisiert sie damit nicht diesen messianischen Titel? Der Name des Menschensohns ist kein Ehrentitel, keine Rangbezeichnung, er hat keine diskriminierende Wirkung nach außen, sondern er ist im wörtlichen Sinne ein Arbeitstitel: Erst der Menschensohn befreit das Patriarchat von seinem totemistischen Ursprung: Der Urvater des Patriarchats ist kein Mensch, sondern ein Tier; das Patriarchat steht im Symbol der Schlange, die den Staub frißt, aus dem Adam ward, und zu dem er wieder wird. Der Menschensohn wäre der erste Mann, der dem Patriarchat entronnen ist. Die Befreiung gründet im „Auf-sich-Nehmen“ der Last, die in Joh 129 bezeichnet ist, wie umgekehrt die patriarchalische Tradition des Christentums in dem opfertheologischen Konstrukt einer „Entsühnung der Welt“, das aller Erfahrung widerspricht: der Umkehrung von Joh 129, begründet ist.
    Hier ist an Adornos Kritik des „Ersten“ zu erinnern: Das Ursprüngliche, das Erste ist nicht das Vornehmere, das Ranghöhere; die Ideologie vom „Ersten“, mit der jede hierarchische Gesellschaftsstruktur sich zu legitimieren versucht, ist Teil der patriarchalischen Selbstverblendung. Der Menschensohn, das ist ein Name, der jede Rechtfertigung irgend einer Vergangenheit ausschließt, es ist der Name für die Befreiung der vergangenen Hoffnung aus der katastrophischen Geschichte, in der sie begraben ist.
    Zu Benjamins Bild vom Engel der Geschichte gibt es ein Gegenbild, das Adorno gelegentlich zitierte: das vom Mistkäfer, der den wachsenden Dreck der Vergangenheit vor sich herschiebt. Dieser Mistkäfer ist das Patriarchat, der Engel der Geschichte (den Jürgen Ebach in Lots Weib wiedererkannt hat) die Verpuppungsgestalt des Menschensohns? Erinnert diese Konstellation nicht an die Geschichte vom Sündenfall: an den Fluch über Adam (der den Dreck produzierende Mistkäfer), Eva (der Engel der Geschichte) und die Schlange (der von Adams Staub sich nährende und in der Geschichte wachsende Katastrophenberg)? Ist nicht die „Feindschaft zwischen der Schlange und dem Weibe“ die einzige, die nicht unters Gebot der Feindesliebe fällt?
    Tritt nicht die Philosophiekritik an die Stelle, die in der Geschichte der jüdischen Mystik einmal die Gematria innehatte?
    Die wachsende Unfähigkeit zur Schuldreflexion, die fortschreitende Verweltlichung der Welt, die zur Selbsterhaltung und zum Konkurrenzprinzip keine Alternative mehr kennt, macht den Exkulpationstrieb, den Rechtfertigungszwang, unwiderstehlich; das Recht wird zur Opfertheologie des vergesellschafteten Rachetriebs; zur Bekenntnislogik, zum Weltanschauungsunwesen, das ohne Vernichtungskriege nicht sich erhalten läßt, gibt es keine Alternative mehr.
    Apologetik ist endgültig blasphemisch geworden: Zur Gotteserkenntnis gibt es keine Alternative mehr.

  • 2.9.1994

    Die Geschichte, der Raum und das Vergessen. Der Raum neutralisiert die Zeit, macht die Geschichte zum Steinbruch, in dem man sich beliebig bedienen kann. Geschichtliche Taten und Ereignisse werden einander äußerlich und austauschbar, vergleichbar den gegen Raum und Zeit neutralisierten „Erfahrungen“ in den Laboratorien der Naturwissenschaften.
    Die Bekenntnislogik schließt eine eingebaute Exkulpationsautomatik mit ein; deren Kern ist das Schuldverschubsystem, durch das die Bekenntnislogik mit dem Schuldbekenntnis verbunden ist. Ist die Exkulpationsautomatik die transzendentale Ästhetik zur Bekenntnislogik?
    Kein Bekenntnis ohne Feindbild: Das Gebot der Feindesliebe ist ein durchschlagender Einwand gegen Dogma und Bekenntnislogik.
    Die moderne Praxis kirchlicher Architektur, Innenwände wie die Außenwand zu gestalten, drückt aufs genaueste die Beziehungen der Gläubigen zu ihrer Kirche aus: Sie sind zugleich drinnen und draußen, die Innenwelt hat der Außenwelt, und die Außenwelt der Innenwelt sich angeglichen. Die Differenz ist getilgt, beide sind ununterscheidbar geworden, damit aber ist die Außenwelt zur Norm der Innenwelt und die Innenwelt vollends barbarisch geworden. Ist das nicht die logische Folge und die fatale Erfüllung der inneren Säkularisationsgeschichte: der Geschichte der Verweltlichung, Produkt der verandernden Kraft, die als das bewegende Zentrum der Säkularisationsgeschichte sich erweist.
    Mit dieser Beziehung von Innen und Außen hängt es zusammen, daß, was Karl Rahner einmal die absolute Zukunft genannt hat, nicht mehr in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit liegt. Quellpunkt der verandernden Kraft ist die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, die sie nur noch in den vergangenen Hoffnungen erfahrbar macht. Die Wiedererweckung der vergangenen Hoffnung ist der Beginn der Auferstehung.
    Eine logische Studie: Hängt der demagogische Trick Kohls, die Gemeinheiten, die er von sich gibt, zugleich zu dementieren und seinem politischen Gegner anzuhängen, nicht mit der Logik seines Geschichtsbegriffs (und dieser mit Hitlers Begriff der Vorsehung) zusammen? Die gleiche Logik macht ihn unfähig, die Untaten von Rostock, Mölln, Solingen anders als durch den Blick des „Auslands“, und d.h. als „Schande“ wahrzunehmen. Es ist dieser Blick, der insgeheim die Zustimmung zu den Dingen, von denen er sich verbal distanziert, signalisiert.
    Der Slogan „Bewahrung der Schöpfung“ bleibt falsch, solange er nur auf die äußere Natur sich bezieht (ist nicht die Ökologie-Diskussion u.a. auch ein Produkt des Schuldverschubsystems, dient sie nicht auch der Ablenkung von den heranreifenden gesellschaftlichen Naturkatastrophen, gehört sie nicht in den Bereich der Exkulpationsstrategien?).
    Erinnert nicht das Wort „Gottesfrage“ (Duchrow/Veerkamp) fatalerweise an die Seins- oder die Judenfrage (generell an Heideggers Begriff der Frage)?
    Joh 129 stellt den Aktualitätsbezug des Wortes (des Logos), seine Beziehung zur Prophetie, her: durch die Hereinnahme der Schuld-Reflexion.
    Zu Jürgen Ebachs Hinweis auf das „es rächt sich“ ist an den Gebrauch dieser Wendung in der Nachkriegszeit, nach Bekanntwerden der organisierten Judenvernichtung durch die Nazis, zu erinnern: Fromme Katholiken waren überzeugt: „Das wird sich einmal rächen“. Aber das wurde schnell vergessen; statt dessen sollen die sogenannten „Rachepsalmen“ aus dem kirchlichen Brevier herausgenommen worden sein. War die Erinnerung an die Schuld so nahe gerückt, daß sie unerträglich wurde (wird man nicht daran zweifeln dürfen, ob der Abschaffung der Todesstrafe wirklich nur „humane“ Motive zugrundelagen)?
    Über den nationalen Ursprung der Transzendentalphilosophie: Die Begriffe historisch und empirisch waren einmal gleichbedeutend; das Historische war das Empirische und umgekehrt. Dagegen enthält der deutsche Begriff der Geschichte eine Verschiebung, der mit der Wortbedeutung, die ans neutrale, subjektlose Geschehen (das ontologische Sein) erinnert, zusammenhängt. Die Geschichtsphilosophie ist eine Es-Philosophie; und Hegels Bemerkung, daß das Wort Geschichte sowohl die historischen Taten und Ereignisse als auch die Geschichtsschreibung (die sie zu historischen Taten und Ereignissen erst macht) bezeichnet, weist auf das Zentrum des Neutralisierungsprozesses (und auf die in ihm wirkenden Kräfte, auf seine sehr spezifisch deutsche Logik) hin.
    In Spinozas Deus sive Natura steht dieser Deus fürs Absolute, für den Gott der Philosophen: für den Schatten, den das Subjekt auf Gott wirft.
    Das reale Objekt der Sexualmoral wäre (wenn man sie auf ihre herrschaftskritischen Ursprünge zurückführt) die Mordlust, nicht die Sexuallust. Hier gründet das Wahrheitsmoment der Lustfeindschaft.

  • 26.8.1994

    Der christliche Liebesbegriff hängt mit dem Selbstmitleid, dem Exkulpationstrieb, zusammen: Geliebt werden möchte, wer sich schuldig fühlt.
    Liberum arbitrium und Inertialsystem: Mit dem liberum arbitrium wurde die Idee der Freiheit der Kinder Gottes durch den Begriff der Wahlfreiheit ersetzt, der Name durch den Begriff. (Wahlfreiheit ist Freiheit im Schuldzusammenhang, nicht die Lösung aus seinen Verstrickungen oder gar dessen Auflösung).
    Es ist ein Unterschied ums Ganze, ob Gesellschaftskritik als Instrument der Exkulpationsstrategien genutzt wird oder als Mittel der Selbst-, der Schuldreflexion . Wie hängt das Selbst mit der Erbschuld zusammen (ist nicht das Subjekt das der Schuld)? Auch hier gilt: Nur wer die Last auf sich nimmt, befreit sich von ihr.
    Verweist die Beziehung des Drachen in der Apokalypse zu den beiden Tieren (aus dem Meere und vom Lande) auf die Trinitätslehre (auf das, was aus der Trinitätslehre im Kontext des verdinglichten Bewußtseins geworden ist)? Ist nicht das Tier aus dem Meere „gleichen Wesens“ wie der Drache (es hat zehn Hörner und sieben Köpfe; nur daß das Tier Kronen auf seinen Hörnern, und auf seinen Köpfen, auf denen der Drache Kronen hat, gotteslästerliche Namen hat); das Tier vom Lande hingegen spricht „wie ein Drache“?
    War nicht der Faschismus der Modernisierungsschub, der die Moderne in die Postmoderne befördert hat? Kann man die Todesstrafe abschaffen, wenn sie in den Metastasen von Auschwitz ungeregelt und wildwachsend, fast schon nicht mehr kontrollierbar, fortlebt? Man hat die Todesstrafe abgeschafft, begeht aber zugleich aus Angst vor dem Tode Selbstmord (ähnlich wie heute aus Angst vor dem Fundamentalismus die religiöse Tradition verdrängt wird).
    Hat die Geschichte von dem einen und den sieben unreinen Geistern etwas mit dem Zeitbegriff zu tun, dessen Einheit heute zu Protest geht? Kann es sein, daß Erinnerungsarbeit statt auf die eine auf sieben Vergangenheiten sich bezieht (Prinzip der Hegel-Kritik)?
    In der Geschichte von dem einen und den sieben unreinen Geistern steckt auch die Geschichte der Beziehung von Bekehrung und Umkehr (vgl. das Verhältnis von Petrus und Maria Magdalena).
    Das Inertialsystem (und sein sprachliches Korrelat: die indogermanische Sprachlogik/Grammatik) steht unter dem Diktat des linearen Zeitverständnisses (der homogenen Zeitvorstellung), sie ist das Produkt der Selbstentfaltung der Logik der Schrift (was für mich vergangen ist, ist an sich vergangen). Ist nicht das Dogma und die Bekenntnislogik auch ein Teil des Inertialsystems?
    Die Beziehung der Geschichte der „Verweltlichung der Welt“ zur Theologie drückt sich nicht in dem „Ja und Amen“, sondern in dem „Seid klug wie die Schlangen“ aus, allerdings mit der Ergänzung: „und arglos wie die Tauben“. Es genügt nicht, daß heute – nach einer Bemerkung Adornos – jeder Katholik schon so schlau ist wie früher bloß ein Kardinal; es käme darauf an, daß die Kirche sich selbst von der Paranoia, der sie zu verfallen droht, befreit.
    Haben die Deutschen den Völkern den Namen geraubt, indem sie sie zu Heiden machten, um dahinter ihr eigenes Heidnisches: ihr Völkisches, ihr Deutsches, verstecken zu können.
    Die Rache der Virgo am Confessor: Spielt das nicht auch in die Beziehung von Luise Rinser zu Karl Rahner mit herein? Stammt nicht der Stoff zu „Mirjam“ aus dieser Beziehung? Erinnert das Ansinnen Luise Rinsers an Karl Rahner, sie gegen Kritik zu verteidigen, nicht auch an die ungeheure Last, die den Frauen mit dem Symbol der Virgo aufgebürdet worden ist? Die Männer, die Confessores, hatten auch als Heilige noch das Recht, schuldig werden zu dürfen; die Frauen waren dazu verurteilt, unschuldig bleiben zu müssen. Und wenn Frauen – anders als die einzige Maria nach dem Dogma – als Mütter keine Virgines bleiben konnten, so sollten doch wenigstens stellvertretend ihre zölibatären Söhne, die Priester, es sein. Wurde nicht in der Dreiecks-Geschichte zwischen Luise Rinser, Karl Rahner und dem Benediktiner-Abt unbewußt und hilflos ein symbolisches Drama aus dem Fundus der katholischen Sexual-Theologie ausagiert?
    Sexualmoral und Heuchelei: In einer Konstellation, in der der Grundsatz gilt, daß man alles darf, sich nur nicht erwischen lassen – und das ist die Konstellation, in der die Bekenntnislogik gründet -, sind die Männer „fein heraus“: Sie können „es“ tun, weil sie keine Gefahr laufen, erwischt zu werden, während die Frauen gleichsam von Natur dazu verurteilt sind, daß die Folgen ihres Tuns öffentlich werden. Hat die Verschiebung des Naturbegriffs von der physis zur natura, von der Zeugung zur Geburt (von der Philosophie zum Recht), etwas mit dieser Konstellation zu tun?
    Haben die Christen nicht seit je den Kreuzestod mit dem hakeldama verwechselt? (Die schrecklichen Folgen des Worts „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“, das infam und zur Mordparole geworden ist, als Christen wider die Logik der Moral davon glaubten Gebrauch machen zu dürfen.)
    Die Schicksalsidee ist das Echo des Himmels auf das Blut, das vom Acker nach Rache schreit. Die der Schicksalsidee zugrunde liegende Rachelogik ist durch den Weltbegriff neutralisiert und universalisiert worden (vgl. die griechische Deklinations-Logik). Die logischen Zwischenglieder sind an der Urgeschichte der Philosophie abzulesen (insbesondere an den Begriffen Natur, Ursache, Materie). Diese Logik war mit dem Weltbegriff mitgesetzt; es war das Verhängnis der christlichen Theologie, daß sie unfähig war, diese Logik zu begreifen, zu durchschauen, als sie mit der Rezeption des Weltbegriffs ihr Opfer geworden ist. In diesem Kontext ist die Opfertheologie zum projektiven Kern der dogmatischen Theologie geworden.
    Lassen sich nicht die drei Phasen der Geschichte der Theologie, die den drei Leugnungen entsprechen, als Rechtfertigungsphasen begreifen, die nacheinander am Staat (Vätertheologie), an der Welt (Scholastik, die die Kirche als Weltkirche begründet hat) und am Subjekt (in der Trennung der Religion von der Aufklärung und der Konfessionalisierung der Religion) sich abarbeiteten? Die letzte Phase ist die der Selbstverfluchung der Kirche.
    Zu den Voraussetzungen der Bekenntnislogik gehört der Rechtfertigungszwang (der geschichtlich sich vom Staat auf den Weltbegriff und schließlich aufs Subjekt verlagert).
    Die Theologie der Kirchenväter ist politische Theologie auch dort, wie sie kein Bewußtsein darüber hat.

  • 23.8.1994

    Ist die Logik der Schrift idealistisch und männlich: die Sünde der Welt?
    Die Existenz der Kirche ist der Beweis dafür, daß die Sünde wider den Heiligen Geist in dieser Welt nicht vergeben wird.
    Die Vorstellung einer homogenen Zeit ist ein Produkt des Seitenblicks; zu ihrer Ursprungsgeschichte gehört die Geschichte der Verinnerlichung des Schicksals und der Scham. Hiermit hängt es zusammen, wenn in der Johannes-Apokalypse die prophetische Verknüpfung des Taumelbechers mit dem Kelch des göttlichen Zorns ergänzt wird durch den Unzuchtbecher. Dokumentiert wird diese Geschichte in der Geschichte des Ursprungs der Raumvorstellung, in dem Prozeß, in dem der Raum zur subjektiven Form der äußeren Anschauung geworden ist (von der griechischen Winkelgeometrie, der Entdeckung der Orthogonalität, zum modernen Inertialsystem). Es sind die subjektiven Formen der Anschauung, die zur Bindung der Erkenntnis an die Urteilsform keine Alternative mehr zulassen, und die dann das Sprachverständnis bis in den Kern verhext haben (Trennung der Welt da draußen von der Sprache in meinem Kopf, die doch diese Welt da draußen zugleich fürs Bewußtsein organisiert: das Kelch-Symbol und sein Sprachgrund).
    Liegt nicht das Problem der Blutsymbolik im Problem des Kelchs. Wenn das Blut in den Taumelkelch, in den Kelch des göttlichen Zorns mit hereingenommen wird (wenn es zu den subjektiven Formen der Anschauung und zum Reich der Erscheinungen keine Alternative mehr gibt), wird dieser Kelch zum Becher der Unzucht. Darauf bezieht sich das Paulus-Wort, daß, wer diesen Kelch unwürdig trinkt, sich das Gericht trinkt: Die Opfertheologie hat den Kelch des göttlichen Zorns zu einem Becher der Unzucht gemacht. Die Sünde der Welt reicht bis in den Kern der christlichen theologischen Tradition herein.
    Daß der Menschensohn zur Rechten des Vaters sitzt, heißt das nicht, daß die Erfüllung des Wortes und die Befreiung der göttlichen Barmherzigkeit zusammenfallen?
    Die Reflexion der Sexualmoral, die mit Adornos erstem Gebot der Sexualmoral: der Ankläger hat immer unrecht, beginnt, führt unmittelbar in die Herrschaftskritik: in die Heiligung des Gottesnamens.
    Beim gegenwärtigen Stand der Aufklärung gibt es zu Jer 3134 keine Alternative mehr. Zielt nicht Reinhold Schneiders „Allein den Betern kann es noch gelingen“ auf dieses Ziel, auf die Erfüllung des Wortes; und enthält es nicht die einzig noch zulässige Version des Gebets?
    Was die drei jüdischen Heroen der Wissenschaftskritik, Marx, Freud und Einstein, verbindet (und das „Scheitern“ in ihren Konstrukten vorprogrammiert), ist ein positivistisches Moment:
    – bei Marx der Rekurs aufs Tauschprinzip, ohne das die Kapitalismuskritik nicht möglich gewesen wäre,
    – bei Einstein der Rekurs aufs Relativitätsprinzip, ohne den das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit nicht formulierbar gewesen wäre, und
    – bei Freud die Verwerfung des Gedankens an die Realität der Erinnerung von Frauen und Kindern an sexuellen Mißbrauch; nur so war es möglich, das Hysterie- und damit das Neurose-Konzept der Psychoanalyse auf eine „solide“ begriffliche Grundlage zu stellen.
    Bezeichnet nicht der Naturbegriff die sieben Plagen und der Weltbegriff die sieben Donner (die Johannes nicht aufschreiben durfte)?
    Hätte Hegel den Übergang vom Sein zum Nichts anstatt als Werden als Vergehen begriffen, so wäre die Hegelsche Logik schon an ihrem Ende gewesen. Aber war das nicht die Situation, in der Heidegger sich vorfand, der versucht hat, diesem Vergehen dadurch zu entkommen, daß er es zur Zeit neutralisierte? Und ist nicht Heidegger, im Gegensatz zu Hegel, der ein sehr protestantischer Philosoph war, ein sehr katholischer Philosoph? Hegel war der Philosoph des Taumelbechers und des Bechers des göttlichen Zorns, Heidegger der des des Bechers der Unzucht.
    Verhalten sich nicht Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit bei Heidegger wie das Vorhandene und das Zuhandene oder wie Unmittelbarkeit und Reflexion? Die Eigentlichkeit ist die starr festgehaltene Unmittelbarkeit, die Uneigentlichkeit die gleiche Eigentlichkeit als Gegenstand der Reflexion, und das Ganze nur ein taktisches Verfahren, das Objekt der Ontologie dadurch emphatisch aufzuheizen, daß es der Reflexion entzogen wird, und so die Ontologie gleichsam unangreifbar zu machen (Konstruktion des automatisierten Denkverbots).
    Die christliche Idee der Liebe ist zu einem Attribut des Herrschafts- und Besitztrieb geworden, wie auch die Bekenntnislogik Gott selbst zum Gegenstand dieses Herrschafts- und Besitztriebs gemacht hat (Domestikation Gottes durchs Opfer: Religion als Religion für andere).
    Wenn im neuen Weltkatechismus von der „Natur des Menschen“ gesprochen wird – und es wird sehr oft davon gesprochen -, dann folgt mit Sicherheit eine Gemeinheit, deren einziger Zweck darin besteht, das Vormundschaftsrecht der Kirche abzusichern.
    Hegel hat den Bann des Weltbegriffs reflektiert, er hat ihn nicht gelöst.
    Sind nicht die sogenannten Anziehungskräfte Produkte der Zeitdilatation, der Relativierung der Gleichzeitigkeit.
    Reversibel sind die Richtungen des Raumes nur für die Reflexion, nicht real.
    Die Finsternis über dem Abgrund ist der Gegenstand der Trauerarbeit (und die Trauerarbeit die Tätigkeit des über den Wassern brütenden Geistes).
    In ihrer gegenwärtigen Phase produziert die Aufklärung das Chaos, aus dem die zuküntige Welt zu erschaffen wäre. Oder anders: Heute produziert die Lokomotive den Abgrund, auf den sie mit wachsender Geschwindigkeit zurast. Gilt hierfür das Wort, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen werden?

  • 19.8.1994

    Zum Ursprung des Neutrum: Nur wenn die Geschlechtlichkeit des Menschen die zweite und dritte Person (die Unmittelbarkeit und die Reflexion) umgreift, ist die Sexualmoral mehr als ein Mittel des moralischen Urteils. Das „als Mann und Weib schuf er sie“ hat eine andere Bedeutung, wenn es nur auf die (vergegenständlichte) dritte Person sich bezieht, als wenn es das Du mit einschließt. Die Neuralisierung der zweiten Person ist der Abgrund, aus dem das moralische Urteil aufsteigt, während die Herrschaftskritik in ihm sich auflöst, gegenstandslos wird. Die Neutralisierung der zweiten Person unterwirft die Sprache der Urteilsform, macht sie zum Geschwätz, während die Einschränkung der Sexualität auf die dritte Person sie vergegenständlicht, in sinnliches Objekt und Gewalt aufspaltet (und so beide der Sprachfähigkeit entzieht). Hier liegt der Grund, aus dem die Frauenfeindlichkeit und der Sexismus der Bekenntnislogik sich herleitet.
    Adam erkannte sein Weib: Ist dieser Satz nur im Hebräischen möglich, ist er nicht unübersetzbar?
    War die Freudsche Wende (die Leugnung des sexuellen Mißbrauchs von Frauen und Kindern) nicht der Einstieg in die Projektion der eigenen Kastrationsängste auf das weibliche Geschlecht insgesamt? Liegt hier nicht in der Tat der blinde Fleck der Psychoanalyse? Und bezieht sich der Ödipus-Komplex nicht genau auf die Verarbeitung dieses Projektions-Mechanismus: Ist nicht Ödipus, der seinen Vater erschlägt und mit seiner Mutter schläft, Ursprung und Modell des freudschen Mythos von der Urhorde und dem Vatermord? Und ist nicht dieser Vatermord-Mythos (der die Urgeschichte des Christentums nach dem Urschisma symbolisch repräsentiert) die direkte Manifestation dieser Katastrationsängste (und war nicht Freuds Buch über Moses ein symbolischer Vatermord)?
    Liegt dem Zölibats-Gesetz nicht eine symbolische Logik zugrunde, die den Kreuzestod (mit der Opfertheologie und dem erhöhten Jesus) mit den Kastrationsängsten verbindet? War nicht die theologische Diskussion, deren Gewaltlösung das homousia war, symbolischer Natur, eine Diskussion, deren Verlauf durch die Verschiebung des Kreuzestodes in den Bereich der Kastrationsängste (dem Grund der Flucht der Jünger) determiniert war: in dem der Kreuzestod als radikalisierte (verinnerlichte) Beschneidung erfahren worden ist?
    Gibt es in anderen Sprachen eine Entsprechung zur deutschen Anrede unter Erwachsenen mit „Sie“ (und hat sie etwas damit zu tun, daß im Deutschen die Formen des Femininen als Pluralformen wiederkehren: Folge ihrer Vergegenständlichung, ihrer Transformierung in die dritte Person)? Die zweite Person singular findet nur im Intimbereich (im Privatbereich) und im Verhältnis zu Unmündigen Anwendung. Die Anwendung auf Fremde gilt als Ausdruck der Mißachtung (die zweite Person plural gilt nur als Ausdruck der Verachtung). Merkwürdig, daß im Englischen die zweite Person plural zur allgemeinen Anredeform geworden ist (und die alte Form der zweiten Person singular, das „thou“, verdrängt hat).
    Ist nicht der JHWH Elohim Sabaoth, der Dominus Deus Sabaoth, der Herr der Völker-Götter, und sind diese nicht die „Himmelsheere“ (unter Einschluß des Anklägers, des Widersachers)?
    In der transzendentalen Ästhetik hat Kant das Prinzip benannt, auf das die gesamte Philosophie verhext ist.
    Hängt die Feigenblatt-/Tierfell-Symbolik in der Geschichte vom Sündenfall mit der Geschichte der Opfer des Abel und des Kain zusammen (der Unterscheidung von Pflanzen- und Tier-Opfer)?
    Drachenfutter: Im Auslands-Report werden die Informationen aus der Dritten Welt so zubereitet, daß es dem Zuschauer möglich ist, die Katastrophen, zu deren Urhebern er gehört, nachdem sie mit dem Salz der Empörung gewürzt und im Kessel des Vorurteils aufgekocht wurden, im Fernseh-Sessel zu genießen.

  • 13.8.1994

    Die Logik der Schrift begründet die Theorie, das Wort Gottes die Lehre. Das Dogma ist die Lehre in der Form der Theorie.
    Die Kritik der reinen Vernunft ist der Anfang der Kritik der Logik der Schrift.
    Gründen der Ursprung und die Geschichte der Sexualmoral darin, daß mit der Einführung des Neutrum (der dritten Person Neutrum, des Es) die zweite Person, das Du, geschlechtsneutral geworden ist: auf die abstrakte Person, auf die Eigenschaft, Eigentümer zu sein, reduziert worden ist?
    Über die grammatischen Strukturen sind die Herrschaftsbeziehungen in die Sprache mit eingegangen; das läßt sich sowohl an den Deklinationen nachweisen, als auch an den eingreifenden Veränderungen im Bereich der Konjugation. Das Neutrum ist ein Produkt der Logik der Schrift, und die flektierenden Sprachen sind ein Produkt der Anpassung der Sprache an diese Logik, die über die Flexionen in die Sprache eindringt, in ihr sich ausbreitet und entfaltet. Die erste Schriftsprache war eine agglutinierende Sprache. – Ist die Logik der Schrift die Logik des Eigentums?
    Die Erscheinungen und die Dinge, wie sie an sich selbst sind: Das Neutrum (die Quelle des Begriffs) ist das Zeichen an Stirn und Hand, das die Dinge in Eigentum verwandelt und dem Tauschprinzip unterwirft, sie in ein System verstrickt, in dem, was sie immer an sich selbst sein mögen, gegenstandslos geworden ist.
    Ist nicht das ad litteram bei Augustinus – Grund des fundamentalistischen Wortverständnisses – der Repräsentant der Logik der Schrift in der christlichen Theologie (und ist das homousia, das vorher da war, schon eine präventive Konsequenz aus diesem Schriftverständnis)? Nur auf der Grundlage dieses Schriftverständnisses war es möglich, die Prophetie zu neutralisieren, sich selbst aus dem Kreis der Adressaten der Prophetie herauszustehlen (und die sogenannte „Unheilsprophetie“ allein auf die Juden zu beziehen). Die Lehre, daß die Prophetie in Jesus sich erfüllt habe, schien es zu erlauben, sie insgesamt ins Vergangene (in das dann auch die Juden gehörten) abzudrängen. – Gibt es nicht ein Wörtlichnehmen der Schrift, das blasphemisch ist?
    Der Antisemitismus ist ein Blitzableiter, der am Ende den Blitz auf sich zieht.
    Gilt nicht das Verbot der Hexerei auch für die Logik der Schrift, die das reale Subjekt und Objekt zum Verschwinden bringt und beide durch ein Bildersystem ersetzt, durch eine Phantasmagorie, die durch den Weltbegriff sich ihren eigenen Grund erschaffen hat?
    Ist nicht die Geschichte von Sem, Japhet und Ham Symbol einer innersprachlichen Geschichte? Die aufgedeckte Blöße Noahs (des Trösters), in der das „und sie erkannten, daß sie nackt waren“ nachklingt und variiert wird, gehört zur Geschichte des Ursprungs des Urteils: des Ursprungs der von allen Attributen abgelösten Objektvorstellung. (Die Geschichte mit Sem, Japhet und Ham liegt vor der babylonischen Sprachverwirrung.)
    Was bedeutet beim Japhet der Hinweis auf den weiten Raum und die Zelte Sems?
    Steckt im Namen des Sem der Name des Namens (Sem – Nomen, Fama, Positus; Japhet – Dilatatus; Ham – Calidus, Calor: der Name, der Raum und die Hitze, die Wärme)? – Antisemitismus: Wer in diesem Lande die Dinge beim Namen nennt, setzt sich dem Vorwurf aus, ein Nestbeschmutzer zu sein.
    Das Licht ist ein Realsymbol der Prophetie.
    Durch das homousia ist die Verletzung des Bilderverbots zum Kern der christlichen Theologie gemacht worden.
    Ist die Unterscheidung von „Gottes Bild“ und „Seinem Bild“ (bei der Erschaffung des Menschen) nicht vorbezeichnet in der vorausgehenden Unterscheidung von „unserm Bild und Gleichnis“?
    Ist nicht die Idee der Allmacht Gottes ein islamisches Konstrukt, wie überhaupt die Bildungen mit All- (allmächtig, allwissend, allbarmherzig) auf den Koran verweisen? Durch das Konstrukt der creatio ex nihilo ist der Zusammenhang von Katastrophe im Begriff der Schöpfung verdrängt, die Schöpfung zu einem diktatorischen Akt geworden; darin ist der Gehorsamsbegriff angelegt, der das Hören halbiert, das dialogische Moment aus dem Hören (ähnlich wie die Theorie – die „Anschauung“ – das Gesehenwerden und mit ihm das Licht aus dem Sehen) austreibt.
    Das Ganze ist das Unwahre: Sind die Totalitätsbegriffe Wissen, Natur und Welt nicht schon deshalb unwahr, weil sie den Anspruch erheben, abschließende Begriffe zu sein? Und ist nicht das Abschlußhafte dieser Begriffe, ihr Totalitätscharakter, vermittelt durch den Objektbegriff, durch seine Beziehung zur neutralisierenden Gewalt des Raumes? (Ist nicht in der logischen Konstruktion des Schlusses der Weltuntergang enthalten?)
    Heute ist von der Theologie nur noch das Retten übriggeblieben.

  • 6.8.1994

    Wichtig die Hinweise le Goffs auf den Zusammenhang der Fegefeuer-Theologie mit mit dem Ursprung der Buchführung, das Problem der „Verrechnung“ des „Gewichts“ der Sünden mit dem Zeitmaß der Sündenstrafen – mit deutlicher Erinnerung an das Marxsche Mehrwert-Problem (Geburt des Fegefeuers, S. 276ff). Hängt nicht überhaupt das Konzept des Gewichts der Sünde („schwere Sünden“) zusammen mit dem Ursprung der Mechanik, der Definition der schweren und trägen Masse? Ist das Fegefeuer das theologische Modell des Inertialsystems?
    „Ohne Ansehen der Person“. Kann das nicht auch heißen: Ohne Personalisierung der Schuld? – Und läßt sich hieran nicht die Bedeutung der Geschichte von dem einem und den sieben unreinen Geistern demonstrieren?
    Steckt nicht im Jogging etwas vom Orgasmus, ist das nicht ein Art von Unzucht? Die Vergewaltigung ist der Versuch der Befriedigung der Wutlust (Entladung der Wut). Und war nicht die Mechanik, symbolisiert im Stoßprozeß, der Beginn der Vergewaltigung (der Penetration) der Natur zur Natur (hat die intentio recta etwas mit der Erektion zu tun)? War nicht das Tabu über die Sexualität, daß dann ihre projektive Verarbeitung erzwungen hat, die Voraussetzung für den Ursprung und die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Aufklärung?
    Gibt es eine Geschichte des Turms? Wie hängen Stadt, Turm und Schrift (die Logik der Schrift) zusammen?
    Das Geschwätz ist die Hölle (nicht für die Objekte des Geschwätzes, sondern für seine Urheber), und die Zunge der Entzünder des Feuers der Hölle. Die Theologie ist durch die Bekenntnislogik zum Geschwätz geworden (zum Kelch des göttlichen Zorns). Das ist darin begründet, daß die Bekenntnislogik, die zu den Elementen des Weltbegriffs gehört, den Weltbegriff mit einer automatisierten Feindbeziehung versieht (die im Naturbegriff sich vergegenständlicht, verkörpert). Deshalb sind Weltanschauungen austauschbar (alle weltanschaulich Gebundenen sind potentielle Wendehälse) und mit einem untilgbaren Vernichtungstrieb versehen (alle Weltanschauungskriege sind Vernichtungskriege).
    Durch die Übersetzung des ho airon mit qui tollit (mit Hinwegnehmen) ist das Christentum antisemitisch geworden. Die Hereinnahme von Joh 129 in das Nachfolgegebot gründet in der Beziehung des Auf-sich-Nehmens (der Sünde der Welt) zum Gebot der Feindesliebe.
    Die Ontologie, die darin der Logik der Schrift gehorcht, hat den Trägheitskeim ins Denken eingepflanzt.

  • 13.7.1994

    Beziehung der subjektiven Form der äußeren Anschauung zur Bekenntnislogik, zur Sexualmoral und zum Keuschheitsgebot: Die Bekenntnislogik, die in der Umkehrung der Schuldreflexion und des Schuldbekenntnisses (in der Ursprungsgeschichte der Verinnerlichung der Scham und der Entstehung der Raumvorstellung) gründet, begründet selber den Schuldzusammenhang und den Rechtfertigungszwang, die das sexualmoralische Urteil vergeblich projektiv abzuarbeiten versucht (Modell des Taumelkelchs und der Trunkenheit).
    Die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre (das Haus verkörpert diese Grenze, während die Urteilsform, die Trennung von Objekt und Begriff, in ihr gründet und sie abbildet) ist eine Schamgrenze („da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren“). Die Geschichte der Verinnerlichung der Scham (des Ursprungs der Raumvorstellung) ist die Ursprungsgeschichte der synthetischen Urteile a priori: deshalb gründet die transzendentale Logik in der transzendentalen Ästhetik.
    Der Raum ist das Bild der Selbsterhaltung, aber das Licht pflanzt sich im Raume fort. Die Fortpflanzung des Lichts im Raum ist ein Produkt des Seitenblicks, zu unterscheiden von dem Licht, das auf die Finsternis sich bezieht, von ihr sich unterscheidet. Wie hängt der „Seitenblick“ mit der Barmherzigkeit (die auch aus der Seite erschaffen ist) zusammen?
    Die aufgedeckte Blöße („sie erkannten, daß sie nackt waren“) hat ihren Grund in der Verwechslung von Realität und Symbol, so wie es bei Freuds Konzept vom „Penisneid“ nicht um den realen Penis, sondern um das Macht- und Sexismussymbol geht (den Turm, das Stethoskop, die Krawatte, den Zeigefinger).
    Ist nicht die Hysterie die Symbol-Krankheit schlechthin, eine Krankheit, die den Gesetzen der Symbollogik gehorcht, und wie hängt das mit ihrer Beziehung zur Barmherzigkeit zusammen? – Hysterie ist der Name der Abfolge der symbolischen Gestalten, die die Barmherzigkeit in der Isolationshaft der Gemeinheit annimmt.
    Die Theorie des Namens müßte, wie die Kritik des Begriffs, die Logik des Symbols mit enthalten: Das Symbol erlischt in der erkennenden Kraft der Sprache (in der Erkenntnis des göttlichen Namens).
    Die Theorie des Feuers ist das Bindeglied zwischen der Namenlehre und der Theorie des Angesichts. – Das Angesicht ist der Gegenstand der sehenden Ohren; im Feuer verbrennt die Schamgrenze, die Sehen und Hören trennt (das Inertialsystem), und der Spiegel, der die Getrennten auf einander bezieht (das Symbol).
    Aufklärung und Wut, zur Genesis des Nominalismus: Hilft es nicht weiter, wenn man das Inertialsystem als ein Instrument der Wut (das seine destruktive Gewalt zuerst am Namen beweist) begreift?
    Die Kontraktion der Schicksalsidee zum Weltbegriff (Grund der Idee des philosophischen Subjekts) ist ein Wut-Generator, ihr vorbezeichnetes Objekt ist das Objekt der Barmherzigkeit.
    Nationalistische Familienbande, oder die Grenze des Hauses: Mit den Rechten kann man sich in der Öffentlichkeit nicht sehen lassen, aber die Linken kommen mir nicht ins Haus (zur Wut reizen nur die Linken).
    Ist nicht das Ding das maskuline Gegenstück zur Materie (und Hegels Logik eine Logik des Dings)?
    Die Feindesliebe, der Verzicht auf projektive Erkenntnis (die Arglosigkeit), ist die Frucht des Keuschheitsgebots.
    Das Labyrinth ist das Symbol der multidimensionalen Verzweigung des Begriffs. Aber führen nicht alle Wege im Labyrinth zum Minotaurus (zum Begriff des Absoluten), während nur der Faden der Ariadne den Ausweg weist?
    Die Philosophie hat den Mythos nicht besiegt, sondern durch seine „Überwindung“ vor ihm kapituliert. So war in der christlichen Dogmengeschichte jede überwundene Häresie zugleich das Denkmal einer Kapitulation. Eine Dogmatik, die nur den Abscheu vor den Häresien vermittelt (die immer nur pfui sagt), fällt ihnen eben dadurch zum Opfer (das Dogma im Schuldverschubsystem, die Bekenntnislogik und die Ursprungsgeschichte des steinernen Herzens).
    Zitiert Augustinus in seinem Titel „de genesi ad litteram“ mit dem Begriff der littera, des Buchstabens, der Schrift, nicht die Logik der Schrift? Hierauf, auf die Logik der Schrift, scheint sich auch der paulinische Gegensatz von Buchstabe und Geist zu beziehen. Die Frage ist, ob nicht die Elemente (die stoichaiai), die Archonten, die Herrschaften und Mächte der Welt, in der Logik der Schrift ihre Grundlage haben.
    Läßt die Beziehung der Elementenlehre zur Logik der Schrift nicht an den Differenzen der griechisch-philosophischen Elementenlehre zu ihrer jüdisch-prophetischen Entsprechung im Anfang des biblischen Schöpfungsberichts sich ablesen (Erde, Wasser, Feuer, Luft, zu Erde, Himmel (dessen Name aus den Namen von Feuer und Wasser gebildet ist), dem Geist (ruach, pneuma) über den Wassern; warum sind das Licht und die Finsternis, auf die es sich bezieht, keine Elemente)?
    – Jeremias 306: Fragt doch und seht, ob ein Mannsbild gebiert! und
    – 3122: Denn der Herr schafft Neues im Lande: das Weib wird den Mann umgeben.
    – 3134: Da wird keiner mehr den andern, keiner mehr seinen Bruder belehren und sprechen: „Erkennet den Herrn!“ sondern sie werden mich alle erkennen, klein und groß, spricht der Herr; denn ich werde ihre Schuld verzeihen und ihrer Sünden nimmermehr gedenken. – Hierzu Walter Benjamin: Überzeugen ist unfruchtbar.

  • 12.7.1994

    Im Tabu erweist sich das Lachen als magische Gewalt. Über die Bekenntnislogik ist diese magische Gewalt ins Christentum wieder eingedrungen. Die Bekenntnislogik ist eine in die Sphäre des Begriffs transponierte Namensmagie. Die Heiligung des Gottesnamens löscht die Spuren des Lachens (die Reste der Magie) im Namen. Zur Idee des Absoluten: Ist nicht der Begriff ein erstarrtes, abgestorbenes Gelächter (und das Feuer die Innenseite des Wassers)? Heute sind die Nächte zwischen den Tagen der Schöpfung wichtiger geworden als die Schöpfungstage selber. Die Art, wie unsere Theologen heute mit dem Gottesnamen, dem Tetragrammaton, umgehen (die historische Vergegenständlichung des Namens, die ihn aussprechbar macht, weil sie uns aus seiner Gegenwart entfernt hält), hängt mit dem Ursprung und mit der Geschichte der Hysterie zusammen. Zum Ursprung der Eucharistie-Verehrung (der devotio moderna): Die Gläubigen wollten die Last der Heiligung des Gottesnamens endlich loswerden und auch ein Ding haben, das sie anbeten konnten. Von Hegels Absolutem ist nur die Hybris übriggeblieben. Das Verhältnis der Namenslogik zur Logik des Begriffs läßt sich demonstrieren am Verhältnis des Namens der Hebräer zu dem der Barbaren, oder auch am Verhältnis des Begriffs der Barmherzigkeit zu dem der Hysterie. Die Wissenschaftsgeschichte nach Kant ist nur verständlich, wenn man begreift, daß die kantische Wissenschaftskritik in ihrem Kern, in der Lehre von den subjektiven Formen der Anschauung, bis heute nicht rezipiert worden ist. Verstanden wurde, daß es zu den subjektiven Formen der Anschauung keine Alternative gibt, und das wurde als Rechtfertigung akzeptiert, von den Formen der Anschauung schamlos Gebrauch zu machen, so als handele es sich um objektive Gegebenheiten. Sind nicht die Formen der Anschauung insgeheim Formen des von einer namenlosen Macht Angeschautwerdens (der verinnerlichten, ausweglosen Scham)? Das drückt sich aus in dem logischen Zwang, dem die Raumvorstellung (die keine ist, weil sie ihren inneren Widersprüchen nicht standhält) sich verdankt: dem Wiederholungszwang ihrer Selbsterzeugung und Selbstfortpflanzung (Beziehung der Raumvorstellung zur Bekenntnislogik, zur Sexualität und zum Keuschheitsgebot). Sind nicht die Heldenfriedhöfe Denkmäler der Leugnung der Auferstehung, und liegt die Schändung jüdischer Friedhöfe nicht in der genauen Konsequenz ihrer Logik? Heldenfriedhöfe sind die Mausoleen der vergesellschafteten Herrschaft.

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