Sokrates

  • 19.6.96

    Am Ende des Jakobusbriefes heißt es: „Wer einen Sünder von seinem Weg des Irrtums bekehrt, der wird seine <eigne> Seele vom Tode retten …“ – Geht es hier (bei einem Sünder, der auf dem Wege des Irrtums sich befindet) nicht um das Problem der Sünde ohne Schuld? Entspricht das nicht dem Ochs-Esel-Problem, das auch auf das der Sünde ohne Schuld verweist (auf Joh 129)? Gibt es nicht einen Zustand, in dem die Sünde des einen die Schuld des andern ist? Und war das nicht schon das Problem des Ezechiel, auf das das „dixi et salvavi animam meam“ verweist? Und ist nicht der Jakobus-Satz eine Verschärfung, eine Zuspitzung des ezechielischen Satzes, nach dem es nicht mehr genügt, es nur gesagt zu haben? Der Fehler des Rechts, den allein die Theologie zu beheben vermag, liegt darin, daß es Sünde und Schuld in eine Kausalbeziehung rückt, indem es den Sünder zum Schuldigen macht (ihr laßt den Armen schuldig werden). Diese Kausalbeziehung ist es, die die erschreckende Verdrängungsleistung nach sich zieht, die den ganzen Bereich der Terrorismusbekämpfung charakterisiert.
    Sprengt nicht die Trennung von Sünde und Schuld den Personbegriff? Und gründet nicht in der Tat die Bedeutung, die der Personbegriff in der modernen Philosophie und Theologie gewonnen hat, einzig in der Nützlichkeit dieses Begriffs: in seinem Wert für die Funktion und Verschleierung des Schuldverschubsystems, für die Maschinerie der projektiven Schuldverarbeitung. Person, das ist der Andere für mich, durch dessen Verurteilung ich mich entlaste. Der Personbegriff gründet in einer Konstellation, in der es nur noch Richter und Beschuldigte gibt, keine Verteidiger, sein Korrelat ist die gnadenlose Welt. Insoweit gehört der Personbegriff gleichursprünglich zum Welt- und Naturbegriff. In einer befreiten Gesellschaft ist die Identität der Person (die die Identität der Maske, des Rosenzweigschen „Hintertückischen“ ist) nicht mehr zu halten.
    Juristische Personen unterscheiden sich von realen Personen dadurch, daß sie mit dem Ende ihres Bestehens sich auflösen. Modell der Beziehungen zwischen juristischen Personen sind Mutter-Tochter-Beziehungen, die, im Gegensatz zur Vater-Sohn-Beziehung, die gegenseitige Haftung ausschließen. Firmen haben mit Frauen, Kindern und Sklaven das gemeinsam, daß sie eigentlich nicht verantwortlich gehalten werden können: Sie sind nicht rechtsfähig.
    Aber: Während eine Firma nur aufhört zu bestehen, geht ein Staat zugrunde, wenn er zu bestehen aufhört (die Mitarbeiter eines in Konkurs gegangenen Betriebs verlieren ihre materielle Existenz, das Volk eines zugrunde gegangenen Staates wird rechtlos).
    Zum Jakobusbrief: Der Weg des Irrtums gründet in der Verhärtung des Herzens (der Stein, der bei der Vernichtung Babylons ins Meer geworfen wird).
    Ist das Inertialsystem, dieser Reflex der Feste des Himmels im Subjekt, der Stein, der ins Meer geworfen wird?
    Das Inertialsystem ist ein System, in dem die Form der Äquivalenzbeziehungen, die den Stoßprozeß determinieren, als vollständiges System (als Totalität) sich auskristallisiert.
    Die Urteilsform macht Sätze reversibel (macht Erkenntnissätze instrumentalisierbar). Sie begründet die List der Vernunft.
    Hängt die Differenz, die Rosenzweig im Stern der Erlösung zwischen dem Indischen und Chinesischen herausgearbeitet hat, mit der Differenz von Urteilsform und Bild zusammen, oder, mit Kant zu reden, mit der Differenz des „Ich denke“ zu „allen meinen Vorstellungen“?
    Sind nicht alle „Kulturen“ Ruinenlandschaften, Denkmäler der Vergangenheit?
    Redundanz: Ist nicht die contradictio in adiecto inzwischen zu einem Realitätsprinzip geworden? Hängt der Gebrauch des Namens „Republikaner“ durch faschistische Parteien damit zusammen, daß die res publica keine öffentliche Sache mehr ist? Heute kann man Brutus und Caesar nicht mehr unterscheiden.
    Judas: Zu Sokrates gab es keinen Verräter, wohl zu Caesar: Ist das der Grund, weshalb der Caesarismus zu einem Modell der Christologie, und der Mord an Caesar, der den Sieg des Caesarismus begründet hat, zu einem Verständnismodell des Kreuzestodes geworden ist (und trotz Hegel nicht der Tod des Sokrates)?

  • 31.3.96

    Ist nicht jeder Indikativ ein versteckter Imperativ (jeder Indikativ erhebt Anspruch auf die „normative Kraft des Faktischen“; darin gründet der Anspruch der Ontologie)? Und käme es nicht darauf an, diesen Anspruch reflexionsfähig zu machen, anstatt ihm blind zu folgen? Das imperativische Zentrum des Indikativs ist die Idee des Absoluten: Produkt der Selbstreflexion des Subjekts im Unendlichen, der Schatten, den das Subjekt auf Gott wirft.
    Das Proletariat in der Marxschen Theorie ist nicht austauschbar und nicht beliebig ersetzbar, insbesondere nicht durch irgendwelche Avantgarden. Stattdessen wäre endlich der Paradigmenwechsel zu reflektieren und zu begreifen, der einhergeht mit der Globalisierung des Kapitalismus, mit der universalen Realisierung des „freien Marktes“ und in deren Folge mit der inneren Differenzierung im Begriff und in der Realität des Proletariats: Der ökonomischen Proletarisierung ganzer Weltregionen entspricht die politische Proletarisierung der Metropolen.
    Der Markt gründet im Fernhandel, in den Außenbeziehungen der handeltreibenden Staaten und Völker; seine Wurzeln liegen im Raub, in der Eroberung und im Opferwesen. Der Markt hat diese Beziehungen im Hegelschen Sinne in „Naturbeziehungen“ transformiert. Es wäre nachzuweisen, daß in dieser Konstellation der Naturbegriff überhaupt erst entspringt (daß die zweite Natur das Modell der ersten war, in deren Bild sie sich bewußtlos wiedererkannte). Natur war seit je potentielles Eigentum (herrenloses Gut, das, was einfach nur da ist), und die vorsokratische Philosophie, die unter dem Standardtitel peri physeos sich entfaltet hat, war ein Produkt der Vergesellschaftung der Logik des Handels, die dem Expansionstrieb des Staates den Weg freigemacht hat. So war Philosophie von Anbeginn (auch als Naturphilosophie, die durch Entzauberung der Natur die Widerstände und Hemmungen abgebaut hat, die der Aneignung und Beherrschung der Natur und der Begründung des Gewaltmonopols des Staates im Wege standen) politische Philosophie.

  • 8.3.96

    Der Urprung und die Grundlage der Beweislogik liegt in der Mathematik (Euklid, Sokrates und der Sklave). Sie entspringt zusammen mit dem Begriff des Wissens (der der indoeuropäischen Sprachlogik und Grammatik zugrundeliegt).
    Gibt es zwei Ursprünge des Geldes: das gemünzte Schuld- und Tributgeld in Babylon, das Tauschgeld (die „Ringe“) in Ägypten? Und wird heute nicht wieder aus dem Tauschgeld ein Tributgeld? Nur über das Schuld- und Tributgeld aber macht die Ökonomie sich zum Herrn des Staates (wird der Staat zum Haustier der Ökonomie).
    Den beiden Ursprüngen des Geldes entspricht der zweifache Ursprung der Mathematik: der der babylonischen Algebra und der ägyptischen Geometrie (die erst die Griechen mit der Entdeckung der Winkelgeometrie, die die Philosophie, den Naturbegriff und den Begriff begründete, zusammengebracht haben).
    Ist nicht das Experiment des realexistierenden Sozialismus (der keiner war) daran gescheitert, daß er glaubte, die Tauschfunktion des Geldes von seiner Schuld- und Tributfunktion trennen zu können? Das war nur möglich durch Regression auf die Stufe unmittelbarer Herrschaft.
    Hat die Doppelfunktion des Geldes etwas mit der Unterscheidung des Planetensystems vom Tierkreis zu tun? Gibt es eine systemlogische Beziehung der Astrologie zur Tempelwirtschaft und des Tierkreises zum Sklavenhaus und Eisenschmelzofen? Und hängt hiermit der Unterschied zwischen dem Exodus und dem Ende der babylonischen Gefangenschaft (die Israel zum Satelliten Babylons und seine Folgeimperien gemacht hat) zusammen?
    Werden im Tempel, im Haus des Namens Gottes, die beiden Ursprungsmächte Babylon und Ägypten durch die Cherube und die Bundeslade repräsentiert? Und war nicht auch der Tempel ein Gefängnis und ein Sklavenhaus Gottes, das zu seiner Fundierung der Opfer und des Priestertums bedurfte?
    Die Deutschen leiden an einer Staatspsychose, mit dessen Hilfe sie glauben, den Faschismus erhalten und domestizieren zu können. Die Auflösung der Verblendung, in die das hineinführt, wäre eigentlich Sache der Theologie.
    – Vor der ersten Leugnung sagt die Magd des Hohepriesters zu Petrus: „Auch du warst mit Jesus dem Galiläer“.
    – Beim zweiten Mal sagt eine andere Magd zu denen, die dort waren: „Dieser war mit Jesus dem Nazoräer“.
    – Beim dritten Mal sagen die Umstehenden zu Petrus: „Wahrhaftig, auch du bist einer von ihnen; deine Sprache verrät dich“ (Mt 2669ff).
    Ist der Hahn die Inversion der Eule oder die Eule ein maskierter Hahn? Verhält sich nicht die Eule zum Hahn wie der Abendstern zum Morgenstern, und ist die Eule das Symbol der Venus-Katastrophe?

  • 28.04.93

    Wenn die Mathematiker des 16. Jahrhunderts vom „natürlichen Licht“ des Verstandes sprechen, dann meinten sie das „Licht“ der Mathematik.
    Der Punkt ist die Grenze einer Geraden, die Gerade die Grenze einer Fläche und die Fläche die Grenze eines Körpers. Trennt der Körper das Innere vom Äußeren? Aber was ist dann das „Innere“?
    Der Nenner und das Gleichnamig-Machen: Zerstörung des Namens (der benennenden Kraft der Sprache) durch die Form der Anschauung, oder der gemeinsame mathematische Ursprung des Objektbegriffs und des Identitätsprinzips.
    Plus und Minus in der Mathematik: Die Null gibt es real (als Ergebnis) nur im Bereich der Addition und Subtraktion, dann (als Operator) wieder beim Potenzieren. Die Null ist in beiden Fällen die Grenze von Plus und Minus (ähnlich wie auch der Punkt, die Gerade, die Fläche und der Körper Grenzen sind).
    Sind nicht die imaginären Zahlen ein Produkt der analytischen Geometrie?
    Die Beziehung der Kopula (des „Seins“) zum Gleichheitszeichen ist der Grund der Beziehung des Begriffs zur Mathematik: der Usurpation der benennenden Kraft der Sprache durch die Funktion des Nenners (der Verschlingung der Finalursachen durchs Kausalprinzip und der Zerstörung der begründenden und argumentierenden Kraft der Sprache; Verhexung der Logik und Einlaß der Gewalt, letztlich des Gewaltmonopols des Staates, in die Sprache: Produkt der idealisierenden Gewalt des Raumes).
    „Unseren täglichen Hunger gib uns heute.“ (Anders, II, S. 16) Der anwachsende Reichtum ist eine Funktion der potenzierten Bedürfnisse, der Bedarfsgüter mit eigenen Bedürfnissen (bedürfniserzeugenden Bedürfnissen), wie Auto, Wohnung, Haus u.ä..
    Ist die dritte Leugnung die Sünde wider den Heiligen Geist (deshalb die Selbstverfluchung)? Beziehen sich die Sünden wider den Vater und den Sohn auf die erste und zweite Leugnung?
    Zur Rekonstruktion des Weltuntergangs: Vor hundert Jahren gab es den Geheimrat, heute gibt es den Geheimdienst.
    Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und der Sieg des Kapitalismus (der „freien Marktwirtschaft“) gründet nicht nur in Taten und Unterlassungen, sondern vorab im Prinzip des Nicht-erwischt-Werdens. Die Kompetenz des Kapitalismus bei der Verwertung der Ressource Feigenblatt war größer, sie ist durch die kostenlose Lieferung eines Sündenbocks, auf den man alles abwälzen kann, erheblich gesteigert worden. Ist hier wirklich eine Situation entstanden, der die Theorie nicht mehr gewachsen ist (Habermas: Neue Unübersichtlichkeit)?
    Christliche Zoologie: Seht, ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe; deshalb seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben.
    Hatte die Schelersche „Gesamtperson“ nicht doch etwas mit Behemot zu tun, dem „Gesamttier“?
    Wie verhalten sich die Begriffe Subjekt und Person: Das Subjekt ist das Korrelat des philosophischen, die Person das des politischen Weltbegriffs. Das Subjekt ist der Grund der Fähigkeit der Begriffsbildung, die Person Grund der Fähigkeit, die eigenen Taten zu verantworten.
    War nicht Sokrates der philosophisch neutralisierte Held, sein Tod das Opfer der Philosophie an die Polis, und so die Geburt der Person? Nicht zufällig entspringt hier die philosophische Unsterblichkeitslehre.
    Zur Geschichte der Scham: Heute ist die Welt, die einmal das Siegel des Ursprungs der Scham war, selber das letzte Objekt der Scham geworden. Subjekt-Objekt der Erkenntnis der Nackheit ist die Welt.
    Es genügt heute nicht mehr, nur über Bäume zu reden. Heute müssen wir über Astronomie und über den Stand der naturwissenschaftlichen Aufklärung insgesamt reden. Und wenn es dann wieder notwendig wird, über Bäume zu reden, dann über die Geschichte und die Geschichte der Beziehung des Baumes der Erkenntnis und des Baums des Lebens.
    Rosenzweigs Wort an die Adresse Eugen Rosenstocks: Vermanschen Sie die Symbole nicht, trifft heute die gesamte Theologie.
    Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet: Gilt das auch für das Richten eines Hauses?
    Ist Kanaan ein stammesgeschichtlicher, ein politischer oder ein gesellschaftlicher Name („Händler“)? Und wer waren die Philister?
    – Gen 918: Ham ist der Vater Kanaans.
    – 925: Und er sprach: Verflucht sei Kanaan. Der niedrigste Knecht sei er seinen Brüdern.
    – 106: Die Söhne Hams sind Kusch, Mizrajim, Put und Kanaan.
    – 1015ff: Kanaan zeugte Sidon, seinen Erstgeborenen, und Het, ferner die Jebusiter, die Amoriter, die Girgaschiter, die Hiwiter, die Arkiter, die Siniter, die Arwaditer, die Zemariter und die Hamatiter.
    Nach Gen 1014 zeugte Mizrajim (auch ein Sohn Hams) u.a. die Kasluhiter, von denen die Philister abstammen.

  • 22.03.93

    Ist der deutsche „Ernst“ (K.-H. Bohrer in der taz) nicht der tierische Ernst, und hängt er nicht mit der Bindung des Nationbegriffs an das Blut (mit der deutschen Staatsmetaphysik) zusammen?
    „Jede Schuld rächt sich auf Erden“ (an wem?). Diese mythische Beziehung von Schuld und Rache ist die Geschäftsgrundlage des Strafrechts, gewinnt ihre volle mythischen Gewalt aber nur unter den Prämissen der deutschen Staatsmetaphysik, die glaubt, die Politik von der Politik erlösen, befreien zu können, die den Schein erzeugt, Politik könne durch Verwaltung ersetzt werden (durch den Rechtsstaat), und der Schein der Unschuld reiche aus, die politische Qualifikation zu beweisen. Sie ist eine Folge der unaufgearbeiteten Vergangenheit. Zu dieser nicht aufgearbeiteten Vergangenheit gehört auch das Fehlen eines Friedensvertrages: die Krisen der „Wiedervereinigung“, aber auch die Krisen in der dritten Welt, die nach dem Zusammenbruch der staatskapitalistischen Länder des Ostens (nach dem Ende der direkten Bedrohung) auf andere Weise nach Europa zurückkehren, sich in Jugoslawien und jetzt in den aus der Sowjet-Union hervorgegangenen Staaten reproduzieren, lassen das Versäumnis spürbar werden: Es ist nicht gelungen, reale Grundlagen für die veränderten Verhältnisse zu schaffen, ja, der Mangel wird nicht einmal gefühlt. Und niemand scheint in der Lage zu sein, die Dinge vom Grunde her zu bereinigen: Aber ist das nicht vielleicht sogar objektiv unmöglich geworden? Alle schlittern in Katastrophen hinein und niemand weiß, weshalb.
    Ist nicht der Satz, der Staat sei der Schöpfer der Welt, insoweit umkehrbar (und auch umzukehren), als sich jetzt herausstellt, daß die Welt Schöpferin des Staates ist, die in ihm nur den Schein eines Herrn erzeugt, den sie aber dann in ihren Orkus mit hereinreißen wird, wenn die Dinge endlich selber Herr des Prozesses werden, in dem sie einmal entsprungen sind.
    Die jüngstvergangene Mode ist das Längstvergangene.
    Engholms Satz, daß man vor dem Einsatz der Bundeswehr außerhalb der NATO „die Familien befragen“ müsse, ist so brav, so privatistisch und so unpolitisch wie dieser ganze Mann. Hier läuft wieder einer in die Exkulpationsfallen hinein, in denen die Politik heute verkommt. Zu fragen wäre,
    – ob es überhaupt sinnvoll ist, in diesem Weltzustand (der zugleich keine andere Alternative zuzulassen scheint) noch Politik auf militärische Gewalt zu gründen,
    – ob den objektiven Aufgaben des Militärs (Sicherung der Einrichtungen und der Versorgung der Metropolen) das Institut einer allgemeinen Wehrpflicht noch gerecht werden kann, ob nicht eine Freiwilligen-Armee (eine Art Fremdenlegion der NATO) den Aufgaben besser gerecht würde.
    – Die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht aus anderen (staatspolitischen, „erzieherischen“) Gründen, zum Zweck der „inneren Stabilisierung“ des Gemeinwesens, ist objektiv nicht zu begründen, es sei denn, man würde offen für einen faschistischen Staat votieren.
    Es sind offensichtlich die naheliegendsten Gedanken, die keiner mehr offen auszusprechen (und in der Folge keiner mehr zu denken) wagt: Jeder hat Angst, von der Schubkraft des Bestehenden fortgespült zu werden. Das Denkbare ist zum Undenkbaren geworden. Aber sind die Probleme, die jetzt an allen Ecken und Enden der Welt aufbrechen, noch mit den Kurzschluß-Methoden einer Politik zu lösen, in der durch die wechselseitige Kontrolle aller sichergestellt wird, daß keiner mehr politisch zu denken wagt.
    Ist das „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“ (sic, B.H.) nicht das Gegenteil des Denkens: eine exkulpierende Instanz? Ist hier nicht die Leerstelle, in der dann die Nationalismen und die Bekenntnisse sich ansiedeln? Das Kind der illegitimen Beziehung beider ist der Faschismus.
    In der Studie über den autoritären Charakter gibt es einen Abschnitt mit dem Titel „no pity for the poor“; und die Studie insgesamt ist eine Studie über Xenophobie.
    Schlimm und verhängnisvoll, und ein Teil jenes Ärgernisses, von dem Jesus gesagt hat, es müsse kommen: „aber wehe denen, durch die es kommt“, ist das opfertheologische Konzept einer „Entsühnung der Welt“, die Lehre von der „Hinwegnahme der Sünden der Welt“.
    Die Philosophie oder das Herrendenken ist der Grund der Selbstzerstörung des Antlitzes.
    Sind die staatlichen und wirtschaftlichen Verwaltungshierarchien, und in ihnen das Prinzip der Delegation der Verantwortung, nicht Formen der Säkularisation der andern Hierarchien, ihrer endgültigen Subsumtion unters Herrschaftsdenken. Die Vergesellschaftung von Herrschaft hat den Engeln den Existenzgrund entzogen, sie durch Regierungs- und Amtsräte ersetzt. Ist nicht die Verwaltung der Inbegriff der sieben unreinen Geister? Es käme in der Tat heute darauf an, die Theologie auf dem eigenen Rücken weiterzubefördern, anstatt sie weiterhin seßhaft zu verwalten.
    Hat der gordische Knoten, der Joch und Deichsel des Ochsenkarrens verbindet, etwas mit dem Ursprung der Schrift zu tun (des Aleph, Bet): Alexander hat diesen Knoten nicht gelöst, nur durchschlagen. Der Weltbegriff ist der durchschlagene Knoten (der den Objektivations- mit dem Vergesellschaftungsprozeß verknüpft). Im Kern dieses Knotens stecken die subjektiven Formen der Anschauung Kants.
    Durch die subjektiven Formen der Anschauung sind wir gleichsam exzentrisch an den Weltprozeß gefesselt.
    Für Israel war die Schrift die hebräische Schrift: Ausdruck der Fremdheit, die im Namen des Hebräischen anklingt. Ist nicht die Lösung des Rätsels des Namens der Hebräer ein Anfang der Lösung des Rätsels des Ursprungs der Schrift?
    Der Weg zu den Enden der Welt, die Bekehrung der Welt, bezeichnen einen Vorgang, der in der äußeren und inneren Welt zugleich sich abspielt.
    „Muß in einer historischen Welt nicht jemand genau so alt sein wie die Welt?“ (Levinas: Schwierige Freiheit, S. 164)
    S. 167 nennt Levinas das Bekenntnis ein „Beiwerk des bürgerlichen Komforts“.
    Der Weltbegriff unterwirft auch die Vergangenheit dem Bann der Herrschaft: er begründet und stabilisiert ein gleichsam kolonialistisches Verhältnis zur Vegangenheit. Hier werden Vergangenheiten immer nur überwunden; der Ausschluß der Trauerarbeit (des Eingedenkens) ersetzt das Sich-Hinein-Versetzen durch die Einfühlung in die Vergangenheit (den Historismus). Der Weltbegriff versiegelt das Grab, in dem die Toten auf die Erweckung warten.
    War nicht die Hexenfurcht auch die Furcht vor der Auferstehung der Toten (abzulesen an den Projektionen der Inquisitoren)? Aber die Alternative ist nicht die Leugnung der Auferstehung, die sich die Physik als Instrument geschaffen hat, sondern ein Verständnis, das die Erweckung der Toten Gott vorbehält. War die Hexenverfolgung von der Furcht vor den Toten bestimmt, dann war Auschwitz der Testfall (der Testfall des perfekten Verbrechens): der experimentelle Beweis dafür, daß es keinen Grund gibt, die Toten zu fürchten. Aber wie die Gräberschändungen beweisen, können die Rechten doch nicht so recht an das Ergebnis des Experiments glauben.
    Ist nicht die Schrift der Friedhof, auf dem die Toten der Auferweckung harren?
    „Name ist nicht Schall und Rauch.“ Ist nicht der Stern der Erlösung ein Versuch, in dieses Buch den eigenen Namen (Ich, mit Vor- und Zunamen) einzuschreiben?
    Die Anonymität des Apokalyptikers, sein Versuch, sich in fremde Namen einzuschreiben: Sind das nicht auch Versuche, im andern sich der der eigenen Auferstehung zu versichern? Und bezieht sich das „Wenn ich will, daß er bleibt, was geht’s dich an“ nicht auf den Namen des Johannes, des Apokalyptikers?
    Der Begriff der Erbsünde verweist auf den Zusammenhang des Weltbegriffs mit dem des Erbes; Zwischenglied ist das Wort von den Sünden der Welt.
    Muß man sich die Sätze, mit denen die Philosophie die Logik demonstriert hat, nicht doch ein wenig genauer ansehen:
    Alle Menschen sind sterblich.
    Sokrates ist ein Mensch.
    Also ist Sokrates sterblich.
    Der Prämisse hat die Theologie seit je mit der Lehre von der Auferstehung wiedersprochen. Dem Schluß, daß Sokrates sterblich sei, wäre anzumerken, daß er nicht gestorben ist, sondern einem durch Rechtsspruch verordneten Selbstmord aus freiem Willen sich gefügt hat. Hat nicht dieser Tod, das dem Staat freiwillig dargebrachte Selbstopfer, mehr mit dem Ursprung und Charakter der Philosophie, auch mit dem sokratischen Daimon, zu tun, als bisher angenommen wurde? Zum Kreuzestod Jesu gehören die Worte „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ und „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“. Ist nicht der Selbstmord des Sokrates ein Paradigma der Philosophie seitdem, bis hin zum „Vorlaufen in den Tod“ Heideggers? Die affirmative Beziehung zum Tod gehört zu den Grundlagen des philosophischen Welt- und Selbstverständnisses.
    Die säuberliche Trennung der Seele vom Leib die dem christlichen Unsterblichkeitsverständnis zugrunde liegt, raubt ihm zugleich seinen Existenzgrund.
    Ist nicht das Geld der Goldgrund des Staates, politisch-ökonomischer Reflex des Sonnensystems, die säkularisierte Sonne selbst? Und sind nicht die Ministerien und die Verwaltung ein Abbild des Planetensystems? Die Geschichte der Vergesellschaftung von Herrschaft, die Geschichte des Vergesellschaftungsprozesses insgesamt, hat in den Subjekten das Chaos hinterlassen, dessen Opfer sie zugleich geworden sind, weil sie es in den Ordnungen, die das Chaos produzieren, nicht erkennen können.
    Dorn, Horn, Zorn, Korn, vorn: Sind das Wörter, die sich nur zufällig reimen?
    Werden die verschiedenen Hörner (Ochs und Widder, Schofarhorn, Hörner des Altars, Hörner des Drachen) auch im Hebräischen durch das gleiche Wort bezeichnet?
    In welcher Relation stehen die Massen, die Entfernungen von der Sonne und die Geschwindigkeiten der Planeten?

  • 20.12.92

    Boethius: Trost der Philosophie. Der Eindruck ist unabweisbar, daß die Vätertheologie eher als eine Phase der philosophischen Aufklärung zu verstehen ist, die sich das Christentum als verinnerlichten Mythos assimiliert, denn als philosophische Selbstverständigung des Christentums selber. Diese These wäre zu beweisen anhand der Analyse der Funktion und Bedeutung des Weltbegriffs im Ursprung und in der Geschichte der Theologie seitdem (creatio ex nihilo, Inkarnationslehre, Opfertheologie: Entsühnung der Welt durch den Opfertod des Gottessohnes). Die Ausbildung und Entfaltung dieser Theologie ist die Ausbildung und Entfaltung des Objektivationsprozesses, der dann bruchlos in die Geschichte der naturwissenschaftlichen Aufklärung übergeht (die ohne die Opfertheologie nicht möglich gewesen wäre); sie ist dann zur Geschichte des universalen Verdrängungsprozesses geworden, der in der biblischen Tradition unter apokalyptischem Vorzeichen beschrieben worden ist.
    Rechtfertigung (Apologie) ist die Umkehrung des parakletischen Denkens (Verteidigung unterscheidet sich durch die Beziehung auf Andere von der Selbstbezogenheit der Rechtfertigung).
    Was bedeutet es, wenn Boethius vom „epikureischen und stoischen Pöbel“ spricht, und im vorhergehenden Satz von Sokrates, der „im ungerechten Tod den Sieg errungen“ habe (S. 71)?

  • 09.09.92

    Ist das Neutrum der Staub, aus dem und zu dem das Maskuline im Prozeß der Herrschaftsgeschichte wird?
    Sind Nominativ und Akkusativ nur im Männlichen unterschieden, im Femininum und im Neutrum hingegen gleich? Im Femininum lassen sich zusätzlich auch Genitiv und Dativ nicht unterscheiden.
    Gilt es eigentlich für alle modernen Sprachen, daß sie von den klassischen sich durch die Einführung des (geschlechtsbezogenen) Artikels (im Deutschen zusätzlich verstärkt durch die Großschreibung der Nomina), durch die stärkere Hervorhebung der Personalpronomina und durch den verstärkten Gebrauch der Hilfszeitverben unterscheiden? Der tiefste Fall wäre dann wohl die Verwandlung aller Verben in Nomina und Gebrauch des Generalhilfsverbs „tun“ (oder doch noch eine Stufe tiefer: „ich bin am arbeiten“ ü.ä.). Ist nicht doch der Adenauersche Satz doch sehr ernst gemeint gewesen: „Je einfacher reden ist eine gute Gabe Gottes.“ In diesen Zusammenhang gehört der fundamentalontologische Gebrauch der Begriffe Ereignis und Geschehen, die die gleiche Subjektlosigkeit, die schicksalhafte Subsumtion des Subjekts unter die Realität, bezeichnen.
    Der Artikel ist Ausdruck des Zerfalls der benennenden Kraft der Sprache, der Hereinnahme des tode ti in die Sprache, daß den Begriff von „diesem“ (deiktisch verstandenen, bei Kant dann durch seine Beziehung zu den subjektiven Formen der Anschauung bestimmten) Objekt trennt, das Objekt gegen den Begriff (gegen seinen Namen) isoliert. Für Aristoteles (wie später für Hegel) ist das tode ti der Einsatzpunkt der Philosophie (das Wasser des Thale).
    Wie hängen die Begriffe Eudaimonia (gutes, günstiges Schicksal), Glück (fortuna), Zufall und der augustinische Gnadenbegriff mit einander zusammen?
    Hat nicht Johann Georg Hamann schon eine Metakritik der reinen Vernunft geschrieben?
    Merkwürdige Doppelbedeutung des Verbums „heißen“: benennen und befehlen. Mit dem tode ti ist die benennende Gewalt als Grund des Gewaltmonopols (das Sokrates mit dem Trinken des Schierlingsbechers ausdrücklich anerkennt) an den Staat übergegangen.
    Wenn Befehlen mit Fehlen zusammenhängt, warum wird es dann stark (das Fehlen hingegen schwach) konjugiert, und worin liegt der Unterschied zwischen starken und schwachen Verben?
    Hängt der Sternendienst mit der Geldwirtschaft zusammen (als Ausdruck der Änderungen des Bewußtseins durch die Geldwirtschaft, seiner veränderten Stellung zur Objektivität)? Und ist die Ischtar/Astarte der Inbegriff der veränderten Konsumerfahrung, des Genusses? Dann würde die „Venuskatastrophe“ auf andere Weise, als Heinsohn et al. annehmen, zur Schuldknechtschafts-Katatrophe passen.
    Ist der Pharao die Personifikation des Sklavenhauses, und der Josefs-Roman seine Ursprungsgeschichte?
    Angesichts der Pogrome in der Bundesrepublik droht das sogenannten Asyslantenproblem den Rang der alten Judenfrage anzunehmen.
    Der ungeheure Exkulpationsbedarf, der seit dem Ende der Nazizeit auf Deutschland lastet, und dessen prädestinierter Repräsentant Kohl zu scheint, ist bis heute weder in seinen Ursachen, noch in seinen Folgen wirklich begriffen. Das Hochgefühl der Unschuld, das Kohl, Seiters und Schäuble beflügelt, wenn sie von „diesem ausländerfreundlichen Land“ sprechen, gehört mit zu den Ursachen der in den derzeitigen Pogromen sich manifestierenden verfolgenden Unschuld. Gleichzeitig halten sie den Topf des sogenannten „Asylantenproblems“ am Kochen, mit falschen Begriffen und Zahlen, mit dem Verwischen und Verschweigen der Ursachen. Die reale Situation und die realen Erfahrungen derer, auf die dieses unverantwortliche Gerede sich bezieht, soll nicht laut werden, wird verdrängt. Der Zerfall der Moral und die demoralisierende Gewalt, die dieser Bundeskanzler repräsentiert, wäre endlich zu benennen.
    Kohl hat immer schon die Technik der denunziatorischen Nutzung des Schuldverschubsystems beherrscht und genutzt. Man konnte darauf gehen, wenn er sich über andere empörte, dann war er selber gerade dabei, eben das zu tun, worüber er sich empörte. Sein politischer Erfolg beruhte nicht zuletzt auf dieser Technik. So hatte er immer das Instrumentarium parat, mit dem er sich abschirmen konnte gegen den Einblick in seine realen Absichten, sein Handeln und seine Vorhaben. Im Falle der deutschen Einheit ist ihm zusätzlich dieses Instrument als Geschenk in den Schoß gefallen: Alle Fehler kann er abwälzen auf den maroden Sozialismus und das, was er uns hinterlassen hat.
    Kann es sein, daß die SPD, daß insbesondere die Ministerpräsidenten, oder überhaupt die Landesregierungen, unter einem erpresserischen Druck stehen, der ihnen keine andere Wahl läßt, als mit den Wölfen zu heulen?
    Die Unwirksamkeit des Kabaretts liegt darin begründet, daß auch das Kabarett seine apriorischen Objekte und die zu diesem Objekt gehörende transzendentale Logik hat. Das, was heute passiert, liegt jenseits der durch diese Logik definierten Sphäre. Das läßt sich demonstrieren an einer Figur wie Kohl, dessen Statur mit den Witzen, die über ihn gemacht werden, nur noch gefestigt wird. Die Kohlwitze waren selbstreferentielle Produkte verzweifelter Ohnmacht, deren Bewußtsein in den Pointen explodierte und damit unschädlich gemacht wurde. Seitdem befördert das Kabarett die demoralisierenden Zustände, indem es sie anprangert.
    Deutlicher kann man die Absenz der eigenen Gewissens, das nur vom Schrecken und vom Schmerz der Opfer bewegt wäre, nicht demonstrieren: Diese Reaktion (der Hinweis auf die Wirkung der Ereignisse in Rostock und anderswo im Ausland) ist nur Ausdruck der Angst vorm Erwischtwerden, nicht die (allein moralische) Angst vor der Tat. Heute sitzen die Mescaleros in der Regierung.
    Die Technik der Nutzung der Gesetze des Schuldverschubsystems setzt ein Denken voraus, das den Gesetzen des Hinter dem Rücken gehorcht. Dafür ist politisches Denken, wie es scheint, besonders anfällig. In der altorientalischen Welt fand dieses Denken seine Abstützung und Absicherung in der Idolatrie, gegen die die jüdische Prophetie sich richtete. Heute funktioniert es aufgrund der Logik des Weltbegriffs.
    Die politische Ausbeutung des Vorurteils – heute des sogenannten Asylantenproblems – gehorcht der gleichen Logik wie die angeblich friedliche Nutzung der Atomenergie. Auch hier weiß man nicht, ob sie nicht eigentlich der Gewinnung spaltbaren Materials, das man für die Bombe benötigt, dient.

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