Solschenizyn

  • 18.6.1995

    Das den Kindern schon früh eingebläute Gebot: Du sollst nicht lügen, galt eigentlich nur im Hinblick auf die Eltern und in deren Vertretung auf die übrigen Autoritäten: den Pfarrer, die Lehrer und sonstige Obrigkeiten. Der Respekt vor der Obrigkeit bestand im Kern darin, daß sie die Adressatin dieses Gebotes war. Aber war nicht diese Version des Gebots, die praktisch galt, aber nie so deutlich formuliert wurde, der genaueste Ausdruck der eigenen Instrumentalisierung, die einem mit diesem Gebot eingebläut wurde, und war diese Version des Gebots nicht der Grund der in der Nazizeit so weit verbreiteten Praxis der Denunziation?
    Gegenüber den außerfamiliären Autoritäten galt das Verbot allerdings mit einem Vorbehalt: Diese Autoritäten repräsentierten die Außenwelt, und ihr gegenüber war es unter Umständen wichtiger, den Schein zu wahren. Die Wahrheitsliebe durfte nicht soweit gehen, daß man der eigenen Familie schadete oder sie blamierte. Das löste bei Kindern nicht selten Schamkonflikte aus, wenn z.B. die Eltern draußen sich anders verhielten als im Innern der Familie, dort die eigenen Normen nicht einhielten. Es gab Situationen, in denen man sich der Eltern schämte. Hängt nicht der Erfolg der Sozialisierung insgesamt an der Lösung dieser Schamkonflikte und an der Stabilisierung dieser Lösung?
    Hat der Rhythmus von Katastrophe und Rettung, der schon in der Einleitung des biblischen Schöpfungsberichts deutlich markiert wird, auch etwas mit dem Ursprung und der Logik der Sprache zu tun? Und ist nicht die Beziehung von Mythos und Philosophie eine Parodie des Offenbarungsrhythmus, deren verhängnisvolle Folgen am Christentum sich studieren lassen.
    Es sollte Anlaß zur Zurückhaltung sein, wenn man sich erinnert, daß es die Dämonen waren und dann auch Petrus, zu dem er an anderer Stelle sagt „Weiche von mir Satan“, die Ihn als den Sohn Gottes erkennen? – Stand dieser Titel unter dem Bann der Logik der Schrift, aus dem er mit der Erfüllung des Worts befreit werden wird? Gilt für diesen Titel nicht auch die Warnung des Jeremias: „Verlaßt euch nicht auf täuschende Worte wie diese: Der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn, der Tempel des Herrn ist hier“ (74)?
    Nicht die Trinitätslehre ist entscheidend, sondern die Nachfolge, es sei denn, wir begreifen endlich die Bedeutung der Trinitätslehre im Kontext des Nachfolgegebots (ihre imperativische Bedeutung, zu der insbesondere das Wort von der Sünde wider den Heiligen Geist gehört).
    Zu Rosenzweigs Übersetzung „Geist Gottes brütend über den Wassern“: Kann es sein, daß der Geist die Gebärmutter/Barmherzigkeit verkörpert, in der das Reich Gottes ausgetragen wird? Vgl. auch das Wort von den „messianischen Wehen“.
    Woher kommt eigentlich und was bedeutet der Begriff Plusquamperfekt? Ist das Plusquamperfekt das durchs Futurum perfectum vermittelte Perfekt? Drückt sich in der Folge: Ich habe gehabt, ich werde gehabt haben und ich hatte gehabt, nicht eine Stufenfolge der Reflexion aus (ähnlich in: ich bin gewesen, ich werde gewesen sein und ich war gewesen)? Das Perfekt ist Ausdruck der abgeschlossenen Vergangenheit, das Plusquamperfekt: da ist auch die Erinnerung dieser abgeschlossenen Vergangenheit schon vergangen und abgeschlossen. – Das Plusquamperfekt: die grammatische Verkörperung dessen, was der jungen Christenheit die eigene „heidnische“ (mythische) Vergangenheit bedeutete? Das Christentum hat die eigene mythische Vergangenheit zur (vollständig verdrängten) Vorgegangenheit gemacht, um sich in der Gestalt Jesu das in ihm reflektierte Israel als neue Vergangenheit aneignen zu können.
    Ist es nicht fast symbolisch, wenn ein Gesamtschuldirektor seine Absicht bekundet, nach seiner Pensionierung Ägyptologie zu studieren (die Geschichte des Sklavenhauses)?
    Drinnen und draußen: Zum Faschismus gibt es kein Draußen; wer sich äußerlich (als Feind) zu ihm verhält, steckt schon drin. Die einzige Kraft, die die des Faschismus aufzulösen vermag, ist die der Reflexion. Deshalb gibt es keine „liberale Substanz“ der Politik ohne die „negative Bürgschaft“ durch die totalitären Systeme (vgl. Metz‘ Bemerkung zu H. Dubiel in seinem Essay „Religion und Politik auf dem Boden der Moderne“, FR vom 10.06.95). Es ist schlechterdings undenkbar, sich den Faschismus als real vergangen vorzustellen. Es gibt keine „Gnade der späten Geburt“. Der Faschismus ist das, was der Mythos für die junge Christenheit war, ein Plusquamperfekt, das nicht vergehen kann.
    Heute ist die Verwechslung von Komplizenschaft und Solidarität unvermeidbar geworden.
    Warum gibt es keinen Primo Levi der raf, warum gibt es keinen Huidobro und Rosencof der raf? Und warum ist der Primo Levi des Stalinismus, Solschenizyn, der den Bericht über den Archipel Gulag geschrieben hat, zum Faschisten geworden?
    Sind die drei Jünglinge im Feuerofen und Daniel in der Löwengrube Symbole der Politik?
    Ist Habermas‘ Begriff der Moderne nicht ein Bekenntnisbegriff, den es ohne die Häresie der Postmoderne nicht geben würde?
    „Religion und Politik auf dem Boden der Moderne“: Die Moderne ist zwar der Boden der Politik, für die Religion aber Reflexionsgegenstand, nicht ihr Boden. Und wenn Boden: Was liegt unter diesem Boden, worauf stützt er sich? Die Selbstbegründung der Moderne, der Akt, mit dem sie von ihrer Vergangenheit sich absetzt, hat selber ihre verborgenen theologischen Wurzeln.
    Es gibt falsche Zeugen, falsche Eide, falsche Propheten; aber den Nathanael nannte er einen „wahren Israeliten, ohne Falsch und Tadel“. (Wie ist es mit den falschen Zeugen im Verfahren der Hohepriester gegen Jesus, in welchem Sinne war ihr Zeugnis falsch: Verwechslung der Realitätsebene mit der des Symbols?)
    Rührt nicht das Verständnis des achten Gebots (das Verhältnis des falschen Zeugnisses zur Lüge) an ein Problem der Sprache?
    Gibt es nicht den Begriff der Lüge überhaupt erst im Neuen Testament (im Kontext der Gestalt des Teufels, der Dämonen, der unreinen Geister)? – Verhält sich der Teufel zum Satan wie die Lüge zum falschen Zeugnis? – Vgl. die Versuchungsgeschichte Jesu bei
    – Mt: Versuchung durch den Teufel, drei Versuchungen, „Hinweg Satan“, „da verläßt ihn der Teufel, und siehe, Engel traten herzu und dienten ihm“ (41-11),
    – Mk: Versuchung durch Satan, und „er war bei den Tieren, und die Engel dienten ihm“ (112-13),
    – Lk: wie Mt, andere Reihenfolge, ohne das „Hinweg Satan“, „und nachdem der Teufel alle Versuchungen vollendet hatte, stand er von ihm ab bis zu gelegener Zeit“ (41-13)
    Nur wenn die Welt durchs Wort erschaffen wurde, ist sie erlösbar. Sind nicht alle naturwissenschaftlichen Weltentstehungestheorien Versuche, die Erinnerung an das Jüngste Gericht aus der Welt zu schaffen? – Wie verhält sich die Lehre, daß die Welt durchs Wort erschaffen wurde, zur Lehre von der creatio mundi ex nihilo?

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