Theologie

  • 01.05.87

    Ein faschistisches Klima ist daran erkennbar, daß parakletisches Denken, die Verteidigung der Armen, Bedrängten, Verfolgten diskriminiert, selber verfolgt wird: Das ist die Sünde wider den Heiligen Geist, die einzige, die nicht vergeben wird.

    Es gibt keine hoffnungs-/verzweiflungsindifferente Objektivität; die sogenannte „wertfreie“ Objektivität, das „wertfreie Sein“, das als Hintergrund und Folie zur sogenannten „Wertphilosophie“ dazugehört, ist selbst nur ein zum Verstummen gebrachter (und damit potenzierter) Ausdruck von Verzweiflung.

  • 16.08.87

    Abgrenzung der Beleidigungsfähigkeit: wo beginnt, wo endet sie; wer ist wo beleidigungsfähig; wichtig, da hier die Grenzen zur Pathologie bestimmt werden.

    Selbstbekehrung des Christentums, Bekehrung vom Heidnischen im Christentum: Zusammenhang von Fortleben des Heidentums in der christlichen Dämonologie (Hölle, Fegefeuer, auch Vorstellung eines seligen Lebens, das nach Augustinus die Anschauung der Qualen der Bösen mit einschließt) mit den praktischen Folgen: über Antisemitismus, Ketzerverfolgung als Kampf gegen die Armutsbewegung und Hexenverfolgung bis hin zur Reindarstellung dieses Heidnischen im Faschismus (also Faschismus als Konzentrat des Heidnischen im Christentum? – das würde die kritische Aufarbeitung des Faschismus zur Grund- und Existenzfrage einer christlichen Theologie machen: das Verhältnis von Heidnischem und Christlichen wäre unter diesem Gesichtspunkt anhand der Rosenzweigschen Konstruktionen nochmals zu prüfen).

  • 10.10.87

    Theologischer Materialismus: Die Einsamkeit, die Levinas (und ähnlich F. Ebner) als „Grund“ und Konstituens der Materie bestimmt, ist in gleicher Weise (und mit vergleichbaren Folgen) Konstituens jenes Theologieverständnisses, das insbesondere die kirchliche Theologie, den kirchlichen Dogmatismus charakterisiert. Eine Erkenntnistheorie der Theologie, wenn es so etwas denn überhaupt geben kann, hätte diesen Sachverhalt zu reflektieren; historisch gibt es Hinweise hierfür in den mystischen Beschreibungen der Wege und Stufen zur Gotteserkenntnis. Frage, ob es eine Vorstellung oder Idee Gottes überhaupt gibt ohne das, was früher einmal „Gott suchen“ genannt wurde.

    Die „mystische Nacht“ beim Johannes vom Kreuz (vgl. Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Studie über Johannes a Cruce. Druten/ Freiburg-Basel-Wien 19833) bezeichnet nicht nur einen innerlichen Vorgang oder Zustand, sondern etwas sehr Objektives: das Dunkel, in das die Natur im Kontext des Trägheitsgesetzes und die Welt insgesamt unter der Herrschaft des Tauschprinzips getaucht wird, steht in einer aufzuklärenden Beziehung dazu. Innen und Außen sind nicht nur getrennt, nicht nur in einem Korrespondenz- oder Analogieverhältnis, sondern Extreme in einem Kontinuum. Welche Konsequenzen hat das aber für den Wahrheitsgehalt der mystischen Erkenntnis? – (Überprüfen, genauer!)

  • 27.02.88

    Kann es sein, daß mit dem Verschwinden der Gottesidee (die im übrigen lange vor dem Verschwinden des manifesten Gottesglaubens einsetzt) etwas in der Struktur des Subjekts derart sich verändert, daß auch die Anwendung der Psychoanalyse davon berührt wird? Verschwindet nicht zugleich auch der Ödipuskomplex; und zwar in der Folge von Änderungen in der Ich-Struktur, die die Relation von Neurose und Psychose im Kern verändert haben? Sind diese Änderungen u.a. Grund dafür, daß in der Schizophrenie-Forschung heute Therapie-Möglichkeiten entdeckt werden können, die es vor achtzig Jahren einfach noch nicht gab? Ist m.a.W. die Normalität heute der Psychose näher als die Neurose? Ist der Faschismus historisch erkennbar geworden? (Vgl. hierzu nochmals Theweleits „Männerphantasien“).

    Die Narzißmus-Diskussion scheint den gleichen Sachverhalt als Anlaß gehabt zu haben: Eine Theorie der Gesellschaft, die aus dem Stand der Naturbeherrschung (dem Erkenntnisstand der Naturwissenschaften) zu entwickeln wäre, müßte das Problem auflösen können. Der Feminismus ist ein ebenso begründeter wie ohnmächtiger Protest gegen diesen gegenwärtigen Weltzustand.

  • 13.03.88

    Merkwürdig, daß niemand den Benjaminschen Begriff des Mythos (in den frühen Schriften, von „Schicksal und Charakter“ über die „Wahlverwandtschaften“ bis zum „Ursprung des deutschen Trauerspiels“) auch nur wahrnimmt, geschweige denn produktiv weiterführt. Hierzu scheinen den Literaturwissenschaftlern die theologischen und den Theologen die literarischen Voraussetzungen zu fehlen. Damit scheint es andererseits zusammenzuhängen, wenn bis heute niemand – auch Stephan Moses nicht – im „Stern“ von Franz Rosenzweig den Stellenwert und die religions- und geschichtsphilosophische Bedeutung seiner Rekonstruktion des Mythos und der chinesischen und indischen Welt sowie des Islam begriffen hat. (Warum gibt es beim Mythos eine begründete Gestalt – die griechische – und zwei Derivate – die chinesische und die indische -, während es im Bereich der Offenbarung zwei gleichberechtigte historische Gestalten – die jüdische und die christliche – und nur ein Derivat – den Islam – gibt?)

  • 06.06.88

    Heute ist jeder in den Apparat, in die Maschinerie, eingespannt, die zugleich seine Erfahrung und seinen Begriff von der Welt bestimmt. Und zwar in einer Weise bestimmt, daß der Eindruck immer mehr sich verstärkt, das Beste entziehe sich dem Blick, rücke immer mehr in den blinden Fleck. Religion, die heute immer mehr genutzt wird, um das Eingespanntsein (das „In-der-Welt-Sein“) erträglich zu machen, kann auch – wenn man sie nur einen Moment ernst, beim Wort nimmt – der verzweifelte Versuch sein, den Punkt zu bestimmen, von dem aus sich das Ganze wenden läßt; ja es könnte sein, daß sie als die einzige Möglichkeit, überhaupt noch den Gedanken einer Änderung ernsthaft und ohne trübe Vermischung mit Ungelöstem ins Auge zu fassen, sich erweist.

  • 12.06.88

    Es gibt zwei Arten des Atheismus: Die eine geht davon aus, daß Religion ihrem eigenen moralischen Anspruch nicht genügt (wer kann nach Auschwitz noch an einen barmherzigen und gerechten Gott glauben?); die andere wehrt mit der Religion den moralischen Anspruch, den sie vertritt, ab, denunziert ihn als Heuchelei: Dieser moralische Anspruch, so die Prämisse, hat in einer Welt, die von anderen Gesetzen beherrscht wird, keine Grundlage mehr.

    Aber beide vergessen, daß mit der Religion nicht nur der einzige Moralbegriff, der ernst zu nehmen ist, sondern auch der allein darin gründende Glücksanspruch, das Glücksversprechen, aus der Welt verschwindet.

  • 06.07.88

    Wenn die Vergangenheit nicht ursprünglich sein kann, so kann auch die Welt, soweit sie nur als vergangene begriffen werden kann, als tote gegenständliche raum-zeitliche Welt, nicht ursprünglich sein; ihr muß etwas vorausgehen, was dann in der Zeitfolge durchaus als das Spätere erscheinen mag: das Lebendige.

  • 10.07.88

    Der christliche Höllenglaube ist nicht nur Produkt der Auseinandersetzung mit dem Mythos, sondern zugleich Grund der Wiederkehr des Mythos im Christentum. Und zwar vor allem als Grund und Rechtfertigung des Rechts, der Strafe, eigentlich des theologischen Kompromisses, das notwendig war zur Begründung und Rechtfertigung des Staates.

    Je mehr ich mich mit dem Deutschen Herbst und seinen Folgen befasse, umso entsetzter und fassungsloser; Verdrängung der Realität, Durchsetzung von Gesinnungen und Fakten durch Rechtsmittel, gefährliche Entwicklung, Verdrängung des Gewissens, der Humanität (des „inneren Schweinehundes“). Zusammenhang der Isolationshaft von Irmgard Möller mit den ungeklärten Toden in Stammheim; Interesse der Justiz sowohl an den Toden als auch an der Verweigerung der Aufklärung setzt sich fort in der Aufbauschung der gesamten alternativen Szene zum Terrorismus; wieviel Isolationshäftlinge gibt es eigentlich inzwischen? was ist an dem Hinweis von Klaus Jünschke, wonach die verantwortlichen Stellen wissen, daß aufgrund von Aussagen im Vorgriff auf die Kronzeugenregelung Urteile gefällt (und Menschen verurteilt) wurden, obwohl diese Aussagen nachweislich falsch sind? Herr Bode, den Herr Jünschke direkt angesprochen hat, hat nicht widersprochen (in einer Talkshow vor kurzem).

    Verdacht, daß eine parlamentarische Aufklärung – wie in der Parteispenden-Affaire – nicht zu erwarten ist, weil alle beteiligt sind (SPD/FDP als damals verantwortliche Regierung; CDU ohnehin).

    Vorfall Startbahn:

    . Staatsanwaltliche Ermittlung ohne Ergebnis: nicht herauszubekommen, wer die Festnahme überhaupt vorgenommen hat;

    . Schreiben an einen Landtagsabgeordneten landet bei der Polizei.

    Weitere Erfahrungen:

    . Frage nach dem Namen eines Polizeibeamten: „Ich heiße Anders, heute heißen hier alle Anders (anders)“,

    . Frage nach der Dienstnummer: „4711“.

    Zu den sieben Werken der Barmherzigkeit vgl. Matth. 25, V. 34-40.

  • 16.07.88

    Die Nazizeit hat bei den Beteiligten (und den Nachfahren) Rechtfertigungszwänge für Tatbestände, die nach den Kriterien persönlicher Schuld kaum noch sich dingfest machen lassen, ausgelöst, die dann in den neuen Schuldzusammenhang (der „zweiten Schuld“) erst hineingeführt haben; insbesondere die Hypostasierung des Rechts (vor dem diese Schuld sich nicht fassen läßt) hängt hiermit aufs folgenträchtigste zusammen. Wenn der Satz „Ideologie ist Rechtfertigung“ stimmt (wie übrigens auch die theologische Umkehrung „Rechtfertigung ist Ideologie“), dann ist ein Zustand erreicht, der droht, reine Ideologie zu werden. Vor dem Recht sind offensichtlich die Beamten (Richter, öffentliche Verwaltung, Polizei), ohne die die Verbrechen nicht möglich gewesen wären, unschuldig, während die, die es wirklich sind, an der Last des Entsetzlichen zerbrechen. Hier läßt sich mit Händen greifen, was Benjamins Hinweise auf den Zusammenhang von Recht, Schicksal und Mythos in der Realität bedeuten. (Luthers Rechtfertigunglehre war die notwendige Folge seiner verzweifelten Anerkennung der „rechtmäßigen Obrigkeit“: das Tor für den Einbruch des Mythos ins Christentum hat Paulus eröffnet; Zusammenhang der Rechtfertigungslehre mit der paulinischen Rechtfertigung der Herrschaft und dem Ausschluß der Frauen! – Gibt es eigentlich ein matriarchalisches Recht? Ist das Recht gleichursprünglich mit dem Patriarchat? Hat es irgendwann einmal Richterinnen gegeben? Sind Recht, Patriarchat und Mythos gleichursprünglich?)

    Barock als Ideologie-Generator: Die Reformation hat die Kirche unter Rechtfertigungszwang gestellt, die Gegenreformation hat das Gesetz der Rechtfertigung rein durchgesetzt.

  • 22.07.88

    Individuelle (justiziable) und „kollektive“ (ethische/theologische) Schuld stehen in einer fatalen Wechselbeziehung (die den Zusammenhang von Recht und Mythos begründet): Das Bestehen auf individueller Schuld und die Freisprechung aller, deren Schuld juristisch nicht faßbar ist, begründet, verstärkt und vollendet den Schuldzusammenhang, der nur noch messianisch aufzulösen ist.

    Grund ist die Beziehung des Rechts zum Eigentum: dieses Verhältnis macht alle Nichteigentümer apriori schuldig, während es die Besitzenden tendentiell freispricht. Genau dieser Kitt hält die Gesellschaft zusammen. Arbeit befreit von Schuld, ist insofern Begründung des Selbstbewußtseins, Mittel der Selbstbildung des Menschen; dieser Zusammenhang läßt sich erst auflösen, wenn es gelingt, den Schein- und Verblendungszusammenhang des Rechts aufzulösen (insbesondere die Funktion der Strafe). Der materielle Schuldbegriff ist nicht unabhängig vom ethisch-theologischen; dieser ist durch „Umkehr“ aus dem ersten abzuleiten (Parteinahme für die Armen).

  • 23.07.88

    Unterscheidung der juristischen von der ethischen Person; „Ich“ sagen kann nur diese, während jene – ähnlich dem „transzendentalen Subjekt“, das mit ihm den gemeinsamen Ursprung hat – ausschließlich als Produkt von Vergesellschaftung (Intersubjektivität) sich begreifen läßt. Vor allem jedoch unterscheiden sich beide durch ihr Verhältnis zur Schuld: Die ethische Person ist in Schuld verstrickt, aus der sie sich nur befreien kann, soweit sie diese Verstrickung sich eingesteht, sich der Schuld bewußt wird; die juristische Person wird in dem Maße, in dem sie Schuld vermeidet, der Schuld sich entzieht, zum Ursprung des Schuldzusammenhangs (wie das einzelne Objekt im Raum zum Ursprung eines Inertialsystems: sie wird somit zum Ursprung des Materialismus, auf den sie so wütend reagiert, weil sie in ihm sich erkannt, durchschaut fühlt) und damit absolut schuldig. Das Problem des Christentums und seiner Geschichte scheint daraus herzurühren, daß es diese beiden getrennten Personbegriffe nicht nur nicht unterscheidet, sondern daß sie versucht hat, sie in eins zu setzen (Konsequenzen für die Trinitätslehre?). Aber kann die juristische Person selig werden? Oder gibt es im Bereich des Rechts überhaupt einen Ausblick auf das, was mit der Idee des seligen Lebens einmal gemeint war? – Das Schlimme ist, daß man es den Leuten ansehen kann, daß sie ans selige Leben nicht mehr glauben, daß aber niemand es mehr sieht.

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