Thieme

  • 9.4.1997

    Heute wird auch die Philosophie zum Markenartikel: Es gibt weder die Kritische Theorie noch die Theologie.

    Adornos Programm der „vollständigen Säkularisierung aller theologischen Gehalte“ ist zweideutig: Die christliche Theologie, die orthodoxe dogmatische Theologie, ist bereits – als Theologie hinter dem Rücken Gottes (als „Rede von Gott“) – das Produkt ihrer vollständigen Säkularisierung, während Adornos Konzept auf das genaue Gegenteil: auf das Ende der verdinglichten Theologie und die Realisierung der Theologie als eine Gestalt eingreifender Erkenntnis abzielte, auf eine Theologie im Angesicht Gottes.

    Die Orthodoxie ist der Inbegriff der 99 Gerechten, die Geschichte der Häresien der des einen Sünders und seiner Wege des Irrtums. Über die Bekehrung dieses einen Sünders herrscht mehr Freude im Himmel als über die 99 Gerechten.

    Die Kritik der Metaphysik, wenn sie nicht im Mythos enden soll, ist nur möglich durch Kritik der Ontologie, an deren Stelle die Ethik zu treten hätte, im Kontext einer Theologie, die den Satz zur Richtschnur der Erkenntnis macht, daß die Attribute Gottes im Imperativ, nicht im Indikativ stehen. Dem entspricht der Benjamin’sche Begriff der Lehre.

    In dem die Geschichte der Dogmenbildung begleitenden Prozeß der Auseinandersetzung des Christentums mit den Häresien ist dieser Imperativ externalisiert, zum Instrument der Verurteilung und zum logischen Kern eines Schuldverschubsystems gemacht worden, mit den bekannten fürchterlichen Folgen fürs Christentum.

    Modell war die Internalisierung des Mythos, des Schicksalsbegriffs, in der Ursprungsgeschichte der Philosophie (des Begriffs). Anhand der Ursprungsgeschichte der Philosophie wäre der Zusammenhang des Ursprungs des Schuldverschubsystems mit der Konstituierung der Begriffe des Wissens, der Natur und der Welt zu demonstrieren.

    Der Begriff der Größe hängt mit dem des Erhabenen zusammen. Deshalb ist bei Kant der Sternenhimmel über mir ebenso „erhaben“ wie das moralische Gesetz in mir. Das Erhabene ist das über alles, was der Fall ist, Erhabene, das über die Welt Erhabene. Aus der gleichen Logik stammt das historische Attribut der Größe, das den historischen Prozeß der Konstituierung der Welt (von Alexander bis zum preußischen Friedrich) begleitet.

    Der Begriff des Erhabenen erinnert ans Erhobene und ans Haben.

    Ist das Erhabene der selber nicht säkularisationsfähige Grund des Säkularisationsprozesses, ein Moment der inneren Logik des Eigentums?

    Wird die „irre Fahrt zu den Sternen“ heute nicht im Ernst zum Menetekel?

    Der biblische Fluch ist ein Instrument der Verurteilung, der Inbegriff seiner Logik (der biblische Reflex des Schicksals). Hat er nicht in der Tat etwas mit der Idee des Himmels zu tun?

    Wie hängt der zweite Schöpfungstag mit Lev 26 und Dt 28 zusammen?

    Das Problem der Theologie heute ist von dem der Apologie irgend einer der kirchlichen Denominationen streng zu trennen. Eine andere Frage ist, ob, was heute noch Theologie heißen darf, überhaupt an einer der akademischen Einrichtungen, seien sie kirchlich oder seien sie staatlich, noch seinen Ort finden kann. Theologie heute wäre

    – prophetische, und d.h. sowohl staats- als auch kirchenkritische Theologie,

    – messianische, auf Realisierung, Erfüllung zielende Theologie und

    – parakletische Theologie, das Organ des verteidigenden, das Gericht überwindenden, ihm enthobenen Denkens, das Organ des aufrechten Gangs.

    Das Buch der Richter ist ein prophetisches Buch, und als solches hat Lillian Klein es erstmals wieder begriffen (über der Prophetie steht der Satz, daß die Attribute Gottes im Imperativ, nicht im Indikativ stehen).

    Zur Begründung des Kausalitätsprinzips: Die gemeinsame Logik der modernen Naturwissenschaft und des Kapitalismus ist die Logik der „List der Vernunft“, sie ist im genauesten Sinne hinterhältig (sie konstituiert sich hinter dem Rücken der Dinge). Der Listige spannt den Andern, ohne daß er es merkt, für seine Zwecke ein. Das biblische Symbol des Subjekts dieser Vernunft ist die Schlange, ihr grammatisches, sprachlogisches Korrelat das Neutrum.

    Wie hängt die List mit dem Unschuldssyndrom und dem Schuldverschubsystem zusammen?

    Die Fähigkeit zur Schuldreflexion entgründet den Universalismus, destruiert das Überzeitliche und bindet die Erkenntnis an die Aktualität, an ihren Zeitkern. Das Unum ist nicht die Grundlage, sondern – in dem Gebot der Einigung des Gottesnamens – das Ziel.

    Was geschieht, wenn der westliche Antizionismus und die antiislamischen Tendenzen sich vereinigen?

    Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet: Der „Hinterkopf“, die Fähigkeit, mit offenen Fragen zu leben und das Urteil zurückzustellen, ist das Organ der Gottesfurcht.

    Zu einer Theorie des Feuers: Sind die Objekte der Mikrophysik gemeinsame Abkömmlinge des „Wärmestoffs“ und des „Äthers“?

    Die Bundesanwaltschaft: das suizidale Experiment der gnadenlosen Anklage.

    Die kleine Veränderung, die der Messias an der Welt vornehmen wird, ist die Selbstreflexion des Hinter dem Rücken und die Selbstbegründung des Angesichts. Das wäre die endgültige Umkehr und die Befreiung von den sieben unreinen Geistern. Diesen Vorgang beschreibt die Apokalypse.

    Die Siebenzahl bezeichnet keine Fülle, sondern die Gesamtheit der Wege des Irrtums.

    Teufel und arme Seele: Wer den Begriff der Schöpfung auf die Welt bezieht, hält die Frage offen, ob die Menschen zur Welt oder auf die Seite des Schöpfers gehört. Das ist der Preis für die Vorstellung der Einheit der Welt.

    Der Historismus ergreift die Partei des Todes.

    Reflektierende Urteile – und die sind das Element, in dem die Theologie sich bewegt – sind nicht konstitutive, sondern regulative Urteile.

    Wäre es nicht notwendig, nachträglich noch einmal die Diskussion zwischen Benjamin und Horkheimer über die Vergangenheit des Vergangenen aufzunehmen? – Vgl. hierzu Horkheimers Frage, ob auf dem riesigen Leichenberg, auf dem wir stehen, die Idee einer richtigen Gesellschaft überhaupt noch sich denken läßt.

    Hat der Satz, daß Auschwitz uns umso näher zu rücken scheint, je weiter wir uns historisch von ihm entfernen, nicht etwas mit dem Satz Karl Thiemes, daß Hitler nicht der Antichrist, sondern nur die Generalprobe war, zu tun?

    Der letzte Satz des Jakobusbriefs ist das christliche Äquivalent zu Jer 3134. Zwischen beiden Worten liegt der Ursprung des Weltbergriffs.

    Die kopernikanische Wende hat die Differenz zwischen Himmel und Erde zwar nicht aufgehoben, aber so verwirrt, daß davon auch die Theologie nicht unberührt geblieben ist. Als die Erde unter die Planeten, und damit an den Himmel, versetzt wurde, ist auch der Himmel und mit ihm die Theologie endgültig entgegenständlicht worden. Seitdem sind wir selbst zum Gegenstand der Theologie, ist das zentrale Thema der Theologie, die Beziehung von Gericht und Barmherzigkeit, zu einem inneren Problem der Erkenntnis geworden.

  • 17.09.1996

    Die ins Autoritäre transformierte Fassung des achten Gebots: „Du sollst nicht lügen“ verletzt das authentische Gebot: „Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten“, indem sie die Reflexion auf den Andern aus dem Gebot ausblendet; sie versperrt der Gotteserkenntnis den Weg und unterbindet die Heiligung des Gottesnamens an der Wurzel.
    Rind und Esel: Mit der Bindung der Wahrheit an den Objektbegriff (an die „Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand“) wird das dialogische Element ausgeschieden, damit aber auch die Fähigkeit zur Schuldreflexion, die von der im Objektbegriff installierten Verurteilungsautomatik aufgesogen wird; die Intention der Versöhnung, ohne die die Wahrheit nicht zu denken ist, wird neutralisiert. Die dem Objektbegriff inhärierende Verurteilungsautomatik (der Rechtfertigungstrieb) ist ein Teil der den Objektivationsprozeß vorantreibenden Triebkräfte. Sie macht das Denken, indem sie es ans Urteil bindet, zum Instrument seiner eigenen Isolationshaft: jeder Ausbruchsversuch prallt an der Härte des Objekts ab. (Staatsanwälte und Richter in Staatsschutzprozessen sichern mit dem Staat, den sie schützen, die Härte und Unverletzlichkeit eines Bewußtseins, das am Objektbegriff seine Norm hat; sie schützen mit dem Staat den Objektbegriff <dem Repräsentanten des Eigentumsbegriffs im Bewußtsein> vor kritischer Reflexion.) Die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos ist ein Teil der Geschichte der Konstituierung des Objektbegriffs (Mizrajim ist sowohl das Sklavenhaus als auch der Eisenschmelzofen).
    Das rechtskräftige Urteil stellt die „Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand“, zu deren Konstituentien somit das Gewaltmonopol des Staates gehört, her.
    Das Zeichen des Jona: Ist nicht jedes Gebet ein Gebet im Bauche des großen Fisches? Und sind nicht Leviathan und Behemoth im Buch Jona in dem großen Fisch, der Jona vor den Wogen des Meeres rettet, und im Vieh, das an der Umkehr Ninives teilnimmt, präsent? Deshalb genügt die Umkehr des Volkes alleine nicht, auch der König und das Vieh müssen umkehren (was für den König bedeutet, daß er keiner mehr ist: Gott gedenkt der Menschen, die Rechts und Links nicht unterscheiden können, und des Viehs, nicht aber des Königs).
    Hoffnung für Jona findet ihren Ausdruck erst in den letzten Versen des Jakobusbriefs: „Wer einen Sünder von seinem Irrweg bekehrt, der wird seine Seele vom Tode retten und eine Menge Sünden zudecken.“ (520) – Dieser Satz geht einen entscheidenden Schritt über das ezechielische „dixi et salvavi animam meam“ hinaus: Es genügt nicht mehr, es nur gesagt zu haben, hier wird die Rettung der Seele an die Bekehrung des Sünders gebunden. Und ist das nicht ein Zeichen der Äonenwende: Den Christen ist der Erfolg (der von der nicht erzwingbaren Umkehr des Andern abhängt) nicht mehr gleichgültig. Nur: Die „Mission“, die „Bekehrung der Völker“, ist nicht schon dieser Erfolg; die Mission hat nur die 99 Gerechten hervorgebracht, aber den einen Sünder vergessen (bezieht sich hierauf nicht die Geschichte von den sieben unreinen Geistern, die im zweiten Petrusbrief nachhallt – sh. Mt 1245/Lk 1126 und 2 Pt 220)?
    Die Wege des Irrtums, das sind die Wege derer, die nicht mehr wissen, was sie tun (und gibt es nicht heute schon zu viele, die – wie Hitlers willige Vollstrecker – alle ihre Pflicht tun, aber nicht mehr wissen, was sie tun?). Karl Thiemes Wort, daß Jesus das erste Opfer war, das nicht mehr um Rache zum Himmel schreit, kommt der Sache mit dem Kreuz sehr viel näher als die ganze Opfertheologie, es sei denn, daß es endlich gelingt, diese Bitte (die Barmherzigkeit für die, die Rechts und Links nicht unterscheiden können) in das Verständnis der Opfertheologie mit hereinzunehmen und so die Opfertheologie zu einem Instrument der Transformation des Rachetriebs in Barmherzigkeit zu machen („Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“).
    Beispiele für das Wort von den Wegen des Irrtums sind sowohl die Verwaltungen (sind alle hierarchisch organisierten Institutionen) als auch die „Wege der Planeten“ (die in der frühmittelalterlichen Theologie einmal zur Legitimierung hierarchischer Ordnungen gedient haben).
    Die Fähigkeit zur Schuldreflexion ist von den Strategien der Schuldvermeidung zu unterscheiden. Die eine ist befreiend, die andere führt über die Verurteilungslogik in die Verstrickungen hinein, in das projektive, vergegenständlichende, dem Rechtfertigungszwang unterworfene Erkenntnismodell. Die Unterscheidung hängt zusammen mit der des Namens vom Begriff und der der Idee des Ewigen vom Überzeitlichen.
    Die Unterscheidung von Grund und Ursache verweist auf den Zeitkern der Wahrheit. Ökonomie und Naturwissenschaft begründen die Universalität des Kausalitätsprinzips, in deren Kontext Gründe (wie die „sekundären Sinnesqualitäten“) subjektiv und gegenstandslos werden. Gründe verweisen auf ein teleologisches Moment, das im historischen Objektivationsprozeß sich verflüchtigt hat.
    Was hat die Seinsfrage mit der Judenfrage zu tun? Ist Heideggers Fundamentalontologie der Holocaust der Philosophie? Vgl. die „Jonafragen“ bei Ebach (Kassandra und Jona, S. 154).
    Zum Gravitationsgesetz gehört die Vorstellung des „absoluten Raums“, zu den Maxwellschen Gleichungen das Inertialsystem.

  • 14.09.1996

    Die subjektiven Formen der Anschauung, das Geld und die Bekenntnislogik begründen drei getrennte Reiche der Erscheinungen.
    Rosemary Radford Ruether und Erich Fromm kommen in der Untersuchung von Reinhart Staats über das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel nicht vor.
    Doppelte Konsequenzen:
    – Unmöglichkeit der Harmonisierung der Theologie mit Auschwitz und mit den Naturwissenschaften;
    – Franz Rosenzweig: Konversion zum Judentum nach Auschwitz nicht möglich; seine Theologie vermag die Idee der Auferstehung zu begründen, nicht aber die Unsterblichkeit der Seele;
    – Karl Thieme: Hitler war nicht der Antichrist, nur die Generalprobe; Rosenzweig wichtiger als Buber.
    Läßt sich die These, daß Auschwitz, je mehr es in die Vergangenheit zurücksinkt, umso mehr uns auf den Leib rückt, nicht aus der logischen Beziehung von Bekehrung und Umkehr (Maria Magdalena und die sieben unreinen Geister) begründen?
    Zu den Bedingungen des Holocaust gehört ganz wesentlich die Rolle des Staates. Nur die im Staat installierten Exkulpationskräfte haben den Tätern das gute, zugleich mit Rachsucht und Infamie aufgeladene Gewissen gegeben (die Befreiung von Schuldgefühlen durch die Erniedrigung, das Quälen und das Töten der Juden), ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre. Spielt hier nicht in der Tat eine sehr protestantische Tradition mit herein, die über die Rechtfertigungslehre den Staat zur Quelle des Gewissens gemacht (und dem Gewissen die Möglichkeit der Orientierung an der Idee der Barmherzigkeit genommen) hat?
    Die Trinitätslehre, deren dogmatische Entfaltung zusammenfällt mit der konstantinischen Wende, hat die Logik dieses Exkulpationsmechanismus begründet. Durch die lutherische Neudefinition des Glaubens ist sie (und mit ihr die damit verbundene Staatsmetaphysik) ins einzelne Subjekt übertragen worden. Die „Rechtfertigung durch den Glauben“ gründet in dieser Konstellation.
    Die konstantinische Wende hat die Tradition der Barmherzigkeit aus der theologischen Spekulation verdrängt; die Rechtfertigungslehre hat die Tradition der Barmherzigkeit (den theologischen Grund der Herrschaftskritik) aus dem Handeln verdrängt und durch die Gnadenlehre ersetzt.
    Das Symbolum bezieht sich weniger auf das Zeichen, an dem die Christen sich erkennen, als vielmehr auf einen Sachverhalt, der in dem Satz Jesu sich ausdrückt: Wer mich vor den Menschen bekennt, den werde ich vor dem Vater bekennen. Und ist das nicht in der Tat der logische Kern des Symbolbegriffs? Dieses Bekennen ist eigentlich ein Bezeugen, und hierauf bezieht sich der Satz: Das Zeugnis Jesu ist der Geist der Weissagung. Und hierzu gehört auch der andere Satz, daß keiner zum Vater kommt außer durch den Sohn.
    Die blasphemische Wendung der Orthodoxie beginnt mit jenem Akt, mit dem Theodosius die Glaubensformel zur Grundlage des römischen Bürgerrechts gemacht hat.
    Verschweigt Reinhart Staats nicht den Grund des Konflikts zwischen Ambrosius und Theodosius, in dem Ambrosius gegen den Kaiser die Rechtmäßigkeit eines Pogroms, einer antisemitischen Aktion der Gläubigen, behauptet und durchsetzt? Das endet in Carl Schmitts Rechtfertigung der Nacht der langen Messer durch Berufung auf die Souveränität des Führers. Carl Schmitt war der Autor einer politischen Theologie, die das Freund-Feind-Verhältnis als Grundlage sich erwählte.
    War es nicht Reinhart Staats (Das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel), der an einer Stelle anstatt vom Geist vom Gerhirn sprach?
    Der logische Grund des Staates ist in der Tat das Feinddenken, für das der Staat die Verantwortung übernimmt. Nur der Staat hat das Recht zu töten, das er an seine Bürger delegieren kann, ohne daß diese „schuldig“ werden. So richtet sich auch die strafrechtliche Verfolgung des Mörders nicht gegen die Tat, sondern allein gegen den Täter, in dem der Staat seinen Widersacher erkennt: einen, der für sich ein Recht in Anspruch nimmt, das nur dem Staat zukommt. Deshalb sind Soldaten keine Mörder. Und der Mörder im Sinne des Strafrechts zieht die Rachsucht aller auf sich, weil er die Exkulpationsgewalt des Staates, die den, der in seinem Auftrag tötet, rechtfertigt, und damit ein zentrales Element der Ich-Bildung in Frage stellt.
    Daß die Philosophie den Tod verdrängt, hängt mit ihrer logischen Beziehung zum Staat, zur Herrschaftslogik, zusammen. Diese Beziehung des Staats zum Tod drückt in dem jesuanischen Gebrauch des Kelch-Symbols (in dem „Karriere“-Dialog mit den Zebedäus-Söhnen und in Getsemane) sich aus, der genau dadurch von dem vorhergehenden prophetischen Gebrauch sich unterscheidet. So wird
    – die Bekenntnislogik (das Produkt der Rezeption der Philosophie und des Weltbegriffs in der Theologie) zur Bekenntnislogik durch die Opfertheologie (durch die Lehre vom Opfertod Jesu),
    – das Inertialsystem zum Inertialsystem durch die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit (durch die Säkularisation der eucharistischen Vergegenwärtigung des Kreuzestodes, durch die Konstituierung des Totenreichs): es bezieht sich essentiell auf tote (anorganische) Materie,
    – das Geld zum Geld durch seine Beziehung zum Opfer.
    Hängt mit dieser Geschichte und mit dieser Logik nicht das merkwürdige Verhältnis der Evangelien zu den Vätern („laßt die Toten ihre Toten begraben“) zusammen?

  • 09.08.1996

    Rasenpflege: Der Historiker läßt über die Vergangenheit Gras wachsen.
    Die Frankfurter Schule hat es nie gegeben; was so heißt, ist die organisierte Selbstverleugnung der Frankfurter Schule.
    Historismus als Instrument der Entlastung: Darin gründete die Nähe der historischen Bibel-Kritik zum Antisemitismus.
    Hier gilt das Gleiche, das auch für Teile der Zeitgeschichtsforschung gilt, die automatisch: durch die Objektivierung und Historisierung des Geschehenen, zur Selbstentlastung beiträgt; das Entscheidende (das, was am Vergangenen nicht vergeht: das Objekt des Eingedenkens) ist nicht objektivierbar, fällt durch die Maschen.
    Karl Thieme hat einmal gegen von Ranke darauf hingewiesen, daß die Frage, „wie es denn eigentlich gewesen ist“, das „Was“ unterschlägt: Zum Es wird neutralisiert, worauf es ankommt: Zu erkennen, was geschehen ist? Wird nicht durchs Verfahren der Objektivierung die Geschichte auf die Geschichte der Sieger, auf Herrschaftsgeschichte reduziert, ist deshalb alle Geschichtsschreibung nationalistisch?
    Die unsägliche Diskussion, ob es zur „Endlösung der Judenfrage“ einen Befehl Hitlers gegeben habe, war schon von der Intention (vom Beweisanliegen) her obsolet. Die Alternative, unter der sie steht, war falsch: Entweder war Hitler der Verantwortliche (und alle anderen haben nur Befehle ausgeführt), oder es war ein automatischer Ablauf (und alle Beteiligten nur Rädchen in einer ohne ihr Wissen und ihren Willen ablaufenden Maschinerie).
    Zum Problem der „Identitätsbildung“, das Jörg Rüsen anspricht: Entzieht das Geschehene nicht diesem Problem generell den Boden? Wer nach Auschwitz noch davon ausgeht, daß Geschichte dazu beitragen könne, das Problem der nationalen Identität der Deutschen zu lösen, leugnet Auschwitz.
    Verhalten sich nicht die Kritiker Goldhagens wie die Eltern, die bestimmte Fragen ihrer Kinder nur noch als unverschämt empfinden? Und was die Kritiker an diesem Buch so ärgert, ist ihr wohl nicht unbegründeter Eindruck, daß es solche, von ihnen als unverschämt empfundene Fragen auslöst. Damit scheint der Eindruck des „Fürsorg-lichen“, Pädagogischen, um nicht zu sagen der Bevormundung, zusammenzuhängen, den der Tonfall bei fast allen Kritikern erweckt, so als müßten die kranken Leser vor schädlichen Einflüssen in Schutz genommen werden. Fast möchte es scheinen, als sei nicht der Autor, sondern als seien die Leser die Adressaten dieser Kritiken, die vor einer möglichen Ansteckung gewarnt werden sollen, und denen man vorsorglich einige Verhüterli anbietet.
    Gibt diese Art der Kritik nicht Anlaß, über das Problem der Metaphorik noch einmal nachzudenken? Es gibt eine Art der Metaphorik, die einer verdeckten Strategie gehorcht (der Rückschluß auf Rechtfertigungszwänge, von denen eine vergleichbare kommunikationslogische Wirkung ausgeht, ist naheliegend): Umgangssprachlich scheint das gemeint zu sein, wenn man sagt, daß einer „durch die Blume“ spricht. Hier ist die Sache, über die gesprochen wird, nicht die Sache, die gemeint ist, weil diese Sache nicht offen ausgesprochen werden kann. Wer das nicht durchschaut und meint, es ginge um die Sache, über die gesprochen wird, sitzt schon in der Falle drin.
    Kehrt hier nicht ein Rätsel der Theologie-Geschichte wieder, ein Rätsel, das aus der Dogmen-Geschichte, der Geschichte der „Widerlegung“ und Verurteilung der Häresien bekannt ist: Es gibt weite Bereiche, in denen es Theologen wie Historikern auf Genauigkeit gar nicht so sehr ankommt. Aber an welchen Punkten wird’s ungemütlich, wann und wo wird’s ernst, werden die Fragen und die Urteile rigide?
    Wem der Schrecken so in die Glieder gefahren ist, daß er davon nicht loskommt, kennt die Erfahrung, daß es Punkte gibt, an denen er auf Abwehr und Schweigen, wenn nicht auf Wut stößt. Das Problem der Historiker ist es, daß diese Vergangenheit nicht vergangen ist, sich nicht in die Objektivität der Vergangenheit bannen läßt (sind die Historiker die „Toten, die ihre Toten begraben“, und kann man diesem Satz in diesem Zusammenhang vielleicht doch noch einen positiven Sinn abgewinnen? Repräsentieren die Väter in den Evangelien die Geschichte? Ist der Satz nicht auch anwendbar auf die Kirche?).
    Gibt es nicht wirklich so etwas wie die Tücke oder die Rache des Objekts; und gehört nicht Hegels „Weltgericht“ – als Totalität der logisch durchorganisierten Rache des Objekts – in diesen Zusammenhang? Ist nicht Hegels Weltgericht ein spätes Echo der Gewalt, die die Schöpfung einleitet und das tohuwabohu und die Finsternis über dem Abgrund hervorruft? Und ist das Jesaja-Wort „Ich bin der Herr und keiner sonst, der ich das Licht bilde und die Finsternis schaffe, der ich Heil wirke und Unheil schaffe, ich bin’s, der Herr, der dies alles wirkt“ (457) ein Hinweis auf den Schöpfungs-Rhythmus von Katastrophe und Rettung? Und ist nicht die Bedingung der Rettung die Wahrnehmung der Katastrophe (vgl. Jürgen Ebachs Hinweis zu Lots Weib; gibt es hier nicht einen Zusammenhang mit der merkwürdigen Rolle der Väter in den Evangelien?). Unterscheidet sich nicht die Apokalypse von der Prophetie durch die „Wahrnehmung der Katastrophe“? – Die Zuschauer sind die Väter und die Richter, während Mütter die Mitleidenden, die Barmherzigen sind.
    Wäre es nicht sinnvoll gewesen, in die „Versuche, die RAF zu verstehen“ auch Texte der Mütter oder überhaupt einer Frau mit aufzunehmen? – Bemerkenswert, daß der Senat in keinem Falle etwas gegen Ausfälle von Seiten der Anklagevertreter gegen Prozeß-Besucher, gegen die Mutter der Angeklagten oder zuletzt gegen einen Zeugen eingegriffen hat, während er jeden Versuch, die Vorgänge in Bad Kleinen aufzuklären, rigoros unterbunden hat, und daß, obwohl er die Anklage gegen Birgit Hogefeld wegen Beteiligung am Mord an dem GSG-9-Beamten Newrzella trotz offenkundiger Widersinnigkeit zugelassen hat, eine Anklage, zu deren Hintergrund die Kenntnis des gesamten Vorgangs in Bad Kleinen gehört, nicht nur das isolierte Faktum eines bis heute nicht nachgewiesenen „Mords“ (die Tatsache, daß das Gericht sich diesen Mord sehr gut vorstellen kann, ist noch kein Beweis). Hätte dieser Senat nicht auch die Chance, sich auf die friedenstiftende Kraft des Rechts zu besinnen? Statt dessen hat er die Verhandlung in ein Kant-Seminar umfunktioniert: in eine praktische Übung zur Frage der Konstruktion synthetischer Urteile apriori, in deren Kontext schon Kant zufolge die Dinge, wie sie an sich sein mögen, nicht erkennbar sind. Auch die Philosophie hat nicht nur seit je den Tod verdrängt, sie hat auch das Mitleid, die Fähigkeit, in andere sich hineinzuversetzen, nie gekannt (der Kampf der Philosophie gegen das Vorurteil, war ein Kampf gegen die Vorurteile, die dem reibungslosen Ablauf des Geschäfts und dem Prinzip der Selbsterhaltung im Wege standen). Die Philosophie hat seit je das Urteil zum Maß der Wahrheit gemacht, sie hat von der Hemmung des Urteils durch das Mitleid und das verteidigende Denken seit je abstrahiert.
    Hat das „Laßt die Toten ihre Toten begraben“ etwas mit Adam, dem Staub und der Schlange zu tun?
    Kann es sein, daß das Symbol der Taube, die das Opfer der Armen war, auch in der Geschichte von der armen Witwe, die ihr letztes Scherflein in den Opferstock wirft, noch nachklingt? Ist nicht der Heilige Geist der Inbegriff und die letzte Verkörperung des Satzes „Barmherzigkeit, nicht Opfer“? Vgl hierzu noch einmal die Geschichte mit Zacharias: Er brachte das Rauchopfer dar (das die „Gebete der Heiligen“ symbolisiert), als der Engel Gabriel ihm die Geburt des Johannes ankündigte; und die andere Geschichte: Was geschah, als nach der Geburt Jesu die Tauben geopfert wurden (die Geschichten mit Simeon und Anna, der Tochter Penuels, aus dem Stamme Asser, „etwa 84 Jahre alt“)?
    Zur Rekonstruktion des Antisemitismus wäre es wichtig, den logischen Zusammenhang zu begreifen, der den modernen Nationalismus mit dem Rassismus verbindet. Der Nationalismus, selber ein Produkt des Weltbegriffs und der säkularisierten Bekenntnislogik, ist der Nährboden des Antisemitismus, die Umschlagstelle des Schuldverschubsystems, der das projektive Moment im rassistischen Antisemitismus logisch begründet.

  • 29.7.96

    War Johannes nicht „der Jünger, den der Herr liebhat“, und auch der, von dem er sagte: „Wenn ich will, daß er bleibt, bis ich wiederkomme, was geht das dich an“, nach einer Tradition, an die Karl Thieme erinnert hat, der Typos der Juden (Petrus hingegen der Typos der Kirche)? Hat nicht die Kirche mit der Rezeption des Hellenismus das gleiche Scheusal verinnerlicht, gegen das einmal der Aufstand der Makkabäer sich richtete?
    Man muß von der Vorstellung Abstand nehmen, daß in einer seit je bestehenden und immer sich gleichbleibenden Welt, die gleichsam nur als Bühne fungiert, die politischen Änderungen dann sich abspielten. Es waren politische Ereignisse, Prozesse und Veränderungen, die den Weltbegriff, die Spiegelung und Legitimierung der Herrschaftsstrukturen im Objekt, hervorgebracht und mit verändert haben. Die Kosmogonien, die mythischen Weltentstehungserzählungen, sind nicht nur unwahr: Sie reflektieren die mit der Entstehung der politischen Herrschaftsstrukturen verbundene Geschichte des Ursprungs des Weltbegriffs. Deshalb war der biblische Schöpfungsbericht ein Teil der Kritik der Idolatrie, der im Götzen-, Sternen- und Opferdienst sedimentierten Herrschaftsideologie. Hängt die Unfähigkeit, den Zusammenhang zwischen dem Reichtum der Metropole und der Armut in der Dritten Welt überhaupt wahrzunehmen, nicht mit dem Naturbegriff zusammen, mit dem die Herrschenden vor dem Erkanntwerden und schließlich vor der Selbstwahrnehmung sich schützen? Und beschreibt nicht die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos genau diesen Prozeß (und damit auch den Prozeß der Konstituierung des Naturbegriffs)? Ton Veerkamps „Was nicht erzählt wird, ist nicht passiert“ wird widerlegt durch den anderen Satz: Das Vergangene (die Verhärtung des Herzens Pharaos, der Kreuzestod Jesu, der Faschismus und Auschwitz) ist nicht nur vergangen.
    Deshalb ist Theologie ohne Erinnerungsarbeit nicht möglich, aber diese Erinnerungsarbeit (und damit die Theologie) zielt aufs Begreifen der Gegenwart (nicht des Überzeitlichen).
    Wird nicht das Erzählen zum Mythos, wenn man die Halacha von Haggada trennt (durch den Rechtfertigungszwang, unter dem alles Erzählen steht: es entlastet)? Dieses Erzählen erzeugt aus sich selbst den Bann der Schicksals, dessen Logik es dann nicht mehr zu entrinnen vermag.
    Die Lehrerfrage, die Schülern die Literatur verekelt: „Was wollte der Autor damit sagen?“ findet sich heute auch bei Theologen, die unterstellen, ein biblischer Autor habe nicht das gesagt, was er gesagt hat, sondern etwas gemeint, was von dem, was er gesagt hat, noch unterschieden sei; die meinen, es käme darauf an zu erkennen, was er hat sagen wollen, als wäre das etwas anderes als das, was er gesagt hat. Es ist der allwissende Theologe, der die geheime Absicht des biblischen Autors besser zu kennen vorgibt als der Autor selber. Er erweckt den Eindruck, erst wir wüßten wirklich, was der biblische Autor mit den damaligen, noch unzulänglichen Mitteln noch nicht so deutlich habe ausdrücken können, wie wir es heute können. So heißt es an einer Stelle im neuen katholischen Weltkatechismus (ich zitiere sinngemäß), der Autor der Genesis habe den an sich klaren Sachverhalt, daß Gott die Welt aus Nichts erschaffen hat, nur undeutlich (in der „Sprache seiner Zeit“) mit dem Satz, daß Gott im Anfang den Himmel und die Erde erschuf, wiedergegeben, vielleicht weil ihn seine Zeitgenossen, die noch in im Bann eines mythischen Weltbildes lebten, sonst nicht verstanden hätten. Aber gibt es einen undeutlicheren Satz als den, daß Gott die Welt aus Nichts erschaffen hat? Bewußtsein ist falsches Bewußtsein, und das „naturwissenschaftliche Weltbild“ die Finsternis über dem Abgrund der Geschichte. Bewußtsein ist falsches Bewußtsein, weil es vom Hören abstrahiert. Das Credo spricht die Sprache des Bewußtseins. Wenn ich etwas „bewußt“ sage, sage ich etwas anderes als ich meine, verfolge ich mit dem, was ich sage, eine Absicht, die ich zugleich verberge, ist für mich die Sprache ein bloßes Instrument, aber unfähig, die Wahrheit auszudrücken. Kein Bewußtsein ohne „Hintergedanken“, ohne List, ohne Ziele, die im Dunkeln bleiben. Das Bewußtsein spricht durch die Blume. Erst seit es das Bewußtsein gibt, gibt es die Psychologie, die Frage nach dem, was sich „hinter“ den manifesten Äußerungen des Bewußtseins verbirgt. Wer von einem biblischen Text sagt, daß der Autor „bewußt“ etwas sage oder nicht sage, kreuzigt das Wort.

  • 27.7.96

    „Was nicht erzählt wird, ist nicht passiert“ (Ton Veerkamp, TuK 70, S. 23): Heißt das, daß, wenn Primo Levi seine Erinnerungen nicht niedergeschrieben hätte, Auschwitz „nicht passiert“ wäre? Heißt das, daß, wenn der 5. Strafsenat des OLG in Frankfurt jede Nachfrage nach dem, was in Bad Kleinen wirklich geschehen ist, wenn das Erzählen unterdrückt wird, dann auch die Ereignisse ungeschehen zu machen sind? Begründet dieser Satz nicht die Logik des Namens: Nestbeschmutzer? Begründet er nicht die Hoffnung der Täter (die Hoffnung, deren Logik Lyotard in seinen an Auschwitz anschließenden Reflexionen über das „vollendete Verbrechen“, das die Tat ungeschehen zu machen hofft, indem es auch die Zeugen aus der Welt schafft, untersucht, eine Untersuchung, die auch Licht in die Logik der frühchristlichen Märtyrer-Geschichte <und in die Umkehrung dieser Logik in der Gestalt des Confessors, der den Märtyrer ablöst> bringt)?
    Zahl und Schein: Wie hängt der Begriff der Erzählung mit dem der Erscheinung zusammen? Ist nicht das Organisationsprinzip der ersten die Form der inneren Anschauung (die chronologische Einheit der Erzählung), das der zweiten hingegen die der äußeren Anschauung (die räumliche Einheit, in welche die Naturprozesse durch Verräumlichung der Zeit mit hereingezogen werden)? Erscheinungen sind Erscheinungen im Raum (ihre Gegenwart ist die der Präsenz des Objekts), während Erzählungen als Vergegenwärtigung von Vergangenem deren Gegenwart (nicht das Vergangene selber) als eine sprachliche, als erinnerte Gegenwart erst herstellt.
    Dem kontemplativen Erzählen des Vergangenen entspricht das Beschreiben des Gegenwärtigen: In welcher Beziehung steht das Zählen zum Schreiben?
    Das Erzählen, das heute notwendig wäre, hätte das Prinzip der chronologischen Einheit mit zu reflektieren.
    Kann es sein, daß die Vorstellung sich widerlegen läßt, daß dem Niederschreiben einer Erzählung (des homerischen Epos oder der biblischen Erzählungen) eine Phase der mündlichen Tradition vorausgeht? Ist nicht vielleicht doch das Erzählen ein Produkt der Schrift? Wie hängen Epos, Astronomie und Schrift mit einander zusammen? Ist die Hieroglyphen-Schrift (und ihre Beziehung zum Tempel, deren Wände sie ziert) der Grund dafür, daß Ägypten kein Epos hervorgebracht hat, statt dessen die Pyramiden?
    Zwischen der Himmelfahrt Jesu und Pfingsten liegt nur die Wahl des Zwölften, der stumm bleibt, und von dem dann nichts mehr erzählt wird. Der Zwölfte (sein Name war Matthias) füllt die Stelle aus, die durch den Verrat des Judas Iskariot freigeworden ist.
    Ist das Interesse zu erfahren, was denn wirklich passiert ist, so unerheblich? Gehört nicht die Spannung zwischen dem Erzählten und dem Geschehenen, die nicht aufhebbar ist, zur Wahrheit des Erzählten (zur Wahrheit dessen, was geschehen ist)? Es geht nicht um die nackten Tatsachen, aber auch nicht nur um das Kleid, das die Nacktheit verdeckt (die Legende), sondern um das Unerlöste in der Beziehung beider: um die Erfüllung des Worts, mit der das Vergangene erlöst wird, sich vollendet.
    Hatte der Greuel, das Scheusal der Ägypter, das nach dem Wort des Moses an Pharao die Israeliten am dritten Tag nach dem Auszug aus Ägypten opfern wollten, etwas mit der „Sünde der Welt“ zu tun? Ist nicht der Weltbegriff der Inbegriff der Begriffe, Gesetze und Strukturen, in denen die Vergangenheit fortschreitend Macht über die Dinge gewinnt, der Inbegriff der die Dinge verschuldenden Gewalt; und ist das nicht der Feind, dem die Wahrheit immer erneut abgerungen werden muß? Die Erzählung ist nicht die Welt, aber sie lebt von der Spannung zur Welt.
    Karl Thieme hat einmal gegen das berühmte Wort Leopold von Rankes darauf hingewiesen, es komme nicht darauf an, zu erkennen, wie es eigentlich gewesen sei, sondern was eigentlich geschehen ist. (Biblische Religion heute, Heidelberg 1960, S. 181) Auf dieses Was zielt die Erinnerungsarbeit, aus der das Erzählen sich nährt, auch wenn sie nicht nur im Erzählen sich äußert. Ist nicht jede Theologie, die diesen Namen verdient, Erinnerungsarbeit, und die Schrift der Schlüssel, der die Pforten der Erinnerung öffnet?
    Haben das Wasser und das Trockene (des dritten Tages) etwas mit dem Was und dem Wer, die nach kabbalistischer Tradition im Namen des Himmels gründen, zu tun?
    „Persönlichkeit“: Hierzu wäre an Rosenzweigs Bemerkungen zu diesem „höchsten Glück der Erdenkinder“ zu erinnern, zugleich aber daran, daß nicht sie, sondern die „Kinder Gottes“ es sind, auf deren Freiheit dem Römerbrief zufolge die ganze Schöpfung wartet. Jesus mag der Sohn Gottes gewesen sein, aber er war gewiß keine Persönlichkeit. Sprachgeschichtlich dürfte der Begriff der Persönlichkeit auf den gemeinsamen Ursprung mit der Ausgliederung und der Verselbständigung der Personalpronomina in den modernen Sprachen zurückweisen. Er verdankt sich der gleichen logischen Bewegung, der auch die Herauslösung des „Ich“ aus seinem dialogischen Kontext und seine idealistische Hypostasierung sich verdankt. Im Begriff der Persönlichkeit enthüllt sich das idealistische Absolute als Gattungsbegriff (und der Begriff der Zeugung im christlichen Dogma als deren theologischer Reflex). Frage: Wer ist das Ich im kantischen Begriff des transzendentalen Subjekt, im „ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“? Ist es nicht ein männliches Subjekt, das gegen alle „seine“ Vorstellungen als selbständiges, „autonomes“ Subjekt sich muß behaupten können, und ist es nicht das bürgerliche Subjekt, das es sich leisten kann, Herr all seiner Handlungen (und nicht das Objekt seiner Begierden und Triebe) zu sein? Schließt dieses Ich (das Ich der Persönlichkeit), ähnlich wie der frühchristliche „Confessor“, aus dem es sich herleitet, nicht ebenso wie die Frauen auch die Juden (und natürlich die Häretiker) von sich aus?
    Das Sein, der Gegenstand der Ontologie, ist ein durch Neutralisierung unkenntlich gemachtes Maskulinum und zugleich ein von der Beziehung auf ein bestimmtes Subjekt abgelöstes (und so ebenfalls unkenntlich gemachtes) Possessivpronomen, und die Ontologie selber der Statthalter des Patriarchats in der Philosophie. Das Sein steht zwar völlig nackt da, aber es verbirgt sein Geschlecht durch das magische Verbot, es wahrzunehmen: durchs Verbot der Sprachreflexion, das zu den logischen Gründen des Rassismus gehört (der Wirkung dieses Verbots schienen Nazis nicht ganz zu trauen, die, wenn sie in Uniform fotografiert wurden, ihre Hände davor hielten).
    Die Gravitation und das Selbstgefühl gründen in der Oben-Unten-Beziehung, während das Sehen (in dem die Schwere nicht erscheint) auf den Horizont und die vier Himmelsrichtungen verweist. Zur Befreiung des Sehens („da gingen ihnen die Augen auf“) gehört der aufrechte Gang.
    Die Beziehung des Sehens zur Schwere reflektiert sich in der des Trägheitsprinzips zur Schwere (im Verhältnis der trägen zu schweren Masse, deren Identität der Einheit des Inertialsystems sich verdankt), auch in der des Tauschprinzips zur Schuldknechtschaft (die ihre Einheit außer sich, im Geld, erst finden).
    Ist es nicht der Hahn, der einen Sünder vom Irrweg bekehrt? Und wie hängt die Geschichte von der Maria Magdalena und den Frauen, die hinausgingen, um den Leichnam Jesu zu salben, mit der Geschichte der drei Leugnungen Petri zusammen?
    Wenn der Kreuzestod auf die Zerstörung Jerusalems verweist, verweist er dann nicht auch auf Auschwitz?
    „Allein den Betern kann es noch gelingen, …“: Kann es sein, daß das Wort „Was ihr auf Erden lösen werdet, wird auch im Himmel gelöst sein“ sich auf die Heiligung des Gottesnamens bezieht?
    Die dritte Leugnung: Heute hält selbst sich die Theologie die Theologie vom Leibe, mit der Folge, daß sie unfähig geworden ist, in der Verhärtung des Herzens Pharaos die eigene wiederzuerkennen.
    Als Hegel aus dem transzendentalen Subjekt (dem Ich in Kants „ich denke, …“) die Idee des Absoluten entwickelte, stieß er zwangsläufig auf Strukturen, die identisch waren mit denen des Dogmas, der Orthodoxie.
    Hängt nicht Wittgensteins Satz „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ mit der Schellingschen Formulierung, die Zukunft werde „geahndet“, zusammen, und erfüllen sich nicht beide aufs entsetzlichste in einer Welt, die die Zukunft verrät?
    Ist nicht dieses „Ahnden“ eine logische Folge der Schellingschen Naturphilosophie, die den Schuldzusammenhang universal gemacht hat?
    Natur und Moral: Die Urteilsmoral ist die Folge eines Selbstverständnisses, dem die eigenen Interessen und das eigene Handeln zur reinen, gegen jede moralische Reflexion immunen Natur geworden sind, zu „Sachzwängen“, deren Objekt es bloß ist. Es gehorcht nur den Gesetzen der Selbsterhaltung. Moral ist als Urteilsmoral (als „Wertethik“) Moral für andere: die Moral des steinernen Herzens, dem die Barmherzigkeit, die Fähigkeit, in den andern sich hineinzuversetzen, gegenstandslos und zum flatus vocis geworden ist. Der ökonomische Grund dieser logischen Konstruktion läßt an den Argumenten sich ablesen, mit denen die Sprecher aus Wirtschaft und Politik die Notwendigkeit des Sparens aus den Taschen der anderen begründen. Ist nicht Natur, insbesondere auch die, die die Gesetze diktiert, nach denen ich vorgebe, zu handeln gezwungen zu sein, seit dem Ursprung ihres Begriffs das Korrelat des steinernen Herzens? Deshalb wird es eine Theologie, die diesen Namen verdient, ohne Kritik der „Naturwissenschaft“ nicht mehr geben.

  • 24.7.96

    Hängen die paulinischen Reflexionen über die Thora, das Gesetz, mit der Bräutigam-Braut-Symbolik zusammen, mit der Beziehung Jesu zum „himmlischen Jerusalem“ der Apokalypse (Jankowski, TuK 70, S. 8ff)?
    Erinnert nicht die Auslegung des paulinischen Fleischbegriffs, den Jankowski auf die Juden bezieht (ebd. S. 12ff, vgl. auch Ton Veerkamp im gleichen Heft), an den der „fleischlich gesinnten Juden“, den ich zuletzt bei Karl Thieme vorgefunden habe? Und zieht er nicht die ganze Vorstellungswelt des kirchlichen Antijudaismus nach sich, die über die Beziehung von Fleisch und concupiscencia, Sexualität, dann auch in die antisemitische Vorstellungswelt mit eingegangen ist? In der Sache, so scheint mir, scheitert diese Auslegung an der sachlich nicht begründbaren Gleichsetzung von Beschneidung und Fleisch: Die Beschneidung ist nicht Fleisch, sondern wird am Fleisch vollzogen. Hier wird das Objekt einer Handlung mit dieser Handlung verwechselt. Ist dieses „Fleisch“ – auch vor dem Hintergrund des Weltbegriffs, auf die ganze Ursprungsgeschichte des Christentums sich beziehen läßt – nicht eher das Fleisch der apokalyptischen Tiere, das am Ende die Vögel fressen? Hegel hat einmal seinen Satz, daß die Natur den Begriff nicht halten kann, mit dem Hinweis begründet, daß es dann keine unterschiedlichen Gattungen und Arten von Tieren, sondern nur eine Art bzw. Gattung geben dürfe; diese Begründung spiegelt den unbestreitbaren Sachverhalt wider, daß Tier und Welt in einer eindeutigen Wechselbeziehung stehen: Jedes Tier (jede Gattung) hat seine Welt, und zur Idee der „einen Welt“ (zum universalen Weltbegriff) gehört dann das eine Tier (als das dieser Welt eindeutig zuzuordnende Subjekt). In dieser Beziehung drückt sich übrigens ein logischer Sachverhalt aus: die Logik der Welt ist die Logik der Instrumentalisierung, und der Begriff des Tieres (des Organismus) drückt genau diese als Subjekt sich konstituierende Einheit der Instrumentalisierung aus, die über das Selbsterhaltungsprinzip, über ein System subjektiver Ziele, sich definiert. Deshalb unterliegen alle subjekthaften (dem Selbsterhaltungsprinzip unterworfenen) Systeme und Institutionen dem Gesetz der „organischen Entwicklung“. Und die kantischen „subjektiven Formen der Anschauung“ erfüllen genau diese Funktion: alle Erfahrung nach dem Prinzip der Selbsterhaltung zu organisieren, in deren Licht die Dinge nur noch als Mittel subjektiver, ihnen von außen auferlegter Ziele erscheinen. Dieses Prinzip liegt dem kantischen Begriff der Erscheinungen zugrunde, die die Erfahrung insgesamt nach Maßgabe der Totalitätsbegriffe Welt und Natur aufteilt und organisiert. Unter diesem Gesetz ist, was die Dinge an sich sind, in der Tat nicht mehr erkennbar.
    Macht nicht Jankowski, wenn er Fleisch als Synonym für Beschneidung setzt (S. 14), den Gegensatz Fleisch/Geist zu einem antijudaistischen Gegensatz?
    Daß die Natur den Begriff nicht halten kann, ist ein Grund der Hoffnung.
    Wenn Paulus ein Zelot war, dann war Hitler ein Sozialist.
    Barmherzigkeit, nicht Opfer: Wäre das nicht das Motto einer Theologie-Kritik, einer Kritik der Verdinglichung?
    Die einfachste Definition der Barmherzigkeit ist die, daß vor dem Urteil die Frage steht, ob du anders hättest handeln können, wenn du an der Stelle des Objekt gestanden hättest.
    Rosenzweigs Stern der Erlösung oder die Vergegenwärtigung der Tradition: Die Transformation der Schrift ins Wort setzt die Reflexion auf das fundamentalistische Schriftverständnis, auf die Bindung des Textes an die intentio recta, voraus. Lesen, wie es heute nötig wäre, ist interlineares Lesen, Lesen zwischen den Zeilen, bei genauester Wahrung des Worts.
    Ist nicht genau das der Unterschied zwischen Buber und der jüdischen Tradition, daß Buber die Bücher Josue bis Könige als historische und nicht als prophetische Bücher begreift (zum Buch der Richter vgl. Lillian Klein: Triumph Of Irony In The Book Of Judges)? Vergegenwärtigung ist heute nicht leichter mehr zu haben als über die Auflösung des Banns der subjektiven Formen der Anschauung, und d.h. über die Kritik der Naturwissenschaften.
    Wer die Prophetie historisiert, braucht sie nicht mehr auf die Gegenwart und auf sich zu beziehen: Als Heilsprophetie hat sie sich in Jesus erfüllt, als Unheilsprophetie gilt sie nur noch für die Juden (und dient so als Schriftbeweis des Antisemitismus: schon damals waren sie so).
    Jüngstes Gericht: Aufhebung der Trennung von Natur und Geschichte im Geiste der Utopie, oder die Idee der Auferstehung als erkenntnisleitendes Prinzip. Eine Distanz zu dem, was die Idee der Auferstehung von sich aus meint, bleibt; diese Distanz darf durch Symbolisierung der Idee (die die Toten instrumentalisiert und vergißt) nicht aufgehoben werden.
    Die Geschichte aus dem Gefängnis befreien, in das wir sie durch Subsumtion unter unsere subjektive Form der inneren Anschauung (durch Subsumtion unters Zeitkontinuum) eingesperrt haben.
    Die subjektiven Formen der Anschauung (Raum und Zeit) sind keine Naturprodukte, sondern in einem gesellschaftlichen Prozeß entsprungen; sie sind selbst Produkt einer Vergesellschaftung („das stumme Innere der Gattung“).
    Unterscheidet sich nicht die mittelalterliche von der antiken Kosmologie durch eine geringfügige, kaum wahrnehmbare, darum aber nicht weniger folgenreiche Veränderung: durch die Lehre vom Sündenfall, als deren instrumentalisierte Gestalt die Naturwissenschaften sich begreifen lassen? Wittgensteins Satz: Die Welt ist alles, was der Fall ist, wäre in antikem Kontext nicht denkbar.
    Läßt sich nicht der Haß auf die Zukunft als das Produkt eines logischen Zwangs begreifen, den die Beschaffenheit der Welt in Verbindung mit dem alles durchdringende Selbsterhaltungsprinzip auf unser Bewußtsein heute ausübt, ist er nicht schon überdeterminiert? (Ich habe Benjamins anderslautende Bemerkung schon beim ersten Lesen nicht begriffen, bis mir bewußt wurde, daß sie in der Tat aus Gründen, die es endlich zu begreifen gilt, heute nicht mehr gilt. Daß sie nicht mehr gilt, affiziert die Idee des Glücks, die damit ihre raison d’etre verloren hat. Dafür rächt sich der Faschismus und macht so den Verlust irreversibel.)
    Adornos Philosophie ist die Entfaltung des apokalyptischen Satzes: Das Erste ist vergangen.
    Klingt nicht in Rosenzweigs Kritik des Allbegriffs die Kritik der Universalität des Hegelschen Weltgerichts mit an, die eigentlich die Universalität des Opfers meint.
    Ist nicht das Opfer der Zukunft, auf das die Kirche heute bewußtlos und selbstzerstörerisch sich zubewegt, die Selbstverfluchung Petri in der dritten Leugnung?
    Nicht nur der römische Hauptmann unterm Kreuz sagt: Das war Gottes Sohn, auch die Dämonen sagen es („und zittern“, nach Jakobus), auch Petrus (nach Karl Thieme ein Typos der Kirche) sagt es, bevor er ihn dreimal verleugnet.
    Ton Veerkamps Satz „Was nicht erzählt wird, ist nicht passiert“ (TuK 70, S. 23) erinnert an Hegels Bemerkung (in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte), daß das Wort Geschichte sowohl die historia rerum gestarum als auch die res gestas bezeichnet.
    Hat die Vorstellung des Zeitkontinuums (die subjektive Form der inneren Anschauung) sich in der Auseinandersetzung mit der Sternenwelt gebildet? Das würde die Beziehung begründen, in die Kant das moralische Gesetz in uns und den Sternenhimmel über uns rückt. Und der altorientalische Sternendienst war in der Tat ein Instrument der Legitimation der altorientalischen Reiche.
    Steckt nicht eine ungeheure Logik in den Problemen, die Goethe und Hegel mit Newton hatten? War es nicht bei beiden das griechische, das „heidnische“ Erbe, das sie aufs Anschauen verwies, auf eine Distanz zu den Dingen, deren Preis die Leugnung und Verdrängung eines Innen war, das bei Newton als das barbarische der allgemeinen Gravitation sich enthüllte (Christentum und Gravitation)? Ist nicht die Anthroposophie eine der letzten Manifestationen dieser Logik? Und gehört nicht die Marxsche Bindung seiner Kapitalismus-Kritik ans Tauschparadigma (und die Ausblendung des Schuldknechtschafts-Paradigma) in diesen Zusammenhang, mit der welthistorischen Folge, daß der Versuch der Realisierung im real existierenden Sozialismus direkt ins Sklavenhaus führte (deshalb gab es im gesamten Ostblock keine Banken)?
    Blüm wäre zu korrigieren: Nicht Jesus lebt, wohl aber die tief in der Geschichte des Christentums verwurzelten Banken, deren Zentralen in der Bankenstadt Frankfurt den Triumph über den Sozialismus und das Christentum zugleich ausdrücken.
    Ist nicht die Vertreibung der Geldwechsler und der Taubenhändler aus dem Tempel das zentrale Symbol der heute anstehenden Kirchenkritik? (Gibt es einen Zusammenhang dieser Vertreibung der Taubenhändler mit der Geschichte vom Scherflein, das die arme Witwe in den Opferstock gab; ist nicht die Taube das Opfer der Armen und das Symbol des Heiligen Geistes zugleich? Hat nicht die Kirche die Armen und den Heiligen Geist zugleich verraten, als sie sich selbst an die Stelle der Armen setzte und den Geist zum Instrument der Selbstlegitimation machte?)
    Wie unterscheidet sich die typologische und realsymbolische Schriftinterpretation von der historisch-kritischen (auf die sie gleichwohl sich beziehen muß)? Ist nicht vor allem der Versuch einer Vergegenwärtigung, die nicht dem Bann des Erbaulichen verfällt? Die typologische und realsymbolische Interpretation gewinnt ihr Leben aus dem des Namens, das in ihnen sich entfaltet.
    Sprachastrologie: Ist der Jupiter der Nominativ und der Mars der Akkusativ, und haben Venus und Merkur mit Genitiv und Dativ zu tun?
    Unschuldige Dingwelt, oder das Prinzip der Verdinglichung: Der Verurteilungsmechanismus ist ein Exkulpationsmechanismus. Es ist der Mechanismus der Verhärtung des Herzens.
    Wer durch die Blume spricht, greift den Adressaten auf eine Weise an, daß er sich nicht wehren kann; er nimmt ihm die Möglichkeit der Verteidigung.

  • 11.7.96

    Zur den Krankheiten, von denen vor allem kirchliche Autoren befallen sind, gehört der von der Bekenntnislogik nicht abzulösende apologetische Ton (aber warum und wodurch unterscheiden sich Karl Thieme und Kornelis H. Miskotte, die doch beide auf Rosenzweig sich beziehen? Liegt der Grund dafür, daß Thieme gänzlich unapologetisch schreibt, darin, daß er Laientheologe war?). Bei der Verkündigung der Geburt des Johannes ist der Adressat der Vater, Zacharias, nicht Elisabeth, und der Ort ist der Tempel (Lk 15ff); bei der Verkündigung der Geburt Jesu ist Maria die Adressatin, nicht Josef (dem dann die Engel im Traum erscheinen); der Ort dieser Verkündigung ist „eine Stadt in Galiläa mit Namen Nazareth“ (Lk 126ff). Die einzige Stelle, an der der Name Josefs im Kontext des öffentlichen Wirkens Jesu erscheint, ist die bei dem öffentlichen Auftritt Jesu in Nazareth, wo die Leute fragen: Ist das nicht der Sohn des Josef (Mt: der Sohn des Zimmermanns; Mk: der Zimmermann, der Sohn der Maria). Bei Lk sind es dann die gleichen Leute, die ihn steinigen wollten (Lk 416ff). Greuel der Verwüstung: Wenn Heinsohn/Steiger den Begriff des Privateigentums durch den des Eigentums ersetzt sehen möchten, müßte das nicht Konsequenzen haben im Hinblick auf ihre Stellung zur Politik der Privatisierung von Unternehmen und Einrichtungen der öffentlichen Hand? Oder drückt sich darin nur die Einsicht aus, daß diese „Privatisierung“ in Wirklichkeit keine ist, sondern eine Form der Vergesellschaftung, bei der die Verantwortung ins Funktionale gerückt, und d.h. aufgehoben wird? Seit es in den entscheidenden Bereichen der Wirtschaft keine „Unternehmer“ mehr gibt, deren Tätigkeit durch die „Unternehmensführung“, durch ein Verwaltungsmanagement, ersetzt wurde, handelt nur noch das Wertgesetz als Vollstrecker der Imperative des Marktes. „Verantwortlich“ ist die Geschäftsführung allein den „Eigentümern“, die weder zur Produktion noch zu den Produzenten noch eine Beziehung haben, statt dessen nur noch das eine Interesse, daß die Rechnung stimmt. Das Eigentum, dessen Verwaltung ans Management delegiert wird, ist in der Tat kein Privateigentum mehr, sondern nur noch das Eigentum anderer (die Verschmelzung des Eigentumsbegriffs mit dem Weltbegriff). Die „Privatisierung“ von Betrieben der öffentlichen Hand ist nur ein weiterer Beleg dafür, daß die Politik in wachsendem Maße sich aus der Verantwortung stiehlt, nicht nur immer mehr Aufgaben an die Zwillinge der Multis, die transnationalen Verwaltungen delegiert, sondern zugleich selber zur bloßen Verwaltung der in diesen Formen des Eigentums verkörperten „objektiven“ Interessen (der Imperative des Marktes) degeneriert. Mit der heute sich durchsetzenden Form des Eigentums wird der kantischen Bemerkung, daß die Achtung vor dem Gelde aus der Vorstellung herrührt, was man damit alles machen könne, die Grundlage entzogen: Mit dem Eigentum anderer, einem gleichsam ontologisierten, „harten“ Eigentum, kann man nichts mehr machen: hier wird das Possessivpronomen der männlichen dritten Person singular zum Ausdruck der Universalität des Eigentums der Anderen, zum Äquivalent des Infinitivs „Sein“. Das ist der wirkliche Grund der gegenwärtigen „Sparpolitik“, die ihre apriorischen Objekte am „weichen“ Eigentum derer findet, die ihr Eigentum nur fürs Überleben, nicht aber mehr für seine würdigeren Aufgaben nutzen: als verpfändbares und belastbares Eigentum Grund der Geldschöpfung (oder müßte es „Gelderzeugung“ heißen?) zu sein. Wenn das Weltgericht das Jüngste Gericht ist, dann sind die Eigentümer die Richtenden und die Geretteten zugleich, während die bloß Besitzenden im Fegefeuer sich befinden und die Armen in der Hölle. Gibt es in der Schrift Hinweise auf die Trennung von Besitz und Eigentum, oder ist diese Trennung das Werk der Moderne, Grund der Trennung von Ding und Sache? Gehören zu den Gefühlen der Lust, die Kant zur Grundlage seiner ästhetischen Theorie, seiner Theorie des Schönen, macht, nicht auch die Sexuallust, die Urteilslust und die Mordlust? Bezog sich die Vorstellung, daß zur richtigen Gesellschaft vielleicht auch ein paar Unternehmer als Haustiere gehören könnten, nicht eigentlich auf den Staat, dessen Domestikation immer noch aussteht? Die Welt ist der Inbegriff jener Äußerlichkeit, die im Eigentumsprinzip gründet. Verweist das Wort Einsteins: „Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit; aber beim Universum bin ich mir nicht ganz sicher“, nicht auf einen realen Zusammenhang? Hat die Vorstellung des unendlichen Raumes nicht in der Tat den Grund für eine Dummheit gelegt, von der das Attribut der Unendlichkeit nicht mehr zu trennen ist? Läßt sich das Verhältnis des einen zu den sieben anderen Geistern an dem Verhältnis des Eigentums zu seinen Denominationen demonstrieren? Zur Logik von Kants „Gefühl der Lust“: Die Lustgrenze ist die Feuergrenze (vgl. 1 Joh 216: das Wort von der Fleischeslust, Augenlust und Hoffahrt des Lebens, die nicht vom Vater, sondern von der Welt stammen; außer der Sexuallust gibt es die Urteilslust und die Mordlust, außerdem den Machttrieb). Sind die Planeten Verkörperungen der Lust? Zu den Denominationen der Hegelschen Logik gehören: die Geschichte, die Kunst, die Religion, die Philosophie, das Recht, die Natur, der Geist. Jede Verurteilung gründet in und partizipiert an der Eigentumslogik. Begriffe sind die Duftmarken des Hundes, der Eigentum heißt. Ist es nicht ein tiefer logischer Instinkt, der Hunden die Namen der Caesaren gibt (insbesondere Caesar und Nero)? Paul Celan hat Ende April 1970 in Paris, Jean Amery am 17. Okt. 1978 in Salzburg, Primo Levi am 11. April 1987 in Turin Selbstmord begangen.

  • 7.7.96

    Hat die Eigentumstheorie Heinsohns etwas mit der Erforschung der Tiefen des Satans in der Apokalypse zu tun?
    Zu Prinzip der „Verteidigung des Eigentums“ gehören die Diebstahl- und Einbruchsängste, gehört das Bild einer Wolfswelt, deren Ordnung durch Gewalt sicherzustellen ist, gehören Hunde, während zum Prinzip der Anerkennung des Eigentums eine Welt gehört, die durch gegenseitige Achtung sich bestimmt. Die Ambivalenz des Eigentumsbegriffs gründet in der Dichotomie zwischen mir und dem Andern.
    Der apokalyptische Topos, wonach die Zeit des Antichrist das Gesicht einer Hundes tragen wird, hängt mit Eigentumsbegriff zusammen. Die „Verteidigung des Eigentums“ scheut das Licht, das Eigentum ist etwas, was man (wie die Sexualiät) verbergen muß. Hunde und Skinheads ertragen den Blick des Andern nicht, aber sie koitieren öffentlich.
    Der hündische Zwang, überall Duftmarken zu setzen, scheint etwas mit dem Eigentumsbegriff zu tun zu haben.
    Ist nicht die Eigentumswirtschaft in ihrer praktischen Realität eine Besitzwirtschaft? Die Eigentümer sieht man nicht mehr, sie sind die unsichtbaren Götter. Wer die Verfügungsgewalt über sein Eigentum an andere delegiert, setzt auf deren Komplizenschaft, möchte sich selbst die Hände nicht mehr schmutzig machen.
    Ist das der „Greuel am heiligen Ort“, daß die Eigentümer den Himmel zu ihrem Thron und die Erde zum Schemel ihrer Füße gemacht haben? Und hat nicht das kopernikanische System (mit der Vorstellung des „unendlichen Raumes“) den Himmel, aus dem es den Gott vertrieben hat, zum Thron der Eigentümer gemacht?
    Sind Insekten elektromagnetische Tiere, Inertialsystem-Tiere? Und kann es sein, daß Beelzebub, der „Herr der Fliegen“, etwas mit dem mikrophysikalischen Herrschaftskonzept (mit der atomaren Technik) zu tun hat?
    Gibt es eine Beziehung der Einheit des Reiches in der Geschichte vom Beelzebub mit der Einheit des Ortes, an dem die Wasser sich sammeln sollen.
    In dem Wort von dem „einen Ort“ ist das Eine kein unbestimmter Artikel, sondern eine Zahlbestimmung, und die kabbalistische Anmerkung hierzu ist sprachlich determiniert. Das Mißverständnis rührt daher, daß es, wie es scheint, den unbestimmten Artikel, der ein Subsumtionsverhältnis anzeigt, im Hebräischen (allerdings auch im Griechischen und Lateinischen) nicht gibt. Im Griechischen und Lateinischen gibt es wohl die Beziehung des Einen zum Andern, die aber das Nomen noch unberührt läßt, das erst durch den unbestimmten Artikel in diese Logik mit hereingezogen (und damit zum Substantiv) wird. Das ontologische Prinzip „Unum et verum convertuntur“ begründet (durch die Vermittlung des bonum, das im Eigentumsprinzip gründet) die Herrschaft des Beelzebub.
    Der unbestimmte Artikel reflektiert das Anderssein des Einen, er setzt den Weltbegriff voraus. Ist die Frage nach dem Ursprung des unbestimmten Artikels nicht eine sprachgeschichtliche Schlüsselfrage, mit deren Hilfe die sprachlogische Funktion und der Stellenwert des Neutrum sich bestimmen läßt?
    In allen modernen Sprachen (Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch) gibt es den unbestimmten Artikel (die sprachliche Form der Subsumtionsbeziehung); in all diesen Sprachen konvergiert der unbestimmte Artikel mit dem Begriff des Einen, nur im Englischen ist er davon unterschieden (Unterscheidung von a und one).
    Fundamentalontologie: Das Eigentum ist die metaphysische Wurzel des Besitzes. Ist es nicht eine Funktion des oikos, des Hauses?
    Die Begriffsbildung läuft über das Verfahren der Objektivierung: der Unterwerfung und Beherrschung von Feinden (Modell der Objekte).
    Erst wenn die Theologie sich von ihrem philosophischen Erbe, vom Einverständnis mit dem Tod (mit der Vergangenheit des Vergangenen) befreit, befreit sie sich selber, wird sie aus einer Theologie hinter dem Rücken zu einer Theologie im Angesicht Gottes (werden die Apostel aus dem Schlaf von Getsemane geweckt).
    In folgenden Situationen sind in den Evangelien die drei Apostel Petrus, Jakobus und Johannes mit dabei:
    – bei der Heilung der Schwiegermutter des Petrus (Mk 129 parr),
    – bei der Heilung der Tochter des Synagogenvorstehers (Mk 537 parr),
    – auf dem Berg der Verklärung (Mt 171 parr) und
    – in Getsemane (Mt 2637 parr).
    Diese drei sind nicht identisch mit den von Paulus so genannten „drei Säulen“ (zu denen der „Herrenbruder“ <nach Karl Thieme identisch mit dem „kleinen“ Jakobus, mit Jakobus Alphäus>, nicht der Zebedäussohn Jakobus gehört). Zu Petrus und Johannes vgl. das Johannes-Evangelium (1323, 1815, 202, 217, 2120) sowie Apg (3,4 und 814).
    Welche sprachlogische Funktion haben die Pronomina (Personal-, Demonstrativ-, Frage-, Possessiv-, Reflexiv-, Relativpronomen)? Gibt es eine sprachlogische/sprachgeschichtliche Beziehung zu den Affixen?

  • 30.6.96

    „Unverhofftes Wiedersehen“: Ist meine Rückkehr zu den Problemen der Nachkriegszeit nach der beruflichen Latenzzeit nicht wie ein Auftauchen in einer Welt, die inzwischen eine ganz andere geworden ist? Und ist eine Lösung der alten Probleme ohne die Reflexion der veränderten Voraussetzungen überhaupt möglich? – Merkwürdige Erfahrung bei der Lektüre der Aufsätze von Karl Thieme in dem Band „Gott in der Geschichte“. Das Buch hätte heute so nicht mehr geschrieben werden können, aber heißt das nicht auch, daß Einsichten, die dieses Buch enthält, heute nicht mehr (oder fast nicht mehr?) möglich sind?
    Organische Entwicklung: Es gibt einen Darwinismus der Technik und einen Darwinismus der Ökonomie. Beide gründen in einem in der Sache sich reflektierenden und reproduzierenden Selbsterhaltungstrieb. Ist nicht das Auto das Totem der Moderne, und ist der Menschensohn das Gegenstück zum Autosohn?
    Die Kritik des Urteils rührt an das mysterium iniquitatis. Die Hypostasierung des Urteils ersetzt die Erkenntnis der Dummheit durch die Verurteilung, transformiert die Dummheit in Bosheit. Den Bösen kann man nicht ändern, man kann ihn nur „abschaffen“, während man die Dummheit bekämpfen kann.
    Das Jesus-Wort „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet“ ist eine Aktualisierung des prophetischen Worts „Mein ist die Rache, spricht der Herr“.
    Beitrag zur Lehre von der Auferstehung: Der Fundamentalismus will die Vergangenheit konservieren, weil er an ihrer Rettung verzweifelt.
    War meine These, die Philosophie sei der Corpus Christi mysticum, eigentlich so weit von Thiemes These, daß die Kirche das Subjekt der Geschichte ist, entfernt?
    Als Schrift ist die Prophetie überzeitlich (und korrespondiert dem Kreuzestod), als Wort ist sie ewig (und korrespondiert Seiner Wiederkunft).
    Wer das Vergangene nur verurteilt, verhält sich strategisch, er will das ausblenden, dessen Erbe er ist. Wer die Vergangenheit verurteilt, wird zu ihrem Opfer, verstrickt sich in sie.
    Wer heute sagt, daß er das Entsetzen nicht konservieren wolle, ist ein Erbe der Opfertheologie, die den Kreuzestod, indem sie das Erschrecken verdrängt, konserviert. Gerade wer den Schrecken nicht konservieren will, konserviert ihn.
    Die subjektiven Formen der Anschauung sind das Säkularisationsprodukt der lutherischen Rechtfertigungslehre. Sie begründen und stabilisieren den Schuldzusammenhang, indem sie ihn ausblenden. In diesem Akt des Ausblendens konstituiert sich die Natur.
    Hat nicht das Buch Jona den Effekt der subjektiven Formen der Anschauung auf den einfachsten Nenner gebracht: das Nicht-unterscheiden-Können von Rechts und Links.
    Nach der Sintflut setzte Gott den Bogen in die Wolken; mit welcher Begründung?
    – „Dann sprach Gott zu Noah und zu seinen Söhnen, die bei ihm waren: Ich aber, siehe, ich richte einen Bund auf mit euch und euren Nachkommen und mit allen lebenden Wesen, die bei euch sind, Vögeln, Vieh und allem Wild des Feldes bei euch, mit allen, die aus der Arche gekommen sind.
    – Ich will einen Bund mit euch aufrichten, daß niemals wieder alles Fleisch von den Wassern der Sintflut soll ausgerottet werden und niemals wieder eine Sintflut kommen soll, die Erde zu verderben.
    – Und Gott sprach: Dies ist das Zeichen des Bundes, den ich stifte zwischen mir und euch und allen Lebewesen, die bei euch sind, auf ewige Zeiten: meinen Bogen stelle ich in die Wolken; der soll ein Bundeszeichen sein zwischen mir und der Erde. Wenn ich nur Wolken häufe ob der Erde und sich der Bogen in den Wolken zeigt, dann will ich des Bundes gedenken, der da besteht zwischen mir und euch und allen lebenden Wesen, und niemals wieder sollen die Wasser zu einer Sintflut werden, die alles Fleisch verderbe. Und wenn der Bogen in den Wolken steht, will ich ihn ansehen, um des ewigen Bundes zu gedenken zwischen Gott und allen lebenden Wesen, die auf Erden sind.
    – Und Gott sprach zu Noah: Dies ist das Zeichen des Bundes, den ich aufrichte zwischen mir und allem Fleisch, das auf Erden ist. (Gen 98-17)
    Die Anmaßung des Richtenden drückt sich aus in dem Satz: Das wirst du mir büßen.
    Kritik des Begriffs der Buße: Der Begriff der Buße gründet im Begriff der Umkehr. Er wäre zu konkretisieren am Magnificat: Gewaltige stürzt er vom Throne und erhöht Niedrige.

  • 29.6.96

    Karl Thieme zufolge war das Konzil von Trient das Konzil der Privatisierung des Glaubens (Gott und die Geschichte, Herder Freiburg 1948, S. 160ff, vgl. hierzu insbesondere S. 175, 191), mit folgender bemerkenswerten Konsequenz: „Anders als die Frage nach dem Verhältnis von geistlicher und weltlicher Obrigkeit, die seit dem Ende des ‚Mittelalters‘ suspendiert ist …, ist … der große Kampf zwischen Episkopalismus und Papalismus zugunsten des letzteren entschieden worden, … zur restlosen freiwilligen Unterwerfung … dann 1870 …“ (S. 196). So der „universalhistorisch orientierte Laien-Theologe“ (S. 195), als den er sich selbst bezeichnet.
    Der Himmel ist Sein Thron, die Erde der Schemel Seiner Füße: Gott, nicht dem Staat, gehört das Land. Deshalb ist das Territorialprinzip (cujus regio ejus religio) der Keim des Totalitarismus (vgl. das Burckhardt-Zitat bei Thieme, S. 155).
    Karl Thieme verweist auf die Differenz zwischen Phil 210 und Kol 120, auf das „nicht zufällige Fehlen der ‚Unterirdischen’“ an der letzteren Stelle (S. 137): Die „unter der Erde“ beugen auch ihr Knie, haben aber keinen Anteil an der Versöhnung. Die Unterirdischen, das sind die im hades, in der scheol, im Totenreich: Reicht dieses Totenreich nicht in unsere Erfahrungswelt hinein: mit der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, mit dem Trägheitsprinzip, mit dem durch die subjektiven Formen der Anschauung definierten Reich der Erscheinungen?
    Ist der Schlüssel Petri nicht sowohl der Schlüssel zum Abgrund (zu den „Pforten der Hölle“) wie auch der zum Himmel, und das kopernikanische System der Totenkopf des kosmos?
    Das Ich denke begleitet nicht nur alle meine Vorstellungen, es ist das Formgesetz ihrer Erscheinung. Im Begriff der Erscheinung steckt als sein Apriori der Adressat mit drin: Was erscheint, muß jemandem erscheinen. Deshalb gehört zur transzendentalen Logik die transzendentale Ästhetik, die diesen Adressaten repräsentiert. Ist nicht das „Fest der Erscheinung des Herrn“ der Namenstag jeglicher Phänomenologie von Lambert über Hegel bis Husserl?
    Alle meine Vorstellungen: Das ist der Inhalt des Unzuchtsbechers.
    Aufgrund welcher Logik erscheinen Firmenbeziehungen im Bilde der Mutter-Tochter-Beziehung? Ist die juristische Peron weiblich?
    War das der Hintergrund der „Venus-Katastrophe“, die eine gesellschaftliche Naturkatastrophe war: War die Tempelwirtschaft die mythische Vorform der kapitalistischen Wirtschaftsorganisation, der Ischtar/Astarte-Kult die Ursprungsgestalt der juristischen Person, die weiblich war? Zu dieser Logik, die mit der Praxis der Schuldknechtschaft sich entfaltet hat, würde der hieros gamos wie auch das Bild vom Kinder-fressenden Moloch passen.

  • 24.6.96

    Bundeswehr: Die Schule der Nation ist die Schule der Gemeinheit. Deshalb braucht sie einen besonderen Ehrenschutz.
    Gibt es unter dem Apriori der Bemessung des Lohnes nach der Arbeitszeit überhaupt so etwas wie einen „gerechten Lohn“?
    Schnittblumen: Ist es nicht das Schematismus-Kapitel, das, indem es das Verfahren angibt, mit dem den Begriffen Inhalt verliehen wird, die Begriffe von ihrer Wurzel trennt und reversibel macht? Nur Namen sind nicht reversibel. Das Verhältnis des Begriffs zum Namen ist das der Unterdrückung und Ausbeutung: ein Herrschaftsverhältnis.
    Spiegeln sich nicht die realen Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse in den sprachlichen? Und schließt nicht die Gotteserkenntnis die Kritik dieser Herrschaftsverhältnisse, der realen wie der symbolischen, mit ein? Ist der Sprachkosmos die Seele des realen Kosmos?
    Der Satz, daß sich Leistung wieder lohnen muß, bezieht sich auf das Geld, das „arbeitet“ und dessen Leistung sich wieder lohnen soll, und nicht auf reale Leistungen. Sonst müßte es auf Krankenschwestern, Müllwerker, Bergarbeiter u.ä. sich beziehen.
    War nicht die in den beiden Weltkriegen entfesselte Gewalt rechtssetzende Gewalt, Teil eines Modernisierungsschubs? Wird nicht heute die Verletzung von Menschenrechten mit der Würde des Rechtsstaats begründet?
    Der Name, das Angesicht und das Feuer:
    Grundlage einer Theorie des Namens wäre die Kritik der Theologie (der Bekenntnislogik),
    Grundlage einer Theorie des Angesichts wäre die Kritik der Natursissenschaften (des Inertialsystems) und
    Grundlage einer Theorie des Feuers die Kritik der politischen Ökonomie (des Geldes).
    Hat nicht Heideggers „Vorlaufen in den Tod“ etwas mit dem apokalyptischen Hinweis zu tun, daß es eine Zeit geben wird, in der die Menschen den Tod suchen und ihn nicht finden werden?
    Welcher christliche Junge hat nicht aus der Potiphar-Geschichte die Lehre gezogen: Vor Weibern muß man sich hüten. Wie ist diese Geschichte von Mädchen erfahren worden?
    Gehört nicht die Sentimentalität der Josephs-Geschichte (seine Brüder verachteten und haßten ihn, aber er hat nach seiner Karriere im Ausland ihnen am Ende großzügig verziehen und geholfen) zur Vorgeschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos?
    Liegt nicht der Grund dafür, daß wir geneigt sind, die Schrift als Sammlung von Vorschriften, als Handlungsanweisung und nicht als Erkenntnishilfe, zu nutzen, in der Bedeutung, die die Sexualmoral im Christentum gewonnen hat, über deren Reflexion ein Tabu liegt, seit sie von der politischen Moral abgetrennt wurde? Hat nicht der evangelische Rat der Keuschheit sowohl mit dem Feuer (das er vom Himmel holen wollte, und von dem er wollte, es brennte schon) als auch mit der politischen Ökonomie etwas zu tun? Ist nicht unser Verständnis der evangelischen Räte insgesamt das Produkt einer vollständigen Verwirrung?
    Rechtfertigungszwang: Hat nicht die christliche Theologie seit je die Schrift als Projektionsfolie zur eigenen Entlastung genutzt (auch eine Form der Instrumentalisierung, die sich der Erkenntnis in den Wege stellt)?
    Ist nicht der Jakobusbrief die offene Tür, der Beweis, daß die Pforten der Hölle die Kirche nicht überwältigen werden?
    Karl Thieme hat in der Gestalt des Lazarus einen Typus der Juden gesehen (sein Verständnis der Erweckung des Lazarus gründet darin). Was bedeutet das für die Geschichte vom armen Lazarus: sind dann nicht die Reichen ein Typus der Kirche (und würde der Hinweis auf Moses und die Propheten damit nicht deutlicher)? Hat die Geschichte vom armen Lazarus (dessen Wunden die Hunde belecken) etwas mit der rabbinischen Geschichte vom Messias, der als Bettler vor den Toren Roms sitzt (und die Verbände seiner Wunden einzeln öffnet und erneuert), zu tun?
    Ist nicht die transzendentale Logik Kants, die unterm Apriori der subjektiven Formen der Anschauung steht, die Entfaltung des Satzes: Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren? Die Heiligen sind nicht nackt, sondern bekleidet (nur daß die „weißen Kleider“ gegen die Ariel-Reklame nicht mehr ankommen); nackt war nur der Gekreuzigte.
    Hat nicht der Reinlichkeitszwang, der (zusammen mit dem Tabu über dem Tod) ein Grundprinzip jeder Reklame ist, etwas mit den Rechtfertigungszwängen, unter denen wir stehen, zu tun?
    Baum der Erkenntnis: Welche logischen Beziehungen gibt es zwischen der transzendentalen Logik, dem Begriff der Erscheinungen, den sie begründet, und der Sexualmoral? Wird nicht das Reich der Erscheinungen, das Gesamt der „nackten Tatsachen“, durch die gleiche Schamgrenze definiert (von den Dingen, wie sie an sich sind, getrennt), die der Sexualmoral ihre logische Konsistenz verleiht (und die zugleich die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem definiert)? Und verschiebt nicht die transzendentale Logik (oder genauer: die transzendentale Ästhetik, die subjektiven Formen der Anschauung, die die Dinge gleichsam entkleiden) diese Schamgrenze vom Handeln ins Objekt, das den Begriff als Feigenblatt zur Bedeckung seiner Scham auf sich zieht? Ist die transzendentale Logik die instrumentalisierte Heuchelei, der säkularisierte Pharisäismus?
    War nicht die Sexualmoral ein Instrument der Konstituierung und Legitimierung des naturbeherrschenden Subjekts, damit ein Instrument der Herrschaftsgeschichte überhaupt? Sie hat die Mächte der Verurteilung (des „strengen Gerichts“) auf den Weg gebracht und die der Empathie (der „Barmherzigkeit“) unterminiert.
    Sind die sieben Völker Kanaans der Typus der Bourgeoisie, die Ursprungsgestalt der sieben unreinen Geister?

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