Veerkamp

  • 22.12.1996

    Die Barmherzigkeit, die ins Herz der Menschen sieht, deckt eine Menge Sünden zu: Sie macht sie nicht ungeschehen, und sie vergibt die Sünden nicht, sie „nimmt sie auf sich“, sie erkennt in der Sünde des Andern die eigene Schuld und bekennt sie. Darin liegt die Hoffnung der Bekehrung des Sünders, in der die Rettung der eigenen Seele beschlossen ist. Bezieht sich hierauf das Wort vom Binden und Lösen? Was sind die Wege des Irrtums?
    Wege des Irrtums: Käme es nicht darauf an, die Planetenbahnen als sprachlogische Bahnen zu begreifen? In diesem Zusammenhang bekäme auch der Satz: „Wir haben seinen Stern gesehen“, Sinn.
    Modell des Verurteilten ist das Objekt, und das Objekt ist das Grab der Sprache (die subjektiven Formen der Anschauung sind das Kreuz und der Stein, der das Grab verschließt, und der die Sorge Maria Magdalenas war, als sie zum Grab ging, um den Toten zu salben). Sind nicht die Begriffe Denkmäler der Namen auf dem Grab (oder auch das Reich der armen Seelen der abgestorbenen Sprache)?
    Durch die Opfertheologie ist das Christentum wieder zu einer Naturreligion geworden.
    Die Opfertheologie ist der Kern der Bekenntnislogik und der Grund ihrer Ambivalenz: Sie ist offen für die Identifikation mit dem Opfer als auch für die Identifikation mit den Verfolgern, den Tätern. Sie ist offen für die Barmherzigkeit und für ihre Instrumentalisierung durch die Welt und den Staat.
    Nach der Märtyrerzeit, mit der geschlechtsspezifischen Trennung der Heiligengestalten in Confessor und Virgo, ist die Ambivalenz der Bekenntnislogik durch Anwendung auf die Geschlechtertrennung nur neutralisiert, nicht aufgehoben worden. Die Männer haben die Bekenntnisreligion in Regie genommen, die Frauen sind fromm geworden.
    Wie lautet Apg 139 „Saulus aber, der auch Paulus heißt, blickte ihn an, erfüllt mit dem heiligen Geist, und sprach …“ im Griechischen? – „Saulos de, ho kai Paulos, plästheis pneumatos hagiou atenisas eis auton eipen …“
    Hat die Geschichte von den sieben unreinen Geistern etwas mit der Zahl 666 zu tun? Ist es der gleiche Mensch, den der eine unreine Geist verläßt, um dann mit sieben weiteren unreinen Geistern zurückzukehren: „und die letzten Dinge dieses Menschen werden ärger sein als die ersten“, von dem es dann heißt: „… sie ist die Zahl eines Menschen; seine Zahl ist 666“?
    Für die Christen war Rom Babylon, für die Juden Edom (mit der Folge, daß „die Könige, die im Lande Edom regiert haben, ehe ein König regierte in Israel“ aus Gen 3631ff Gegenstand der jüdischen Mystik geworden sind): Was drückt in dieser Differenz sich aus (Herodes war ein Idumäer, Pilatus war der Statthalter Roms; Herodes hat Johannes enthaupten lassen, Pilatus hat die Rebellen, unter ihnen auch Jesus, gekreuzigt – und Paulus war bei der Steinigung des Stephanus anwesend; zu den messianischen Titeln Jesu gehört neben dem des Gottessohns und dem des Menschensohns auch der des Sohnes Davids)?
    Ton Veerkamp weist gelegentlich darauf hin, daß es im Hebräischen das Verb „haben“ nicht gibt. Es wird hier ersetzt durch eine Dativ-Konstruktion, entsprechend dem hessischen „das ist mir“. Hat das „gehören“, das wir an die Stelle des „ist“ setzen würden, etwas mit dem Gehorsam zu tun: Ist der Gehorsam die Tugend dessen, der einem andern „gehört“?
    Haben und Sein: Das „haben“ bezeichnet neben dem Besitz auch das Perfekt, die vollendete Vergangenheit: Ist die Übersetzung ins Perfekt, ins Vergangene, die das Inertialsystem an den Dingen vollzieht (und deren Vorform die indoeuropäische Form des Perfekt ist, die Bindung der Konjugation an die Zeit), ihre Übersetzung in ein potentielles Besitzverhältnis? Und gründet darin die sprachliche Beziehung des Infinitivs „Sein“ zum Possessivpronomen der dritten Person singular männlich (sein)? Ist das Sein ein in die Potentialität zurückgedrängtes Haben?
    Strafrecht: Durch das Urteil und die daraus abgeleitete Strafe gewinnt der Staat ein Besitzrecht an dem Verurteilten. Der Ursprung der Knäste liegt in dem Institut der Schuldknechtschaft, mit der das Geld die ganze Welt überzieht, sie zur Welt macht.

  • 20.12.1996

    Der Satz, daß Gott ins Herz der Menschen sieht, ist identisch mit dem andern, daß er barmherzig ist.
    „Der Sinn ‚Gottes‘ ist die solidarische Gesellschaft“ (Ton Veerkamp, S. 99): Aber schließt das nicht auch die Vergangenheit mit ein: die Solidarität mit den Toten? Gilt nicht Horkheimers Satz immer noch: Wie kann auf diesem riesigen Leichenberg, auf dem wir leben, je eine richtige Gesellschaft errichtet werden?
    Nach Jer 423 entspricht der Erde das tohuwabohu, dem Himmel die Finsternis über dem Abgrund. Licht und Finsternis sind wie Wasser und Feuer Kategorien des Himmels, Kategorien der Reflexion des Himmels im Medium der Sprache. Im Kontext der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gibt es die Unterscheidung zwischen Licht und Finsternis nicht mehr. „Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 514, vgl. Joh 812).
    Erinnert nicht Ton Veerkamps Begriff der Weltordnung an den Habermas’schen „herrschaftsfreien Diskurs“? Es ist nicht nur eine Sache der freien Entscheidung, ob man sich für eine andere Weltordnung oder für den herrschaftsfreien Diskurs einsetzt. Es gibt neben der bestehenden Welt keine andere Weltordnung, die nicht durch die Reflexion dieser bestehenden Welt vermittelt wäre, und ebenso gibt es keinen herrschaftsfreien Diskurs, der nicht der Reflexion von Herrschaft bedürfte, um den Diskurs aus dem Bann der Herrschaft zu lösen.
    Mit der Marx’schen Kritik des deutschen Idealismus ist der Geist nicht erledigt. Marx hat Hegel nicht in dem Sinne widerlegt, daß man sich danach nicht mehr mit ihm zu befassen brauche. Er hat ihn „vom Kopf auf die Füße gestellt“: Seine Kritik war ein Akt der Umkehr.
    Der Weltbegriff ist der Inbegriff einer Eigentumsordnung, die vom individuellen Eigentümer abstrahiert, und deren Urheber der Staat, das Organisationsprinzip einer Gesellschaft von Privateigentümern, ist.
    Was ihr auf Erden lösen werdet, wird auch im Himmel gelöst sein: Hat das nicht etwas mit der Welt zu tun, mit dem Knoten, den Alexander nur durchschlagen, nicht gelöst hat?
    Die Welt ist der Inbegriff einer apriorischen Logik, die uns die Erfahrung abnimmt.
    Wenn der Ursprung des Weltbegriffs zivilisationsbegründend war, dann war Auschwitz der Zivilisationsbruch, in dem die Welt untergegangen ist.
    Verstand und Einsicht: Während die Einsicht auf die Erkenntnis des Herzens, des Organs der Barmherzigkeit, sich bezieht, bezieht sich der Verstand auf das Auge, das Organ des Urteils, des Gerichts.
    Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren: Als sie erkannten, daß sie nackt waren, haben sie gelernt, sich in den Augen der Andern wahrzunehmen. Dagegen steht der Satz, daß Gott ins Herz der Menschen sieht (auch dieser Satz steht im Imperativ, nicht im Indikativ).
    Das „Bedecken der Sünde“ hat etwas mit der Vergangenheit und mit der „Erinnerungsarbeit“ zu tun: mit der öffentlichen Reflexion der Kräfte der Vergangenheit, die so ihre anwachsend nachtragende Macht über uns verlieren, deren Bann über uns nur so gebrochen werden kann. Die Sünde ist dieser Bann, der das Licht der Reflexion nicht aushält, nicht erträgt.
    Läßt der „Zentralbank-Kult“ (Edward Luttwak in Lettre Nr. 35, IV/96, S. 8ff) als ein zwangslogischer Versuch, das kopernikanische System politisch-ökonomisch nachzubilden, sich verstehen? Die Finsternis über dem Abgrund ist das gesellschaftliche Äquivalent des kosmischen tohuwabohu.
    Hegels logische Korrespondenz von Ich und Ding läßt sich näher bestimmen, wenn man das Ding als Ware begreift und das Ich als Reflexionsform der Warenform.

  • 19.12.1996

    Objekte sind ausländisch: Jede Landesgrenze ist eine Verurteilungs- und Schuldgremze.
    Ton Veerkamp: Der erste Johannesbrief (TuK Nr 71/72):
    – „Raffgier“ (S. 45) antisemitisch?
    – Sprache und Inertialsystem: Ist die Sprache Bubers (und in der Folge die Ton Veerkamps) nicht eine Konsequenz aus der Anerkennung der Herrschaftslogik, die vom Inertialsystem nicht zu trennen ist? Folge: Unschuldstrieb (nicht Sünde, sondern Schuld – „Verfehlung“, „sich daneben benehmen“ (S. 65) – als Maßstab)
    . „Huld“/Barmherzigkeit (s.o.); „Bewährung“/Gerechtigkeit; „Weltordnung“/Welt; „Solidarität“/Liebe,
    . 68er Desiderat: affirmativer Gebrauch des Begriffs der Ideologie („falsches Bewußtsein“ nicht reflektiv, sondern nur als Waffe),
    . „klare politische Linie“, „unbedingte Ablehnung“, „kompromißlos“ (S. 66/88),
    . „wie ‚Gott‘ geschieht“ (vgl. „wie Gott funktioniert“ – in: Vernichtung des Baal): Ästhetisierung/Historisierung,
    . Tribut gezollt (nicht „gewährt“, S. 91): Tribut nur im „Ausland“, in unterworfenen Völkern, Einfuhrzoll für das Recht der Existenz unter der Besatzungsmacht,
    . „Bekenntnis zu“ (S. 85), Problem der Bekenntnislogik (dagegen: Bekenntnis des Namens),
    . Opfertheologie: „barbarischer Unsinn“ (S. 75) – reflektieren, nicht verdammen; Verurteilung, Feindbildlogik und Xenophobie („barbarisch“),
    . „Inspiration“/Geist: daß mit der Marx’schen Widerlegung der idealistischen Systeme der Name des Geistes obsolet geworden ist, ist wahr und unwahr zugleich.
    – Problemkreis Antichrist/Apokalypse/Antijudaismus (S. 52)?
    Verweist der Übergang vom hebräischen Satan auf den griechischen diabolos nicht auf einen Fortschritt, liegt dazwischen nicht der Weltbegriff, verweist die logische Figur des diabolos nicht darauf, daß das Satanische, das Prinzip der Anklage (der Verurteilung), in die Struktur der Welt mit eingegangen ist, ja eigentlich sie begründet? Deshalb gibt es im NT (und in der Folge davon in den Weltreligionen) Dämonen. Die Idee der creatio mundi ex nihilo ersetzt die Schöpfung durch einen Abstraktionsprozeß.
    Ton Veerkamps Begriff der „Weltordnung“ macht etwas deutlicher, aber zugleich verwischt es auch etwas. Es ersetzt die im Anblick von Rom notwendige Kraft der Reflexion (des Weltbegriffs) durch ein praktikables Feindbild. Auch diese Vergangenheit ist nicht vergangen. Wer seinen Hegel kennt, weiß, daß Begriffs- und Herrschaftsgeschichte so mit einander verflochten sind, daß sich das eine vom andern nicht mehr ablösen läßt. Die Größe der Gefahr, die Rom verkörpert, wird erst sichtbar im Licht des Weltbegriffs. Der Begriff der „Weltordnung“, der diese Gefahr zum Feindbild verdichtet, ist schon Produkt einer Verharmlosung.
    Wird nicht, wenn man den Namen der Liebe durch den Begriff der Solidarität ersetzt, das Entscheidende herausdefiniert? Solidarität steht schon unter dem Gesetz der Instrumentalisierung (Liebe ist auch instrumentalisierbar: dagegen richtet sich der Rat der Keuschheit).
    Steckt nicht in der Praxis der Geldschöpfung, der Kreditschöpfung durch die Banken ein astronomiekritisches Potential (Grund der Beziehung des Begriffs der creatio mundi ex nihilo zur Ursprungsgeschichte des Staates, zur Ursprungsgeschichte des Gewaltmonopols des Staates)?
    Die Idee der Barmherzigkeit enthält das Potential einer Kritik der Transzendentalphilosophie, sie vermag insbesondere die Stellung und Bedeutung der transzendentalen Ästhetik in der Transzendentalphilosophie endgültig aufzuklären. Die Sprengung des Begriffs gründet in der Sprengung der ästhetischen Grundlagen des Begriffs (in der Beziehung des Begriffs zu den Formen der Anschauung, der Schaubühne unserer subjektiven Vorstellungen, unserer Vorstellungen von Natur und Geschichte).
    Gründet nicht die politische Theologie in der Unfähigkeit zur Reflexion des Urteils (in der Vertauschung und Verwechslung von Subjekt und Prädikat), und verbindet das nicht deren gegenwärtige Verkörperungen mit ihrer Ursprungsgestalt in der politischen Theologie Carl Schmitts? Gilt das Freund-Feind-Paradigma nicht auch für die nachfolgenden (nachfaschistischen) Konstrukte? Das Problem der politischen Theologie gleicht dem der naturwissenschaftlichen Astronomie: Sie macht das Ungleichnamige gleichnamig, indem sie die Sphäre der Herrschaft mit der theologischen in eins setzt. Sie rührt an das Problem, das Derrida fast schon denunziatorisch an Benjamins „Kritik der Gewalt“ glaubte gesehen zu haben: an das Problem der Ununterscheidbarkeit des Holocaust von der göttlichen Gewalt.
    DIE BANK GEWINNT IMMER: Es gibt keine Chance, mit politischen Mitteln die Beziehung von oben und unten umzukehren; man kann nur die Personen austauschen, aber nicht die Strukturen ändern: und das hilft nicht viel. Die Beziehung von oben und unten unterscheidet sich von den anderen Richtungsbeziehungen dadurch, daß sie irreversibel ist. Die einzige Chance benennt Jakobus: Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht. Der Name der Barmherzigkeit aber ist der des Geistes.
    Die Folgen der Ersetzung des Begriffs der Gerechtigkeit durch den der Bewährung, der ihn in einen autoritären Grund verpflanzt, läßt sich an dem Satz Horkheimers prüfen: Ein Richter, der in einen Angeklagten nicht mehr sich hineinversetzen kann, kann kein gerechtes Urteil mehr fällen. Wer den Begriff der Gerechtigkeit durch den der Bewährung ersetzt, begibt sich der Möglichkeit der Rechtskritik (die zu den zentralen Gegenständen der Prophetie gehört). Er kann Recht und Gerechtigkeit (Links und Rechts) nicht mehr unterscheiden.

  • 17.12.1996

    Wie der Tempel im Anfang das Haus des Namens war (und dann deutlich vom Haus des Herrn und vom Haus Gottes sich unterscheidet), war auch das Bekenntnis zunächst das Bekenntnis des Namens. Darin war die Beziehung zur Anrufung des Namens, eine Sprachbeziehung, enthalten, die durch die Reflexionsbeziehung zur Schuld, zum Schuldbekenntnis, die mit dem Begriff confessio/Bekenntnis mit gesetzt ist, reversibel gemacht wird, damit aber den Namen löscht (die Beziehung, die im Bekenntnis des Namens sich ausdrückt, ist als eine reine Sprachbeziehung irreversibel – diese Irreversibilität wird, nachdem sie durch die Zeit usurpiert worden ist <durch Subsumtion unter die Zeit>, im Begriff, dem dann ein Objekt korrespondieren muß, neutralisiert: Hat nicht die Kirche im Symbolum das Bekenntnis des Namens durch das Glaubensbekenntnis und dann mit der Eucharistieverehrung den Namen durch die dingliche Gegenwart ersetzt?).
    Liegt nicht ein Problem Rosenzweigs im Begriff der Offenbarung im Übergang von der Liebe Gottes zum Schuldbekenntnis der Seele, müßte hier nicht die Gottesfurcht stehen?
    Das Gesetz der Reversibilität (in dem der Schuldbegriff gründet) wird durch die subjektiven Formen der Anschauung in die Sprache hineingebracht. Die subjektiven Formen der Anschauung (der Taumelkelch) haben die Sprache instrumentalisierbar gemacht. Sie verwirren die erkennende Kraft des Namens, ohne sie jedoch löschen zu können; sie sind die „Pforten der Hölle“, die die Kirche (und die in ihr aufbewahrte Kraft des Namens) nicht überwältigen werden.
    Der Name ist das Herz der Sprache. Aber was sind die „Nieren“ der Sprache? (Sind die Nieren nach innen, was das Herz nach außen ist?)
    Jedem Urteil liegt eine Verurteilung zugrunde: Ist diese Verurteilung das Feuer im brennenden Dornbusch?
    Im Hogefeld-Prozeß war das Weltgericht in Aktion zu sehen.
    Wenn Sehen Urteilen ist, dann ist Augenlust Urteilslust (und nicht – so Ton Veerkamp – „Raffgier der Augen“). Sollte nicht der antisemitische Sprachgebrauch, der das jüdische „raffende“ Kapital dem arischen „schaffenden“ Kapital gegenüberstellte, vor dieser Wortwahl schrecken?
    Zur Buberschen „Huld“: Unterscheidet sich nicht die „Huld“ von der Barmherzigkeit sowohl theoretisch wie auch praktisch? Huld ist eine Form der Anerkennung des Knechts durch den „gnädigen Herrn“, die die Herrschaftsbeziehung nicht antastet, sie bleibt eindimensional und im Bann dieser Herrschaftsbeziehung: Der Knecht „huldigt“ seinem Herrn, während der Herr dem Knecht „Huld erweist“, die er ihm sofort entziehen würde, wenn der Knecht versuchen würde, aus dieser Herrschafts- und Huldbeziehung auszubrechen. Huld ist herrschaftsstabilisierend. Von der Barmherzigkeit hingegen heißt es: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater in den Himmeln barmherzig ist“. Barmherzigkeit ist eine im Kern theologische Kategorie, ihre Bedeutung und ihre erkenntnisaufschließende Kraft ist nur in theologischem Zusammenhang zu begründen und zu entfalten; Barmherzigkeit gehört zu den Attributen Gottes, von denen Emanuel Levinas einmal gesagt hat, daß sie im Imperativ, nicht im Indikativ stehen (das Bekenntnis ist die öffentliche Manifestation des Hörens dieses Imperativs). In dem Jakobus-Wort „Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht“ drückt aufs genaueste der subversive, herrschaftskritische Charakter dieses theologischen Begriffs (und in ihm jeder Theologie, die diesen Namen verdient) sich aus. Barmherzigkeit ist das Gegenteil einer Herrentugend: Bis heute gibt es keine Gestalt der Herrschaft, die nicht, um für ihre Aufgaben sich zu qualifizieren, die Barmherzigkeit, die Fähigkeit, in andere sich hineinzuversetzen, in sich unterdrücken und verdrängen muß. Deshalb gibt es bis heute keine Gestalt der Herrschaft, die nicht für das, was sie sich selbst antun muß, für ihre Verhärtung, den Preis zu zahlen hätte: den der Verblendung, der Erfahrungs- und Wahrnehmungsunfähigkeit. Nur bei ihrer Dummheit (und d.h. nur durch den Geist, dessen erkennende Kraft in der Barmherzigkeit oder, was damit identisch ist, in der erkennenden Kraft des Namens gründet) ist Herrschaft angreifbar. Barmherzigkeit als die jedes Herrendenken sprengende Kraft ist der Kern der Solidarität, die einzige Chance, auch unten den Kopf oben zu behalten. – Wenn Gott die Propheten im Mutterschoß berufen hat, hat er sie dann nicht in der Barmherzigkeit, die der Mutterschoß der Sprache ist, berufen?
    Die Barmherzigkeit bringt Licht in den blinden Fleck der Logik, sie sprengt den Begriff durch die erkennende Kraft des Namens.
    Gegen Unbarmherzige ist die Barmherzigkeit unbarmherzig: Das Hegel’sche Weltgericht ist nicht das Jüngste Gericht, vielmehr wäre das Jüngste Gericht das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht.

  • 16.12.1996

    „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“: Die Bekenntnislogik war das Instrument der Auflösung des Naturbegriffs durch eine Zwangsreflexion, die durch die Opfertheologie (und durch die Geschichte des Weltbegriffs, in der diese gründet) vermittelt ist. Die Bekenntnislogik reflektiert einen Bekenntnisbegriff, der seinem Ursprung im Schuldbekenntnis hat, aus ihm durch ihm durch eine systematische logische Umkehrung hervorgegangen ist (sic, B.H.). In der Bekenntnislogik wird das Schuldbekenntnis, das auf die Fähigkeit zur Schuldreflexion als Selbstreflexion sich gründet, zum Fremdbekenntnis, zum Schuldverschubsystem, zu einem systematischen Instrument der Abwehr, Verschiebung und Projektion. Es ist die gleiche Umkehr, die bei Kant das Verhältnis von reflektierendem und bestimmendem Urteil in der Sache bestimmt (das Instrument dieser Umkehr ist die transzendentale Ästhetik, sind die subjektiven Formen der Anschauung und in ihnen die durch Orthogonalität und Reversibilität definierten Beziehungen der Richtungen im Raum, die das Ungleichnamige gleichnamig machen). Zu den Wirkungen der Bekenntnislogik (aus denen ihre Ursprungsgeschichte sich ablesen läßt) gehört die Selbstzerstörung der an die Sprache gebundenen Sensibilität, die sie durch Empfindlichkeit ersetzt. Die Empfindlichkeit (die insgesamt pathologisch ist) gründet im Rechtfertigungszwang, der selber als Umkehrung der Fähigkeit zur Schuldreflexion, als Produkt der Verdrängung und Unterdrückung dieser Fähigkeit, sich begreifen läßt. Im Kontext dieses Rechtfertigungszwangs gründet eine Logik, unter deren Bann die Differenz zwischen Verstehen und Verzeihen sich verwischt, unkenntlich wird: die Logik der Verurteilung (die dem Satz „Alles verstehen heißt alles verzeihen“ zugrundeliegt). So bleibt Auschwitz unter moralischem Apriori „unverständlich“, während das, was hier geschehen ist, ohne daß das an dem Urteil über das Grauenhafte etwas ändert, unter den Prämissen der Schuldreflexion (die durch den Weltbegriff außer Kraft gesetzt werden) sehr wohl sich verstehen läßt.
    (Hierzu:
    – Verurteilung des Nationalsozialismus ohne Reflexion des Schreckens nicht möglich;
    – Reflexion des Schreckens und Reflexion der subjektiven Formen der Anschauung;
    – Schuldverschubsystem, „Entsühnung der Welt“, Entlastung und Enthemmung, das Problem des Strafrechts und die Ohrenbeichte, Kirche und Staat als Produkte der Vergesellschaftung des Opfers und der Rache;
    – das Dogma, die Orthodoxie, das Geld, das Inertialsystem und die Logik der Verurteilung, des Schuldverschubsystems;
    – das Gebot der Feindesliebe und der imperativische Gehalt der Attribute Gottes;
    – die Astronomie und der Name des Himmels.)
    Das Problem der Bekenntnislogik ist ein lateinisches (und in der Folge dann ein deutsches) Problem. Die confessio ist ein halbiertes homologein. Sie unterscheidet sich wie das Bekenntnis vom homologein durch die Abstraktion von der Nachfolge (dem christlichen Äquivalent der Umkehr). Augustinus‘ Confessiones stellen dann die Beziehung zum „Sündenbekenntnis“, zur Schuld, her. Das homologein ist als Name der Umkehr aufs zukünftige Handeln bezogen, die confessio aufs vergangene, auf die „Bekehrung“, deren Geschichte Augustinus in seinen Confessiones erzählt, am Ende nur noch auf den Taufakt. Die confessio hat das homologein der Herrschaftslogik unterworfen. Erst als Bekenntnis wird das Bekenntnis endgültig und unentrinnbar zu einem Instrument der Herrschaftslogik: Durch die Umkehr des Schuldbekenntnis im Glaubensbekenntnis bekenne ich die Schuld der Andern, die ich weder bekennen kann noch darf. Durchs Glaubensbekenntnis wird das Christentum zum Christentum für Andere, hat es sich selbst instrumentalisiert. Diese Logik der Instrumentalisierung, die in der Theologie sich entfaltet hat, ist dann zum Modell der naturwissenschaftlichen Aufklärung geworden.
    Die Bekenntnislogik reprodziert und stabilisiert die Gewalt des Begriffs, während die Nachfolge den Begriff zurückübersetzt in den Namen (die Blätter des Feigenbaums zurückübersetzt in die Frucht).
    Gewinnt die Tatsache, daß nach dem Ende der Märtyrerzeit die geschlechtsspezifische Aufteilung der Heiligen in (männliche) Bekenner und (weibliche) Jungfrauen erfolgt, im Kontext dieser Logik nicht eine ungeheure symbolische Bedeutung?
    Es gibt keinen Weltbegriff ohne das projektive (feindbildlogische) Moment, das in dem Namen der Barbaren erstmals sich ausdrückt. Dieses projektive Moment ist in der Bekenntnislogik zur logischen Automatik geronnen: Deshalb gehört zur Bekenntnislogik ein eliminatorischer Wahrheitsbegriff: das Feindbild, die Ausgrenzung der Verräter (der Häresien) und die Frauenverachtung.
    Sind nicht die Christen reflektierte Barbaren, und gehörte zur Rehellenisierung des Christentums nicht die erneute projektive Ableitung dieses Syndroms im Namen der Wilden (auch im Begriff der „rohen Natur“, die nur durch Bearbeitung zu humanisieren ist)?
    Wer mit dem Verurteilen das Verstehen tabuisiert, die Fähigkeit, auch ins Verurteilte noch sich hineinzuversetzen, unterdrückt, fördert die Barbarei, die aus dem Vorurteil folgt. Und diese Geschichte (die Geschichte des Vorurteils) hat angefangen in der Geschichte der Dogmas, im Kampf gegen die Häresien, die auch nur verurteilt, aber nie verstanden wurden. Wer heute eine transzendentale Logik schreiben wollte, müßte sie als Reflexion der Bekenntnislogik schreiben, ihr Ziel wäre eine Theorie des Antisemitismus, der Xenophobie und des Sexismus. Diese Reflexion könnte dann allerdings vor dem Naturbegriff nicht halt machen, sie würde ihn sprengen.
    Im Bekenntnisbegriff ist das Pharisäische zu einem Teil des logischen Systems und damit instrumentalisiert worden. Und die kirchliche Rezeption Pharisäer-Kritik, der Verurteilung der Pharisäer, gehörte zu den Grundlagen des Bekenntnisbegriffs. Das Symbol dieser Geschichte ist das biblische Symbol des Feigenbaums.
    Zur Logik der Verurteilung gehört Walter Benjamins These vom mythischen Charakter des Rechts, und es ist nun wirklich ungeheuerlich, daß es – soweit ich sehe – zu Derridas „Gesetzeskraft“, zu seinen Reflexionen zu Benjamins Kritik der Gewalt, aus dem Bereich der Frankfurter Schule keine Erwiderung gibt.
    Das Problem, die Geschichte der RAF zu verstehen, gehört in den Umkreis der Reflexion der Logik der Verurteilung (und der Bekenntnislogik). Die RAF ist in extremer und signifikanter Weise (für sich selbst wie für die staatliche Verfolgung) zum Opfer der Logik der Verurteilung geworden. An den RAF-Prozessen wäre nachzuweisen, daß das Problem RAF auf diesem Wege nicht zu lösen ist, es sei den über die Selbstzerstörung der Gesellschaft.
    Die Reflexion der Bekenntnislogik schließt die Revision der Geschichte der Aufklärung, die mit der Dialektik der Aufklärung begonnen wurde, mit ein.
    Die Bekenntnislogik und das Dogma sind Stabilisatoren der Rechtfertigungszwänge, die durch Reflexion aufzulösen wären.
    Der Satz „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet“ widerlegt die Bekenntnislogik, entzieht ihr die Grundlage.
    Die Logik der Verurteilung ist ein Sinnesimplikat der Geschichte des Begriffs. Deshalb ist die Weltgeschichte das Weltgericht. Und deshalb konnte Hegel diesen Schiller’schen Satz als Schlußstein seines Systems verwenden. – Aber dagegen steeht der Satz aus dem Jakobus-Brief: Die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht.
    Aufgabe einer Theologie heute wäre es, das Dogma zurückzuübersetzen in eine Theologie der Erfahrung, in eine Logik-Kritik, die eins wäre mit dem Konzept, die Theologie hinter dem Rücken Gottes zurückzuübersetzen in eine Theologie im Angesicht Gottes. Das wäre zunächst ein sprachlogisches Problem, in dem ein reales Problem sich verbirgt: das der Apokalypse. Hierzu hat Franz Rosenzweig die ersten Stichworte geliefert: der Name ist nicht Schall und Rauch, und das Problem des Gottesnamens ist gründet in dem logischen Problem des Namens überhaupt. Das logische Problem der Verurteilung ist in der Logik des Begriffs selber präsent in der Frage der Konstituierung des Objekts, in der die Identität des Begriffs gründet. Oder anders: Das Problem des Gottesnamens, das Ton Veerkamp zu Recht ins Zentrum seiner „Autonomie und Egalität“ gerückt hat, ist das Problem der Selbstreflexion des Nominalismus, das in der Philosophie als das Problem der Rettung Kants durch seine Hegel’sche Widerlegung hindurch sich beschreiben läßt. Die Logik selber verändert sich, sie wird mit der Reflexion der Logik der Verurteilung, ihres blinden Flecks (des blinden Flecks, in den allein die Prophetie Licht zu bringen vermag), selber zum Medium der Reflexion. Ein sprachlogisches Hilfskonstrukt der Logik der Verurteilung, das zur Ursprungsgeschichte der Philosophie (und zur Konstituierung des Naturbegriffs) gehört, war der Name der Barbaren. Durch ihn ist der Objektbegriff als Repräsentant des Verurteilten, in dem der Begriff des Begriffs gründet, vermittelt.
    Die Reflexion der Verurteilung ist ohne die Reflexion des naturwissenschaftlichen Erkenntnisbegriffs, in dem der Objektbegriff im Kontext seiner Konstituentien sich entfaltet, nicht mehr möglich. Deshalb ist das Kant-Studium immer noch unerläßlich.
    Die Fundamentalontologie ist der Statthalter des Fundamentalismus in der Philosophie. Merkwürdig, daß dieser Fundamentalismus, der einmal als weit folgenreicher sich erwiesen hat, weniger Widerstand hervorruft als der religiöse.
    Hat nicht der Satz „Seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben“ etwas mit dem Traum des Nebukadnezar zu tun? Ist nicht die Klugheit der Schlangen der Traum des Nebukadnezar? Oder anders: Ist nicht die Hegel’sche Philosophie einer der Verkörperungen sowohl der Klugheit der Schlangen als auch des Traums des Nebukadnezar, und war nicht Hegel ein halbierter Daniel, dem nur die Arglosigkeit der Tauben fehlte, um als ganzer Daniel den Traum seiner Philosophie auch deuten zu können?
    Die Instrumente der Subjektivierung (der Sinnesqualitäten, der Kritik und der Schuld) wird innerhalb der Gersamtzusammenhangs der transzendentalen Logiken repräsentiert durch die Form des Raumes, durch das Geld und durch die Bekenntnislogik, die das Subjekt in die Rechtfertigungszwänge und deren projektive Verarbeitung hineintreiben.
    Die Feindbildlogik transformiert die transzendentale Logik in die Urteilsmoral, sie verwandelt die Moral in eine Herrschaftsinstrument (in die Universalität einer Moral für andere).
    Das verteidigende Denken ist nicht nur auf Gesellschaftliches bezogen: Emitte spiritum tuum, et renovabis faciem terrae. Die Logik der Naturwissenschaften ist als reine Objektlogik die Logik der Verurteilung, einer Verurteilung, die heute dahin tendiert, das verteidigende Denken schon vom Grund her auszuschließen.
    Die Logik der Verurteilung ist die Logik des Vorteils, sie lebt von der Gewalt des Feindbildes.
    Der Staat reproduziert sich durch die Sanktionierung und Ausbeutung des Rachetriebs in der Institution des Rechts, während die Kirche sich über die Sanktionierung und Ausbeutung Unschuldtriebs reproduziert.
    Gab es in Israel Knäste (und waren die Schuldknechtschafts-Regelungen wie Sabbatjahr und Jubeljahr Institute zur Knastvermeidung)? Haben die Brunnen, in die Joseph und Jeremias geworfen wurden, etwas mit den Knästen zu tun?
    Die Landesgrenze ist wie jede Abstraktionsgrenze eine Verurteilungs- und Schuldgrenze.

  • 18.09.1996

    Wer bereschit, das erste Wort der Schrift, anstatt mit „im Anfang“ mit „im Prinzip“ übersetzt (Ton Veerkamp?), bringt zwar eine notwendige Korrektur, aber verschiebt er das Problem nicht doch nur von der zeitlichen (naturalen) auf die logische (weltliche) Ebene, transportiert er es nicht aus der transzendentalen Ästhetik in die transzendentale Logik, mit der Gefahr der Vergöttlichung des transzendentalen Subjekts?
    Erfüllt der gegenwärtige Weltzustand nicht die Voraussetzungen, auf die das Wort sich bezieht, daß der Vater am Ende, wenn der Sohn ihm alles unterworfen hat, alles in allem sein wird?
    Ist das Heideggersche „Dasein“ nicht ein Produkt der subjektiven Formen der Anschauung, das alte tode ti, nach seiner philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Transformation und nach Verdrängung des Bewußtseins seiner Ursprungsbedingungen (vergleichbar der Geschichte des „Seins“ nach der Hypostasierung des Begriffs und der Abspaltung vom Possessivpronomen der dritten Person singular männlich)?
    Ist nicht das Begreifen ein instrumentalisiertes Besitzergreifen (nach Abstraktion vom Besitzer)?
    Wäre es nicht Aufgabe der Erinnerungsarbeit, die Abstraktions-und Verdrängungsschritte, die unser Bewußtsein konstituieren, zu rekonstruieren? Und ist nicht die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos ein Spiegel der Ursprungsgeschichte dieses Bewußtseins?
    Läßt sich das Johannes-Evangelium in Beziehung setzen zur Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos (und hat der Kreuzestod etwas mit dem Opfer zu tun, das den Ägyptern ein Greuel ist)? Entspricht nicht das erste Wunder Jesu (bei der Hochzeit zu Kana) der ersten der ägyptischen Plagen?
    An welchen ägyptischen Plagen hat Aaron Anteil, sind es nicht fast die gleichen, in denen auch die ägyptischen Zauberer vorkommen (1 – 4 <!> u. 6; die Zauberer dagegen 1 – 3 u. 6)?
    Welche Motive bleiben unerledigt: die Prophetenschaft Aarons, das Opfer (das den Ägyptern ein Greuel ist)?
    Der Versuch, die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos zu entschlüsseln, gelingt nur als Selbstversuch. Und beschreibt nicht diese Geschichte aufs genaueste die Genesis des Irrwegs des Sünders, an dessen Bekehrung die Rettung der eigenen Seele gebunden ist? Allein an diesem Modell, nicht aber an der verkürzten und egozentrischen Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, läßt sich das Problem der Gnade demonstrieren: die Bekehrung des Sünders ist nicht erzwingbar, sie liegt nicht in unserer Macht, aber gleichwohl können wir nicht davon lassen. Jede Zwangsbekehrung ist eine verzweifelt-hybride Leugnung der Gnade. Selbst, was in der Moderne Mission heißt, hat etwas von dieser Zwangsbekehrung an sich, gleichgültig, ob durch den Appell an die Übermacht der „westlichen Welt“, für die das Christentum heute steht, oder durch die Mittel, die von denen der Reklame allzu oft nicht zu unterscheiden sind (jede Reklame intendiert die Heiligung des Markennamens und die Bekehrung des Konsumenten zu dem im Markennamen gegenwärtigen Warengott – hat nicht Ludwig Ehrhard gelegentlich von der „Sünde wider den Geist der Marktwirtschaft“ gesprochen?).
    Bekehrung: „ginosketo hoti ho epistrepsas hamartolon ek planes hodou autou …“ (Jak 520).
    Reinhart Staats weist darauf hin, daß die Opfertheologie, die Lehre vom Sühnetod Jesu, westlichen Ursprungs ist, daß erst seit Tertullian das pro nobis an das crucifixus angehängt wurde (vgl. S. 160). Liegt hier nicht der sprach- und bekenntnislogische Kern der von Tertullian geprägten lateinischen Begrifflichkeit der Theologie (bis hin zum Gebrauch des Personbegriffs in der Trinitätslehre)? Diese Begrifflichkeit aber hat dann die Sprache und die Logik der westlichen Philosophie nach dem Ende des Mittelalters geprägt.
    Das Subjekt ist zum erkenntnistheoretischen Subjekt in dem Augenblick geworden, in dem es sich selbst zum Objekt geworden ist (durch präventive Mimesis ans Objekt die Konstituierung des Objektbegriffs vorbereitet hat). Das aber ist allein über die subjektiven Formen der Anschauung, die nicht nur die Objektvorstellung, sondern mit ihr auch das Selbstverständnis des Subjekts determinieren, gelaufen. Mit der Vergesellschaftung von Herrschaft, und d.h. mit der Aufrichtung der Grenzen zwischen Subjekt und Objekt (mit den subjektiven Formen der Anschauung, die diese Grenzen definieren), wurden diese Grenzen zugleich aufgehoben, ist das Subjekt zu einem Teil der Objektwelt geworden.
    Jürgen Ebach, dem zur Apokalypse nur die atomare Drohung, nicht aber die faschistische einfällt, wäre darauf hinzuweisen, daß er damit bereits von einer Entlastungslogik Gebrauch macht, die in Deutschland nie, auch nicht von der 68er Bewegung (die raf eingeschlossen), durchbrochen worden ist. Deshalb hat Daniel Goldhagen die deutsche Öffentlichkeit so unvorbereitet und so empfindlich getroffen.
    Der kopernikanische Blick auf die Welt entspricht dem Blick des Historikers auf die Geschichte: Der vergegenständlichende Blick ist der Seitenblick, der Blick der Selbstobjektivierung, des Aus-sich-Heraustretens und Sich-von-außen-Sehens. Das Medium dieser Bewegung ist räumlich und zeitlich zugleich: Das Verhältnis der Äußerlichkeit, das der Raum herstellt, ist tingiert durch die Logik der Projektion ins Vergangene. Wenn der Historiker die Vergangenheit vergegenwärtigt, so projiziert der Naturwissenschaftler das Gegenwärtige in die Vergangenheit. Erst diesem Blick eröffnen Raum und Zeit sich ins Unermessliche, werden sie zum Maß der Dinge, das selber jedem Maß sich entzieht.
    Alle Chronologie-Konstrukte (die historischen wie die naturwissenschaftlichen) sind Rechtfertigungskonstrukte, die dazu dienen, die Gegenwart gegen die Schuldreflexion zu immunisieren (sie gegen den Anblick Gottes abzuschirmen). Das Inertialsystem ist atheistisch.
    Die Reversibilität aller Richtungen im Raum ist ein Konstrukt, das zunächst nur auf die mathematische Form des Raumes sich bezieht; hier liegt einer der Gründe Kants, den Raum als subjektive Form der Anschauung zu bestimmen. Realität hat die Reversibilität gewonnen
    – in der Mechanik, in der Bestimmung der Stoßprozesse, bei denen Richtung und Gegenrichtung (in der zur Fallrichtung senkrechten Ebene) dynamisch nicht unterscheidbar sind, sodann
    – im Gravitationsgesetz, die auch den Fall, die Beziehung von Oben und Unten unter dieses Gesetz subsumierte;
    – mit der Elektrodynamik wurde diese Reversibilität auf die Zeit übertragen, die Zukunft endgültig unter die Vergangenheit subsumiert.
    Erst zu den Maxwellschen Gleichungen gehört das Inertialsystem.
    Die Vergegenständlichung der Vergangenheit läßt die Zukunft nicht unberührt: Durch Antizipation ihrer Vergangenheit macht sie die Zukunft für Herrschaft verfügbar. Der Satz aus der Dialektik der Aufklärung, daß die Distanz zum Objekt vermittelt sei durch die Distanz, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt, hat sowohl gesellschafts- als auch wissenschaftskritische (und in dem Sinne „naturwissenschaftliche“) Bedeutung.
    Merkwürdig, daß wir für die Physik (im Kontext der Naturbeherrschung) den griechischen Naturbegriff verwenden, im Kontext der Ästhetik und der Theologie hingegen den lateinischen. Hätte ein Buch wie das des Johannes Scottus Eriugena (de divisione naturae) auch über die physis geschrieben werden können? Gehört nicht der Standardtitel der Vorsokratiker (peri physeos) in einen andern sprachlogischen Zusammenhang? Sind nicht der „natürliche Ort“ und „das Leichte“ des Aristoteles nur im Kontext der physis denkbar (während im Naturbegriff das ortlose Inertialsystem und die universale Schwere bereits mitgesetzt sind und in der lateinischen Theologie ihre sprachlogischen Entsprechungen haben)? Für die Griechen ist die Welt ein geschmückter Leib (kosmos), für die Römer ein gereinigtes All (mundus).
    War die Arena das Konzil der Märtyrer, die real den wilden Tieren ausgesetzt wurden, in denen sie das Römische Imperium erkannten? Und waren die Konzilien domestizierte Arenen (in denen der physische Kampf durch den geistigen ersetzt wurde und die Märtyrer, nach Identifikation mit dem Aggressor und Partizipation an der Macht, zu Bekennern geworden sind)?
    Wenn die „Einheit des Reiches“ zu den Charakteristika des Reiches des Beelzebub gehört (während das Reich des Vaters viele Wohnungen hat), hat dann die Kirche nicht in der Tat in den Konzilien (in der Geschichte des Glaubensbekenntnisses, in der sie immer wieder die Autorität der Kaiser in Anspruch genommen hat) versucht, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben?
    Bezeichnet nicht das ex nihilo in der Schöpfungslehre den Akt der Verdrängung, und wäre nicht gerade dieses nihil endlich zu reflektieren? Was übrigens Kant als erster getan hat, als er eine begriffliche Differenzierung des nihil (in der Kritik der reinen Vernunft) vorlegte. Diese Differenzierung ist dann bei Hegel in der Einheit von Sein und Nichts untergegangen, die dem Begriff des Negativen diese unendlich schwere Bedeutung verliehen hat (es zur treibenden Kraft seiner Dialektik, der Logik, gemacht hat). Erst Franz Rosenzweig, der das Nichts als ein Nichts des Wissens (als seine innere Grenze, und damit als ein dreifaches Etwas) zu bestimmen versucht hat, hat das Problem einer Lösung nähergebracht. Erst Franz Rosenzweig hat die Grenze der Erkenntnis ins Wissen verlegt, das Nichtwissen als ein konstitutives Element des Wissens, das durch Erkenntnis aufzuheben wäre, begriffen.
    Als die Deutschen nach dem Krieg unisono verkündeten, sie hätten „von nichts gewußt“, haben sie das Wissen selbst zu einem Instrument der unglaublichsten Verdrängung gemacht. Der Satz wird wahr, wenn man dieses Nichts substantivisch nimmt: davon nämlich haben sie (sehr wohl) gewußt.
    Gibt es nicht drei Demonstrativpronomina zum Nichts: dieses, jenes und das andere Nichts, und haben diese drei etwas mit Rosenzweigs Gott Mensch Welt zu tun?
    Ein „pflichtbewußter Hund“, der einen Ast im Maule schleppt (und so davon abgehalten wird, Spaziergänger anzufallen): Sind es nicht generell die Pflichtbewußten, die – unter dem Zwang ihrer Pflicht – nicht mehr wissen, was sie tun?

  • 3.8.96

    Die Bekenntnislogik stellt die Schuldreflexion still durch das Instrument der Urteilsmagie: den Mechanismus der Verurteilung.
    Seit die Welt zur Hölle geworden ist, kann niemand mehr an die Hölle glauben: So schlimm kann Gott nicht sein, so sind nur wir. Aber ist die andere Frage wichtiger: ob die Pforten der Hölle uns wirklich nicht „überwältigen“ werden?
    Sind nicht die zehn Plagen Ägyptens das Negativ der mystischen Stufen der Erkenntnis, beschreiben sie nicht den Weg, der hineingeführt hat und deshalb vielleicht auch wieder herausführt?
    Ist nicht der Ofenruß, der gen Himmel geworfen wird (die 6. Plage), die Wende, ist hier nicht der Punkt, an dem die Zauberer die Taten des Moses und Aaron nicht mehr nachzumachen vermögen, weil sie selbst erstmals Opfer der Plagen sind? Bei den „Mücken“ (der 3. Plage) vermochten die Zauberer es auch nicht, und sie warnten den Pharao: hier ist „Gottes Finger“, aber sie waren nicht selbst betroffen. Beim „Geziefer“ (der 4. Plage) wird Israel erstmals ausgespart, Mizrajim ist alleine das Opfer, und hier sagt Moses dem Pharao, der ihn auffordert, im Land zu opfern, daß ihr Opfer das des Scheusals Ägyptens ist.
    Hat die vorletzte Plage (vor der Tötung aller Erstgeburt), die Finsternis, etwas mit der Finsternis über dem Abgrund zu tun, und kann es sein, daß die Tötung der Erstgeburt (in der Mitternacht) dem tohuwabohu in der Schöpfung korrespondiert? Und haben die Frösche, die in die Schlafgemächer und in die Backtröge eindringen und am Ende im Nil verbleiben, etwas mit den apokalyptischen Tieren (mit denen die Apokalypse sie dann auch zusammenbringt) zu tun?
    Wenn die Tötung der Erstgeburt auf das tohuwabohu und die Finsternis auf die über dem Abgrund sich bezieht, haben dann nicht die Heuschrecken etwas mit dem Geist über den Wassern zu tun? Die Heuschrecken (die 8. Plage) aber sind offenkundig ein Symbol der militärischen Macht; in dieser Plage ist das Schicksal der ägyptischen Militärmacht am Schilfmeer vorbezeichnet.
    Es ist wahr, wer die Zeiten berechnen will, erliegt der Verstarrung, was aber nicht heißt, daß man die Zeichen der Zeit nicht erkennen soll.
    Die Differenz zwischen dem Erzählten und der historischen Realität ist festzuhalten, aber sie bezeichnet nicht die Alternative, um die es geht; wenn die Erzählung Vorrang hat vor dem Indikativ des Historischen (auf das sie gleichwohl sich bezieht), dann nur, weil sie an die erkennende Kraft der Sprache rührt, die im historischen Indikativ (im „Wie es denn eigentlich gewesen ist“) verdampft. Diese erkennende Kraft der Sprache (der Halacha) gehört der gleichen Ordnung an wie das Gebot (die Haggada). Beiden eignet ein Realitätsbezug (der des Eingedenkens), von dem der historische Indikativ, die historische Objektivierung, abstrahiert. Das Eingedenken unterscheidet sich von der historischen Objektivierung dadurch, daß es versucht, im Vergangenen der Gegenwart innezuwerden, während die historische Objektivierung die Gegenwart (den seiner selbst gewissen Herrenblick) ins Vergangene projiziert.
    An welchen Stellen in den Evangelien erscheint das betonte Du außer in Mt 1618 (sy ei Petros) sonst noch? Läßt diese Stelle auch so sich verstehen, daß das Prädikat („Fels“) nicht nur auf diese bestimmte Person (auf Simon Petrus), sondern auf die Form der Beziehung zum providentiellen dialogischen Partner des Messias, die Kirche, insgesamt sich bezieht, die nicht hört und nicht versteht, und den Dialog ins Leere verströmen und die Antwort zum Monolog der Theologie (zur Theologie hinter dem Rücken Gottes) verstarren läßt? Ist das Tu es Petrus die Vorankündigung der dreifachen Leugnung? Und ist die Kirche nicht in der Tat bis heute das stumme, versteinerte Du Gottes? – Gibt es hierzu Hinweise in den anderen Stellen, an denen das betonte Du (das Du als Anruf des Andern: als Gebot oder als Aufruf zum Gericht) erscheint?
    Theologie im Angesicht Gottes treiben, das ist etwas anderes als „Christum treiben“.
    Merkwürdiges Wort der Jünger: „Siehe, jetzt redest du frei heraus und gebrauchst keine Bildrede. Jetzt wissen wir, daß du alles weißt und nicht nötig hast, daß dich jemand fragt“ (Joh 1629f); müßte es nicht heißen, „daß du jemanden fragst“? Weshalb hat jemand, der alles weiß, nicht nötig, daß ihn jemand fragt; nach unserem Verständnis des Wissens, hat der, der der alles weiß, nicht mehr nötig, andere zu fragen. Was ist das für ein Wissen, das den, der es hat, den Fragen der anderen enthebt?
    Der Glaube ist ein Wissen, das dem Rechtfertigungszwang (den Fragen der anderen oder auch den durch die Rechtfertigungszwänge vorgezeichneten Wegen des Irrtums) enthoben ist.
    Hängt das merkwürdige Wort im Johannes-Evangelium nicht auch mit der Sprachgeschichte der Frage zusammen, die bei Heidegger implodiert? Die Frage, auf die das Wort aus Joh sich bezieht, ist die Frage der „Theodizee“, die in Heideggers Frage nach dem „Sinn des Seins“ oder auch in seiner Frage „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts“ nachhallt (und faschistisch radikalisiert wird). Beide Fragen stellen das Sein unter Rechtfertigungszwang, unterwerfen es einem Jüngsten Gericht, dessen Richter der Fundamentalontologe ist.
    Ist nicht der Glaube, der Berge versetzt, der Glaube, der die Wege des Herrn bereitet, seine Straßen gerade macht, ein Glaube, der dem Bann der Apologie entronnen ist, der aus sich selbst einleuchtet, zu dem es keine Fragen mehr gibt? Gehört das apokalyptische Bild vom Berg, der ins Meer geworfen wird (Off 88, vgl. auch 1821), nicht hierher?
    Wäre zu Ton Veerkamps „Plusquamperfekt“ nicht daran zu erinnern, daß das eine griechischen Erfindung ist? Und ist nicht der Satz „Was nicht erzählt wird, ist nicht passiert“ ein vergeblicher (weil unangemessener) Ausbruchsversuch aus dem Historismus?
    Ist nicht das Epos die ästhetische Ursprungsgestalt des Neutrum, der Vergegenständlichung, die Gestalt seiner ersten Entfaltung, die Tragödie das Produkt der ersten Reflexion und Verarbeitung des Epos und die Philosophie der erste Versuch, der tragischen Aporie zu entkommen, der dann in die universale Neutralisierung hineinführte? Die Philosophie hat das Schicksal, das ästhetisch-moralische Korrelat des Neutrum, das im Mythos sich entfaltete und in der Trägodie als die die Tragik erzeugende Macht der Objektivierung sich enthüllte, als instrumentale Gewalt sich zugeeignet.
    Kirchengeschichtlich fallen das Urschisma und die Rezeption des Weltbegriffs, als dessen hypertropher Ausdruck und Reflex die Gnosis sich begreifen läßt, zusammen.
    Zum Begriff als Reflex der Herrschaftsgeschichte: Ist nicht das Sklavenhaus zugleich der Eisenschmelzofen (das Schwert, das die Wunde schlug, heilt sie auch)?
    Ist nicht die „Jahwä“-Theologie eine Theologie, deren pharaonische Tradition (die Tradition der Verstockung und Verblendung) darin sich zeigt, daß sie den Namen immer nur als den des Gottes der Hebräer versteht?

  • 2.8.96

    Credo, quia absurdum: Die Bekenntnislogik entspringt in einer Konstellation, in der ich selbst mich mit den Anderen identifiziere, „vor denen“ ich „das Bekenntnis ablege“: mit der Welt, die das Bekenntnis nicht versteht. Die Bekenntnislogik ist die Logik des Schuldverschubsystems: sie lädt der Welt die Sünde auf, anstatt die Sünde der Welt auf sich zu nehmen, und beruhigt sich in dem Glauben, daß Jesus, das „Lamm Gottes“, die Sünde der Welt „hinweggenommen“ hat. Die Bekenntnislogik ist die Umkehrung der Versöhnung. – Steht das Verhältnis der Kirchen zu ihren Vergangenheiten bis hin zu Auschwitz nicht unter dem Gesetz dieser Bekenntnislogik, der Logik der Konfessionalisierung und damit der systematischen Verweigerung der Erinnerung, des Eingedenkens? Im Kontext der Bekenntnislogik werden Vergangenheiten immer nur überwunden oder bewältigt, nicht erinnert. „Wer sich aber meiner und meiner Worte schämt …“ (Mk 838): Steht nicht die Bekenntnislogik unter dem Gesetz dieser Scham? Und die Konsequenz: „dessen wird sich auch der Menschensohn schämen“ bezeichnet einen einfachen logischen Sachverhalt, sie ist nicht Ausdruck eines Rachetriebs (nach dem Motto: Wie du mir, so ich dir), zu dem sie erst auf der Grundlage der Bekenntnislogik wird. Die Salbung in Bethanien (Mk 143ff, vgl. Bedenbender in TuK 67, S. 51): Ist sie nicht Totensalbung und die Salbung des Messias (des Gesalbten) zugleich? Ton Veerkamp zitiert in TuK 67, S. 53 die drei Stellen in der hebräischen Bibel, an denen das Verb nippasch, „aufatmen, beseelen“ vorkommt. Die eine bezieht sich auf David (2 Sam 1614), eine weitere auf Gott, der am siebten Tage „aufatmete“ (Ex 3117) und die dritte auf Ex 2310, „wo der Sohn der Dienstmagd und der Fremde ‚beseelt‘ werden“. Der letzte Vers lautet vollständig: „Sechs Tage sollst du deine Arbeit tun, am siebten Tage aber sollst du feiern, damit dein Rind und dein Esel ruhen und der Sohn deiner Sklavin und der Fremdling aufatmen können“ (Übersetzung nach Zürcher Bibel). Verweisen Rind und Esel auf Joch und Last, der Sohn der Sklavin und der Fremdling auf den Sohn Marias und die Heiden? Hat nicht die Bemerkung Ton Veerkamps, daß „am Schabbath … unsere Maschinerie relativiert (wird)“ und „die strukturlose Zeit … die tödliche Bedrohung aller Menschheit (ist)“, auch „erkenntnistheoretische“ Konsequenzen: rühren sie nicht an das Problem des Inertialsystems, an die Vergegenständlichung der Zeit, die Konstituierung der Vorstellung des Zeitkontinuums durch Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit: durch dein Blick von außen auf die Dinge (den Seitenblick, den Blick des Andern. den verandernden Blick)? In dieser Konstellation liegt die ungeheure Bedeutung des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, das an die innere Grenze dieses Systems rührt und auf die Sphäre verweist, die dem „Seitenblick“, dem verandernden Blick, sich entzieht. Die Natur kann den Begriff nicht halten: sie löst sich auf mit der Erkenntnis des Namens; die Welt kann das Objekt nicht halten: sie ist der Inbegriff der Verblendung, die mit der Auferstehung der Toten und im Leuchten Seines Angesichts vergeht.

  • 30.7.96

    Schwindel: ein physischer und ein logischer Sachverhalt; Zusammenhang von Hören und Sehen, Fall und Rotation (Planeten). Der Schwindel und die „Wege des Irrtum“, der Taumelkelch. Das Inertialsystem erzeugt den Schein des Schutzes vor diesem Schwindel, er verschafft den Begriffen Grund durch Verankerung in der Identität des Anschauens, der sichtbaren Dinge. Seitdem steht alle Identität unter dem Bann des Anschauens.
    Im Johannes-Evangelium gibt es den „Fürsten dieser Welt“: – 1231: „Jetzt … wird der Fürst dieser Welt hinausgeworfen werden“, – 1430f: „Nicht mehr viel werde ich mit euch reden, denn es kommt der Fürst dieser Welt. Über mich vermag er nichts, …“ – 167f.11: „Wenn ich nicht ginge, würde der Beistand nicht zu euch kommen … Wenn er dann kommt, wird er die Welt überführen: … des Gerichts, weil der Fürst dieser Welt schon gerichtet ist.“
    Wer ist damit gemeint: Der Caesar oder eine Engelsmacht (wenn beide sich überhaupt unterscheiden lassen)? Ist die Engelsvorstellung nicht politischen und astrologischen Ursprungs zugleich (und sind die Horoskope säkularisierte Engelsbotschaften)? Und unterscheiden Engel und Dämonen sich nicht eigentlich nur dadurch, daß, während jene auf das Endziel, die Rettung der Welt, sich beziehen, diese auf Interessen der Selbsterhaltung?
    Zur Zweideutigkeit des Begriffs der Autonomie: Die Autonomie, die dem Selbsterhaltungsprinzip korrespondiert, gründet im Eigentum (der Nicht-Eigentümer ist nicht autonom), die andere Autonomie in der Distanz zur Selbsterhaltung (oder in der Fähigkeit zur Schuldreflexion): in der Freiheit zur Barmherzigkeit, zur Identifikation mit dem Anderen.
    Die zweite Gestalt der Autonomie findet ihre biblische Verkörperung in der Idee des Heiligen Geistes. Als Verkörperung des verteidigenden („parakletischen“) Denkens ist der Heilige Geist die Verkörperung einer Freiheit, die dem Rechtfertigungszwang entronnen ist.
    Ist nicht das Auto, dessen Kosten insgesamt die der „Anschaffung, Aufzucht und Erhaltung“ eines Kindes entsprechen dürften, und das auch einer ähnlichen „Zuwendung“ bedarf, das Symbol der Abschaffung der Zukunft? Hierbei entspricht der Geschwindigkeitsrausch („Freie Fahrt für freie Bürger“) dem Trieb, in der Gegenwart verharren zu können, der Zukunft zu entfliehen (Kult des Komparativs: Höher, schneller, weiter; zum Fetisch Auto gehört der Olympia-Kult). Sind nicht die Siege im Sport, insbesondere auf dem Fußballplatz, Exerzitien der schrecklichen Siege, deren Opfer wir alle einmal sein werden? Ist nicht das Ziel allen Sports das Präsens, das keine Zukunft mehr kennt (der Indikativ, der keinen Konjunktiv mehr kennt)? Bezieht sich nicht der Satz, daß die Pforten der Hölle sie (die Kirche) nicht überwältigen werden, auf dieses Präsens. Oder anders: Ist dieses Präsens das schwarze Loch, das alles Licht in sich aufsaugt, aber keins mehr ausstrahlt? Wie hängen die Formen der Deklination (die Casus) mit den Formen der Konjugation (den Zeiten und Modi: mit Präsens und Vergangenheit, Aktiv und Passiv, Indikativ und Konjunktiv, mit Perfekt, Plusquamperfekt und Futur II, am Ende mit Infinitiv und Imperativ) zusammen? Hat nicht das nunc stans, das geheime Ziel der Lehre von der ewigen Wiederkunft, mit Nietzsche als absolute Parodie des Ewigen sich enthüllt? Nur daß es in einer Logik, die das Ewige mit dem Überzeitlichen verwechselt, hierzu keine Alternative gibt. „Ehe Abraham ward, bin ich“: ist dieser Satz nicht doppeldeutig? Er verweist einerseits auf eine vergangene Zukunft, die bis heute noch nicht eingeholt ist, während das „ehe“ auf eine Vorangehendes, Früheres, Erstes verweist, durch deren Kritik hindurch die Idee des Messias überhaupt erst zu gewinnen wäre. In messianischem Kontext ist das Erste das Letzte. Was „vor aller Zeit“ ist, ist keine Vergangenheit, sondern die Zukunft. Dieser Anfang wird das Ende sein. Deshalb ist der erste Akt der Schöpfung das Fallen, eine Katastrophe, das tohuwabohu, die Finsternis über dem Abgrund, während der zweite, noch nicht abgeschlossene der des Rettens ist. Der Anfang dieses zweiten Akts ist der über den Wassern brütende Geist. Aus wieviel Siebener-Gruppen besteht die Apokalypse (wenn man die Schreiben an die Engel der sieben Gemeinden in Asien mitzählt)? Kann es sein, daß es insgesamt elf sind, und bezieht sich darauf das Jesus-Wort an Petrus (das fast unmittelbar auf den Satz vom Binden und Lösen folgt), daß wir nicht nur siebenmal sondern siebenundsiebzigmal vergeben sollen (Mt 1822)?
    Läßt sich die Nachkriegsentwicklung in der Bundesrepublik nicht daraus herleiten, daß nur die, die mitgemacht haben, lebenstüchtig waren, während die, die nicht mitgemacht haben, zu sehr mit sich selbst (mit der Aufarbeitung ihrer eigenen Probleme) befaßt und für die anderen Dingen nicht frei waren? Hat nicht der leichte Gesinnungswechsel nach dem Krieg die Bekenntnislogik, der er sich bediente, endgültig gegen die Tradition, aus der sie einmal erwachsen ist, immunisiert und damit erst wirklich faschistisch gemacht? Hier liegt der Ursprung des Mechanismus, zu dem es keine Alternative mehr zu geben scheint, der bewirkt, daß heute der Kampf gegen den Faschismus zum Kampf gegen die Erinnerung wird: Die reflexartige Verurteilung des Faschismus, die das Erinnern ausschließt (das Entsetzen soll nicht „konserviert“ werden), macht auch den Kampf gegen den Faschismus blind gegen das wirkliche Verhängnis, das fortbesteht, sie macht ihn am Ende selber faschistisch. „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen“ (Zwi Rix, zit. na Henryk M. Broder): Gehört nicht zur Anamnese der Rache die Einsicht, daß nicht die Opfer, sondern nur die Täter rachsüchtig sind; und liegt darin nicht die wirkliche politische Gefahr? Läßt sich nicht die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos auf die Gechichte des Christentums anwenden (und liegt das einzige Hemmnis nicht in den aus genau dieser Anwendung ableitbaren Folgen dieser Geschichte)? Und sind wir nicht heute in der Phase der Finsternis? Worauf bezieht sich das Wort vom Greuel der Ägypter; ist dieses Greuel (die Materie des Opfers) eins in den Augen der Ägypter oder in den Augen Israels (das Greuel der Ägypter selbst, das Prinzip Mizrajim)? In jedem Fall rührt das am dritten Tag nach dem Auszug vorgesehene (dann aber nicht erfolgte?) Opfer an die „heiligsten Güter“ Ägyptens.
    Ist es nicht doch ein wenig arglos, wenn Ton Veerkamp darüber klagt, daß die gegenwärtige Theologengeneration an der Schrift nicht interessiert sei? Braucht nicht jeder Staat sein Militär, um in seinen Bürgern die paranoiden Ängste zu erzeugen und zu pflegen, deren er zu seiner Absicherung gegen ein etwaiges Erwachen der politischen Vernunft bedarf?
    Auch wenn Tertullian selber nicht heilig gesprochen wurde: Ist er nicht gleichwohl die Verkörperung jenes Paradigmenwechsels, der dazu führte, daß an die Stelle des Märtyrers der Confessor getreten ist? Hat nicht Tertullian das Martyrium in die Confessio transformiert, und war das nicht der Grund der donatistischen „Häresie“? Dazu würde es passen, wenn es stimmt, daß Tertullian einmal gesagt hat, daß Frauen, wenn sie in den Himmel kommen, dort zu Männern (gleichsam „befördert“) werden. Hat er sich hierbei auf die Antwort bezogen, die Jesus den Sadduzäern gegeben hat, als sie ihn wegen der Frage der Auferstehung auf die eine Frau, die mit sieben Männern verheiratet war, ansprachen (und erinnert diese Geschichte nicht an zwei andere Geschichten: an die der Sara und des Dämon Asmodai im Buche Tobit, wie auch an die der Maria Magdalena, die von den sieben unreinen Geistern befreit wurde <überhaupt an die „sieben unreinen Geister“, die in das „leere, gereinigte und geschmückte Haus“ zurückkehren>; wie wurde übrigens die Sara von ihrem Dämon befreit)? Bei Mk wird an die Befreiung der Maria aus Magdala von den sieben Dämonen anläßlich des Gangs zum Grabe (am „ersten Tag“) und der Auferstehung erinnert (169), bei Lk im Zusammenhang mit der ersten Nennung der Frauen aus Galiläa, die Jesus begleiteten (82).

  • 29.7.96

    War Johannes nicht „der Jünger, den der Herr liebhat“, und auch der, von dem er sagte: „Wenn ich will, daß er bleibt, bis ich wiederkomme, was geht das dich an“, nach einer Tradition, an die Karl Thieme erinnert hat, der Typos der Juden (Petrus hingegen der Typos der Kirche)? Hat nicht die Kirche mit der Rezeption des Hellenismus das gleiche Scheusal verinnerlicht, gegen das einmal der Aufstand der Makkabäer sich richtete?
    Man muß von der Vorstellung Abstand nehmen, daß in einer seit je bestehenden und immer sich gleichbleibenden Welt, die gleichsam nur als Bühne fungiert, die politischen Änderungen dann sich abspielten. Es waren politische Ereignisse, Prozesse und Veränderungen, die den Weltbegriff, die Spiegelung und Legitimierung der Herrschaftsstrukturen im Objekt, hervorgebracht und mit verändert haben. Die Kosmogonien, die mythischen Weltentstehungserzählungen, sind nicht nur unwahr: Sie reflektieren die mit der Entstehung der politischen Herrschaftsstrukturen verbundene Geschichte des Ursprungs des Weltbegriffs. Deshalb war der biblische Schöpfungsbericht ein Teil der Kritik der Idolatrie, der im Götzen-, Sternen- und Opferdienst sedimentierten Herrschaftsideologie. Hängt die Unfähigkeit, den Zusammenhang zwischen dem Reichtum der Metropole und der Armut in der Dritten Welt überhaupt wahrzunehmen, nicht mit dem Naturbegriff zusammen, mit dem die Herrschenden vor dem Erkanntwerden und schließlich vor der Selbstwahrnehmung sich schützen? Und beschreibt nicht die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos genau diesen Prozeß (und damit auch den Prozeß der Konstituierung des Naturbegriffs)? Ton Veerkamps „Was nicht erzählt wird, ist nicht passiert“ wird widerlegt durch den anderen Satz: Das Vergangene (die Verhärtung des Herzens Pharaos, der Kreuzestod Jesu, der Faschismus und Auschwitz) ist nicht nur vergangen.
    Deshalb ist Theologie ohne Erinnerungsarbeit nicht möglich, aber diese Erinnerungsarbeit (und damit die Theologie) zielt aufs Begreifen der Gegenwart (nicht des Überzeitlichen).
    Wird nicht das Erzählen zum Mythos, wenn man die Halacha von Haggada trennt (durch den Rechtfertigungszwang, unter dem alles Erzählen steht: es entlastet)? Dieses Erzählen erzeugt aus sich selbst den Bann der Schicksals, dessen Logik es dann nicht mehr zu entrinnen vermag.
    Die Lehrerfrage, die Schülern die Literatur verekelt: „Was wollte der Autor damit sagen?“ findet sich heute auch bei Theologen, die unterstellen, ein biblischer Autor habe nicht das gesagt, was er gesagt hat, sondern etwas gemeint, was von dem, was er gesagt hat, noch unterschieden sei; die meinen, es käme darauf an zu erkennen, was er hat sagen wollen, als wäre das etwas anderes als das, was er gesagt hat. Es ist der allwissende Theologe, der die geheime Absicht des biblischen Autors besser zu kennen vorgibt als der Autor selber. Er erweckt den Eindruck, erst wir wüßten wirklich, was der biblische Autor mit den damaligen, noch unzulänglichen Mitteln noch nicht so deutlich habe ausdrücken können, wie wir es heute können. So heißt es an einer Stelle im neuen katholischen Weltkatechismus (ich zitiere sinngemäß), der Autor der Genesis habe den an sich klaren Sachverhalt, daß Gott die Welt aus Nichts erschaffen hat, nur undeutlich (in der „Sprache seiner Zeit“) mit dem Satz, daß Gott im Anfang den Himmel und die Erde erschuf, wiedergegeben, vielleicht weil ihn seine Zeitgenossen, die noch in im Bann eines mythischen Weltbildes lebten, sonst nicht verstanden hätten. Aber gibt es einen undeutlicheren Satz als den, daß Gott die Welt aus Nichts erschaffen hat? Bewußtsein ist falsches Bewußtsein, und das „naturwissenschaftliche Weltbild“ die Finsternis über dem Abgrund der Geschichte. Bewußtsein ist falsches Bewußtsein, weil es vom Hören abstrahiert. Das Credo spricht die Sprache des Bewußtseins. Wenn ich etwas „bewußt“ sage, sage ich etwas anderes als ich meine, verfolge ich mit dem, was ich sage, eine Absicht, die ich zugleich verberge, ist für mich die Sprache ein bloßes Instrument, aber unfähig, die Wahrheit auszudrücken. Kein Bewußtsein ohne „Hintergedanken“, ohne List, ohne Ziele, die im Dunkeln bleiben. Das Bewußtsein spricht durch die Blume. Erst seit es das Bewußtsein gibt, gibt es die Psychologie, die Frage nach dem, was sich „hinter“ den manifesten Äußerungen des Bewußtseins verbirgt. Wer von einem biblischen Text sagt, daß der Autor „bewußt“ etwas sage oder nicht sage, kreuzigt das Wort.

  • 27.7.96

    „Was nicht erzählt wird, ist nicht passiert“ (Ton Veerkamp, TuK 70, S. 23): Heißt das, daß, wenn Primo Levi seine Erinnerungen nicht niedergeschrieben hätte, Auschwitz „nicht passiert“ wäre? Heißt das, daß, wenn der 5. Strafsenat des OLG in Frankfurt jede Nachfrage nach dem, was in Bad Kleinen wirklich geschehen ist, wenn das Erzählen unterdrückt wird, dann auch die Ereignisse ungeschehen zu machen sind? Begründet dieser Satz nicht die Logik des Namens: Nestbeschmutzer? Begründet er nicht die Hoffnung der Täter (die Hoffnung, deren Logik Lyotard in seinen an Auschwitz anschließenden Reflexionen über das „vollendete Verbrechen“, das die Tat ungeschehen zu machen hofft, indem es auch die Zeugen aus der Welt schafft, untersucht, eine Untersuchung, die auch Licht in die Logik der frühchristlichen Märtyrer-Geschichte <und in die Umkehrung dieser Logik in der Gestalt des Confessors, der den Märtyrer ablöst> bringt)?
    Zahl und Schein: Wie hängt der Begriff der Erzählung mit dem der Erscheinung zusammen? Ist nicht das Organisationsprinzip der ersten die Form der inneren Anschauung (die chronologische Einheit der Erzählung), das der zweiten hingegen die der äußeren Anschauung (die räumliche Einheit, in welche die Naturprozesse durch Verräumlichung der Zeit mit hereingezogen werden)? Erscheinungen sind Erscheinungen im Raum (ihre Gegenwart ist die der Präsenz des Objekts), während Erzählungen als Vergegenwärtigung von Vergangenem deren Gegenwart (nicht das Vergangene selber) als eine sprachliche, als erinnerte Gegenwart erst herstellt.
    Dem kontemplativen Erzählen des Vergangenen entspricht das Beschreiben des Gegenwärtigen: In welcher Beziehung steht das Zählen zum Schreiben?
    Das Erzählen, das heute notwendig wäre, hätte das Prinzip der chronologischen Einheit mit zu reflektieren.
    Kann es sein, daß die Vorstellung sich widerlegen läßt, daß dem Niederschreiben einer Erzählung (des homerischen Epos oder der biblischen Erzählungen) eine Phase der mündlichen Tradition vorausgeht? Ist nicht vielleicht doch das Erzählen ein Produkt der Schrift? Wie hängen Epos, Astronomie und Schrift mit einander zusammen? Ist die Hieroglyphen-Schrift (und ihre Beziehung zum Tempel, deren Wände sie ziert) der Grund dafür, daß Ägypten kein Epos hervorgebracht hat, statt dessen die Pyramiden?
    Zwischen der Himmelfahrt Jesu und Pfingsten liegt nur die Wahl des Zwölften, der stumm bleibt, und von dem dann nichts mehr erzählt wird. Der Zwölfte (sein Name war Matthias) füllt die Stelle aus, die durch den Verrat des Judas Iskariot freigeworden ist.
    Ist das Interesse zu erfahren, was denn wirklich passiert ist, so unerheblich? Gehört nicht die Spannung zwischen dem Erzählten und dem Geschehenen, die nicht aufhebbar ist, zur Wahrheit des Erzählten (zur Wahrheit dessen, was geschehen ist)? Es geht nicht um die nackten Tatsachen, aber auch nicht nur um das Kleid, das die Nacktheit verdeckt (die Legende), sondern um das Unerlöste in der Beziehung beider: um die Erfüllung des Worts, mit der das Vergangene erlöst wird, sich vollendet.
    Hatte der Greuel, das Scheusal der Ägypter, das nach dem Wort des Moses an Pharao die Israeliten am dritten Tag nach dem Auszug aus Ägypten opfern wollten, etwas mit der „Sünde der Welt“ zu tun? Ist nicht der Weltbegriff der Inbegriff der Begriffe, Gesetze und Strukturen, in denen die Vergangenheit fortschreitend Macht über die Dinge gewinnt, der Inbegriff der die Dinge verschuldenden Gewalt; und ist das nicht der Feind, dem die Wahrheit immer erneut abgerungen werden muß? Die Erzählung ist nicht die Welt, aber sie lebt von der Spannung zur Welt.
    Karl Thieme hat einmal gegen das berühmte Wort Leopold von Rankes darauf hingewiesen, es komme nicht darauf an, zu erkennen, wie es eigentlich gewesen sei, sondern was eigentlich geschehen ist. (Biblische Religion heute, Heidelberg 1960, S. 181) Auf dieses Was zielt die Erinnerungsarbeit, aus der das Erzählen sich nährt, auch wenn sie nicht nur im Erzählen sich äußert. Ist nicht jede Theologie, die diesen Namen verdient, Erinnerungsarbeit, und die Schrift der Schlüssel, der die Pforten der Erinnerung öffnet?
    Haben das Wasser und das Trockene (des dritten Tages) etwas mit dem Was und dem Wer, die nach kabbalistischer Tradition im Namen des Himmels gründen, zu tun?
    „Persönlichkeit“: Hierzu wäre an Rosenzweigs Bemerkungen zu diesem „höchsten Glück der Erdenkinder“ zu erinnern, zugleich aber daran, daß nicht sie, sondern die „Kinder Gottes“ es sind, auf deren Freiheit dem Römerbrief zufolge die ganze Schöpfung wartet. Jesus mag der Sohn Gottes gewesen sein, aber er war gewiß keine Persönlichkeit. Sprachgeschichtlich dürfte der Begriff der Persönlichkeit auf den gemeinsamen Ursprung mit der Ausgliederung und der Verselbständigung der Personalpronomina in den modernen Sprachen zurückweisen. Er verdankt sich der gleichen logischen Bewegung, der auch die Herauslösung des „Ich“ aus seinem dialogischen Kontext und seine idealistische Hypostasierung sich verdankt. Im Begriff der Persönlichkeit enthüllt sich das idealistische Absolute als Gattungsbegriff (und der Begriff der Zeugung im christlichen Dogma als deren theologischer Reflex). Frage: Wer ist das Ich im kantischen Begriff des transzendentalen Subjekt, im „ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“? Ist es nicht ein männliches Subjekt, das gegen alle „seine“ Vorstellungen als selbständiges, „autonomes“ Subjekt sich muß behaupten können, und ist es nicht das bürgerliche Subjekt, das es sich leisten kann, Herr all seiner Handlungen (und nicht das Objekt seiner Begierden und Triebe) zu sein? Schließt dieses Ich (das Ich der Persönlichkeit), ähnlich wie der frühchristliche „Confessor“, aus dem es sich herleitet, nicht ebenso wie die Frauen auch die Juden (und natürlich die Häretiker) von sich aus?
    Das Sein, der Gegenstand der Ontologie, ist ein durch Neutralisierung unkenntlich gemachtes Maskulinum und zugleich ein von der Beziehung auf ein bestimmtes Subjekt abgelöstes (und so ebenfalls unkenntlich gemachtes) Possessivpronomen, und die Ontologie selber der Statthalter des Patriarchats in der Philosophie. Das Sein steht zwar völlig nackt da, aber es verbirgt sein Geschlecht durch das magische Verbot, es wahrzunehmen: durchs Verbot der Sprachreflexion, das zu den logischen Gründen des Rassismus gehört (der Wirkung dieses Verbots schienen Nazis nicht ganz zu trauen, die, wenn sie in Uniform fotografiert wurden, ihre Hände davor hielten).
    Die Gravitation und das Selbstgefühl gründen in der Oben-Unten-Beziehung, während das Sehen (in dem die Schwere nicht erscheint) auf den Horizont und die vier Himmelsrichtungen verweist. Zur Befreiung des Sehens („da gingen ihnen die Augen auf“) gehört der aufrechte Gang.
    Die Beziehung des Sehens zur Schwere reflektiert sich in der des Trägheitsprinzips zur Schwere (im Verhältnis der trägen zu schweren Masse, deren Identität der Einheit des Inertialsystems sich verdankt), auch in der des Tauschprinzips zur Schuldknechtschaft (die ihre Einheit außer sich, im Geld, erst finden).
    Ist es nicht der Hahn, der einen Sünder vom Irrweg bekehrt? Und wie hängt die Geschichte von der Maria Magdalena und den Frauen, die hinausgingen, um den Leichnam Jesu zu salben, mit der Geschichte der drei Leugnungen Petri zusammen?
    Wenn der Kreuzestod auf die Zerstörung Jerusalems verweist, verweist er dann nicht auch auf Auschwitz?
    „Allein den Betern kann es noch gelingen, …“: Kann es sein, daß das Wort „Was ihr auf Erden lösen werdet, wird auch im Himmel gelöst sein“ sich auf die Heiligung des Gottesnamens bezieht?
    Die dritte Leugnung: Heute hält selbst sich die Theologie die Theologie vom Leibe, mit der Folge, daß sie unfähig geworden ist, in der Verhärtung des Herzens Pharaos die eigene wiederzuerkennen.
    Als Hegel aus dem transzendentalen Subjekt (dem Ich in Kants „ich denke, …“) die Idee des Absoluten entwickelte, stieß er zwangsläufig auf Strukturen, die identisch waren mit denen des Dogmas, der Orthodoxie.
    Hängt nicht Wittgensteins Satz „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ mit der Schellingschen Formulierung, die Zukunft werde „geahndet“, zusammen, und erfüllen sich nicht beide aufs entsetzlichste in einer Welt, die die Zukunft verrät?
    Ist nicht dieses „Ahnden“ eine logische Folge der Schellingschen Naturphilosophie, die den Schuldzusammenhang universal gemacht hat?
    Natur und Moral: Die Urteilsmoral ist die Folge eines Selbstverständnisses, dem die eigenen Interessen und das eigene Handeln zur reinen, gegen jede moralische Reflexion immunen Natur geworden sind, zu „Sachzwängen“, deren Objekt es bloß ist. Es gehorcht nur den Gesetzen der Selbsterhaltung. Moral ist als Urteilsmoral (als „Wertethik“) Moral für andere: die Moral des steinernen Herzens, dem die Barmherzigkeit, die Fähigkeit, in den andern sich hineinzuversetzen, gegenstandslos und zum flatus vocis geworden ist. Der ökonomische Grund dieser logischen Konstruktion läßt an den Argumenten sich ablesen, mit denen die Sprecher aus Wirtschaft und Politik die Notwendigkeit des Sparens aus den Taschen der anderen begründen. Ist nicht Natur, insbesondere auch die, die die Gesetze diktiert, nach denen ich vorgebe, zu handeln gezwungen zu sein, seit dem Ursprung ihres Begriffs das Korrelat des steinernen Herzens? Deshalb wird es eine Theologie, die diesen Namen verdient, ohne Kritik der „Naturwissenschaft“ nicht mehr geben.

  • 26.7.96

    Das Ende des Messianismus manifestiert sich im Werk des Paulus, nicht bei den Evangelisten (TuK 70).
    Ist die paulinische „Rechtfertigung durch Glauben“ nicht der Ausdruck einer tiefen Verzweiflung darüber, daß das Wort und das Handeln (die Thora, das Gesetz und das Tun) nicht mehr zusammenzubringen sind?
    Waren die Evangelien nicht u.a. deshalb notwendig, weil nach Paulus das Christentum – aufgrund der Abstraktion von der Lehre Jesu – zu einer magischen Religion (zu einer Opfer- oder Mysterienreligion) zu werden drohte?
    Ist nicht das Wort von dem einen Sünder, über dessen Bekehrung im Himmel mehr Freude herrscht als über 99 Gerechte, ein antipaulinisches Wort: Ist nicht dieser eine Sünder der, der über das Gesetz und die Thora, über das Bewußtsein der Sünde, zur Gottesfurcht gelangt ist, die Paulus, der einigemale auf sein „ruhiges Gewissen“ verweist, auch den Christen ersparen möchte?
    Das Fleisch, oder die Gewalt der Sünde über mich, ist nur durch Reflexion und Umkehr, nicht durch Verurteilung und durch Verdrängung, nicht durch Tabuisierung, zu brechen.
    Kommt der Name der Barmherzigkeit bei Paulus überhaupt vor, und verdeckt nicht die Rechtfertigungslehre genau diese Lücke? Gibt es eine Stelle, die der im Jakobusbrief, daß die Barmherzigkeit über das Gericht triumphiert, entspricht?
    Hat Paulus nicht das Christentum zu einer Schutzhütte vor den Unbilden des Römischen Reiches gemacht? Hier ist der Messianismus gestorben und begraben worden, ist das Christentum zu einer magischen Religion geworden.
    Während die Synoptiker nur die leeren Stellen der paulinischen Theologie auffüllen, ist das Johannes-Evangelium antipaulinisch: der Kampf gegen die Komplizenschaft der Herrschenden (deren V-Mann Paulus war, als er noch Saulus hieß) mit den Römern. In der Konsequenz dieser johanneischen Intention liegt die Apokalypse (kann es sein, daß das „Tier vom Lande“, das „zwei Hörner (hat) wie ein Lamm“, aber „spricht wie ein Drache“, vielleicht doch an Paulus erinnert?). Dieser Johannes schreibt immerhin unter dem Namen des „Donnersohns“, des gleichen Jüngers, den „der Herr liebhat“.
    Wenn man im Römerbrief die „Beschneidung“ als Bekenntnis liest, kommt man der Wahrheit näher.
    Der Antisemitismus und vor ihm der kirchliche „Antijudaismus“ gründen in Vorurteilsstrukturen, die durchsichtig werden, wenn man auf das projektive Element in ihnen aufmerksam wird, auf die Mechanismen der Selbstentlastung durch Schuldverschiebung. Beide, der Antisemitismus und der Antijudaismus, sagen nichts über die Juden, aber sehr viel über die Antisemiten und die antjüdischen Christen. Der „eliminatorische Antisemitismus“, auf den Daniel Goldhagen verweist, dessen Buch bereits soviel Hühnerhof-Aufregung verursacht hat, bevor es in Deutschland überhaupt erschienen ist, gründet in genau diesem Mechanismus. Und, bei allen Mängeln, die das Buch haben mag, beweist nicht diese Reaktion, daß es einen Nerv getroffen hat?
    Zu den großen Partien bei Paulus gehört der Satz, daß die ganze Schöpfung auf die Freiheit der Kinder Gottes wartet; dazu gehören die Elementarmächte; dazu gehört nicht zuletzt sein Begriff des Glaubens, wenn man ihn als Asyl des Messianismus begreift. Unerträglich hingegen ist der apologetische Grundton fast aller paulinischen Briefe (sein „Theologisieren“).
    Ist nicht der Hierarchie-Begriff eine zwangsläufige Folge der Subsumtionslogik (in der der Begriff, der die Dinge unter sich begreift, selber in einer Subsumtionsbeziehung zu „höheren“ Begriffen sich wiederfindet)? Läßt er nicht aus der neuplatonischen Emanationslehre sich herleiten, in der Elemente der Licht- und der Herrschaftsmetaphysik trübe sich mischen, und die selber zu den kosmologischen Konsequenzen der Rezeption der Sündenfall-Theologie zu gehören scheint? Hierarchische Strukturen sind Konstrukte der Selbstreproduktion der Subsumtionslogik des Begriffs, die in der Moderne in den subjektiven Formen der Anschauung auf ihren Grund in der Subjektivität zurückgeführt werden; aufzulösen sind sie allein durch die logische Kraft des Namens.
    Die subjektiven Formen der Anschauung sind das logische Äquivalent der Finsternis über dem Abgrund: Unter ihrem Zwang erkenne ich nur noch, was ich in die Dinge hineinlege, nicht mehr, was sie an sich selbst sein mögen. Es hilft nichts, den kantischen Agnostizismus zu kritisieren; hier wird sehr präzise und konkret die vorletzte der ägyptischen Plagen, die allgemeine Finsternis, aufgedeckt.
    Am ersten Schöpfungstag hat Gott nicht die Finsternis durch das Licht vertrieben, sondern eine Hilfe geschaffen, einen realsymbolischen Hinweis darauf, daß die Finsternis nicht alles ist.
    Quoad nos ist die Finsternis das Erste. Aber sind die Christen nicht „das Licht der Welt“ (und zwar nicht durch Restauration irgendwelcher Vergangenheiten, sondern durch Errettung der vergangenen Hoffnung)?
    Verwechseln wir nicht die Heiligen mit den Helden? (Auf diese Verwechslung bin ich bei meiner Erstkommunion gestoßen worden, durch ein Buch, das ich geschenkt erhielt, und das mir durch die Enttäuschung, die es mir beim Lesen bereitete, die Augen geöffnet hat: „Helden und Heilige“. Ich hatte vorher Märtyrer-Geschichten gelesen, aus denen ich gelernt hatte, daß Christsein nicht am Triumph und Sieg der Helden, an ihrem Nachruhm, sondern allein an der Bereitschaft der Heiligen, Leiden und Niederlagen auf sich zu nehmen, auch wenn außer Gott keiner es sieht und anerkennt, sich messen läßt. Das hat mich vorbereitet auf den Vers von Reinhold Schneider.)
    Wer die Gewissenserforschung nur tief genug treibt, wird an einen Punkt kommen, an dem er zum Propheten wird.
    Kann es sein, daß ich an den „Kern der Sache“ nicht herankomme, weil ich ihn nur vor Augen, nicht im Ohr habe?
    Vor dem Gesetz: Hat nicht Kafkas Erzählung einen Mangel; sind es anstatt des einen nicht mindestens sieben Tore, die uns den Weg zum Gesetz verstellen?
    Was heute zur Verzweiflung treibt, ist genau das, was die Verzweiflung vertreiben soll: daß das Leben vor der Glotze endet.
    Ist nicht die chronologische Verwirrung und die Verwirrung der Namen (von Personen und Völkern), die beide zusammenhängen, eine zwangsläufige Folge des Positivismus im neunzehnten Jahrhundert, nach dem Zerfall der idealistischen Systeme? Sie wurde vorbereitet im kopernikanischen System, das, nach seiner dynamischen Begründung durch Newton, durchs Gravitationsgesetz, den Zusammenhang von Sprache und Erinnerung durch Verdinglichung der Erinnerung zum astronomischen Gesetz zerrissen, den Sprachgrund in den Sachen neutralisiert, das Ungleichnamige gleichnamig gemacht hat.
    Trägt nicht die Formulierung (Ton Veerkamp): „Kommt der Messias nicht (bald), hat Paulus ein Problem, ein unlösbares Problem“ (TuK 70, S. 24), die Züge einer Projektion? Nicht Paulus, sondern die gesamte christliche Theologie hat in der Geschichte der Moderne „ein Problem, ein unlösbares Problem“ bekommen. Und heißt dieser Paulus nicht eigentlich Luther?
    War es nicht Paulus, der den Sündenfall zum Absoluten gemacht (und das Christentum zweitausend Jahre vor die Wand gejagt) hat (und hat das nicht die paulinische Tradition begründet)? Als Paulus die Erlösung zur reinen Gnade machte, hat der den Satz vom Binden und Lösen geleugnet, eine Tradition begründet, in der die Kirche als hierarchische Verwaltungsorganisation und die Theologie als Theologie hinter dem Rücken Gottes nur noch binden, nicht mehr lösen konnten.
    War nicht Bubers Übersetzung von Gnade mit „Huld“ eine sehr schlimme christliche Übersetzung, die endgültige Verdrängung dessen, woran die scholastische Lehre von der „heiligmachenden Gnade“ letztmals erinnerte, Ausdruck der Regression der Gnadenlehre durch Einbindung in einen autoritären Kontext? Eine Gnade, die bloß rechtfertigt, nicht gerecht („heilig“) macht, ist ein Palliativ.
    Kommt es nicht im Ernst darauf an, den Begriff der Heiligkeit aus der Tabuzone der Eigentums- und Herrschaftssicherung, aus den Verstrickungen seines nationalen Mißbrauchs, zu befreien?
    Die Idee der Auferstehung lebt von dem ungeheuerlichen Gedanken, daß es ein Leben gibt, das vom Tod (von den Strukturen und Institutionen, die ihn verkörpern) im Kern nicht berührt wird. Nur Gott sieht ins Herz der Menschen, während der Tod sein gegenständliches Korrelat im Staat hat. Der Staat ist in der Tat der Statthalter des Gerichts in der Welt; aber „die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht“ (Jak 213). Ist das nicht der zentrale Einspruch des Jakobus gegen die paulinische Theologie (und gehört dieser Einspruch nicht auch zur Kontroverse um die Beschneidung)?
    Vielleicht hätte es, wenn es Paulus nicht gegeben hätte, das Christentum nicht gegeben. Und vielleicht war nur über diesen „Irrweg“ (Jak 520) eine Tradition zu retten, die anders untergegangen wäre?
    Der Glaube ist die Gestalt, in der die Wahrheit den Weltlauf überlebt. Dieser Glaube aber hat unter dem Bann der Rechtfertigungslogik sich als Keim einer Logik entwickelt, die zur Logik des Vorurteils geworden ist (bezieht sich hierauf das Symbol des Tieres vom Lande, das zwei Hörner hat wie ein Lamm, aber spricht wie ein Drache?).
    Bezeichnen nicht alle antisemitischen Stereotype, vom Hostienfrevel über die Brunnenvergiftung zum Ritualmord (der Wiederholung des Gottesmords) Tatbestände, die den Antisemiten kennzeichnen:
    – der Hostienfrevel die Verdinglichung, die Logik des Fundamentalismus,
    – die Brunnenvergiftung die Bekenntnislogik als Wurzel des Nationalismus und
    – der Ritualmord (der Gottesmord) die Instrumentalisierung des Kreuzestodes in der Opfertheologie?
    Rührt Auschwitz nicht an die Idee der Auferstehung, stellt Auschwitz nicht Ostern in Frage?
    Muß nicht, wer heute noch glaubt, Christ sein zu können, entweder sehr viel verdrängen, oder aber die Kirchengeschichte und die Theologie gegen den Strich bürsten, auf jeden Fall endgültig Verzicht leisten auf jede Form der Apologetik? War es nicht immer schon leichter, aber auch verhängnisvoller, Ereignisse wie Kreuz und Auferstehung auf die eigene Seele zu beziehen anstatt auf den Zustand der Welt?
    Ist nicht Helmut Gollwitzer, als er glaubte, gegen Gerschom Scholems Bemerkungen über den christlichen „Messianismus“ sich verteidigen zu müssen, in eine offene Falle hineingelaufen? Und sind nicht auch die Reflexionen von F.W. Marquardt, denen ich den Hinweis verdanke, daß es Helmut Gollwitzer war, an den der Brief Gerschom Scholems gerichtet war, noch sehr hilflos; können wir uns, kann irgend ein Christ sich freisprechen von dem, was Scholem zu Recht so scharf anspricht? – Müßten nicht in jede Reflexion über den Messianismus dieser Text von Scholem, aber auch seine übrigen Untersuchungen zum Thema (insbesondere über die Geschichte des Sabbatai Zwi, die auch eine Untersuchung über Paulus und das Christentum ist), mit einbezogen werden? Gehorcht nicht auch noch das Verschweigen dieser (im Kern mit Auschwitz zusammenhängenden) Untersuchungen den Rechtfertigungszwängen, die Auschwitz hinterlassen hat, und aus denen Gollwitzer wie auch Marquardt nicht herausgekommen sind (und hat nicht Auschwitz vom Grunde her das Problem der Rechtfertigung in dem Sinne selber neu gestellt, daß der Holocaust dieses Problem theologisch gegenstandslos gemacht hat)?
    Wie kommt es, daß bis heute kein Theologe das Blasphemische, das z.B. an den Kriegsgräberstätten (die die Toten nochmals schänden) sich wahrnehmen läßt, beim Namen genannt hat? Sind nicht diese „Gedenkstätten“, die die Toten instrumentalisieren und mißbrauchen, Gedenkstätten eines Nationalismus, den die Toten, die er produziert hat, überhaupt nicht interessieren, außer als Mittel zur Reproduktion der Logik, der der Nationalismus sich vedankt. Nur die Lüge, sie seien „für die Nation“ (für Führer, Volk und Vaterland, so hieß es damals) gestorben, während sie in Wahrheit für ihnen fremde Zwecke verheizt worden und elend verreckt sind, soll erhalten bleiben: fürs nächste Mal? Aber sind diese Gedenkstätten nicht eigentlich Gedenkstätten einer Opfertheologie, deren säkularisiertes Ritual sie zelebrieren? Die Symbolik, die diesem Ritual zugrundeliegt, ist eine Blutsymbolik: danach heiligt das Blut, das hier verströmt ist, den Zweck, für den es vergossen ist: die Nation, das „heilige Vaterland“, das zwar keiner mehr so zu nennen wagt, das aber der Sache nach weiter besteht.
    Vor diesem Hintergrund kann ich mit der anderen Blutsymbolik, daß wir durch das Blut des am Kreuz geopferten Gottessohns von Sünden rein gewaschen werden, nichts mehr anfangen. Ich meine, die Reflexion dieser Symbolik dürfe nicht länger mehr verdrängt werden. Ich weiß nicht, welche Folgen es haben wird, wenn wir das Paradigma einer Versöhnung durch Blut weiterhin akzeptieren. Vielleicht hilft der Hinweis auf den Satz Jesu, daß er von diesem Weinstock erst im Reiche Gottes wieder trinken wird. Hat nicht die Blutsymbolik etwas mit dem schrecklichen Verdrängungsakt, den das Kriegsende für die Deutschen bedeutete, die danach im Ernst überzeugt waren, nichts gewußt zu haben, zu tun? (Und was passiert, wenn an diese Verdrängung gerührt wird?)
    Schweigen die Götter wirklich in einer Welt, in der, soweit ich sehe, bis heute kein Theologe Anstoß daran genommen hat, daß die „Kriegsgräberfürsorge“ auch nach dem zweiten Weltkrieg nicht nur nicht beendet wurde, sondern zu einer endlosen Geschichte zu werden droht? (Welche Rolle spielt eigentlich der Israel-Nationalismus einiger Theologen bei der Restauration des deutschen Nationalismus?)
    Ideologie ist Rechtfertigung: Beide stehen unter dem Bann der Schuld, den sie nicht zu sprengen vermögen. Die Rechtfertigung reagiert ex post, während die Gotteserkenntnis an das ante, an den Geist der Weissagung heranzukommen trachtet.
    Gehört nicht die Identifizierung des Fleisches mit der Beschneidung in den Scholem-/Gollwitzer-/Marquardt-Komplex?
    Vor einem Schaufenster, in dem u.a. Objekte archaischer „Kunst“ angeboten werden, überfällt mich der Gedanke: „Da halte ich mich lieber ans Original“, und denke an Klee. – Ist der Gedanke nicht ungeheuerlich, daß ein Bild von Klee das Orginal und die archaischen Objekte bloße Nachahmungen sind?

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