Verwaltung

  • 29.09.91

    Ist die „agglutinierende Sprache“ eine Verwaltungssprache: vgl. die Bemerkungen Karl Korns dazu in „Sprache in der verwalteten Welt“ (insbesondere zu den Abkürzungen und zum Gebrauch des Infinitivs), sh. auch Rosenzweig „Stern der Erlösung“ (Suhrkamp-Ausgabe), S. 35.
    Zum Turmbau zu Babel (Verwirrung der Sprache): „… und machen wir uns damit einen Namen“ (Gen 114); das scheint heute, nachdem der Turm Herr über den Himmel geworden ist, nachträglich gelungen zu sein: in der Erfindung der Sumerer. Sich einen Namen machen heißt, sich im Bewußtsein der anderen reflektieren, die anderen zum Maß und zum Gewissen des eigenen Denkens machen: Beginn der Vergesellschaftung und Entfremdung der Sprache, Ursprung des Begriffs (Schicksalsbegriff, Mythos und Herrendenken) und der Reflexionsbestimmungen (Sprache und Dämonie), Bedingung der Möglichkeit von Mathematik und Astronomie, Voraussetzung der Idolatrie.

  • 26.06.91

    Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: Franz Rosenzweig, Existenzielles Denken und gelebte Bewährung, Freiburg/München 1991:
    – „Existentielles Denken“ apriori falsch; aus der einen Bemerkung über Heidegger nach dem Davoser Gespräch läßt sich das nicht ableiten, ohne den Ernst des „Stern“ zu desavouieren, ihn dem Jargon der Eigentlichkeit unterzuordnen;
    – ebenso „gelebte Bewährung“: bei Franz Rosenzweig geht es um die Bewährung der Wahrheit, die den Weg ins Leben eröffnet; gelebte Bewährung: er hat sich bewährt, ihm wird die Reststrafe erlassen?
    Als ich den „Hinweis“ schrieb (mit dem ich überhaupt nicht zufrieden war), habe ich nur dunkel geahnt, worauf ich mich da eingelassen hatte. Mir war nur eines unzweifelhaft klar: hier war die einzige theistische Philosophie, die dem Anspruch des Stands der Aufklärung standhielt. Benjamins Wort über R., er habe es vermocht, „die Tradition auf dem eigenen Rücken zu befördern, anstatt sie seßhaft zu verwalten“, war mir schlicht einleuchtend. Aber es hat mir den Zugang zu diesem doch sehr spröden und unzugänglichen Werk nicht erleichtert. Hinzu kam, daß mir sehr früh klar war, daß eine unmittelbare Rezeption nach Auschwitz nicht mehr (und wahrscheinlich auch vorher nicht) möglich war. Dieses Buch war (schon vor dem Eintritt der Katastrophe) eine jüdische Antwort auf den Antisemitismus; es von der Opfer- auf die Täterseite herüberzubringen, erschien mir (auch angesichts meiner Erfahrungen mit der Theologie) zwingend notwendig, aber auch fast unmöglich. Den leichteren Weg der existentiellen Adaptation mochte und konnte ich nicht gehen (vor R. hatte ich Adorno gelesen, über den ich an Walter Benjamin und dann an R. geraten bin).
    Der Fall Rosenstock ist für mich eigentlich die rätselhafteste (wenn nicht die peinlichste) Geschichte in meiner Beziehung zu Rosenzweig: Ich habe Eugen Rosenstock-Huessy noch in Münster anläßlich einer Gastvorlesung in den fünfziger Jahren gehört, habe es dann aber, nach dem, was ich von ihm an wilden Spekulationen über Rosenzweig (so meine Erinnerung) zu hören bekam, vorgezogen, ihn nicht auf sein Verhältnis zu Rosenzweig anzusprechen. – Ich habe übrigens den Briefwechsel Rosenzweig-Rosenstock nie als einen Beitrag zum „jüdisch-christlichen Dialog“ verstanden, sondern, soweit er Rosenstocks Beitrag betrifft, als eine wenig interessante Privatangelegenheit.
    R.’s Sprachphilosophie ist Ergebnis, Resultat seiner Kritik der Philosophie des Begriffs, auf die seine Kritik des „All der Philosophie“ abzielt. Hier findet die Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Prophetie nach dem Ende der Geschichte der Philosophie erstmals ihre Stelle (unterschiedliche Stellung von Sprache und Begriff zum Objekt, Kritik des Wissens – vgl. hierzu Benjamins theologische Formulierung dieser Kritik im „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ -, unterschiedliche „Aggregatzustände“ der Erkenntnis).
    Was ist „unvordenkliche Existenz“ (S. 30)? – Wer Adorno gelesen hat, weiß, daß der Begriff der Existenz aus dem Idealismus nicht herausführt, vielmehr in ihm (sowohl bei Kant wie auch bei Hegel) seinen präzise bestimmbaren Stellenwert hat; Existenz ist eine idealistische Kategorie. Was Rosenzweig anspricht (ich mit Vor- und Zunamen, nicht das Ich mit seinem Palmenzweig), ist eigentlich nur im Rahmen seiner Sprachphilosophie, im Zusammenhang mit der erkenntniskritischen Rehabilitierung des Namens (der Name ist nicht Schall und Rauch) gegen den von der Philosophie sonst nicht abzutrennenden Bann des Begriffs (der Subsumtions- wie der dialektischen Logik) zu verstehen, d.h. eher vor dem Hintergrund von Benjamins erkenntniskritischer Vorrede zum „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, als im Kontext der Fundamentalontologie Heideggers, gegen die Rosenzweigs Hinweis auf die „verandernde Kraft des Seins“ (im „Neuen Denken“) immer noch das entscheidende Argument liefert.
    Das „ich mit Vor- und Zunamen“ ist übrigens nicht die „Person“, deren Begriff aus der lateinischen Theologie (Tertullian) stammt und heute zu einer verwaltungstechnischen Kategorie geworden ist. Die Differenz ist minimal, fast nicht mehr zu bestimmen, aber zugleich eine ums Ganze: Aufhebung der Differenz zwischen mir und den anderen, Resultat und Grund der Instrumentalisierung des Subjekts, Angleichung des Subjekts ans vergegenständlichte Objekt. Nicht zufällig definiert die Person das Subjekt der Schuld; Grund der Zurechenbarkeit. In der Theologie (zuerst in der Trinitätslehre) bezeichnet die Einführung des Personbegriffs den Ursprungspunkt des apologetischen Denkens, des Theodizee-Zwangs: Der Personbegriff setzt die Menschen und Gott unter Rechtfertigungszwang, gleichsam unter ständigen Anklagedruck. Er ist so nur mit einer Opfertheologie zu begründen, in der am Ende die Gottesidee selber untergeht.
    Kann man die Stellung des Islam aus dem R.schen System herauslösen (S. 36), ohne das System selbst zu zerstören? Wird es nicht so wieder zu dem, was es doch um keinen Preis sein will: zur Religionsphilosophie, zur Weltanschauung?
    Auf andere Weise ist dann freilich doch das „System zu zerstören“ – um es zu retten: Nach Auschwitz (und im Kontext einer Kritik des Herrendenkens in ihrem Kern: in der Geschichte der naturwissenschaftlichen Aufklärung) haben sich die elliptischen Zentren so verlagert, daß das System nur über eine Neukonstruktion zu retten ist. Die bloße Konservierung, die nützlich ist zum Verständnis, vergißt das Beste, trägt bei zur Zerstörung.
    Franz Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ ist auch ein Genie- und Gewaltstreich. Und genau von diesem Bann wäre es zu befreien. (Vgl. dazu auch die Bemerkungen Scholems zum Stern.)
    Bei Heidegger ist von der Philosophie nur der autoritäre Gestus übriggeblieben, und dessen Begründung und Erhaltung dient die gesamte Fundamentalontologie. Die strategische und taktische Absicherung dieses Gestus ist ihr einziger Inhalt.
    Meine Intention ist der des Historikers genau entgegengesetzt: mir geht es nicht um die Vergegenständlichung der Vergangenheit, sondern um ihre Entgegenständlichung: um das Eingedenken, um die Erinnerung, darum, auch in den fremdesten und chockierendsten Dingen noch meine eigene Geschichte zu erkennen. Was ich in mir selber aufarbeiten muß, steckt in dieser Vergangenheit.
    Der raf ins Album: Die terroristischen Aktionen haben die ihrer Absicht genau entgegengesetzten Wirkungen; sie exkulpieren die Strukturen und Handlungen, die sie angreifen. So, wie nach den Morden an der Startbahn alles, was vorher passiert ist, vergeben und vergessen war. D.h. mit in Rechnung zu stellen ist immer die antiaufklärerische Wirkung, die Tatsache, daß im Rahmen des Schuldverschubsystems die andere Seite am stärkeren Hebel sitzt. Der Terrorismus macht die Charaktermasken des Bestehenden zu Opfern, und damit unangreifbar.

  • 18.06.91

    Wann und nach welchen Prämissen wurde die Chronologie der Erdgeschichte festgelegt? (Trifft es zu, daß die geologischen Formationen in anderen Regionen – in Südamerika? – in anderer, umgekehrter Folge sich vorfinden?)
    Natura non facit saltum: Dieses Prinzip scheint die gleiche Funktion zu haben wie das Prinzip der Erhaltung der Energie: es konstituiert und stabilisiert das System und den Begriff der Natur, hat aber darüber hinaus keine Bedeutung.
    Liegt der Unterschied zwischen Sklaven und Leibeigenen darin, daß Sklaven dazu gemacht worden sind (durch Unterwerfung), während Leibeigene dazu geworden sind (aufgrund wirtschaftlicher Zwänge, die eine funktionierende Geldwirtschaft schon voraussetzen: vor allem durch Schulden oder schuldenähnliche Bindungen). Gunnar Heinsohn hat den Vorgang unter dem Begriff „Schuldknechtschaft“ beschrieben; nur: hat er ihn nicht doch historisch falsch lokalisiert, ist er nicht erst anwendbar auf die Geschichte des Zusammenbruchs des römischen Latifundiensystems, am Ende der Antike?
    Die Kirche hat mit der Opfertheologie Jesus zum vergöttlichten Ein-Mann-Proletariat und zum Symbol und Inbegriff der gesamten Vergangenheit gemacht (den Kreuzestod zum Inbegriff der Arbeit, die die Menschheit seit dem Sündenfall geleistet hat – „im Schweiße ihres Angesichts“), zum einzigen Produzenten der Gnaden, die die Kirche verwaltet und den Gläubigen zum Genuß gibt.
    Bekenntnis und Masse: Durch den Zwang der Bekenntnislogik werden an dem, der sich dem Bekenntnis unterwirft, die gleichen Strukturen und Eigenschaften evoziert, die das Inertialsystem an der Materie bewirkt. Durchs Bekenntnis werden die Gläubigen zu der trägen und schweren Masse, die sich dann beherrschen und manipulieren läßt.
    Kann es sein, daß die gesamte Mikrophysik, von der Elektrodynamik, über die Thermodynamik und Quantenphysik bis hin zur Chemie als Resultat einer Spiegelung des Gravitationsgesetzes am Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit sich begreifen läßt?
    Die Nachkriegsdiskussion um die Kollektivschuld hätte ein Anlaß sein können, das Nachfolge-Gebot neu zu reflektieren und zu begreifen. Nur im Sinne des Nachfolge-Gebotes ist es nicht nur sinnvoll, sondern zwingend geboten, diesen Aspekt der Kollektivschuld (als Übernahme der Schuld der Welt) als ein zentrales christliches Motiv wieder in die Erinnerung zurückzurufen, allerdings mit der Folge der Relativierung der „persönlichen“, zurechenbaren (und deshalb beichtfähigen) Schuld.
    Die Welt ist alles, was der Fall ist: Der Fall ist das, was das Subjekt von hinten: sein physis oder das Subjekt als Person, überfällt (der Blinddarm, der Diebstahl, die Onanie, der Mord, der Sozialfall; die Krankheit, das Verbrechen, die Sexualität, die Not), seine „Erscheinung“ im Wahrnehmungsfeld der Verwaltung, der Medizin, der Justiz, des moralischen Urteils, des Geredes.

  • 14.06.91

    Zur Struktur des „Falls“ (des/der casus): Die Physik ist nicht einfach die Wahrheit, sondern ein Aggregatzustand der Erkenntnis, der dem der Theologie genau entgegengesetzt ist: Sie kennt von den Deklinationen (den casus) nur noch den Akkusativ (und erst die dazugehörige Erkenntnistheorie den Genitiv, der hier im übrigen indifferent ist gegenüber der Unterscheidung von genitivus subjectivus und objectivus: Grund der Differenz von Genesis und Geltung und der Reflexionsbegriffe; vgl. auch den gen. criminis: Der Genitiv ist Ausdruck einer Schuld- oder Herrschaftsbeziehung, die dann im Akkusativ sowohl vergegenständlicht, verdinglicht, als auch verdrängt wird; der Dativ ist Ausdruck einer Zuwendung, der Gnade: Restitution des Subjekts). Hierauf bezieht sich das „emitte spiritum tuum et renovabis faciem terrae“.
    Grammatisch verwandelt das Sein – darin liegt seine „verandernde Kraft“ – jedes Handeln in ein Geschehen, verleiht ihm den Schein der Subjekt- und Schuldlosigkeit, begründet aber eben so den Schuldzusammenhang (begründet die insbesondere in der Verwaltung so beliebten -träger wie z.B. Verantwortungsträger; Grundlage des Personbegriffs: Namensträger; ähnlich ist die Materie „Träger“ ihrer Eigenschaften (Substanz und Akzidenz): Folge der Beziehungen der Dimensionen im Raum, der Beziehung von Orthogonalität und Reversibilität). Das Sein ist der Grund der Verwandlung des Prädikats in den Begriff und der Tod des Verbums (et verbum caro factum est).
    Der wirkliche Name, ist nicht der Name, den man hat, sondern der, der – wie in der Kafkaschen Erzählung – sich erst bildet. Vergeblich, wenn nicht verhängnisvoll, ist der Versuch „sich einen Namen zu machen“ (wie Nimrod; er war ein großer Jäger vor dem Herrn und Begründer der großen Stadt).
    Die Physik ist nicht die Sünde wider den Heiligen Geist, aber die bis heute stärkste Absicherung der Verführung dazu.
    Hat das Fronleichnamsfest nicht etwas von einem barbarischen Triumphzug?
    Zum Begriff der Gottesfurcht: Wir alle haben die ganze Gesellschaft als verinnerlichte Kontroll- und Zensurinstanz im Kopf. Daran müssen wir uns abarbeiten, um an den Punkt herzukommen, an dem wir in der Gottesfurcht, im Angesicht Gottes, uns wiederfinden. Das ist der einzige Punkt, von dem aus wir diese verinnerlichte Kontrollinstanz zu kritisieren und zu durchschauen in der Lage sind. Auf dieser Basis läßt sich die Adornosche Philosophie als der bis heute genaueste Ausdruck der Gottesfurcht begreifen.

  • 23.05.91

    Zu Siegfried Herrmann, Jeremias, Darmstadt 1990: Schwer erträglich der Objektivitätsanspruch, der soweit geht, das der Autor sich selbst in der dritten Person zitiert. Damit scheint es zusammenzuhängen, daß
    – die „Quellen“-Suche einfach nach dem Eindruck aussortiert (und der deuteronomi(sti)schen Redaktion zuordnet), was dem eigenen Prophetieverständnis nicht entspricht;
    – das Prophetie-Verständnis selber sich (positivistisch) an den Klischees „Heils-“ und „Unheilsprophetie“ orientiert, hierbei tendentiell die „Heilsprophetie“ den „falschen Propheten“ zuweist, ohne die zentrale Bedeutung der Umkehr zu sehen, die wörtlich zu verstehen ist: durch Umkehr wird Unheilsprophetie zu Heilsprophetie, beide sind zwei Seiten der gleichen Sache; und falsche Propheten sind jene, die „Heil“ ohne Umkehr versprechen.
    – Deutlicher als „Heil“ und „Unheil“, die christlichem (und dann faschistischem) Sprach- und Denkgebrauch entsprechen, wären ohnehin die biblischen Begriffe Gericht und Barmherzigkeit: Das Gericht ist das Gericht der Barmherzigkeit über die unbarmherzige Welt (über das Weltgericht).
    – Unerträglich auch die unvermittelte (an preußisch-deutsche Traditionen der Geschichtsschreibung erinnernde) Zuordnung des Prophetenworts zu frühgeschichtlichen Kriegsereignissen mit der Tendenz, Unheil mit Niederlage und Heil mit Sieg gleichzusetzen: so als hätte das Hören aufs Prophetenwort die Niederlage, Unterwerfung und Vertreibung, das Exil, verhindern können. Prophetie ist Herrschaftskritik, nicht Kritik der Herrschaft des Feindes. (Die hämische Reaktion dessen, der den Besiegten nachträglich an seine – vom Propheten vorhergesagten – Fehler erinnert, entstammt der Tradition dieses Prophetieverständnisses).
    – Geschichtsschreibung als Einfühlung in die, die seit je gesiegt haben, verfehlt die historische Wasserscheide der Prophetie von vornherein.
    Unterirdisch scheint hiermit auch Bubers Schrift- und Prophetieverständnis zusammenzuhängen, wie es u.a. in seiner archaisierenden Sprache sich zeigt. Verwaltungssprache wird nicht dadurch „echter“, daß sie auf frühfeudale Verhältnisse rekurriert, gleichsam durch heroische Patina sich zu legitimieren sucht, Geistesgegenwart durch hierarchisches, entmündigendes Realitätsverständnis (Künden, Weisen, Walten), zu dem dann das existentialistische „Geschehen“ paßt: durch den Rückgriff auf vorzivilisatorische Verhältnisse ersetzt (durch die man glaubt, dem antisemitischen Gesetzesverständnis sich entziehen zu können, während man zugleich gesetzlose Zustände, die dem Antisemitismus zugute kommen, befördert).
    Zu Jeremia „der Nacken und nicht das Gesicht“ (vgl. S. Herrmann, S. 95): Präzisierung des „hinter dem Rücken“; der Nacken beugt sich vor den Herren; er trägt die Last, das Joch (beugt sich unter der Last der Schuld). Vgl. u.a. Jer 1719ff: die Sabbatheiligung, 271ff: Zeichenhandlung vom Joch u.ö.
    Kann es sein, daß man die – aus Deuterojesaias Gottesknecht-Liedern stammende – Vorstellung vom Sühneleiden des Gerechten (Jes 53) auf ihren Realgehalt zurückführen, daß man die christliche Form ihrer Adaptation gleichsam umkehren muß, um ihre Wahrheit zu begreifen; man darf sie nicht aus der Sicht des Volkes, sondern aus der des Gottesknechts: nicht teleologisch, sondern kausal interpretieren: als erstes Zeugnis jenes Mechanismus, der dazu führt, daß in der Tat der Gerechte das erste Opfer der Gemeinheit ist, die im realen historischen Prozeß sich durchsetzt, wenn die Gottesfurcht verschwindet und die Lehre keinen Platz mehr findet. Falsch (dem Nachfolgegebot widersprechend) ist auf jeden Fall ihre Umformung zur Opfertheologie, die durch Instrumentalisierung das progressive Verschwinden der Gottesfurcht und der Lehre verursacht und am Ende beschleunigt hat. (Vgl. aber dagegen Hebr 1010 u.a.)
    Die Bemerkung aus der DdA, wonach die Distanz zum Objekt vermittelt ist durch die Distanz, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt, sowie die Konsequenz, die sich aus der mittelalterlichen Interpretation der biblischen Dornen und Disteln durch die Wormser Chassidim ergibt, ist ohne eine kritische Naturphilosophie nicht zu halten.

  • 27.04.91

    Jes 22f und Mi 41f auf das Bekenntnis und das verdinglichte Dogma anwenden. Beide sind in der Geschichte des Christentums zur Waffe geworden; an ihnen klebt Blut.
    „Schwerter zu Pflugscharen“: d.h. Objektivierung durch Nachfolge ersetzen (Entkonfessionalisierung). „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen (den Acker bebauen).“ -Damit hängt auch Benjamins Wort über Rosenzweig zusammen, daß er es vermocht hat, die Tradition auf dem eigenen Rücken weiterzubefördern, anstatt sie seßhaft zu verwalten. Die Verwaltung ist das gegenständlich-politisch-gesellschaftliche Korrelat des Bekenntnisses. Es gibt keine Verwaltung ohne Bekenntnis, und kein Bekenntnis ohne Verwaltung (so wie keine Verwaltung ohne Hierarchie und keine Hierarchie ohne Verwaltung). Das erste kirchliche Verwaltungsamt ist das des Bischofs, des Aufsehers (des Hüters des Bekenntnisses: Heideggers Hirt des Seins ist ein spätes Echo davon).
    Über den geschichtsphilosophischen Zusammenhang von Bekenntnis und Empörung, oder Empörung als Versuchung.
    Woher stammt die Legende (und welche Bewandnis hat es mit ihr), daß Petrus mit dem Kopf nach unten gekreuzigt worden sein soll?
    Die Diakonie wäre das Wesen des Christentums, wenn die Interpretation von Elisabeth Moltmann-Wendel (unter Bezugnahme u.a. auf Schüssler-Fiorenza) zutreffen würde. Dann wäre das Dienen ein nicht mehr vom Herrendenken entstelltes und verhextes Dienen.
    Gibt es eine Beziehung zwischen unserer Beziehung zur präzivilisatorischen Vergangenheit und unserer Beziehung zur Natur (ist die Grenze zur Vorgeschichte auch die zur Natur: der Ödipuskomplex)?
    Der Schlüssel zum Lösen liegt nicht in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit und erscheint deshalb als unzugänglich; unterschätzt wird die Kraft der Erinnerungsarbeit, des Eingedenkens. Vgl. hierzu Ezechiel (Auferstehung). Kann es sein, daß die Lösung des Rätsels der Gnosis ein Teil der Lösung im Sinne von Mt 1618 (?) wäre. Hier, in der Auseinandersetzung mit der Gnosis hat die Kirche erstmals gebunden und nicht gelöst. Und diese erste Bindung hatte möglicherweise etwas von dem parvus error in principio (hat die Kirche nicht den gnostischen Demiurgen dann in der Tat zum Gott der Christen gemacht; oder hat die Gnosis nicht nur offen ausgesprochen, was unter den Händen der Kirche aus Gott geworden ist).
    Nicht das Ergebnis des Säkularisationsprozesses ist falsch, sondern seine Interpretation. Hier wird die Humesche Tradition, die durch Kant nicht widerlegt, nur lokalisiert worden ist, wichtig.
    Der säkularisierte Staat ist es erst wirklich, wenn er die Rechtfertigungszwänge abbaut, die insbesondere in den schuldbezogenen Institutionen wie die Justiz fortleben. In welcher Beziehung zum Bekenntnissyndrom steht die Institution des Bundespräsidenten (des säkularisierten Königs)?
    Modell für die Verdoppelung ist das Sich-Verstecken Adams. Wo versteckt sich Adam? Haben die Bäume, unter denen er sich versteckt, etwas mit den Dornen und Disteln zu tun? Adam redet sich dann auf Eva heraus, Eva auf die Schlange; und was sagt die Schlange?
    Geliebt wirst du einzig, wo du ohne Furcht dich schwach zeigen darfst (Adorno: Minima Moralia). Das hängt zusammen mit der Utopie eines Lebens ohne Rechtfertigungszwang. Deshalb: Seid klug wie die Schlangen … Ohne Rechtfertigungszwang kann man nur leben, wenn man den Schein durchschaut, der anklagendem, richtenden Denken zugrundeliegt. Das Durchschauen dieses Scheins wäre das Ziel einer Kritik der Säkularisation, aber eine Kritik dieses Scheins ist nur in theologischem Zusammenhang möglich. Beweis: Eine Kapitalismus-Kritik, die die Prämissen des Kapitalismus, die Herrschaft des Tauschprinzips, nicht antastet, führt in schlimmere Dinge hinein als der Kapitalismus. – Die Gottesfurcht ist nichts anderes als der Grund der Freiheit vom Rechtfertigungszwang, und der Rechtfertigungszwang hat keine theologischen, sondern nur gesellschaftliche Gründe. Der Schein ist nur aufzulösen durch Auflösung des Schuldzusammenhangs, oder durch Auflösung des Schuldverschubsystems, der den Schuldzusammenhang konstituiert. D.h. er ist nur aufzulösen in Befolgung des Nachfolgegebots, des Gebots, die Schuld der Welt auf sich zu nehmen, der Arglosigkeit oder des Verzichts darauf, Selbstentlastung durch Projektion der Schuld zu erreichen.
    Die Gnadenlosigkeit des Christentums ist eine Folge der Gnadenlehre.
    Eindruck beim Lesen des Interviews mit Jehoshua Leibowitz: er scheint gelegentlich so zu antworten, daß er nur die Frage ad absurdum führt; das hängt dann mit der Qualität der Fragen zusammen. – Es scheint eine Beziehung zu geben zwischen seiner Kritik der Psychoanalyse und der Ablehnung des Christentums; unklar, ob ihm diese Beziehung selber bewußt ist. – Der Interviewer fragt gelegentlich wie ein beflissener Schüler; gibt es eigentlich einen Lehrer, der nicht darauf hereinfällt? Genau hierin drückt sich etwas vom prekären Verhältnis des Professors zur Öffentlichkeit aus, das mit einer gleichsam existentiellen Verunsicherung verbunden ist, die durch die Bestätigung durch Schüler gemildert wird (der Professor ist auch eine öffentliche Person, wie Schauspieler, Politiker, Huren, Journalisten: alle müssen über eine Schamgrenze sich hinwegsetzen).
    Es scheint eine Querbeziehung zu geben zwischen der Konstitution von Wissenschaft, der Prostitution und der Hexenverfolgung. Die Hexenverfolgung scheint ein erster Ausdruck dessen zu sein, was Ralph Giordano die zweite Schuld genannt hat. An diesen (nicht ungefährlichen) Punkt rührt die Kritik des Bekenntnisses; sie könnte zum Auslöser der „verfolgenden Unschuld“ werden, die in der Konstruktion und Dynamik des instrumentalisierten Bekenntnisses, die heute fast nicht mehr zu umgehen ist, gründet. Der Hinweis auf die christlichen Ursprünge von Auschwitz – ein Komplex, zu dem J. Leibowitz auch den Marquardt zitiert – scheint hiermit zusammenzuhängen. An die gleiche Frage rührt der Satz, den Georg Büchner Danton in den Mund legt: „Was ist das, was in uns hurt, mordet, lügt, stiehlt …“
    Galileis Blick durchs Fernrohr und der Habitus des Zuschauers: Es ist der Habitus des Zuschauers, der den ganzen Apparat von Schuld, Verdrängung und Projektion mit einschließt, absichert und stabilisiert. Hiermit hängt es zusammen, wenn Auschwitz nicht vergangen ist, sondern gegenwärtig in seinen Metastasen in der Dritten Welt fortlebt, wo in unserem Auftrag gehungert und gefoltert wird. Frage: Wann greift der Mechanismus wieder aufs Zentrum über?
    Gibt es eine Beziehung zwischen den Mizwot und den evangelischen Räten?
    Wie verhält es sich mit Bileam? (Bileams Esel, der Engel mit dem feurigen Schwert und dazu in der Apokalypse die Warnung davor, Bileams Lehre zu folgen – bezieht sich auf das der Bileam-Geschichte folgende Kapitel).
    Der Feminismus (z.B. Christa Mulack) gibt gelegentlich zu sehr der Versuchung nach, historische Sachverhalte wie auch biblische Lehren moralisch anstatt strukturell zu interpretieren. Hier reproduziert er den Fehler, den er kritisiert. Hier tritt er patriarchales Erbe an. Der biblische Gottesname gilt für die erste Person, er liegt vor der Scheidung in männlich und weiblich. Er ist nicht in die dritte Person (in der es erst die Geschlechtertrennung gibt) übersetzbar. Und hier – so scheint mir – übersetzt auch Martin Buber falsch.

  • 23.04.91

    Das „Semper aliquid haeret“ ist heute zum Grundprinzip wissenschaftlicher Erkenntnis und gesellschaftlichen Handelns geworden: Es kommt nur darauf an, nicht widerlegt werden zu können (so wie bei der Vorbereitung der Gesetzgebung in der obersten Verwaltung oder auch bei Entscheidungen nachgeordneter Behörden nur darauf, daß der Referent sich selbst salviert: für die Folgen seines Tuns nicht verantwortlich gemacht werden kann). Hier treffen sich systemnotwendig unverantwortliches Handeln und sein Spiegelbild im Objekt: der Verfolgungswahn der Opfer, die das, was ihnen widerfährt, sich nur als böse Absicht der Herrschenden erklären können. Auf den sogenannten Terrorismus reagieren die Herrschenden deshalb so irrational und wütend, weil sie im Terrorismus auf das Prinzip ihres eigenes Handelns treffen. Die Differenz ist nur noch eine Machtfrage: deshalb ist das Gewaltmonopol des Staates und seine exzessive Auslegung heute so wichtig.
    Letzte Folge der Verletzung des Bilderverbots: Das Bild, die Verdoppelung der Natur, wird zur Realität, zur zweiten Natur, an der man sich ebenso den Kopf einrennt wie an der ersten. Aber dieses Verdoppelungsprinzip (Grund der Ebnerschen „Ich-Einsamkeit“) ist das der Existenz, des Überlebens in der vom Herrschaftsprinzip verhexten Gesellschaft. Wir sind alle nur noch Doppelgänger, Schauspieler (Maskenträger: personae) unserer selbst, deshalb atheistisch.
    Ist die Apokalypse die Gestalt der Tragödie im Bereich der Offenbarung: Repräsentiert das „Tier“ den tragischen Helden, die notwendige Folge seines Verstummens? Warum gibt es keine spekulative Grammatik?
    Vgl. hierzu Ferdinand Ebners Bemerkungen zum Atheismus, dessen tiefe gesellschaftliche Verwurzelung er allerdings nicht begreift, den er deshalb (ohne den Grund hierfür erkennen zu können) auch verharmlost. Die Einsicht, die den Grund der Weltanschauung aus den Angeln heben könnte, wird so selbst wieder zur Weltanschauung, zu einer persönlichen, privaten Angelegenheit.

  • 04.03.91

    Zum Begriff der Natur: Heute sind die Sünden des Unterlassens, des Zuschauens und Nichtstuns schlimmer als die des Tuns: sie ermächtigen das subjektlose und bewußtlose Handeln des blinden Naturlaufs, der allemal in die Katastrophe führt. Dieses Nichthandeln bedarf der Rechtfertigung; das Anwachsen der Rechtfertigungslehren ist darin begründet; diese müssen dann abgesichert werden durchs Bekenntnis, das nichts ändert, nur folgenlos (und scheinhaft) exkulpiert.
    Die Fundamentalontologie ist der letzte Versuch, die theoretische Vernunft, das kontemplative (zuschauende) Verhältnis zu den Dingen (die Grundlage des wissenschaftlichen Erkenntnisbegriffs) vor den Konsequenzen der kantischen Vernunftkritik zu retten: eben damit verfällt sie dem Gesetz der sich selbst entfremdeten Erscheinung, der irreversiblen Trennung vom An sich, des Andersseins (vgl. Rosenzweigs Bemerkung über die verandernde Kraft des Seins). Herausoperiert wird die moralische Geiselhaft: die Gottesfurcht (zur Unkenntlichkeit verkürzt in Begriffen wie „Geworfenheit“, „In-der-Welt-Sein“, „Geschichtlichkeit“). Notwendig ist heute, wenn Philosophie überhaupt noch zu retten ist, die Kritik des Theoriebegriffs, letztlich der kantischen subjektiven Formen der Anschauung und ihrer realen Vorläufer und Äquivalente: des Tauschprinzips und des Bekenntnisses (dreifache Leugnung), am Ende der Leugnung des Opfers (durch seine Instrumentalisierung und Vergegenständlichung in den Begriffen des Sakraments, des Objekts und der Ware). Es gibt keinen Ausweg außer in der Nachfolge.
    Intimfeind Heidegger: Heidegger-Kritik als Erforschung des projektiven Anteils an dieser Feindschaft (Konsequenz aus dem Gebot der Feindesliebe).
    Der Ursprung der Gemeinheit im Verwaltungsdenken: Wenn Asyl-Bearbeitungsstellen Antragsteller in eines der ehemaligen DDR-Länder schicken, obwohl sie genau wissen müßten, welche Folgen das für die Situation in den neuen Bundesländern und für die Asyl-Bewerber selbst haben wird, so leitet sich das her aus dem Ressortdenken, dem Verwaltungsprinzip der Zuständigkeit: aus einer strukturbedingten (nicht persönlichen) Dummheit der Sachbearbeiter. Nur: diese Dummheit ist gewollt; sie wird in der Ausbildung der Sachbearbeiter eingeübt und durch Verwaltungsvorschriften, durch die Struktur der Verwaltungsorganisation und die Regeln des Verwaltungshandelns stabilisiert; Abweichungen werden durch externe und interne Prüfungsorgane verfolgt und durch Sanktionen unterbunden. Honoriert wird hier (wie in jeder, auch der kirchlichen Verwaltung) die grundsätzliche Verletzung des Nachfolge-Gebots.

  • 19.02.91

    „Doch die Frauen haben einen Vorzug: Sie haben kein Gesicht zu verlieren.“ (Erica Fischer in der taz vom 19.02.91)
    Der Satz hängt mit den anderen zusammen: „Frauen sind nicht bekenntnisfähig (Forderung biologischer Unschuld: Jungfrau).“ „Männer dürfen nicht weinen (müssen sich zu ihrer Tat bekennen: Confessor).“ Das Gesicht, daß die Männer glauben, nicht verlieren zu dürfen, ist ein öffentliches Gesicht: die Maske der Person, die sie auf der Weltbühne der Politik, des Geschäfts, der Durchsetzung des Rechts als Existenzgrundlage benötigen (als Grund der Fähigkeit, mit der Schuld zu leben). Hintergrund ist das unterschiedliche Verhältnis zur Schuld (Biologisierung und Vergeistigung: Ursprung des Idealismus und des Rassismus) und die Unfähigkeit, diesen Konflikt aufzuarbeiten. Männer machen die „Drecksarbeit“, kämpfen insbesondere gegen den „inneren Schweinehund“ (im eigenen Innern und draußen), während die Frauen den Schein der „heilen Welt“ des Privaten, die die Männer durch ihre Arbeit draußen begründen und nach außen absichern, nach innen durchsetzen und nach draußen repräsentieren (Zusammenhang mit dem Eigentumsbegriff, mit der Geschichte des Tauschprinzips.)
    Das Bekenntnis steht in der Geschichte des Falls und transportiert ihn weiter, ist die Grundlage für die falsche Säkularisierung der Theologie (die Geschichte der Gottesleugnung).
    Wer sich zu etwas bekennt, gibt sich als etwas zu erkennen (Mord, Mörder).
    Seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben: ein Gebot wider die Personalisierung der Schuld, gegen das Geschwätz (Gerede), gegen das Herrendenken.
    Gibt es einen sprachlichen Zusammenhang zwischen Welt, Gewalt, Verwaltung? Begründen Gewalt und Verwaltung die Welt (Funktion der Engelhierarchien)? Säkularisation kommt dagegen von saeculum: von Zeitalter, Weltalter, Epoche (per saecula saeculorum: durch die Zeitalter der Zeitalter, nicht „von Ewigkeit zu Ewigkeit“: Verewigung des Zeitalters?). Klingt im saeculum auch der astrologische Weltbegriff (Planeten als Herrscher der Zeitalter) an, oder nur der politische Begriff (assyrische. chaldäische, römische Aera, apokalyptischer Epochenbegriff)? – „per J.Chr., filium tuum, qui tecum regnat et imperat per s.s.“
    An der Hegelschen Philosophie läßt sich demonstrieren, daß der Antisemitismus mit der Leugnung des Vaters zusamenhängt.
    Das „messianische Licht“ in dem Stück „Zum Ende“ ist der genaue Ausdruck dessen, was man bei Adorno Gottesfurcht wird nennen dürfen.
    Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus legt den Schluß nahe, daß der Übergang von der Theorie zur Praxis nur unter theologischen Prämissen sich bestimmen läßt. Erst in theologischem Kontext wird die Theorie praktisch.
    In einem Punkt hat die christliche Sexualmoral recht: Es gibt eine Schamgrenze, die nicht überschritten werden darf. Ihr Fehler liegt jedoch darin, daß sie sich Scham nur als sexuelle Scham vorstellen kann: Im Übrigen ist die Theologie in der Tat unverschämt und schamlos. Sie hat bis heute nicht begriffen, daß die Schamgrenze (auch die sexuelle) durch die Idee der Gottesfurcht definiert und bestimmt wird.
    Das „et ne nos inducas in tentationem“ gilt auch im Hinblick auf die Empörung. Mehr noch: Es gibt keine Versuchung, die diesen Namen mehr verdient (Gemeinheit wird belohnt durch die Moralität dessen, der sich aus der Schuldzone durchs moralische Urteil herauszustehlen sucht; vor allem: er bemerkt es nicht.) Empörung ersetzt die Kraft des Arguments durch die personalisierende Projektion, durch Wut, die zugleich dem Wütenden den Schein der moralischen Überlegenheit verleiht. Empörung verhindert eben damit das, was aus dem Teufelskreis herausführen könnte: die Kraft der Besinnung, der Differenzierung, der Identifikation und der Unterscheidung. Man muß den alten theologischen Sinn von Empörung, nämlich Hybris, in diesem Begriff mithören: Mit dem Herrendenken wurde auch diese Hybris sozialisiert.
    Der Säkularisationsprozeß hat nicht erst zu Beginn der Neuzeit, sondern – mitten in der Theologie – schon in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung, in der Phase der Kirchenbildung, der Ausbildung des Dogmas: der Anpassung an die Welt, begonnen. Die ersten Gestalten der säkularisierten Religion waren der Confessor und die Virgo.
    Gesinnung als moralisches Alibi: Die reine Gesinnung will sich nicht selbst mit der Schuld beflecken, von der sie doch zugleich selbst lebt.
    Die Idee des Ewigen schließt die Vergangenheit von sich aus; aber ist nicht die Idee des Ewigen selbst eine vergangene Idee?
    Muß man zum Verständnis der Figur der Magd darauf achten, daß es sich um die Magd des Hohepriesters (nach Joh. um die Pförtnerin) handelt, daß die Leugnung im Hof des Hohepriesters sich ereignet? Und was hat es mit dem Vorhof und dem Tor auf sich? Ist die Kirche (Petrus) immer im Hof oder im Vorhof des Judentums geblieben (bis zum Hahnenschrei)? (Zusammenhang mit dem frühkirchlichen Antijudaismus?)
    Bei Johannes ist der „Jünger, den Jesus lieb hatte“, der Petrus den Zugang zum Hof des Hohepriesters verschaffte.
    Die johanneische Pförtnerin: Ist sie nicht eine Verwandte des Kafkaschen Türhüters (Vor dem Gesetz).
    Theologie im Angesicht Gottes: Als Jesus sich umsah und ihn anblickte, da ging er hin und weinte bitterlich.
    Bei der dritten Leugnung verflucht Petrus sich selbst.
    Die dreifache Leugnung:
    1. die Rezeption der griechischen Philosophie,
    2. die Rezeption der islamisch weiterverarbeiteten Philosophie,
    3. die europäischen Aufklärung. Hier helfen die Mittel, die den Kirchenvätern und den scholastischen Kirchenlehrern noch zur Verfügung standen, nicht mehr.
    (Die Angst davor, als Sympathisant erkennt zu werden, gab es damals schon: sie ist die Urangst des Christentums.)
    Die drei Leugnungen beschreiben exakt den Prozeß der Selbstentfremdung (der auch über die zuschauenden Anderen abläuft und in der Selbstverfluchung endet).
    Hat die Pförtnerin etwas mit der Schlüsselgewalt Petri zu tun? Zur Pförtnerin gehört auch, daß
    – Petrus Einlaß durch Johannes bekommen hat,
    – die ganze Geschichte sich im Hof, im Vorhof und am Tor abspielt. (Wer sind eigentlich die Galiläer? – Jakob Böhme würden jetzt vielleicht die Gallier, die Galizier, die Fürstin Gallitzin und vielleicht auch noch die Galle einfallen.)
    Die Geschichte der Kirche ist eine Geschichte der Bekehrungen. Aber diese Geschichte der Bekehrungen findet ihre Grenze an den modernen europäischen Aufklärung: Hier trifft sie auf ihr eigenes Produkt, auf eine Projektion ihres eigenen unbekehrten Inneren. Die Kirche hat Bekehrung immer als Überwindung des alten Heidentums, das damit abgetan und erledigt schien, verstanden, während die wirkliche Bekehrung nur durch Umkehr möglich ist: durch Aufarbeitung der Vergangenheit, durch Erinnerungsarbeit. Die Geschichte der Bekehrungen hätte eine Geschichte des Lernens sein können und müssen; sie war eine Geschichte der fortschreitenden Verdummung.
    Bezeichnend, daß Hegel den Islam nicht kennt (ihn nur kursorisch unter dem Titel Mohammedanismus abhandelt).
    Erinnerungsarbeit und das, was Horkheimer und Adorno exakte Phantasie nannten, gehören zusammen.
    Das Inertialsystem ist das vergegenständlichte Abfallprodukt des Denkens des Denkens.
    Aus der katholischen Tradition heraus ist der Hegelsche Begriff der „List der Vernunft“ (gibt es diesen Begriff auch in der Hegelschen Logik?) nicht akzeptabel, eigentlich unverständlich. Da ist offensichtlich eine spezifisch katholische Blockade. Das Gleiche gilt für den Begriff des Scheins bei Hegel. Diese Blockade hat bei Heidegger dazu geführt, daß er den Reflexionsbegriff nicht einmal wahrnehmen, wirklich zur Kenntnis nehmen konnte und dadurch in die Schlinge hineingeraten ist, die er dann in seiner Fundamentalontologie zugezogen hat.
    Der Fundamentalismus (in allen Buchreligionen) ist das Produkt der unaufgearbeiteten Gegenwart. Judentum und Islam scheinen ihm schutzlos preisgegeben zu sein. Das Christentum hat den Säkularisierungsprozeß nicht nur eröffnet und weitergetrieben, es ist die einzige Religion, die auch das Mittel dagegen hätte (wenn es nur endlich davon Gebrauch machen würde).
    Die Allegorie ist die Umformung des Mythos in Philophie, in Begriffe. Die Typologie ist die Umformung des Mythos in Prophetie, in die benennende Kraft der Theologie.
    Grund und Prinzip der Sprachverwirrung: das Ungleichnamige gleichnamig machen. Dieses Prinzip ist in Hegels Begriff des Begriffs (und in dem Konstrukt einer List der Vernunft) als Teil der philosophischen Vernunft begriffen worden.
    Die apriorische Objektbeziehung, die durch die subjektiven Formen der Anschauung in die transzendentale Logik hereingekommen ist, ist dauerhafte und irreversible Verletzung des Bilderverbots, Ursprung des Taumelkelchs des Begriffs (an dem kein Glied nicht trunken ist).
    Die Äquivalenzbeziehungen, die anhand der Analyse der Stoßprozesse herausgearbeitet worden sind, sind die Grundlage und der begriffliche Kern der gesamten Physik.
    Gilt das Gewaltmonopol des Staates auch fürs Inertialsystem (das von außen Angreifen als der Erkenntnisgrund der gesamten Physik)? Lassen sich die Hegelsche Logik und die Hegelsche Geschichtsphilosophie als als die begriffliche und historische Selbstentfaltung der Gewalt begreifen?
    Die physikalischen Erhaltungssätze sind eigentlich keine physikalischen Sätze, sondern erkenntnistheoretische Randbedingungen der physikalischen Erkenntnis. Sie definieren und stabilisieren die metrische Struktur des Referenzsystems, auf das sich alle physikalischen Begriffe beziehen; sie sind ein systematischer Teil des Inertialsystems.
    Die Physik ist das Skelett der Natur, und die Chemie beschreibt den Verwesungsprozeß des abgestorbenen Fleisches.
    Hat der Plural in Gen. 126,27 „Lasset uns dem Menschen machen nach unserem Bilde …“ etwas mit dem Plural haschamajim zu tun (vgl. auch das „qui es in caelis“)? Und ist der „Hofstaat“, auf den Jürgen Ebach den Plural bezieht, ein Vorläufer und früher Verwandter der „Mächte“ beim Paulus?
    Die Theologie ist zu Tode erkrankt an der Unfähigkeit, zwischen rettender und zerstörender Gewalt zu unterscheiden; oder auch an der Unfähigkeit, zwischen transzendent und transzendental zu unterscheiden. Bei Kant bezeichnet das An sich die Transzendenz, die transzendentale Ästhetik und Logik hingegen den Inbegriff der Subjektivität, den Ursprung des Idealismus. Die transzendentale Logik macht den Idealismus als Inbegriff dessen, was einmal Empörung hieß, als Hybris, erkennbar.
    Die kantische Erkenntniskritik gilt sowohl für die vom Tauschprinzip beherrschte Gesellschaft als auch für die vom Trägheitsgesetz beherrschte Natur.

  • 11.02.91

    Farbe bekennen: „denn die Fahne ist mehr als der Tod“, Reklame und Bekenntnis („die Reklame verschweigt den Tod“).
    Die Person ist vergangenheits- und erinnerungslos: Ihre Existenz beginnt mit dem Namen, der von Anfang an abtrennbar war, deshalb dem Träger bloß äußerlich ist, dem herrschenden Bewußtsein zufolge „Schall und Rauch“ (bloße Konvention). So ist die Person das prädestinierte Objekt der Verwaltung. Wer einen Menschen als Person bezeichnet (vgl. Buber) nimmt ihm seinen Namen, auch wenn er ihn dann beim Namen nennt: hierbei wird der Name imgrunde akkusativisch gebraucht, Inbegriff der Anklage; nicht zufällig liegt das Namensrecht beim Staat, der die Menschen als Teil des Volkes schuldig macht und sie der Würde des Namens beraubt. -Ist die Trinitätslehre nicht verstaatlichte Theologie (erkennbar am Gebrauch des Personbegriffs, der den Namen Jesu neutralisiert (und Christus zum Familiennamen macht), ihn für den „Bekenntnis“-Gebrauch unbrauchbar macht)? – Wie tief reicht die Staatsmetaphysik in unser Bewußtsein?
    Was drückt das Adjektiv „persönlich“ außer dem tode ti, der vergegenständlichten deiktischen Funktion, aus? Genau dieses tode ti ist der Bezugspunkt des begrifflichen Denkens, des abstraktiven Verfahrens, dem die Menschen (und in der Theologie Gott) durch den Personbegriff unterworfen werden. Der Personbegriff macht Gott und Menschen subsumtionsfähig: zu Objekten. Das tode ti (das dieses hier) macht das Resultat, Produkt der Verdinglichung, zum Anfang, zur „voraussetzungslose“ Grundlage. Es ist der Vorläufer des Inertialsystems, in dem es sich dann als durch die ganze Geschichte der Auseinandersetzung mit der Natur vermittelt erweist.
    Die Frage: Gibt es einen persönlichen Gott? ist ebenso blasphemisch wie im wörtlichen Sinne gegenstandslos: Gott zum Gegenstand machen ist der Grund jeglicher Blasphemie.

  • 08.02.91

    Natur und Welt sind die die Begriffe des Objekts und des Begriffs konstituierenden Totalitätsbegriffe: Natur ist Teil der Welt als Gegensatz zur Welt: als der Feind, der Widerstand. die Materie, an der sie sich „abarbeitet“. Dem Naturbegriff ist die unaufhebbare Spaltung in Erscheinung und An sich wesentlich. Hierbei ist das An sich zunächst nur das dem Wissen Jenseitige, eine Leerstelle, gleichsam das schwarze Loch, aus dem nichts mehr nach außen kommt, das umgekehrt alles in sich hereinsaugt: Inbegriff des heutigen Standes der Verdrängung. Natur ist in der Welt das Andere der Welt; das, was nicht im Säkularisationsprozeß aufgeht. Konkreter: Natur ist das Andere im Prozeß der historischen Auseinandersetzung mit der Natur; das, was im Unterwerfungsprozeß unterdrückt, verdrängt, ausgeschieden wird. Dazu gehört in erster Linie die Erinnerung an die Opfer dieses Prozesses, an die, die die Last zu tragen hatten und vergessen sind.
    Das Bekenntnis des Namens ist im Ursprung die Anrufung des Namens: das Maranatha. Die Vergeblichkeit: die enttäuschte „Parusieerwartung“, hat daraus das Dogma, mit der Vergöttlichung Jesu im Kern, werden lassen. Diese (unverarbeitete) Enttäuschung ist der Grund der christlichen Ranküne.
    (Säkularisation des „Anrufs“ durch die modernen „Kommunikationsmittel“: durchs Telefon, das auch – zumindest räumliche – Distanzen überbrückt. „Heute, wenn ihr meine Stimme hört.“)
    Auschwitz: die Täter (und ihre Erben) erwarten offensichtlich immer noch die Exkulpierung, die Opfer können sie nicht mehr geben und deren Erben sind bei den Toten in der Pflicht. Zwischen beiden steht die ganze Geschichte der Welt.
    Adam benennt (vor dem Sündenfall) die Tiere und (vor und nach dem Sündenfall) die Frau, Eva ihre Söhne, Kain benannte die erste Stadt nach Henoch (der in der Genealogie des Set in den Himmel entrückt wurde)? Töchter werden nur genannt bei Lamech (in der Kain-Nachkommenschaft; in der Set-Folge ist er der Vater des Noach; der eine wird 7 x 77 mal gerächt, der andere lebte 777 Jahre).
    Zur Kritik der Naturphilosophie: das Ganze ist das Unwahre. Bei Hegel „entläßt“ die Idee die Natur aus sich (wie in der Verwaltung der Vorgesetzte einen Beamten), aber die Natur kann ihren Begriff nicht halten: Hier geht die Dialektik zu Protest. Innerhalb der Dialektik scheint das Subsumtionsverhältnis „aufgehoben“, ist das Denken „in der Sache“, nicht außerhalb und nicht über der Sache; das aber um den Preis, das es die Natur außer sich hat. Hier kehrt das Subsumtionsverhältnis als Verhältnis der Idee zur Natur, des Absoluten zur vergangenen Geschichte, die es ausgezehrt, als Schädelstätte des Geistes, hinter sich zurückläßt, wieder.
    Der positive Begriff der Natur („Rückkehr zur Natur“, Natur als „schöpferische“ Kraft) ist die bloß ideologische Wiedergutmachung, die die Opfer endgültig verrät: der sentimentale Deckel auf der verdrängten Erinnerung, deshalb doppelt gefährlich. Die „zweite Schuld“ Giordanos ist die erste der Dialektik der Aufklärung: die verdrängte Vergangenheit manifestiert sich im projektiven Materiebegriff.
    Meine Vermutung, daß bei Schelling Verdrängungs- und Erinnerungsarbeit sich nicht trennen lassen, solange man am Konzept Naturphilosophie festhält. Man kann nicht beides haben: die Exkulpierung durchs Natursubjekt und die Versöhnung. Die Idee der Versöhnung ist nur zu halten, wenn auf die Anwendung des Identitätsprinzips auf Natur verzichtet wird, wenn das „Eingedenken der Natur im Subjekt“ mit der Kritik des gegenständlichen Naturbegriffs (mit der Kritik des physikalischen Fundamentalismus) verbunden wird.
    Physikalischer Fundamentalismus und das Bekenntnis zur FDGO in der Physik (zum Inertialsystem, zur daraus abgeleiteten verdinglichten Logik; Projektion der Logik ins Inertialsystem; Instrumentalisierung der Logik und Auslöschung des Subjekts; Seminar der Philosophen mit den Vertretern der mathematischen Logik in Münster).
    Was mußte alles verdrängt werden, um den Naturbegriff als Totalitätsbegriff zu begründen? – Heute wird die Schuld kassiert: von allen Unterdrückten, Gedemütigten und Opfern: von den Armen und den Fremden, von den Juden, den Frauen, vom Islam, von der Dritten Welt. Wenn die Distanz zum Objekt durch die Distanz vermittelt wird, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt, dann stecken alle Beherrschten im Objektbegriff mit drin, aber so, daß sie nicht mehr zu erkennen sind. Übriggeblieben ist nur die Isolierung, Verblendung und der Verfolgungswahn des „Herrn“, auf den das, was er den Objekten antut (oder was ihnen in der Geschichte angetan wurde), zurückschlägt (s. die dramatischen Figuren Becketts).

  • 05.02.91

    Die Selbsterhaltung, die das Subjekt in Natur überführt, geht über Leichen: die Natur selbst ist der Leichenberg.
    Der Denunziant führt nur die alltäglichen Folgen der Selbsterhaltung in der vom Tauschprinzip beherrschten Gesellschaft, die keiner mehr sieht, aufs deutlichste vor Augen; er ist eine systemimmanente Figur, ohne die unser Rechtssystem nicht funktioniert: der „Kronzeuge“ ist nur eine Konsequenz aus der üblichen Rechtspraxis; ein Zeuge im Startbahnprozeß: Ich bin kein Moral-Apostel, der anderen ins Gewissen redet, aber ich halte es für meine Pflicht, Beobachtungen, die dem Recht zum Zuge verhelfen, an die Ermittlungsbehörden weiterzugeben; sein Gegentyp ist der Sympathisant. In dieses System paßt der „Staatsanwalt“: mit dem Staat als dem Prinzip der Anklage. Der Angestellte ist kein Sympathisant; die Denunziation gehört zu seinen Pflichten, ist ein Teil seines Berufes: er hat Mitleid nicht mit seinem Nächsten, sondern mit der Institution, dem Betrieb, dem Staat, für den er arbeitet: die Identifikation mit dem Aggressor ist das Prinzip seines Selbstverständnisses und seines Handelns. – Ableitung der hierarchischen Struktur der Verwaltung (Modell: Kirche und Heer; Grund der inneren Verwandtschaft beider).

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie