von Ossietzky

  • 22.12.92

    „Friedensnobelpreisträger von Ossietzky bleibt „Landesverräter““ (FR von heute): Der BGH hat eine Wiederaufnahme des Verfahrens, in dem Carl von Ossietzky vom damaligen Reichsgericht wegen Landesverrats verurteilt wurde, abgelehnt. Im Bericht der FR steht ein Satz, den man zweimal lesen muß:
    „Ein anderer möglicher Grund für die Wiederaufnahme eines Verfahrens, daß nämlich die Richter des Reichsgerichts sich der Rechtsbeugung schuldig gemacht hätten, weil sie die Aufdeckung eines Verfassungsbruchs als Geheimnisverrat verurteilten, wurde vom BGH ebenfalls als unzulässig verworfen. Es ergebe sich kein konkreter Tatverdacht „wegen direkt vorsätzlicher falscher Rechtsanwendung“.“
    Dazu drei Bemerkungen:
    – Nach dieser Entscheidung liefe z.B. eine Untersuchung, die zu dem Ergebnis führt, daß die angeblichen Selbstmorde in Stammheim keine waren, wenn die aufgedeckten Tatsachen der Geheimhaltung unterliegen, Gefahr, als Geheimnisverrat verurteilt werden.
    – Ist diese Entscheidung des BGH nicht auch ein Hinweis darauf, daß die Rechtsblindheit unserer Justiz keine Gesinnungsfrage, sondern eine Systemfolge ist: von einem Rechtspositivismus nicht zu trennen, dessen Hauptzweck darin zu liegen scheint, den Exkulpationsbedarf unserer Richter zu befriedigen, wobei als Nebenfolge in Kauf genommen wird, daß es gegen die Gemeinheitsautomatik kein Rechtsmittel mehr gibt und der Verantwortungslosigkeit die moralischen Hindernisse aus dem Weg geräumt werden.
    – Was heißt „direkt vorsätzlich“? Wäre eine „falsche Rechtsanwendung“, die nur „indirekt vorsätzlich“ oder bloß „vorsätzlich“ erfolgte, noch nicht strafrechtlich relevant?
    Wann begreift unsere Justiz endlich, daß der Nationalsozialismus die größte terroristische Vereinigung war, die es in diesem Lande je gegeben hat, und daß Richter, die Carl von Ossietzky wegen Landesverrats verurteilten, zu den Wegbereitern dieses Terrorismus gehörte, und eine Justiz, die das heute noch nicht begreift, zu den Sympathisanten? Wenn irgendwo das, was Ralph Giordano die Folgen der zweiten Schuld genannt hat, mit Händen zu greifen ist, dann in einem Rechtswesen, das es bis heute nicht fertig bringt, sich aus dem Bann dieser Vergangenheit zu lösen, und das nur, weil es unfähig ist, die Verantwortung, in die es mit der Idee der Gerechtigkeit gestellt ist, auch nur wahrzunehmen. Gnade uns Gott, wenn der flatus vocis, zu dem der Rechtspositivismus die Idee der Gerechtigkeit macht (indem er einer Staatsmetaphysik sich überantwortet, die außer an der der institutionellen Selbsterhaltung des Gewaltmonopols an keiner Idee mehr sich messen läßt), als Sturm zurückkehrt: dann helfen die Exkulpationsrituale des Positivismus, an die die Justiz sich klammert, nichts und niemandem mehr.
    Stimmt es, daß die Frau bei Munch („Der Schrei“) nicht schreit, sondern lacht? Gründet nicht jedes Lachen im „überwundenen“ Schrecken.
    Der Raum als dreifach überwundener Schrecken: als „Schrecken um und um“. Ist die Vorstellung des unendlichen Raumes, der nicht mehr Akzidenz der Dinge ist, in den die Dinge dann vielmehr erst „von außen“ hereinkommen, nicht die eines Raumes, der erst leer gemacht („leergefegt“: „juden-„, „ausländerrein“) werden muß: Grund der Vorstellung des horror vacui? Und vor allem: Was wird aus den Dingen, nachdem sie „von außen“ – wie ein Einwanderer in ein Land, in dem er sich „eine Existenz gründen“, womöglich „naturalisieren“ lassen will – in den Raum hereingekommen sind; wo und was waren sie vorher (aus welcher Fremde kommen die Ausländer); sind ihre sinnlichen Eigenschaften nicht Ausdruck der Differenz, der Gewalt und des Leidens, die ihnen durch den Raum angetan wird: die letzte Spur ihres Andersseins (ihrer Herkunft, ihrer Fremdheit)?
    Eine Bombenstimmung gibt es erst, seit es Bomben gibt, und seitdem allerdings auch nur für die Täter.

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