Wasser

  • 18.08.1996

    Natur ist ein Exkulpationsbegriff, der von der „Last“ des richtigen Lebens (der Barmherzigkeit) befreit. Mit dem Begriff der Natur (und hinter seinem Rücken: dem Bewußtsein nur durch Reflexion zugänglich) konstituieren und entfalten sich die im Weltbegriff zusammengefaßten Herrschaftsstrukturen. Deshalb ist die Geschichte der Naturerkenntnis ein Teil der Herrschaftsgeschichte, deren Erkenntnis sie zugleich ausblendet.
    Jede historische Gestalt der Naturerkenntnis war ein Mittel der Rechtfertigung des jeweils Bestehenden; mit dessen Änderung veraltet auch die ihm jeweils korrespondierende Gestalt der Naturerkenntnis. Der große Fisch und das Vieh im Buch Jona: sind das Leviatan und Behemot? Mit dem Begriff der Buße wurde das herrschaftskritische Element im Begriff der Umkehr ins Autoritäre zurückgebogen. Symbol und Typos konstituieren sich als Erkenntnisbegriffe nur durch die Kritik von Natur und Welt (durch die Kritik der historisierenden Vergegenständlichung) hindurch. Exemplarisch für diese kritische Beziehung zur Objektivität ist die symbolische Beziehung der Schlange zum Neutrum und die logische Beziehung des Namens der Hebräer zu dem der Barbaren. Verhält sich der Stier zum Naturbegriff wie die Schlange zum Neutrum?
    Indogermanisches: Die christianisierten Neutrum-Sprachen sind Sprachen im Bauch des Fisches (Jonas bekennt sich, bevor er ins Meer geworfen und vom Fisch verschlungen wird, als Hebräer). Haben die Christen den Namen der Hebräer nicht seit je als eine spezielle Anwendung (und antijüdische Radikalisierung) des Namens der Barbaren mißbraucht? Der Symbolbegriff bezieht sich auf die Natur, der des Typos auf Welt und Geschichte, und zwar beide als Mittel der kritischen Reflexion. Der Bekennende gibt sich zu erkennen, dieses Bekenntnis (dessen Paradigma das Schuldbekenntnis ist: Ausdruck der Wehrlosigkeit) wird durch die Bekenntnislogik ins Gegenteil verkehrt: die Bekenntnislogik macht das Bekenntnis zur Maske, den Bekennenden zur Person: sie macht die Welt zum Subjekt des Bekenntnisses (und wird so zu einem Instrument der Welt- und Objekt-Erkenntnis). Jesus hat die Bekenntnislogik in der Gestalt des Pharisäers zum Objekt der Kritik gemacht. Durch Historisierung der Pharisäer (wie auch der Propheten) hat das Christentum diese Kritik externalisiert und zu einem Instrument des Antijudaismus gemacht. Für die Christen waren die biblischen Pharisäer gleichsam Pharisäer von Natur, ihr Pharisäertum eine Natureigenschaft (hier liegt eine der Wurzeln des Rassismus), die Christen sind durch diese projektive Verschiebung nicht mehr nur zu Pharisäern, sondern zu Rassisten geworden. Die Logik des Satzes „Rich-tet nicht …“ läßt an dieser Konstellation sich demonstrieren; die Bekenntnislogik ist die Logik der Verurteilung. Sind die Wolken der Zeugen die Wolken des Himmels, auf denen der Menschensohn kommen wird? Das Herrengebet hat die Christen ins Leere, in die Wüste geschickt: Wie können sie den Namen heiligen, wenn sie ihn nicht kennen? So wurde aus der Heiligung des Gottesnamens das Verbot des Fluchens (das wahr wird, wenn man es moralisch, als Norm des Handelns, und nicht verbal versteht: als Herrschaftskritik und nicht als Verbot der Majestätsbeleidigung, der „Verunglimpfung“ von Herrschaftssymbolen). Jedes Verurteilen ist ein Fluchen; und dieses Fluchen konstituiert die Wege des Irrtums (den bacchantischen Taumel, in dem kein Glied nicht trunken ist). Hat die Erfindung der Schrift etwas mit dem Versuch der Rekonstruktion der Planetenbewegungen zu tun? Und verweist nicht das Planetensystem (wie auch der hebräische Name des Himmels) auf die Beziehung von Schrift und Wort? Am Ende wird sich der Himmel wie eine Buchrolle aufrollen. Die folgenreichste Wirkung der kopernikanischen Wende war, daß sie die Schrift dieses Buches gelöscht hat. Kohelet: Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Deshalb ist des Bücherschreibens kein Ende. Ist nicht Kants Wort über den Sternenhimmel über mir und das moralische Gesetz in mir der Beweis, daß er mehr wußte als er sagen konnte? Kant = Jona: Die Kritik der reinen Vernunft ist der Bauch des Fisches, die Kritik der praktischen Vernunft das Gebet im Bauch des Fisches, und mit der Kritik der Urteilskraft hat der Fisch Jona an Land gespien (dort aber reichte sein Sprachvermögen nur bis zu dem Satz: In vierzig Tagen wird Ninive zerstört). Hitler war nicht der Antichrist, wohl aber die Generalprobe. Dazu eine Warnung: Der Messias wird in der gleichen Gestalt wiederkommen, nicht aber der Antichrist. Verhalten sich die hebräischen und die griechischen (indoeuropäischen) Deklinations- und Konjugationsformen zueinander wie die Wasser über und die Wasser unterhalb der Feste des Himmels (wie Name und Begriff, Wort und Schrift)? Ist nicht der Himmel das erste Geschöpf, dazu das einzige, das dann als Name Verwendung findet? Der Pharao, der Joseph nicht mehr kannte: Heißt das, daß, wer Joseph nicht mehr kennt, wie Pharao wird? Wenn der Herr sich als Urheber der Verstockung bekennt, ist das nicht der Herr, den Pharao nicht kennt (und ist das die Ursache der Verstockung)? Auch wenn Gott das Herz des Pharao verhärtet, verstockt Pharao sich selbst. Und ist nicht das Gottsuchen der einzige Weg, der aus der Verstockung herausführt? Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren: In der objektivierenden Anschauung des Andern erkenne ich meine eigene Nacktheit. Nur Gott sieht ins Herz der Menschen.
    Der „eliminatorische Antisemitismus“ war die Einübung ins Herrendenken, das nach dem Krieg (auf der Grundlage der kollektiven Verdrängung und im Prozeß der Metamorphosen des Feindbilds) als ausgesprochen karrierefördend sich erwiesen hat. Auschwitz steckt in den Fundamenten der Nachkriegsgesellschaft (nicht nur in Deutschland), diese Vergangenheit ist nicht nur vergangen.
    Adornos Bemerkung, daß heute jeder Katholik schon so schlau sei wie früher nur ein Kardinal, gehört in den gleichen Zusammenhang. Dem Antisemiten (ähnlich wie dem Folterer) beweist jede Lebensäußerung des Opfers (jeder Ausdruck der Qual, die der Folterer ihm zufügt) das Recht und die Notwendigkeit, es zu quälen. Das verleiht dem Antisemitismus (aber auch seinen Nachfolgekonstrukten) eine Beharrungskraft, eine inertiale Gewalt, die inzwischen die gesellschaftliche Bewegung insgesamt durchdringt, sie dem mechanischen Prozeß, mit dessen Logik sie seit ihrem Ursprung aufs engste verbunden ist, endgültig angleicht. Der apagogische Beweis (dessen Analyse noch aussteht) ist der Beweis durch Verdrängung. Und die Vorstellung des unendlichen Raumes, die keine ist (der unendliche Raum läßt sich nicht „vorstellen“), gewinnt ihre Überzeugungskraft und ihre logische Gewalt allein aus den Verdrängungsprozessen, die die Anpassung an die Welt (das Selbsterhaltungsprinzip) heute erzwingt. Hegels Kritik des apagogischen Beweises (Logik I, Ausgabe Meiner 1951, S. 231ff, insbesondere S. 236), die ihn nicht auflöst, sondern instrumentalisiert, ergreift (obwohl sein Text das Gegenteil suggerieren will) die Partei der Welt gegen das Subjekt. Verweisen nicht die Aporien des kopernikanischen Systems, in dem bei gleichmäßiger Verteilung der Materie im Universum nicht sich erklären läßt, – weshalb es nachts dunkel ist und – weshalb die Gravitationskräfte, die sich eigentlich akkumulieren müßten, nicht unendlich und chaotisch sind, auf einen inneren Zusammenhang von Gravitation und Licht, und ist es nicht in der Tat merkwürdig, daß Newton, der das allgemeine Gravitationsgesetz entdeckt hat, auch die Grundlagen für die physikalische Optik gelegt hat, und daß Einsteins Relativitätstheorien durch ihre Beziehung zum Licht und zur Gravitation sich unterscheiden? Ist das Inertialsystem die Feste des Himmels, die im Namen des Himmels die Einheit von Wasser und Feuer repräsentiert, und hat nicht Einsteins spezielle Relativitätstheorie den Zusammenhang beider erstmals notiert: das Wasser im Relativitätsprinzip und das Feuer im Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit (das konkret nur auf thermische <oder allgemein: mikrophysikalische>, nicht auf makrophysikalische Objekte und Prozesse sich bezieht; die Beziehung der speziellen Relativitätstheorie (des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit) zur Planckschen Strahlungsformel ist nicht nur eine zufällige, historische, sondern beide beziehen sich, in unterschiedlicher Perspektive, auf den gleichen logischen und empirischen Sachverhalt: auf die Wechselwirkung kinetischer und elektrodynamischer Prozesse)? Sintflut: War der Thalessche Satz „Alles ist Wasser“, der die Geschichte der Philosophie eröffnete, die erste Formulierung des Relativitätsprinzips?

  • 17.08.1996

    Autoritätshörigkeit hat ihre Wurzeln im Rechtfertigungszwang: Führer ist, wer die Verantwortung für das, was einer tut, auf sich nimmt, den Handelnden vom Druck der Verantwortung entlastet, wer ihm die Schuld abnimmt. Daß das im Ernst nicht gelingt, läßt am „eliminatorischen Antisemitismus“ sich demonstrieren. (Übernimmt heute, nach der kollektiven Verdrängung des Schreckens und auf der Grundlage dieser Verdrängung <der Verdrängung durch kollektive Verurteilung>, nicht das Recht genau diese Funktion, insbesondere in den Bereichen, in denen es dazu dient, Gemeinheit zu decken: bei der Polizei, in Staatsschutzprozessen und in Knästen?) Instrumentalisiertes Feindbild oder der logische Kern der Verhärtung des Herzens: Ist nicht das durch die transzendentale Ästhetik, durch die subjektiven Formen der Anschauung, vermittelte apriorische Objekt, die Grundlage der transzendentalen Logik, das Produkt einer apriorischen Verurteilung und Verdrängung, ist nicht die transzendentale Logik, die Konstruktion synthetischer Urteile apriori, das (aus der Bekenntnislogik hervorgegangene) Modell des Vorurteils? Wenn Aufmerksamkeit das natürliche Gebet der Seele ist, dann ist der eliminatorische Antisemitismus die reinste Form des Atheismus. Was hat die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos mit den Versuchungen Jesu in der Wüste zu tun? War Hiob der erste, der die Plagen als Versuchungen erfahren hat? Was haben die zehn ägyptischen Plagen, und was hat die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos mit der Ursprungsgeschichte der subjektiven Formen der Anschauung zu tun? Sollte es nicht ein essentieller Teil der rechtsstaatlichen Grundsätze sein, daß Verwaltungsentscheidungen ebenso wie Gerichtsurteile für die, die davon betroffen sind, verständlich sein müssen? Das aber würde bedeuten, daß fast alle raf-Urteile dieser Forderung nicht genügen. Müßte nicht der Buchtitel „Versuche, die raf zu verstehen“ ein wenig variiert werden: „Versuche, die raf-Prozesse zu verstehen“? Denn auch diesen Versuch scheint die Öffentlichkeit längst aufgegeben zu haben; deshalb nimmt sie sie nicht mehr wahr. Es gibt zwei Begriffe der Reinheit: Der eine würde dem der Reinheit der Lehre entsprechen, der die Umkehr voraussetzt und in der Heiligung des Gottesnamens, der Einigung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, sich erfüllt. Der andere steht unterm Rechtfertigungszwang und agiert ihn aus; dieser Begriff der Reinheit, den man den hygienischen nennen könnte, manifestiert sich in Reinheitszwängen, die von der Ansprechbarkeit durch die Waschmittelreklame über den Begriff der klinischen oder auch chemischen Reinheit bis hin zum eliminatorischen Antisemitismus reichen. Ist nicht der Prozeß der Dogmenentwicklung der Versuch, den ersten Reinheitsbegriff unter den Bedingungen des zweiten zu realisieren? Dieser Begriff der Reinheit der Lehre kommt ohne Antijudaismus, ohne Verurteilung der Häresien und Verfolgung der Ketzer, aber auch ohne Hexenverfolgung nicht aus. Er hat in der Theologie sich etabliert, nachdem an die Stelle des Märtyrers der Confessor trat. Die Bekenntnislogik ist ein Instrument der Abwehr: ein Präventivverfahren gegen Schuldgefühle und Schuldreflexion zugleich. Läßt sich die Geschichte der Theologie im Bann der Bekenntnislogik nicht als die Umkehrung und Radikalisierung der Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos begreifen, mit der Taufe als Wiederholung des Untergangs im Schilfmeer als Anfang, über die Tötung der Erstgeburt und die allgemeine Finsternis bis hin zu den Fröschen (den unreinen Geistern) und zur Verwandlung des Wassers in Blut (der Verwandlung, die Taufe blutig an denen vollstreckt, die sich nicht wollen bekehren lassen)? Durch die Bekehrung ist die Umkehr zu einem Instrument der Herrschaft geworden. „Ein Wind weht vom Paradies her“ (Walter Benjamin): Ist das kreisende Flammenschwert ein Ventilator? Die Enden der Erde: Sind das nicht die Pforten der Hölle und des Paradieses zugleich? Zu den Flüssen des Paradieses gehört auch der Euphrat. An dem „großen Strom Euphrat“ – sind auch die vier Engel gebunden, die beim Schall der sechsten Posaune losgebunden werden, um, nachdem sie für die Stunde, den Tag, den Monat und das Jahr sich bereitgemacht hatten, den dritten Teil der Menschheit zu töten (Off 914); – auf den gleichen Strom wird die sechste Zornesschale ausgegossen, da vertrockneten seine Wasser, damit den Königen vom Aufgang der Sonne der Weg bereitet würde. „Und ich sah aus dem Munde des Drachen und aus dem Munde des Tieres und aus dem Munde des falschen Propheten drei unreine Geister wie Frösche <herauskommen>. Sie sind nämlich Dämonengeister, die Zeichen tun, die zu den Königen des ganzen Erdkreises ausziehen, um sie zum Krieg am Tag des allmächtigen Gottes zu versammeln.“ (Off 1612ff)

  • 14.08.1996

    Erst durch Historisierung (durch deren musealisierende, verfremdende Wirkung) wird Religion zur Religion: zum Götzendienst.
    Historisierung und die ausgrenzende Beziehung zu Fremden (die in den Namen der „Barbaren“ oder „Heiden“ sich ausdrückt) gründen in einer gemeinsamen Logik, die der ethnologische Blick (dessen apriorisches Objekt im Namen der „Wilden“ sich anzeigt) dann radikalisiert.
    Ist diese Historisierung nicht der Motor der Dynamik, die die Geschichte der Philosophie beherrscht? Erst als vergangener wird der philosophische Gedanke, der in seinem Ursprung einer unmittelbaren Einsicht sich verdankt, gegenständlich, wird er zum Gegenstand der Reflexion eines andern. Ist es nicht die gleiche Vergegenständlichung, die das Licht zu einer elektromagnetischen Wellenbewegung macht, die mit Lichtgeschwindigkeit sich fortpflanzt? Wird diese Beziehung zu Vergangenem nicht durch den Raum (als Form der Äußerlichkeit) zu einer präsentischen Gewalt (zum indoeurpäischen Präsens), und ist diese Gewalt nicht die Grundlage der naturwissenschaftlichen Erkenntnis?
    Feuer und Wasser, die im hebräischen Namen des Himmels eins werden, bezeichnen die beiden Seiten der einen Grenze, die die Zukunft von der Vergangenheit trennt: das Wasser aus der Sicht der Vergangenheit, das Feuer aus der der Zukunft.
    Überschätzt Goldhagen nicht doch das Gewicht von „Anschauungen“, die Bedeutung ideologischer Schulung? Der Antisemitismus wird durch die Praxis gelernt, als deren Rechtfertigung er dann dient. Der Antisemitismus kommt gleichsam post festum; es gibt eine vorausgehende Grundentscheidung zur Gemeinheit, die dann des Antisemitismus, an dessen Wahrheit ohnehin niemand glaubt, zur eigenen Entlastung und Rechtfertigung sich bedient. Adressat dieser Entlastung und Rechtfertigung sind die Anderen, ist die Öffentlichkeit, deren Zustimmung das Wissen um die Unwahrheit der Ideologie verdrängen hilft. Die Verdrängung nährt und steigert die Wut, die in den Handlungen der Antisemiten sich entlädt. Und das Vorurteil hilft dann, die letzten Hemmungen zu beseitigen. Damit hängt es zusammen, wenn der Antisemit (wie auch der Sexist) von seinem Objekt nicht mehr loskommt. Es wäre eine interessante Aufgabe zu untersuchen, was es ist, was Angehörige der Polizei so anfällig fürs Vorurteil macht, ob und auf welche Weise diese Anfälligkeit mit ihrem „Auftrag“, mit den Zwängen, in die ihre beruflichen Pflichten und ihre Tätigkeit sie verstricken, zusammenhängt.
    Es ist eine gemeinsame Logik, die die kirchliche Folterpraxis im Mittelalter mit der Brutalität und Gemeinheit der Nazis verbindet. Schon die mittelalterlichen Pogrome, Ketzer- und Hexenverfolgungen waren „Säuberungsaktionen“, deren Ziel es war, die Reinheit der Lehre und die Einheit der christlichen Welt wiederherzustellen und zu erhalten. Die Logik, die dem zugrundelag, war die Bekenntnislogik, zu deren Konstituentien seit je das einheitsstiftende Feindbild, die Ausgrenzung der Verräter und der Sexismus, die Frauenfeindschaft, gehörten.
    Auf S. 624 (Anm 68) bemerkt Goldhagen, daß hinsichtlich der subjektiven Reaktionen der an den Mordaktionen Beteiligten nur „von ‚Ekel‘ … die Rede sein (kann), nicht aber von ‚Scham’“. Vgl. hierzu Kants urteilslogische Bemerkung zum „Ekel“ in seiner Kritik der Urteilskraft (ist nicht Kants Bemerkung über den Ekel in der Kritik der Urteilskraft eine notwendige Konsequenz aus seinem Begriff der Lust und des Geschmacks?).
    Waren die insbesondere bei Aktionen gegen Juden auftretenden Grausamkeiten und Brutalitäten (die spezifische Gemeinheit) nicht Mittel zur Gewöhnung an das Unfaßbare? So machte man die Taten auch für sich selbst, vor dem eigenen Bewußtsein, irreversibel. Das, was man ihnen antat, war der Beweis, daß es zu Recht geschah.
    Akten konstituieren das Inertialsystem der gesellschaftlichen Welt; zu ihrer Erstellung und Bearbeitung bedarf es der Verwaltung, deren Handeln an das gleiche Recht gebunden ist, das den Akten praktische Relevanz verleiht.
    Die Urteilsmagie gründet im Strafrecht, das das Urteil über die Strafe zu einem Instrument staatlicher Gewalt macht, seine Folgen aber zugleich ins gesellschaftliche Unbewußtsein der Knäste verdrängt (die Gefängnismauern sind Hilfsmittel der gesellschaftlichen Verdrängung), in denen die Gemeinheit herrscht, die kein strafrechtlicher Tatbestand ist. Das Urteil löst den Schrecken nicht auf, es verdrängt und reproduziert ihn.
    Entspringt nicht das „Restrisiko“ der Atomkraftwerke, das jederzeit zur Katastrophe sich ausweiten kann, dem gleichen Sicherheitsdenken, das auch dem Strafrecht und dem militärischen Kalkül zugrunde liegt? Zu diesem Sicherheitsdenken gehört seit je das Wegsehen, die selektive Wahrnehmung der Realität, das dem Handeln der Polizeibattaillone im letzten Krieg, auch den Exzessen der Judenverfolgung, zugrunde lag.
    Von der Verurteilung der Häresien, die dem Prozeß der Dogmenbildung zugrunde lag, ist nach ihrer vollständigen Säkularisierung die Urteilsmagie zurückgeblieben. Das Urteil ist von der Bekenntnislogik (von den „subjektiven Formen der Anschauung“) nicht abzulösen. Hier liegt die christliche Wurzel des Faschismus sowie jeder Art von Staatsterrorismus. Die Globalisierung des technischen und ökonomischen Instrumentariums der europäischen Zivilisation ist durch die Einforderung der Menschenrechte allein nicht zu humanisieren, notwendig wäre, diesen Prozeß durch Erinnerungsarbeit reflexionsfähig zu machen. Das Medium dieser Erinnerungsarbeit aber ist die Theologie.
    Zum „Scheusal Ägypten“: Ist nicht das gesellschaftliche Subjekt, dem das Opfer der Israeliten ein Greuel ist, das „Scheusal“? Und das Wort des Moses: „Den Ägyptern ist ein Greuel, was wir dem Herrn, unserm Gott opfern, wie es der Herr befohlen hat; wenn wir vor den Augen der Ägypter opfern, was ihnen ein Greuel ist, so steinigen sie uns“ (Ex 826), ist das nicht der zentrale, das Verständnis der Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos insgesamt eröffnende Satz?
    Steckt nicht das methodische Problem des symbolischen Schriftverständnisses im Problem der Beziehung der hebräischen zur griechischen (indoeuropäischen) Sprachlogik: im Problem des Ursprungs und der sprachlogischen Entfaltung des Neutrums? Hier geht es nicht darum, welches die „wahre Sprache“ ist. Vielleicht könnte man den Sachverhalt so umschreiben: Sind nicht die „Symbole“ der Schrift (wie die Schlange, die Dornen und Disteln oder der Kelch) Ausdruck eben jener sprachlogischen Elemente, durch die indoeuropäischen Sprachen von der hebräischen sich unterscheiden (wie das Neutrum, die grammatischen Grundlagen der Vergegenständlichung und Verdinglichung, schließlich die in den indoeuropäischen Formen der Konjugation vorgebildeten „subjektiven Formen der Anschauung“)? Paradigma dieser Symbolik ist der Name der Hebräer selbst: die bis in die Struktur der Sprache hineinreichende Selbstwahrnehmung als Fremde für andere; ein Name, dem im Griechischen der Name der Barbaren (die projektive Vergegenständlichung der Fremden als Grundlage des eigenen „hellenistischen“ Selbstverständnisses) gegenüber steht.
    Ist nicht die Herrlichkeit Gottes das Leuchten Seines Angesichts? Und wenn es heißt, daß der Menschensohn „auf den Wolken des Himmels“, „in großer Macht und Herrlichkeit“ wiederkommen wird, hat das nicht etwas mit diesem Leuchten Seines Angesichts zu tun?
    Haben nicht die gleichen Dinge, die Paulus ausblendet, während die Evangelien davon berichtetn, auch sprachlogische Bedeutung. Liegt nicht in den Wundergeschichten eine sprachlogische Sprengkraft, die nur dem Fundamentalismus und der selbstzufriedenen Erbaulichkeit verborgen bleibt? Oder auch: Wie verhalten sich die „symbolischen“ Wundergeschichten zu den „typologischen“ Personengeschichten (Maria Magdalen und die sieben unreinen Geister; die gesamte Petrus-Geschichte, vom Messias-Bekenntnis über das „Weiche von mir, Satan“ bis zu den drei Leugnungen; die Petrus/Jakobus/Johannes-Geschichten; die beiden Lazarus-Geschichten)?
    Hat die Bitte der Zebedäus-Söhne: „Verleihe uns, daß wir einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken sitzen dürfen in deiner Herrlichkeit“ (Mk 1037, bei Mt 2020ff ist es die Mutter der Zebedäus-Söhne, die ihn für ihre Söhne fragt) etwas mit dem andern Satz zu tun: „Und mit ihm kreuzigten sie zwei Räuber, einen zu seiner Rechten und einen zu seiner Linken“ (1527, vgl. Mt 2738, Lk 2332ff, Joh 1918)?
    Ist das Wort Jesu am Kreuz an seine Mutter und an Johannes nicht auch ein Adoptionsakt (wie die Gottessohnschaft bei der Johannes-Taufe und auf dem Berg der Verklärung, oder auch die Saulus-Paulus-Geschichte, der möglicherweise eine Alexander-Saulus-Geschichte vorausgeht)? Ist nicht die Adoption das Modell der „Wiedergeburt“ (die auch das Paulus-Wort, er sei „Römer von Geburt“ anders verständlich machen könnte)?
    Ist Joseph von Arimathäa der Adoptivvater des gekreuzigten Jesus?
    Was bedeutet es, wenn es heißt, daß Simon von Cyrene „vom Felde“ kam (Mk 1521, Lk 2326, vgl. Mt 2732; nach Joh 1917 trug Jesus sein Kreuz selber)? Ist hier ein Feld im agrarischen Sinne gemeint (das Feld von Bauern oder Hirten), gab es in der Nähe Jerusalems solche Felder? War Simon ein Tagelöhner?
    Mit der Rezeption des Weltbegriffs werden auch Theologie und Religion dem Gesetz der Instrumentalisierung unterworfen, das sich dann in der Bekenntnislogik ausdrückt. Ist nicht die Bekenntnislogik die Gewalt, die beide, die Theologie und die Religion, von innen her angreift und aufzehrt (ein Prozeß, den sie im Innern beider gegen beide anstrengt und führt), sie, ohne daß die Betroffenen es merken, in ihr Anderssein transformiert: sie bewußtlos säkularisiert? Notwendig wäre es, diesen Prozeß endlich zu begreifen (durch Erinnerungsarbeit und Reflexion).
    Liegt Adornos „Eingedenken der Natur im Subjekt“ nicht an der Schwelle des Umschlags zur Prophetie, auf den Joh 129 sich bezieht: des Auf-sich-Nehmens der Sünde der Welt; ist nicht das Eingedenken der Natur im Subjekt selber schon das „Auf-sich-Nehmen der Sünde der Welt“? Adorno zitiert in diesem Satz die Kritik der Urteilskraft, in der Kant mit dem Begriff einer „Natur im Subjekt“ die ästhetische Produktivkraft des „Genies“ bezeichnet; der Adornosche Satz erinnert zugleich an die Intention Georg Lukacs‘, der erstmals die Kunst anstatt aus der Sicht des Konsumenten aus der des Produzenten zu begreifen unternommen hatte.
    Haben die drei Weisen aus dem Morgenland etwas mit den „Zauberern“ in der Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos zu tun?
    „… der ich bilde das Licht und schaffe die Finsternis“: Das Erste ist nicht das Bessere. Ist das nicht die biblische Grundlage der Kritik des Ersten (und der Väter)?
    Neuer Kannibalismus: Sind wir nicht dabei, im Leib der Sprache die Gebärmutter durch den Bauch zu ersetzen: die Barmherzigkeit durchs Fressen (die Schlange frißt den Staub, den Adam produziert)?
    Das eine verlorene Schaf und die verlorene Drachme (Lk 154ff): Der eine Sünder, über den, wenn er umkehrt, im Himmel mehr Freude sein wird als über 99 Gerechte, sind das der Staat (das verlorene Schaf) und die Kirche (die verlorene Drachme)?

  • 27.7.96

    „Was nicht erzählt wird, ist nicht passiert“ (Ton Veerkamp, TuK 70, S. 23): Heißt das, daß, wenn Primo Levi seine Erinnerungen nicht niedergeschrieben hätte, Auschwitz „nicht passiert“ wäre? Heißt das, daß, wenn der 5. Strafsenat des OLG in Frankfurt jede Nachfrage nach dem, was in Bad Kleinen wirklich geschehen ist, wenn das Erzählen unterdrückt wird, dann auch die Ereignisse ungeschehen zu machen sind? Begründet dieser Satz nicht die Logik des Namens: Nestbeschmutzer? Begründet er nicht die Hoffnung der Täter (die Hoffnung, deren Logik Lyotard in seinen an Auschwitz anschließenden Reflexionen über das „vollendete Verbrechen“, das die Tat ungeschehen zu machen hofft, indem es auch die Zeugen aus der Welt schafft, untersucht, eine Untersuchung, die auch Licht in die Logik der frühchristlichen Märtyrer-Geschichte <und in die Umkehrung dieser Logik in der Gestalt des Confessors, der den Märtyrer ablöst> bringt)?
    Zahl und Schein: Wie hängt der Begriff der Erzählung mit dem der Erscheinung zusammen? Ist nicht das Organisationsprinzip der ersten die Form der inneren Anschauung (die chronologische Einheit der Erzählung), das der zweiten hingegen die der äußeren Anschauung (die räumliche Einheit, in welche die Naturprozesse durch Verräumlichung der Zeit mit hereingezogen werden)? Erscheinungen sind Erscheinungen im Raum (ihre Gegenwart ist die der Präsenz des Objekts), während Erzählungen als Vergegenwärtigung von Vergangenem deren Gegenwart (nicht das Vergangene selber) als eine sprachliche, als erinnerte Gegenwart erst herstellt.
    Dem kontemplativen Erzählen des Vergangenen entspricht das Beschreiben des Gegenwärtigen: In welcher Beziehung steht das Zählen zum Schreiben?
    Das Erzählen, das heute notwendig wäre, hätte das Prinzip der chronologischen Einheit mit zu reflektieren.
    Kann es sein, daß die Vorstellung sich widerlegen läßt, daß dem Niederschreiben einer Erzählung (des homerischen Epos oder der biblischen Erzählungen) eine Phase der mündlichen Tradition vorausgeht? Ist nicht vielleicht doch das Erzählen ein Produkt der Schrift? Wie hängen Epos, Astronomie und Schrift mit einander zusammen? Ist die Hieroglyphen-Schrift (und ihre Beziehung zum Tempel, deren Wände sie ziert) der Grund dafür, daß Ägypten kein Epos hervorgebracht hat, statt dessen die Pyramiden?
    Zwischen der Himmelfahrt Jesu und Pfingsten liegt nur die Wahl des Zwölften, der stumm bleibt, und von dem dann nichts mehr erzählt wird. Der Zwölfte (sein Name war Matthias) füllt die Stelle aus, die durch den Verrat des Judas Iskariot freigeworden ist.
    Ist das Interesse zu erfahren, was denn wirklich passiert ist, so unerheblich? Gehört nicht die Spannung zwischen dem Erzählten und dem Geschehenen, die nicht aufhebbar ist, zur Wahrheit des Erzählten (zur Wahrheit dessen, was geschehen ist)? Es geht nicht um die nackten Tatsachen, aber auch nicht nur um das Kleid, das die Nacktheit verdeckt (die Legende), sondern um das Unerlöste in der Beziehung beider: um die Erfüllung des Worts, mit der das Vergangene erlöst wird, sich vollendet.
    Hatte der Greuel, das Scheusal der Ägypter, das nach dem Wort des Moses an Pharao die Israeliten am dritten Tag nach dem Auszug aus Ägypten opfern wollten, etwas mit der „Sünde der Welt“ zu tun? Ist nicht der Weltbegriff der Inbegriff der Begriffe, Gesetze und Strukturen, in denen die Vergangenheit fortschreitend Macht über die Dinge gewinnt, der Inbegriff der die Dinge verschuldenden Gewalt; und ist das nicht der Feind, dem die Wahrheit immer erneut abgerungen werden muß? Die Erzählung ist nicht die Welt, aber sie lebt von der Spannung zur Welt.
    Karl Thieme hat einmal gegen das berühmte Wort Leopold von Rankes darauf hingewiesen, es komme nicht darauf an, zu erkennen, wie es eigentlich gewesen sei, sondern was eigentlich geschehen ist. (Biblische Religion heute, Heidelberg 1960, S. 181) Auf dieses Was zielt die Erinnerungsarbeit, aus der das Erzählen sich nährt, auch wenn sie nicht nur im Erzählen sich äußert. Ist nicht jede Theologie, die diesen Namen verdient, Erinnerungsarbeit, und die Schrift der Schlüssel, der die Pforten der Erinnerung öffnet?
    Haben das Wasser und das Trockene (des dritten Tages) etwas mit dem Was und dem Wer, die nach kabbalistischer Tradition im Namen des Himmels gründen, zu tun?
    „Persönlichkeit“: Hierzu wäre an Rosenzweigs Bemerkungen zu diesem „höchsten Glück der Erdenkinder“ zu erinnern, zugleich aber daran, daß nicht sie, sondern die „Kinder Gottes“ es sind, auf deren Freiheit dem Römerbrief zufolge die ganze Schöpfung wartet. Jesus mag der Sohn Gottes gewesen sein, aber er war gewiß keine Persönlichkeit. Sprachgeschichtlich dürfte der Begriff der Persönlichkeit auf den gemeinsamen Ursprung mit der Ausgliederung und der Verselbständigung der Personalpronomina in den modernen Sprachen zurückweisen. Er verdankt sich der gleichen logischen Bewegung, der auch die Herauslösung des „Ich“ aus seinem dialogischen Kontext und seine idealistische Hypostasierung sich verdankt. Im Begriff der Persönlichkeit enthüllt sich das idealistische Absolute als Gattungsbegriff (und der Begriff der Zeugung im christlichen Dogma als deren theologischer Reflex). Frage: Wer ist das Ich im kantischen Begriff des transzendentalen Subjekt, im „ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“? Ist es nicht ein männliches Subjekt, das gegen alle „seine“ Vorstellungen als selbständiges, „autonomes“ Subjekt sich muß behaupten können, und ist es nicht das bürgerliche Subjekt, das es sich leisten kann, Herr all seiner Handlungen (und nicht das Objekt seiner Begierden und Triebe) zu sein? Schließt dieses Ich (das Ich der Persönlichkeit), ähnlich wie der frühchristliche „Confessor“, aus dem es sich herleitet, nicht ebenso wie die Frauen auch die Juden (und natürlich die Häretiker) von sich aus?
    Das Sein, der Gegenstand der Ontologie, ist ein durch Neutralisierung unkenntlich gemachtes Maskulinum und zugleich ein von der Beziehung auf ein bestimmtes Subjekt abgelöstes (und so ebenfalls unkenntlich gemachtes) Possessivpronomen, und die Ontologie selber der Statthalter des Patriarchats in der Philosophie. Das Sein steht zwar völlig nackt da, aber es verbirgt sein Geschlecht durch das magische Verbot, es wahrzunehmen: durchs Verbot der Sprachreflexion, das zu den logischen Gründen des Rassismus gehört (der Wirkung dieses Verbots schienen Nazis nicht ganz zu trauen, die, wenn sie in Uniform fotografiert wurden, ihre Hände davor hielten).
    Die Gravitation und das Selbstgefühl gründen in der Oben-Unten-Beziehung, während das Sehen (in dem die Schwere nicht erscheint) auf den Horizont und die vier Himmelsrichtungen verweist. Zur Befreiung des Sehens („da gingen ihnen die Augen auf“) gehört der aufrechte Gang.
    Die Beziehung des Sehens zur Schwere reflektiert sich in der des Trägheitsprinzips zur Schwere (im Verhältnis der trägen zu schweren Masse, deren Identität der Einheit des Inertialsystems sich verdankt), auch in der des Tauschprinzips zur Schuldknechtschaft (die ihre Einheit außer sich, im Geld, erst finden).
    Ist es nicht der Hahn, der einen Sünder vom Irrweg bekehrt? Und wie hängt die Geschichte von der Maria Magdalena und den Frauen, die hinausgingen, um den Leichnam Jesu zu salben, mit der Geschichte der drei Leugnungen Petri zusammen?
    Wenn der Kreuzestod auf die Zerstörung Jerusalems verweist, verweist er dann nicht auch auf Auschwitz?
    „Allein den Betern kann es noch gelingen, …“: Kann es sein, daß das Wort „Was ihr auf Erden lösen werdet, wird auch im Himmel gelöst sein“ sich auf die Heiligung des Gottesnamens bezieht?
    Die dritte Leugnung: Heute hält selbst sich die Theologie die Theologie vom Leibe, mit der Folge, daß sie unfähig geworden ist, in der Verhärtung des Herzens Pharaos die eigene wiederzuerkennen.
    Als Hegel aus dem transzendentalen Subjekt (dem Ich in Kants „ich denke, …“) die Idee des Absoluten entwickelte, stieß er zwangsläufig auf Strukturen, die identisch waren mit denen des Dogmas, der Orthodoxie.
    Hängt nicht Wittgensteins Satz „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ mit der Schellingschen Formulierung, die Zukunft werde „geahndet“, zusammen, und erfüllen sich nicht beide aufs entsetzlichste in einer Welt, die die Zukunft verrät?
    Ist nicht dieses „Ahnden“ eine logische Folge der Schellingschen Naturphilosophie, die den Schuldzusammenhang universal gemacht hat?
    Natur und Moral: Die Urteilsmoral ist die Folge eines Selbstverständnisses, dem die eigenen Interessen und das eigene Handeln zur reinen, gegen jede moralische Reflexion immunen Natur geworden sind, zu „Sachzwängen“, deren Objekt es bloß ist. Es gehorcht nur den Gesetzen der Selbsterhaltung. Moral ist als Urteilsmoral (als „Wertethik“) Moral für andere: die Moral des steinernen Herzens, dem die Barmherzigkeit, die Fähigkeit, in den andern sich hineinzuversetzen, gegenstandslos und zum flatus vocis geworden ist. Der ökonomische Grund dieser logischen Konstruktion läßt an den Argumenten sich ablesen, mit denen die Sprecher aus Wirtschaft und Politik die Notwendigkeit des Sparens aus den Taschen der anderen begründen. Ist nicht Natur, insbesondere auch die, die die Gesetze diktiert, nach denen ich vorgebe, zu handeln gezwungen zu sein, seit dem Ursprung ihres Begriffs das Korrelat des steinernen Herzens? Deshalb wird es eine Theologie, die diesen Namen verdient, ohne Kritik der „Naturwissenschaft“ nicht mehr geben.

  • 25.7.96

    Eine Theologie der Schöpfung, die nicht auch Raum und Zeit als erschaffen begreift (die subjektiven Formen der Anschauung zum Gegenstand der Reflexion macht), gehorcht der Logik des Nationalismus, einer Logik, die den Staat zum Gott macht. Das ex nihilo, das auch auf den leeren Raum und die leere Zeit, auf das Nichtsein der Dinge in Raum und Zeit (auf ihre Vernichtung durch die von den subjektiven Formen der Anschauung beherrschte Einbildungskraft), sich beziehen läßt, ist ambivalent. Der Urknall ist keine Alternative zur Schöpfung, er setzt nur die atomare Katastrophe an den Anfang. Das Nichts, aus dem die Welt erschaffen wird, ist die zuvor zu vernichtende Welt.
    Ist nicht der katholische Mythos, die Lehre von Himmel, Hölle und Fegfeuer, eine logische Entfaltung der aristotelischen Theorie vom „natürlichen Ort“? Dem hat Newton, durch die Relativierung des Falls durchs Gravitationsgesetz, den Boden entzogen – allerdings um den Preis, daß das Ganze zur Hölle (die Welt zu allem, was der Fall ist) geworden ist, und die Erlösung zur Fähigkeit, das nicht wahrzunehmen, davor die Augen zu verschließen (das ist der Grund der Rechtfertigungslehre, die den Glauben zum Organ des Wegsehens, damit aber auch gleichgültig gegen seinen Inhalt, gemacht hat). Newton hat die Welt so verändert, daß seitdem überall unten ist; seitdem gibt es zur Niedertracht keine Alternative mehr. Heute ist aus dieser Niedertracht die ganz gewöhnliche Gemeinheit geworden, der Faschismus, der alles durchdringt.
    Für Aristoteles war das Feuer das absolut Leichte, sein natürlicher Ort war oben. Die christliche Kosmologie hat dann, um die obere Welt als reine Lichtwelt zu konstituieren, das Feuer nach unten verbannt und als Hölle unauslöschlich gemacht.
    In der Apokalypse gibt es nicht nur die sieben Siegel, die das Buch verschließen, sondern auch den Schlüssel zum Abgrund.
    Ist nicht das Chronologie-Problem, das Problem der „Tiefenzeit“, ein Abgrund-Problem (mit der subjektiven Form der inneren Anschauung als Finsternis über dem Abgrund)?
    Ton Veerkamp bemerkt in seinem letzten Beitrag in TuK, daß das am ersten Tag erschaffene Licht „die Finsternis vertrieben“ habe. Die Finsternis wurde jedoch nicht vertrieben, sondern sie besteht weiter, und damit die Aufgabe, Licht in die Finsternis zu bringen: „Ihr seid das Licht der Welt“ (nach Jes 457 ist die Finsternis erschaffen, das Licht gebildet).
    Sind die Planeten die „Enden der Welt“ (die Siegel auf den sechs Richtungen des Raumes und auf der Vergangenheit)?
    Beleidigung, Betrug, Vergewaltigung: Die bloße Verurteilung der Beleidigung, des Betrugs und der Vergewaltigung täuscht sich und andere darüber hinweg, daß der Zustand der Welt selber beleidigend, betrügend und vergewaltigend ist. Die Verurteilung folgt immer nur der Tat, während allein die Reflexion dieses Weltzustandes, das Licht, das sie in die Finsternis zu bringen vermag, vielleicht einmal vor der Tat stehen wird.
    Die Bibel unterscheidet die „Vögel des Himmels“, die „Fische des Meeres“ und die „Tiere des Feldes“.
    „Bevor ich es vergesse …“: Wäre das nicht ein schöner Titel? – Ist nicht das Schreiben insgesamt ein Kampf gegen das Vergessen, das die Welt erzwingt, und verweist darauf nicht Adornos „Eingedenken der Natur im Subjekt“? Aber gibt es nicht auch Bücher – und spricht davon nicht Kohelet, wenn er schreibt: Des Büchermachens ist kein Ende -, die Instrumente des Vergessens sind?
    Wenn Physik und Ökonomie als Instrumente des Vergessens und der Verdrängung sich begreifen lassen, in der Physik gibt es einen Punkt, der vom Kampf gegen das Vergessen zeugt: Das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit.
    Das Vergessen der Physik ist eine Potenzierung des Vergessens, das (über die Ökonomie und in ihrem Auftrag) schon in der Philosophie sich entfaltete. Hat nicht C.F.von Weizsäcker dieses potenzierte Vergessen in die Philosophie eingeführt, und ist nicht Habermas ein Beleg für das Gelingen dieses Versuchs?
    Reflektiert nicht Nietzsches Bemerkung über das Mitleiden (in Jenseits von Gut und Böse, Werke Bd. 2, S. 627) aufs genaueste die Logik, die Schopenhauer zum Menschenfeind hat werden lassen? Nietzsches Bemerkung ist wahr, aber verweist sie nicht auf das logische Problem, das in der Wahrnehmung steckt, daß auch die „Nachbarn“ noch Opfer sind?
    Verdrängung ist kein eindimensionaler Vorgang, es gibt eine dreifache Verdrängung (jede Verdrängung ist Produkt einer dreifachen Leugnung).
    Der Kampf der Kirche gegen die Aufklärung war begründet, aber er blieb abstrakt, weil die Kirche nicht in der Lage war, in der Aufklärung eine Folge ihres eigenen Prinzips wiederzuerkennen.
    Auch Theorien veralten durch den einfachen Zeitablauf (nur mathematische Erkenntnis enthalten in sich eine Automatik, die sie gegen dieses Veralten schützt, indem sie es instrumentalisiert). Eine Einsicht ist nur für den eine, der sie hat: Ex post, aufgrund der objektivierenden Gewalt, der sie durch den reinen Zeitablauf unterworfen ist, wird sie zur Meinung, die der Logik der Instrumentalisierung verfällt: sie verliert ihr Objekt und wird zum Ausdruck der Subjektivität: einer subjektiven Anschauung, eines subjektiven Interesses. Der Objektivationsprozeß (der Prozeß der fortschreitenden Naturerkenntnis und -beherrschung) ist nicht nur ein von der Menschheit angezettelter, gegen die Natur angestrengter Prozeß, sondern zugleich ein Prozeß der Natur gegen sich selber, in dem sie sich der Menschheit nur bedient.
    Hieß nicht das Tier mit den neun Köpfen, dem, wenn man einen abschlug, zwei zwei neue nachwuchsen, Hydra („Wasserschlange“), und hat dieses mythische Tier (das Herakles besiegte) etwas mit dem apokalyptischen Tier aus dem Meere zu tun?
    Das Rätsel der spätantiken, frühmittelalterlichen Theologie wäre gelöst, wenn begriffen wäre, wie die paulinischen Elementarmächte, die „Herrschaften und Gewalten“, zu Engelsmächten geworden und in die Präfation hineingeraten sind.
    Der faschistische Slogan „Blut und Boden“ zog seine symbolische Kraft aus der dunklen (durch keine Reflexion aufgehellten) Erinnerung an den durch das Blut der bei der Eroberung gefallenen Helden „geheiligten“ Boden, den Eigentumsgrund des Staates. Diese Blutsymbolik hat zugleich die Eigentumswirtschaft, der Staat und das Geld geheiligt. Hat sie nicht der Opfertheologie (der Vorstellung einer „Erlösung durch das Blut“ des am Kreuz geopferten Gottessohns) endgültig den Grund entzogen?
    Dieser Begriff der Heiligkeit, der die Herrschaftssymbolik begründet, ist dem, der der Gottesoffenbarung beim brennenden Dornbusch zugrundeliegt („Ziehe die Schuhe von den Füßen; denn die Stätte, darauf du stehst ist heiliges Land“, Ex 35) durch die gemeinsame Beziehung zum Eigentumsbegriff zwar verbunden, in der Sache aber aufs genaueste entgegengesetzt. Während der biblische Begriff der Heiligkeit das Heilige jedem staatlichen Zugriff entzieht, zielt der faschistische, der mit dem Eigentum den eigenen Staat und die Gewalt, die beide aneinander bindet, vergöttlicht, darauf ab, es dem Zugriff anderer zu entziehen.
    Hat der Satz des Täufers: „Nach mir kommt der, welcher stärker ist als ich, und ich bin nicht würdig, mich zu bücken und ihm den Riemen seiner Schuhe zu lösen“ (Mk 17) etwas mit Ex 35 zu tun?
    Die Theologie hat die Kraft der Selbstreinigung von der Logik des Fundamentalismus; sie gründet in der einfachen Überlegung, daß die Vergegenwärtigung des Vergangenen etwas anderes ist als die Subsumtion der Gegenwart unter die Vergangenheit. Ist nicht die Idee des Messianismus etwas anderes als die isrealische Siedlungspolitik?
    Hegels Satz, daß die Natur den Begriff nicht halten kann, wäre durch den anderen zu ergänzen: Die Geschichte und der Weltbegriff (die durch eine logische Symbiose verbunden sind) können das Objekt nicht halten. Die Trennung von Natur und Geschichte ist unvermeidbar, aber gleichwohl falsch; sie ist ein Teil der logischen Verblendung, die theologisch allein durch die Idee der Auferstehung der Toten sich auflösen läßt.
    Ist die Sintflut nicht das Symbol des Ursprungs des Weltbegriffs (vgl. hierzu die Reflexionen zur Sintflut im Sohar)? Dann wäre Hegels Logik die Beschreibung der Sintflut von innen.
    Gibt es eine Beziehung der Praxis des „Banns“ bei der Landnahme zu den Geschichten von Sodom, Jericho und Gibea?

  • 16.7.96

    Wer andere nur verurteilt, findet sich in einer Objektwelt wieder; wer aber fähig ist, in Andere sich hineinzuversetzen, entdeckt eine menschliche Welt. Das Verurteilen reproduziert den Schrecken, den es zu bannen versucht. Die subjektiven Formen der Anschauung haben das Verurteilen instrumentalisiert; und die transzendentale Logik ist die Logik der Objektwelt (die Logik der Welt der Erscheinungen).
    Nicht „Warum ist es am Rhein so schön“ ist die Rätselfrage der Nation, sondern: Warum mögen uns die Andern nicht. Diese Frage, die der Spiegel alle Jahre wieder ergebnislos zu beantworten versucht hat, wird sich in das Nichts auflösen, das in ihr sich ausdrückt, wenn dieses Land endlich einmal ernsthaft versucht, mit sich selbst ins Reine zu kommen.
    Schlimm an den Angriffen auf Asylantenheime war nicht, was wohl das Ausland über uns denken mag, sondern schlimm waren die Taten selbst.
    Leidet nicht die Kosmologie heute daran, daß sie nicht nur das Ungleichnamige gleichnamig macht, sondern daß sie den Zwang nicht zu brechen vermag, der daher rührt, daß sie die Zeitverhältnisse vertauscht. Es ist das Irreversibilitätsprinzip, das die gesamten Naturwissenschaften verhext: Die Vorstellung der Reversibilität aller Richtungen im Raum begründet die Irreversibilität der Zeit. Wenn die mittelalterlichen Kosmologien den Mond als Grenze zwischen der himmlischen und der irdischen (der trans- und sublunarischen) Welt verstanden haben, haben sie dann nicht die Planetenbewegungen (die „Wege des Irrtums“) zu den himmlischen Erscheinungen gerechnet, damit aber das Irreversibilitätsprinzip selber an den Himmel projiziert (und so – als Vorstufe des heliozentrischen Systems – die Logik hierarchischer Herrschaftsstrukturen legitimiert)?
    Ist der Feudalismus die Gestalt, in der sich die chaldäische Astrologie unter den Bedingungen des Christentums reproduziert hat? Geblieben ist von der Astrologie das hierarchische Prinzip, am Ende zusammengeschrumpft zur „Rangordnung“ der Werte.
    Macht nicht der geisteswissenschaftliche Kausalbegriff, die Vorstellung, der eine habe eine Theorie entwickelt, die andere dann übernommen haben, ein sehr reales Problem bloß unkenntlich: Ist ein Text, der mehr als tausend Jahre, nachdem er geschrieben wurde, rezipiert wird, wirklich noch der gleiche Text? Ist die mittelalterliche Kosmologie die ptolemäische, ist der mittelalterliche „Geozentrismus“ eins mit dem antiken? Hätte Aristoteles in seiner scholastischen Rezeption sich wiedererkannt (war nicht Aristoteles der Lehrer des Alexander, während die mittelalterliche Rezeption durch die Geschichte des Reichs, das Alexander einmal begründet hatte, bereits geprägt und bestimmt ist, wobei das Lehrer-Schüler-Verhältnis sich gleichsam umgekehrt hat)?
    Liegt nicht zwischen der antiken und der mittelalterlichen Kosmologie ein entscheidender Bruch: Der von der Theoria (dem Sehen, das von der Schuld wie von der Schwere abstrahiert) zur Reflexion der verschuldeten Natur. Führt nicht die Entwicklung von der noesis noeseos, dem Denken des Denkens, über die Theologie zur Hegelschen Logik, in deren Kern das Ding steht?
    Die mittelalterliche Kosmologie (wie im übrigen jede Kosmologie vor ihr) war dem damaligen Erkenntnisstand angemessen und zugleich ein Stück Herrschaftsmetaphorik, die in den modernen Naturwissenschaften dann in unmittelbares Herrschaftswissen transformiert worden ist.
    Das Realitätsprinzip (die Vorstellung, daß am Objekt selber der Zustand der Ruhe von dem einer geradlinig gleichförmigen Bewegung sich nicht unterscheiden läßt) ist eine Folge und ebensosehr ein Konstituens der mathematischen Raumvorstellung (des Raums als „subjektiver Form der Anschauung“). Aber wird dieses Relativitätsprinzip nicht durchs Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, das aus ihr folgt, wenn es auf bestimmte Erscheinungen angewandt wird, zugleich widerlegt? Ist das Relativitätsprinzip die Wasserseite der subjektiven Formen der Anschauung (der „Feste des Himmels“), deren Feuerseite im Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit sich manifestiert?
    Sind nicht die Namen des schwarzen Körpers, des schwarzen Lochs und des Urknalls hochsymbolisch? Der schwarze Körper (genauer die Wände des schwarzen Hohlraums) und das schwarze Loch definieren sich durch ihr Verhältnis zum Licht: Der schwarze Körper ist ein Körper, der alles Licht abweist, zurückwirft, während das schwarze Loch alles Licht in sich aufnimmt und nicht mehr abgibt. Beide beschreiben Grenzbedingungen des Inertialsystems, das Abbrechen der Äquivalenzbeziehungen, durch die das Inertialsystem sich definiert.
    Wider die Personalisierung: Die Erwartung, daß das Ende des Faschismus durchs Aussterben der Nazis (der „Rassisten“) kommen werde (oder auch nur kommen könnte), ist irreal: Die Maschine, die „Nazis“ produziert, läuft weiter. Mehr noch, wird diese Maschine nicht zur Zeit einer Generalüberholung unterzogen, die sie nur noch effektiver zu machen verspricht?
    Hat nicht, wer Adorno nur gelesen hat, anders und auch Anderes von ihm gelernt, als wer sein unmittelbarer Schüler gewesen ist? Neigen nicht in der Regel die unmittelbaren Schüler mehr dazu, auch die privaten Marotten ihres Lehrers zu adaptieren, und ist nicht das Lesen ein zugleich öffentlicherer und intimerer Vorgang als der unittelbare Umgang mit dem Lehrer in Vorlesung und Gespräch?
    Wie hängt das Kelch-Symbol, wie hängt überhaupt das Realsymbolische und die Metaphorik mit dem Problem der Zeitumkehr zusammen? Gründet nicht in diesem Problem der Umkehr die gesamte Sprache und in ihrem Kern der Name?
    Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht: Die Irreversibilität der Zeit (zusammen mit der Logik der Reversibilität aller Richtungen im Raum) ist das Gesetz der Verhärtung der Herzen. Liegt hierin nicht das Organisationsprinzip verborgen, das der Geschichte von der Verhärtung des Herzens Pharaos zugrunde liegt, und gründet darin nicht sogar der Name des Pharao? So wie am brennenden Dornbusch der Name Gottes sich offenbart, so enthüllt sich der Titel des Pharao in der Geschichte der Verhärtung seines Herzens: zusammen mit dem Namen Mizrajim als Name des Sklavenhauses und des Eisenschmelzofen (ist nicht der Name Mizrajim der einzige Name der Schrift, den Buber durch den griechischen ersetzt: Ägypten?).
    Wölfe heulen den Mond an: Ist das nicht der Irrtum der Wölfe? (Gibt es auch einen Irrtum der Schlangen, und worin zeigt er sich?)
    Der Gott, der die Welt erschaffen hat, ist der Gott, der im Staat sich verkörpert, im Staat als dem Organisationsprinzip der Eigentumsgesellschaft. Dieser Gott legitimiert das Recht und begründet die Ordnung der Objektwelt, in der die Barmherzigkeit am Ende keine Stelle mehr findet.
    War nicht Borgentreich (mein Ferienaufenthalt dort in den dreißiger Jahren) ein Ort der Verwirrung? Der (angeheiratete) Vetter Alois, der ein Nazi war und merkwürdige Sprüche über Hitler, die Juden und Judenhäuser in Borgentreich und einige Bürger, die mit trinitarischen Spekulationen sich befaßten, von sich gab, und die Cousine Agnes, eine „vornehme“, aber auch etwas verwirrte Frau, und ihre Kinder Hermann und Walburga?
    Kindertaufe: In den Bekenntnissen des Augustinus findet man die Begründung, die bei der Einführung der Kindertaufe eine Rolle gespielt haben mag. Augustinus erinnert sich an die Gier des Säuglings, in der er die Folgen der Erbsünde erkannte, die mit der Kindertaufe getilgt werden sollte. Heute gelten Kinder als unschuldig, und wer die Gründe für diese Anschauung sucht, wird sie in der Tatsache finden, daß Kinder noch nicht „hintertückisch“ sind, daß all ihre Lebensäußerungen als unmittelbare und direkte, frei von Hintergedanken und Täuschungsabsichten wahrgenommen werden. Augustinus legte die Schuld in die Tat, die er an einem Begriff des Handelns (an dem des Gerechten) maß, vor dem die Kinder objektiv als Sünder sich erwiesen. Wir messen die Schuld an der Absicht, die einem Kind nicht unterstellt werden kann (jedenfalls nicht vor der „Trotzphase“), weshalb wir sie als unschuldige und deshalb „glückliche“ Wesen (die sie nun wirklich nicht sind) erfahren. Das aber heißt, daß wir das Glück nicht am Zustand der Welt (der uns objektiv belastet, auch wenn wir es verdrängen), sondern an unserer Schuldlosigkeit messen. Uns interessiert nicht der Lauf der Dinge, sondern nur, daß wir nicht dran schuld sind. Heißt das nicht, daß glücklich nur der Dumme ist?
    Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß: Der Staat, in dem die Ankläger Staatsanwälte heißen, stellt seine Bürger unter Dauerverdacht und unter das Gesetz der Beweisumkehr. Unschuldig ist nur, wer es auch beweisen kann. Gibt es eine bessere Methode, die Bürger davon abzuhalten, sich um Dinge zu kümmern, die „sie nichts angehen“, und sind das nicht alle Dinge, die nicht ihr unmittelbares Eigeninteresse berühren (z.B. die Probleme der Arbeitslosen, der Sozialhilfeempfänger, der Obdachlosen, der Asylanten, der Ausländer, der Frauen und Kinder)?
    Der Leiter des BGS am Flughafen (ein Leitender Polizeidirektor) heute in bei einem Interview in der Hessenschau: Seine Aufgabe sei die Verbrechensbekämpfung, z.B. des organisierten Verbrechens, insbesondere der Schlepperbanden. Die schleppen Menschen herein, die hier nur ein besseres Leben wollen. Und das sei schlimmer als der Schmuggel von Waffen.

  • 24.5.96

    Hatte Thales, als er den Satz formulierte „Alles ist Wasser“, etwa schon Heidegger gelesen? (Ist Wasser das Element, aus dem die Frage <die Seinsfrage, die Judenfrage> auftaucht?)
    Haben Aufspannen und Gründen, die Tätigkeiten Gottes, aus denen die Himmel und die Erde hervorgehen, etwas mit der Trennung von Zukunft und Vergangenheit (mit der Konstituierung der Zeit) zu tun?
    „Das Vergangene ist nicht mehr“: Ist nicht die Aufhebung der Vergangenheit des Vergangenen das Jüngste Gericht (während das irdische Gericht in der Magie des Urteils gründet: es verurteilt zur Vergangenheit, sperrt den Verurteilten in seine eigene Vergangenheit ein)? Im Jüngsten Gericht sind die Opfer die Ankläger, ist Gott der Richter (Mein ist die Rache, spricht der Herr). Freigesprochen wird nur, wer vorher schon Verteidiger (Paraklet) war.
    Das Gewaltmonopol des Staates ist der Quell der Dummheit, die die Polizei den Bürgern einbläut.
    Die Sünde der Welt auf sich nehmen: Ist das Ich die Sünde der Welt?
    Verweist der Anfang des Schöpfungsberichts (wüst und leer, Finsternis über dem Abgrund, der Geist brütend über den Wassern) auf die messianischen Wehen, und bezeichnet er nicht den Mutterschoß (den Ort der Barmherzigkeit), aus dem Gott seine Propheten beruft? Erblickt der Prophet (wie das Kind) nicht auch im wörtlichen Sinne des Schöpfungsberichts das „Licht der Welt“? Und hängen nicht die Verhärtungen des Herzens Pharaos (im Kontext der zehn „ägyptischen Plagen“), wie auch ihre Vorgeschichte in den zehn Königen von Edom (Gen 36) real mit den zehn Worten der Schöpfung und der Offenbarung zusammen?
    Der deutsche Name der Barmherzigkeit wurde analog zu den Begriffen Gerechtigkeit und Seligkeit gebildet. Gibt es noch andere Begriffe, die auf „-igkeit“ enden, und was ist das Gemeinsame, das in dieser Bildung sich ausdrückt? (Das -ig ist Ausdruck der Adjektivierung, das -keit der der Bildung eines Abstraktums. Wodurch unterscheiden sich -lich und -ig oder -heit und -keit?)
    Als Martin Buber die Bibel übersetzte, hat er diese Abstrakta vermeiden wollen, damit aber den sprachgeschichtlichen Prozeß, in den die theologische Sprache im Deutschen verstrickt ist, bloß verdrängt, während es darauf ankäme, ihn zu reflektieren. Nur: Weshalb hat er auch die Namen des Armen und des Fremden beschwiegen (vgl. die Bemerkungen Walter Benjamins zu dem zugrunde liegenden Sprachproblem in der Einleitung zum Ursprung des deutschen Trauerspiels)?
    Zum Begriff des Rassismus: Gehört nicht die Sprache der gleichen logischen Sphäre an, zu der auch die Gattung (die Instinktbindung der Tiere) gehört (und ist nicht die Verwaltung das logische und gesellschaftliche Äquivalent der Gattung)? Sind die Menschen nur deshalb „frei“, weil sie sprechen, und d.h. ihre „Instinktbindungen“ reflektieren können? Was bedeutete es, wenn Adam im Paradies die Tiere benannte? Fällt der Rassismus nicht in dieses benannte Tierwesen (in die Entlastung von Schuld, die in der „natürlichen“ Instinktbindung der Tiere vorgestellt wird) zurück? Hängt nicht der Wunsch nach „religiösen Bindungen“ ebenso wie die astrologische Mode mit dem schrecklichen Wunsch zusammen, als Tier benannt und von der Last der Freiheit befreit zu werden?

  • 8.5.96

    „Wenn die Götter schweigen“ (Miskotte): Schweigen denn die Götter wirklich, erteilt nicht der Markt allen seine Kommandos (deren Nichtbefolgung die Strafe auf dem Fuße folgt), und hat nicht Ludwig Erhard schon von der „Sünde wider den Geist der Marktwirtschaft“ gesprochen? Potenziert nicht das „Schweigen der Götter“ ihre Macht, weil keiner sie mehr wahrnimmt?
    Das Wort von der Sünde wider den Heiligen Geist, die weder in dieser noch in der künftigen Welt vergeben wird, hat auch den ganz einfachen Sinn, daß die Sünde wider den Heiligen Geist die künftige Welt dieser Welt gleichsetzt, und daß das dann eine Welt ist, die keine Vergebung mehr kennt. Das ist die Welt des steinernen Herzens. Vgl. hierzu die Verhärtungen des Herzens des Pharao: Er selbst verhärtete sein Herz (2., 4. und 7. Plage), sein Herz blieb verhärtet (1., 3., 5. Plage) und JHWH verhärtete sein Herz (6., 8. und 9. Plage).
    Ist nicht die Verstockung des Pharao ein Hinweis darauf, daß die Reduzierung der Moral auf die Gesinnung zu kurz greift: die Gesinnung ist die Moral des verhärteten Herzens.
    Das Wesen des Tieres wird nicht nur durch den Trieb und die Sexualität, sondern ebensosehr durch das, was Max Horkheimer die instrumentelle Vernunft genannt hat, bezeichnet. Die instrumentelle Vernunft steht unter dem Bann des Weltbegriffs, deren Logik sie blind (weil reflexionslos) gehorcht. Die gleiche Logik rückt die zukünftige Welt in den blinden Fleck, macht sie unsichtbar (mit dem Neutrum ist das perfectum zur Form der abgeschlossenen Vergangenheit geworden; vollendet ist nur noch das Tote: die Ware).
    Wenn der Indikativ das Gericht und der Imperativ die Barmherzigkeit bezeichnet, ist dann nicht das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht der Inbegriff der Lehre?
    Oder anders: Ist nicht das Weltgericht die „Erfüllung der Schrift“, die „Erfüllung des Wortes“ dagegen das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht?
    Goethes Farbenlehre enthält noch die Erinnerung an Licht und Finsternis, die in der naturwissenschaftlichen Farbenlehre verdrängt wird und erinnerungslos verschwindet. Ein ergreifendes Wort: Die Nacht bricht herein! Ist das nicht die Finsternis, die am Tage hinter dem azurblauen Himmel ruht und mit der Nacht „hereinbricht“?
    Die Farben (die sinnlichen Qualitäten insgesamt) wurden verdrängt mit der Konstruktion des dreidimensionalen Raumes, die die Senkrechte zur Norm der Fläche gemacht hat. Der sinnliche Raum ist der Ort von Licht und Finsternis, die im mathematischen Raum nicht mehr sich unterscheiden lassen (die Finsternis ist die letzte der ägyptischen Plagen vor der Tötung der Erstgeburt).
    Das Licht ist die Erinnerung des ersten Schöpfungstags. Der Herrentag, die dies dominica, die auf diesen Tag sich bezieht, ist der Tag der Erinnerung des Schöpfungswerks, nicht der Verdrängung des Sabbats. Die dies dominica sollte nicht mit dem Sabbat verwechselt werden; der Sonntag erinnert an das Gebot: Ihr seid das Licht der Welt.
    Das Sklavenhaus der Sprache: Die subjektiven Formen der Anschauung, das sind die schwarzen Löcher, die mit der Kraft des Namens auch das Licht aus der Sprache heraussaugen, sie entmetaphorisieren, sie zu einem Herrschaftsinstrument entmächtigen.
    Insektenforscher: Im Inertialsystem, dem Referenzsystem der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, hat sich die theologische Tradition verpuppt.
    Die Phänomenologie setzt den gleichen transzendentalen Apparat voraus, dessen Reflexion sie ausblendet. Das gilt schon für die Phänomenologie des Geistes.
    Die Mikrophysik ist eine Theorie des verdinglichten, geronnenen Feuers. Hat die europäische Aufklärung damit nicht den ganzen Himmel vermessen: Im Anfang Wasser (Thales), am Ende Feuer?
    Die Metaphorik rührt an das sprachliche Wesen der Natur, das nur durch die Kritik ihrer Beziehung zur Zeit hindurch zurückzugewinnen ist.
    Steckt im Herrengebet der Dekalog, haben Vater und Mutter etwas mit Himmel und Erde zu tun?
    Die Theologie hinter dem Rücken Gottes gehorcht der Logik des Weltbegriffs, die auf den Verrat der Vergangenheit, den Verrat der realen Welt und auf den Verrat der Menschheit hinausläuft. Horkheimers Frage: Wie kann man auf diesem Riesenleichenberg die richtige Gesellschaft errichten, läßt sich als Erinnerung daran verstehen, daß die richtige Gesellschaft nicht gegen die Toten errichtet werden kann.
    Als die Sowjetunion das Lenin-Mausoleum errichtete, hat sie das Proletariat verraten.

  • 21.3.96

    Schließen sich das „geisteswissenschaftliche“, objektivierende, vergleichende Lesen und das interlineare Lesen (z.B. die Lektüre von Adornos „Philosphie der Neuen Musik“ als „Philosophie der modernen Naturwissenschaften“) nicht aus: die „Philosophie der Neuen Musik“ geht über Schönberg und Strawinsky und nicht über Einstein und die Kopenhagener Schule? Aber ist das interlineare Lesen nicht das eigentliche lernende Lesen?
    In der Natur gibt es keinen Kreis und keine Kugel; das aber heißt: die Orthogonalität ist eine Unterstellung, ein Instrument der projektiven Erkenntnis.
    Die Vorstellung der unendlichen Ausdehnung des Raumes ist eine durch die Logik der Orthogonalität erzeugte Zwangsvorstellung.
    Hängt nicht Joachim Ritters Bemerkung (in seinem Essay über die Subjektivität), daß das Subjekt im Kontext der Vergegenständlichung der Natur (und d.h. zusammen mit dem Ursprung des Naturbegriffs) sich konstituiert, mit dem Glauben an die magische Kraft des Urteils zusammen? Und wird die Rittersche Bemerkung nicht durch den Satz widerlegt, daß die Verurteilung des Faschismus den Bann nicht sprengt, sondern ihn verstärkt? Ritter hat übersehen, daß die Gegenständlichkeit der Natur im herrschaftsgeschichtlichen Prozeß, im Kontext der Klassenscheidung, sich konstituiert. Gegenständlich wird die Natur im Prozeß der gesellschaftlichen Naturbeherrschung, die auch die Herrschaft in der Gesellschaft (die Scheidung von oben und unten) unter sich begreift und mit einschließt. Erkenntnistheoretisches Pendant der Klassenscheidung sind die subjektiven Formen der Anschauung, ist insbesondere die Form des Raumes, die die Abstraktionsleistung gleichsam automatisch vollbringt, zugleich die Abstraktion selber verdrängt, ihr Produkt, das „Objekt“, als ein Stück Natur anschaut.
    Die objektivierte Natur erzeugt nur den Schein der Freiheit. Die Freiheit selbst gründet in der Fähigkeit, den zugrunde liegenden Objektivationsprozeß als einen Herrschaftsprozeß zu reflektieren.
    Der Rittersche Freiheitsbegriff gehört zu einer Geschichte, in der es Freiheit nur für die gibt, die oben sind.
    Das göttliche Gebot ist nur eine Richtschnur des Handelns, kein Maßstab für das Urteil über das Handeln der andern. Vor diesem Urteil steht die Frage: „Hättest du anders gehandelt, wenn du in seiner Lage gewesen wärest?“ Hierzu gehört der Satz vom Ochs und Esel, die man nicht gemeinsam vor den Pflug spannen soll, Grund des Levinasschen Konzepts der Asymmetrie. Nur wer die Last auf sich nimmt, befreit sich von ihr, nicht wer sie andern als Joch auferlegt. Genau das unterscheidet das Gebot vom Gesetz. Die Universalisierung, die aus dem an mich gerichteten Gebot ein Gesetz für alle macht, leugnet das Gebot. Das ist der utopische Grund von Jer 3134.
    Das Bekenntnis „Du bist der Sohn Gottes“ ist das Bekenntnis Petri und zugleich der Dämonen. Kann, wer heute dieses Bekenntnis fordert, die Frage beantworten: Was hat er davon, wenn ich bekenne, daß er der Sohn Gottes ist? Die Unbeantwortbarkeit dieser Frage macht das Bekenntnis zum Opfer der Vernunft. Die Bekenntnislogik ist das Produkt der Verinnerlichung des Opfers, die der Dialektik der Aufklärung zufolge die Geschichte der Zivilisation begleitet. Und diese Verinnerlichung des Opfers ist der Preis für den historischen Objektivationsprozeß: für den Prozeß, in dem Vergegenständlichung und Instrumentalisierung zusammenfallen, und in dem die instrumentelle Vernunft sich gebildet hat.
    Religion als Blasphemie, das ist die Religion unterm Bann der instrumentellen Vernunft; das ist die Religion, an die man selbst nicht mehr glaubt, die man braucht als Religion für andere: für die Kindererziehung, aber auch um die Gesellschaft in Schach zu halten; diese Religion ist Ausdruck der Angst, daß die Dämme brechen, das Chaos ausbricht, alles überflutet wird (Männerphantasien). – Bezeichnet nicht der Thalessche Satz „Alles ist Wasser“ den Ursprung der Männerphantasien und den Anteil der Männerphantasien am Ursprung und an der Geschichte der Philosophie, die nicht zufällig die Herrschaftsgeschichte aufs genaueste widerspiegelt?
    Ist Andreas ein beschnittener Alexander (und gibt es den Namen Andreas auch außerhalb der Evangelien), und verkörpert der Name des Philippus die Erinnerung an den Vater des Alexander (der seinen Vater ermordet hat)?

  • 24.1.96

    Wenn die Welt schlecht ist, ist alles erlaubt, was nicht durch Gesetz verboten ist. Die Unlösbarkeit des Beweisproblems begründet den Satz, daß man alles darf, sich nur nicht erwischen lassen. Bestraft wird das Erwischtwerden (die Nachweisbarkeit), nicht die Tat. Gemeinheit ist kein strafrechtlicher Tatbestand (weil sie aus beweistheoretischen Gründen rechtlich nicht fassbar ist: sie liegt außerhalb der Grenzen des Erwischtwerdenkönnens). In diesem Kontext, nämlich auf der Grundlage der Instrumentalisierung der Grenzen der Beweisbarkeit, ist die Logik, die in Staatsschutzprozessen den Angeklagten zum Feind, die Verteidiger zu Parteigängern des Feindes und die Besucher zu Sympathisanten macht, rekonstruierbar.
    Bei Habermas findet sich ein sonst nur in den Medien gebräuchlicher Genitiv nach „gemäß“: „Diese (sc. Systemdifferenzierung, H.H.) wiederum legt er sich gemäß seines Vierfunktionenschemas zurecht, …“ (Bd. 2, S. 426). Dieser Genitiv ist ein Symptom der Objektsprache, der Verdrängung des Freiheitsraums, den die Sprache eröffnet, der Zernichtung der benennenden Kraft der Sprache, der Trennung von objektiver Welt und subjektiver Meinung (von Realität und kommentierendem Raisonnement). Zerstört ist die Kraft des Namens: Hier wird der Atheismus zum Prinzip der Selbstzerstörung der Erkenntnis.
    Wenn irgend etwas, so beweist die Habermassche Theorie des kommunikativen Handelns die Notwendigkeit kritischer Selbstreflexion der Wissenschaft. Hierbei wäre zu demonstrieren, daß und auf welche Weise der vergegenständlichende Blick (die subjektiven Formen der Anschauung) idealisierend wirkt, d.h. die Theorie von ihren realen Wurzeln trennt. Gründet nicht darin die Notwendigkeit der Theologie, und zielt nicht die Rosenzweigsche Darstellung der wechselseitigen Begründung von Philosophie und Theologie, sein Nachweis, daß die Philosophie um des Objekts willen der Theologie bedarf, auf diesen Sachverhalt?
    Wissenschaftskritik: Die Habermassche Theorie bezieht ihre Namenskraft nicht aus den Objekten, auf die sie sich bezieht, sondern aus dem Verfahren und aus der Vorgeschichte, in denen diese Objekte sich konstituieren. Es gehört zu Habermas‘ Instinkt, an die allerdings seine Einsicht nicht ganz heranreicht, wenn er in der Konstruktion seiner Theorie eigentlich sehr deutlich zu erkennen gibt, daß das politische Subjekt dieser Theorie die amerikanische Weltmacht ist. So war es ihm möglich, den Anschluß an die bundesrepublikanische Wirklichkeit über sein Konstrukt des „Verfassungspatriotismus“ ins Bekenntnishafte zu transformieren. Es war die Bekenntnislogik, die zwar „klare Verhältnisse“ in der Theorie geschaffen, dafür aber die „Neue Unübersichtlichkeit“ der Wirklichkeit begründet, die den Erkenntnisanspruch der Theorie verwirrt hat.
    Ist das Grundgesetz nicht in der Geschichte seiner Änderungen immer realitätsferner, immer bekenntnishafter geworden, bis hin zum Asylrecht, in dem die in den Artikel 16 neu eingefügten Bestimmungen dessen ersten Satz außer Kraft gesetzt haben. (Interessant und wichtig wäre eine Geschichte der Grundgesetzänderungen, in der im einzelnen die Anlässe und die Gründe der Änderungen chronologisch und im Kontext einer kritischen Geschichte der Bundesrepublik entfaltet würden.) Inzwischen hat die bundesrepublikanische Realität das (nicht zuletzt durch den Begriff des „Verfassungspatriotismus“) zum bloßen Bekenntnis depotenzierte Grundgesetz längst besiegt.
    Ein anderes Paradigma für die politische Wendung der Bekenntnislogik in der Bundesrepublik ist die fatale Geschichte der „Wiedervereinigung“, ein Beispiel dafür, wie aus einem Lippenbekenntnis, an dessen Realität bis unmittelbar vor dem Eintritt des Ereignisses, niemand, am wenigsten die, die dieses Bekenntnis immer im Munde führten, geglaubt hat, „wie durch ein Wunder“ (ein Stichwort dafür war „Wahnsinn“) Realität geworden ist.
    Es gibt eine Theologie hinter dem Rücken Gottes, aber gibt es auch eine Theologie im Angesicht Gottes, würde diese nicht aufhören, Theologie zu sein? In einer Theologie im Angesicht Gottes wäre Gott kein Objekt mehr, diese Theologie wäre der Anfang der Heiligung des Gottesnamens. Das Problem gleicht dem der Naturphilosophie, die erst sich erschließt, wenn die Natur nicht mehr als Natur, wenn sie nicht mehr als Objekt begriffen wird.
    Ist der Objektbegriff, der sich der objektiven Erkenntnis in den Weg stellt, die „Pforte der Hölle“, von der es heißt, daß sie sie (die „Kirche“) nicht überwältigen werde?
    Zu Rosenzweigs Kritik des All: Verweist der Begriff des Allgemeinen nicht auf das All als die Wurzel des Gemeinen?
    Bezieht sich nicht die kopernikanische Geldtheorie auf ein Problem der Inflation: auf die Frage, wie es möglich ist, Realwert und Nominalwert der Münze (ähnlich wie die Maße der Entfernungen in unterschiedenen Dimensionen des Raumes) dauerhaft zur Deckung zu bringen? Und hängt dieses Problem nicht in der Tat zusammen mit der astronomischen Lösung des Problems der Planetenbewegung durch Substitution eines einheitlichen Raumes im heliozentrischen System?
    Was ist der Unterschied zwischen den biblischen Namen für Erde und Land? Das „Trockene“ ist die logische Opposition zum Wasser. Steckt nicht im Namen der Erde die Beziehung zum Himmel, in dem des Landes (des Namens für das Trockene) hingegen die zu anderen Ländern? Das Trockene ist das, was dann „sichtbar“ wird. Für wen wurde es sichtbar, nachdem Tiere und Menschen erst am fünften und sechsten Tage erschaffen wurden? Begleitet nicht das Sehen Gottes die ganze Schöpfungsgeschichte („und Gott sah, daß es gut war“, ein Satz nur am zweiten Tag fehlt, als Gott die Feste schuf, die er Himmel nannte). Aber Gott sah nicht „in dem“ Licht, das er am ersten Tag geschaffen hat, sondern er sah „das“ Licht. Gehört in dieses Sehen Gottes nicht auch der Begriff des Ebenbildes: Sieht Er sich in diesem Ebenbild nicht selbst? Zum Sehen aber gehört auch das Werk des ersten Tages, das Licht und seine Unterscheidung von der Finsternis, die nur fürs Sehen gilt.
    Mit dem Satz: Gemeinheit ist kein strafrechtlicher Tatbestand hängt es zusammen, wenn Verbrechen (strafrechtliche Tatbestände) in letzter Instanz keine tatbezogenen, sondern beweisbezogene Tatbestände sind. Die Nachweisbarkeit ist rechtssystemisch ein Konstituens des Verbrechens. Hier liegt der Ansatzpunkt für die Konstruktion synthetischer Urteile apriori im Recht (vgl. Lyotards Bemerkung zum Zeugenproblem im Kontext des „vollkommenen Verbrechens“, das kein Verbrechen mehr ist, weil es mit den Opfern auch die Zeugen „aus der Welt schafft“: Gehört nicht die Vorstellung einer Natur, die unabhängig von den Menschen da ist, zu dieser Vorstellung eines vollkommenen Verbrechens, ist nicht der Weltbegriff selber die Verkörperung des vollkommenen Verbrechens?).

  • 30.12.95

    Der Schrecken ist das Feuer, das die eiserne Schale des Begriffs schmilzt.
    Die Verurteilung ist das sprachliche Korrelat des Lachens (deshalb hat Jesus nicht gelacht).
    Rückt nicht die Beziehung das Namens des Wassers zum Fragepronomen „Was“ die „großen Meeresungeheuer“, den Chaosdrachen, die Schlange, in eine Beziehung zum Neutrum (hat die Klugheit der Schlange etwas mit der Wasserseite des Himmels zu tun)?
    Hat der Dominus Deus Sabaoth, der Herr der Himmelsheere, etwas mit den Sternen des Himmels, die die Nachkommenschaft Abrahams repräsentieren, zu tun?
    Deutsche Verwaltungen kennen in der Regel keine zivilen Umgangsformen. Ausdruck der Verwaltungsmentalität ist u.a. der Begriff der „Bevölkerung“, der seinem Sprachsinn nach unterstellt, daß leere Gegenden von irgendwem „bevölkert“ worden sind (wahrscheinlich von einer Verwaltung). Ist nicht der Begriff der Bevölkerung ein gleichsam physikalischer Ausdruck: Auch hier werden die Dinge von außen in einen an sich leeren Raum gebracht.
    Die Gesetzesbindung des Verwaltungshandelns verleiht diesem Handeln die Qualität eines Naturprozesses, dessen Kenntnis Voraussetzung der Beherrschung (und Verwertung) der zweiten, gesellschaftlichen Natur ist. Der Vergleich der Verwaltungen, ihrer hierarchischen Strukturen und ihres gesetzmäßigen Handelns, mit den planetarischen Strukturen und Prozessen, der den alten Engelspekulationen zugrundeliegt, hat hier sein fundamentum in re. Die kopernikanische Wende hat die Verwaltung aus ihrer theologischen Verankerung gelöst, sie hat ihr eine kosmologische Begründung gegeben (für das Verständnis der neuen Astronomie ist es nicht unerheblich, sich daran zu erinnern, daß Kopernikus wie auch Newton in der Münz-/Finanzverwaltung tätig waren).

  • 16.12.95

    Pilatus als Kirchenvater: Hat er nicht mit der Freigabe des Barabas die kirchliche Trinitätslehre begründet? Der Name Barabas bezeichnet die vergegenständlichte Selbsterfahrung Jesu, rückt diese in den Bannkreis des Herrendenkens. Als Jesus mit einer Gegenfrage sich weigerte, die Vollmacht, mit der er spricht, vor den Pharisäern und Schriftgelehrten zu benennen, hat er diese Vollmacht gegen ihre Vergegenständlichung verteidigt. Die Nicht-Antwort war die schärfste Kritik der Theologie. Diese Nicht-Antwort präludiert sein Schweigen vor dem Hohen Rat und dann vor Pilatus. Ist nicht die Theologie heute die Produktion dieses Schweigens? Vertritt nicht die Theologie die Pharisäer und Schriftgelehrten, den Hohen Rat und Pilatus gegen ihr eigenes Objekt, das sie zum Schweigen verurteilt (weil sein Wort ihr Angst macht)? Deshalb ist es zu einer der Hauptaufgaben der Theologie geworden zu beweisen, daß die Schrift das, was sie sagt, nicht so meint.
    Ist nicht die Geschichte vom Steuergroschen eine Belegstelle für das Wort vom Greuel am heiligen Ort?
    Theologie-Kritik: Die apologetische Suche nach einer Legitimation der Theologie beweist nur, daß niemand an die der Theologie immanente, sie überhaupt erst begründende Kraft der Selbstlegitimation mehr glaubt.
    Begründung des Rechts: In den Verbrechern erkennt die staatlich organisierte Gesellschaft das projektive Bild ihres eigenen Tuns; das Rechtsurteil und die Strafe sollen die eigene Schuld und das Erschrecken davor durch projektive Bearbeitung aufheben.
    Vgl. Hegels Satz „Das Wahre ist der bacchantische Taumel, in dem kein Glied nicht trunken ist“ mit Spinozas Definition der Wahrheit: Verum est index sui et falsi. Liegt die Differenz zwischen den beiden Sätzen nicht im Problem der Beweislogik? Die Spinoza Wahrheit liegt in der Einsicht, sie unterliegt nicht der Beweislogik, während das Wahre Hegels das Wahre für andere ist, das bewiesen werden muß: die durch die Beweislogik vermittelte Wahrheit. Ist die Differenz nicht ein Beleg für das, was Levinas einmal die Asymmetrie zwischen Ich und Du (zwischen mir und dem Andern) genannt hat? Ist nicht Spinozas Definition eine theologische, Hegels Definition hingegen eine juristische?
    Wenn der Apokalypse zufolge das Meer am Ende nicht mehr sein wird, muß man da nicht das Werk des dritten Schöpfungstags zur Erklärung mit hinzuziehen? „Und Gott sprach: Das Wasser unter dem Himmel sammle sich an einen Ort, daß das Trockene sichtbar werde! Und es geschah also. Und Gott nannte das Trockene Land, und die Ansammlung der Wasser nannte er Meer. …“ (Gen 19f). Hinweis: In Texten der Kabbala wird die Stelle, an der es heißt: … sammle sich an einen Ort, übersetzt: sammle sich am Ort der Eins. Bezieht sich das Nicht-mehr-Sein des Meeres auf das Ende des Identitätsbegriffs, auf einen Zustand, in dem es der Identität nicht mehr bedarf? – Vgl. auch die kabbalistische Unterscheidung im Namen des Himmels (schamajim), in dem die Namen von Wasser und Feuer enthalten sind, und das „Alles ist Wasser“ des Thales, mit dem die Philosophie, die Herrschaft des Identitätsbegriffs, beginnt, sowie das Jesus-Wort: „Ich bin gekommen, Feuer vom Himmel zu bringen, und ich wollte, es brennte schon“.

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